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10

Rutland prallte zurück, taumelte, schwankte.

Wisdom schloß die Tür.

Muriel stand stumm und lächelte. Die Kehle des Mannes würgte. In seinen Augen leuchtete noch – wie eingefroren – der letzte Schimmer seiner erwartungsvollen Freude.

»Muriel!« formten seine erbleichten Lippen.

Sie nickte lächelnd.

Plötzlich war über ihm etwas aus den alten Tagen, eine Wehrlosigkeit gegenüber dieser Frau, ein Unterliegen unter ihrem Lächeln.

»Also – hast – du mich doch erkannt?« flüsterte er, den Oberkörper weit zu ihr vorgebeugt.

»Aber natürlich, George«, sagte sie leichthin, »habe ich dich erkannt. Zuerst nicht, aber als du unser Kind begrüßtest, war ich meiner Sache sicher.«

Er blickte sich hilflos um.

»Sei doch nicht so bestürzt«, ermunterte sie freundlich.

»Ich werde dich nicht verraten. Im Gegenteil. Deshalb bin ich doch gekommen.«

»Weshalb bist du gekommen?« fragte er mit Anstrengung, ohne Begreifen.

Sie lächelte wieder, fast ein wenig verächtlich.

»Ich habe mich doch in dir getäuscht, George.«

Er zuckte bei diesem Namen zusammen. Das erstemal hatte er ihn in seiner kopflosen Benommenheit überhört.

»Ich glaubte, du wärest nun ein gefestigter Mann geworden, den nichts mehr aus dem Gleichgewicht bringen kann.«

Dieser Vorwurf schlug durch die Wirrnis in seinem Schädel hindurch. Er riß sich zusammen. Biß die Zähne aufeinander, daß sie laut in die Stille knirschten. Seine Fäuste ballten, die Brust blähte sich von der unmenschlichen Anspannung.

Ruhiger, doch mit belegter, rauher Stimme fragte er: »Weshalb bist du gekommen? Was willst du noch von mir?«

»Mit dir alles besprechen«, entgegnete sie unbefangen.

»Was alles?«

»Nun – – alles.«

Damit löste sie sich von der Tür, an der sie noch immer stand und kam auf ihn zu. Obwohl er heute vormittag stundenlang neben ihr gesessen und nichts empfunden hatte, versagte ihm der Atem, als sie jetzt auf ihn zukam. Heute vormittag war sie so unpersönlich gewesen, so ganz die Frau eines anderen, so fremd und losgelöst von ihm, als wäre sie nie sein Weib gewesen.

Jetzt, hier in der Abgeschlossenheit und Vertrautheit seines Hauses, war plötzlich über die Jahre und Klüfte, die sie trennten, über die Tat und ihre Schrecken hinweg eine Brücke geschlagen, auf der sie zu ihm kam, wie sie einst Tausende von Malen in ihrer kleinen Wohnung in Manila auf ihn zugeschritten war.

»Wir wollen uns doch setzen, George«, schlug sie gemütlich vor – in »Gemütlichkeit« war sie immer groß gewesen – »und alles in Ruhe und Freundschaft besprechen.«

Sie setzte sich in den Klubsessel, in dem er kurze Zeit zuvor die Vergangenheit endgültig begraben und einer neuen, glücklichen, erlösten Gegenwart und Zukunft entgegengeträumt hatte, und schlug, völlig »zu Hause«, die Beine übereinander.

»Schöne Beine«, dachte er verworren. Dann fiel der Gedanke über ihn her, daß Angelita jeden Augenblick kommen konnte. Was würde –? Er mußte hinausgehen und Wisdom Bescheid sagen. Die beiden Frauen, die sich kannten, durften einander hier nicht begegnen. Der Butler mußte Angelita in ein anderes Zimmer führen.

Er ging auf die Tür zu, blieb aber wieder stehen. Wozu unnötig die Dienerschaft aufmerksam machen? Muriel mußte ja gleich wieder gehen. Er konnte Wisdom noch anweisen, wenn es draußen klopfte oder läutete.

Inzwischen sagte Muriel verweisend: »Aber, George, lauf doch nicht so nervös hin und her. Die Sache ist wirklich nicht so schlimm. Ich war ja zuerst auch erstaunt, als ich dich heute morgen sah. Und ganz entsetzt, als ich dich untrüglich erkannte. Aber im Laufe des Nachmittags habe ich alles überlegt und, wenn wir beide klug sind, ist es vielleicht gar nicht so furchtbar. Ich dachte doch bestimmt, wie alle, du wärest tot. Wärest damals bei dem Untergange deines Torpedobootes ertrunken. Es waren ja nur drei Überlebende. Und nun lebst du! Zuerst, als ich begriff, was das für mich bedeutet, war ich ganz außer mir. Denke dir doch bloß: Jetzt habe ich zwei Männer! Denn unsere Ehe besteht doch noch.«

Sie blickte mit einem kleinen koketten Lächeln zu ihm auf. Er sah ernst und zerfahren auf sie nieder.

»Zu drollig, du, zwei Männer! Jetzt habe ich mich schon ein bißchen an den Gedanken gewöhnt. Aber mein Mann – ich meine Jan – darf nie erfahren, daß du lebst. Nie. Darum bin ich zu dir gekommen.«

Sie griff nach seiner schlaff herabhängenden Hand und zog ihn dicht an sich heran, so dicht, daß ihre Beine ihn berührten. Er fühlte, wie sie die Waden in den dünnen Seidenstrümpfen an ihn schmiegte.

»Du, Georgy, nicht wahr? Du schwörst mir, daß Jan nie erfahren wird, daß du lebst?« schmeichelte sie und streichelte seine Hand.

Er trat von ihr zurück. »Ich habe nicht das geringste Interesse daran, deine neue Ehe zu stören«, stieß er hervor.

»Nicht wahr?! Du bist mir nicht mehr böse? Ich weiß, es war sehr schlecht von mir. Aber, Georgy, wirklich, ich habe nur dich geliebt.«

»Laß das jetzt«, wehrte er brüsk.

»Nein, wirklich. Du mußt mir vergeben. Das mit dem armen Stephen – ich weiß wirklich nicht mehr, wie das eigentlich gekommen ist. Sieh mal, Georgy, du warst so viel auf deinem Torpedoboot, immer Dienst, Dienst, Dienst! Und ich so viel allein, und das heiße Klima in Manila, so fern von meiner ganzen Familie, – ich habe mich so greulich gelangweilt, und da – ich weiß, es war furchtbar schlecht von mir –.«

»Laß es doch!« hemmte er wieder ihren Redestrom.

»Ich wollte nur, – du sollst nicht schlecht von mir denken, aber eigentlich, Georgy, ist ja noch alles ganz gut geworden. Damals wollte ich fast verzweifeln. Als ich aus meiner Ohnmacht aufwachte – du hast mir eine sehr schmerzende Wunde an der Schulter beigebracht –, erschießen wolltest du mich, du böser, unüberlegter Mann!«

Sie blickte ihn zärtlich schmollend an und streifte den Mantel, dann das Kleid darunter von der Schulter.

»Da – sieh – da ist noch die Narbe. Komm, küsse sie, Georgy, damit du einmal die Wunde geküßt hast, die du mir beibrachtest, du schlimmer, jähzorniger, verliebter Mann.«

Er war jetzt ganz ruhig geworden, hatte nur den einen Wunsch, sie los zu werden, ehe Angelita kam.

»Laß die Faxen«, sagte er unwillig.

Sie ließ das Kleid wieder auf die Schulter gleiten und blickte enttäuscht, gekränkt zu ihm auf.

»Du bist mir noch immer böse, Georgy«, schmollte sie. »Wie kann man so nachtragend sein! Nach so vielen Jahren! Wo es dir doch sehr gut geht. Präsident von so einer großen Gesellschaft! Und damals warst du doch nur ein kleiner Oberleutnant der amerikanischen Marine!«

»Ja, ja«, gab er drängend zu und dachte: wenn sie nur schon ginge!

»Wenn ich es recht bedenke, Georgy, verdankst du das eigentlich alles mir. Hätte ich dich damals nicht –, wenn du damals nicht so unvermutet nach Haus gekommen wärest – was wärest du heute groß? Vielleicht Admiral. Was wäre das schon Gewaltiges gegen deine jetzige Stellung.«

»Ja – ja«, sagte er wieder und überlegte, wie er sie fortbringen könne.

»Ich bin ja auch sehr zufrieden«, erzählte sie wieder versöhnt. »Jan ist sehr gut zu mir, ich habe ihn sehr gern. Er trägt mich auf Händen. Wir sind auch sehr reich. Wenn ich es jetzt so bedenke, hat sich alles zum Guten gewendet. Freilich, der arme Stephen! Aber, weißt du, er war schuld an allem; obwohl man ja über die Verstorbenen nichts Böses sagen soll. Aber es ist wahr. Er hat mich verführt. Und dabei war er doch dein bester Freund!«

»Laß die Toten ruhen«, mahnte er ungeduldig.

Sie schwieg einen Augenblick. Dann fragte sie mit ihrem reizenden Lächeln: »Wie gefällt dir Esta? Sieht sie dir nicht lächerlich ähnlich?«

Er nickte. Und sagte dann beteiligter: »Das Kind hat so erschütternd traurige Augen.«

Sie rückte ungeduldig in dem Sessel umher. »Setz dich doch, Georgy. Es ist so ungemütlich, wenn du da vor mir herumstehst.«

»Laß nur«, wehrte er wieder.

»Wie du willst«, gab sie nach. »Ja, denke nur, wie schrecklich! Sie hatte vor einigen Jahren eine Nurse. Jeder in Amerika kannte doch unsere traurige Geschichte. Es hat doch solches Aufsehen erregt. Und deshalb hat Jan mich ja auch geheiratet.«

»Deshalb?«

»Nun ja. Er ist doch so stark und hilfsbereit. Ganz Amerika hatte solches Mitleid mit mir. Alle Zeitungen brachten mein Bild. Und da kam Jan und nahm mich.«

Rutland schwieg. In ihm qualmte eine schmerzhafte Ironie.

»Du wolltest von dem Kind und der Nurse erzählen«, bedeutete er.

»Ja, richtig. Denke dir, Georgy, diese dumme Person erzählt doch dem Kinde, daß sein Vater ein Mörder ist!«

Ein unterdrückter, abwehrender Schrei gurgelte aus Rutlands Mund. Er stand einige Sekunden erstarrt, von Schmerz durcheist.

»Töricht, nicht wahr? Ich habe sie auch schön heruntergeputzt.«

»Sie – hat – Esta – natürlich deine Schilderung der – der Sache mitgeteilt?« arbeitete er mühsam hervor.

»Meine – Schilderung?!« rief Muriel verwundert und starrte zu ihm auf. Dann lachte sie klingend auf. »Ach so. Jetzt verstehe ich. Aber Georgy! Ich konnte doch unmöglich die Wahrheit sagen! Bedenk doch! In Amerika. Ich wäre doch moralisch tot gewesen. Ich hätte mir doch ganz einfach das Leben nehmen müssen. Was wäre mir bei dieser Schande anderes übriggeblieben? Und was wäre dann aus Esta geworden? Was hätten meine Eltern gesagt und alle meine Freunde?!«

Ein undeutliches Geräusch entquoll seinen Lippen.

»Das war doch unmöglich, Georgy!« fuhr sie eifrig fort. »Ich war außer mir, als ich aus der Ohnmacht erwachte und den armen Stephen tot neben mir sah. Oh – war ich da wütend auf dich! Mich in eine solche Lage zu bringen! Zuerst war ich ganz verzweifelt. Dann überlegte ich. Und dabei hatte ich solches Grauen vor dem Toten! Aber man durfte ihn doch unter keinen Umständen in meinem Schlafzimmer finden. Das siehst du doch ein, Georgy?«

Er rührte sich nicht.

»Ach, war das entsetzlich, den schweren toten Mann anzuziehen! Furchtbare Angst vor ihm hatte ich. Dann habe ich ihn ins Wohnzimmer geschleppt. Ich! Deine arme, kleine, schwache Muriel! Und dabei blutete die Wunde in meiner Schulter so und tat so weh! Dann mußte ich noch alle Spuren im Schlafzimmer verwischen. Und dann erst rief ich um Hilfe.«

»Ich weiß«, sagte er mit dunkler Stimme. »Ich habe mir später amerikanische Zeitungen verschafft.«

»War das nicht klug von mir?« rief sie eifrig mit argloser, ahnungsloser Selbstsucht. »Ich dachte doch, du bist tot. Dir konnte ich doch nicht mehr schaden. Da war es doch gleich, ob ich dich beschuldigte. Ich glaubte, ich lebte noch allein von uns dreien. Da war es doch natürlich, daß ich mich aus der furchtbaren, bloßstellenden Lage zu retten suchte, in die du mich gebracht hattest, nicht wahr?«

»Das hast du damals doch noch nicht gewußt«, stellte er gelassen fest.

Sie stutzte. »Wieso?«

»Du hast doch erst nachher erfahren, daß mein Boot gerammt worden war.«

Sie überlegte einen Augenblick. Dann hatte sie ihre kindliche Unverfrorenheit wiedergewonnen.

»Aber Georgy, wie kannst du bloß so kleinlich sein und dich an solche Belanglosigkeiten klammern! Ob ich das nun einen Tag früher oder später erfuhr, ist doch wirklich gleichgültig!«

»Natürlich«, nickte er und konnte den sarkastischen Ton nicht ganz unterdrücken. »Da hast du mich als einen gemeinen Mörder hingestellt.«

»Nein, Georgy, das habe ich nicht!« widersprach sie beleidigt. »Wie darfst du so etwas sagen! Das ist ungerecht von dir, so etwas zu behaupten. Ich habe nur gesagt, daß du immer schon auf den armen Stephen eifersüchtig warst.«

»Ohne Grund –«, schaltete er ein.

»Aber, Georgy, das mußte ich doch sagen. Sonst hätten doch alle Leute gewußt, daß – er – mich geliebt hat!« –

»Freilich, das vergaß ich.«

»Siehst du, wie du mir unrecht tust! Das andere kam dann alles ganz von selbst. Man fragte mich doch dann so viel. Die Polizei und alle. Ich mußte doch schwören. Da mußte ich doch bei dem bleiben, was ich zuerst gesagt hatte.«

»Ohne Zweifel.«

»Und dann sah es plötzlich so aus, als hättest du dem armen Stephen schon lange nach dem Leben getrachtet.«

»Und hätte ihm aufgelauert, wäre nach Hause geschlichen, hätte euch beide harmlos plaudernd im Wohnzimmer angetroffen und auf euch beide losgeknallt«, – ergänzte Rutland grimmig.

»Ja«, bestätigte sie etwas kleinlaut. Dann wippte sie impulsiv in dem Sessel auf.

»Richtig, Georgy, gut, daß du mich daran erinnerst. Das wollte ich dich ja immer fragen: Wieso bist du an jenem Abend eigentlich wieder nach Hause gekommen? Du hattest doch Nachtdienst!«

»Ja«, sagte er bitter, »ich hatte Nachtdienst. Das wußtest du und Jerram. Darum fühltet ihr euch so sicher.«

»Pfui, Georgy, wie kannst du so etwas sagen!« tadelte sie.

»Aber als ich zum Quai kam, war Alarm. Die ganze aktive Flotte der Marinestation von Manila sollte auslaufen zu einem großen Manöver. Eine andere amerikanische Flotte kam – als markierter Feind – von Japan her. Ich hatte noch fünfzehn Minuten Zeit. Da rannte ich nach Hause, dir zu sagen, daß ich vielleicht mehrere Tage fortbleiben würde. Ich fürchtete, du könntest dich um mich ängstigen.«

Er lachte hohl auf.

»Ja, ja«, raunte sie nachdenklich, »es war ein großes Unglück.«

Sie schwiegen beide.

Dann stand sie auf.

»Ich muß jetzt fort, Georgy. Sonst merkt Jan am Ende was. Und er darf doch nichts wissen. Das wäre entsetzlich, wenn er erführe, daß du lebst, und wir eigentlich gar nicht verheiratet sind. Also, zu keinem etwas sagen! Das schwörst du mir, Georgy. Ja, bitte, das mußt du mir schwören, sonst habe ich keine Ruhe mehr!«

»Ich schwöre es dir«, sagte er, von dem Wunsche beseelt, sie loszuwerden. Angelita konnte jeden Augenblick kommen.

»So – danke. Jetzt habe ich dein Wort. Jetzt bin ich viel ruhiger, obwohl ich ja wußte, du würdest es mir geben. Du warst immer so gut zu mir. Wirklich, Georgy, ich habe dich noch immer lieb.«

Und ehe er recht wußte, was geschah, hatte sie ihn umschlungen und ihn auf den Mund geküßt. Er spürte nur die Woge ihres Parfüms, Puders und Lippenstiftes, die ihn umwallte.

»So, Georgy, und nun gehe ich. Ich habe mich so gefreut, dich einmal wiederzusehen. Ich habe so oft an dich gedacht. Natürlich als Toten. Laß es dir recht gut gehen, mein lieber, alter Georgy.«

Er begleitete sie hinaus. Dort stand der Butler bereit, ihr die Tür zu öffnen. Sie gaben sich noch einmal die Hand. »Good bye.« »Good bye.« Dann ging sie.

»Wenn sie Angelita nur nicht im Vorgarten begegnet!« dachte er besorgt.

Dann war er wieder in der Bibliothek.

Im Munde hatte er einen faden, bitteren Geschmack.


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