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18

Scotland Yard in London lehnte strikte die Zumutung ab, gegen Sir John Rutland einen Haftbefehl wegen Mordes zu erlassen.

Der hohe Polizeibeamte, mit dem Watson und seine beiden Begleiter verhandelten, hörte mit einigem Erstaunen, doch dienstlich geschulter Ruhe die Anklage und die Beweise an. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein, meine Herren«, erklärte er, »das genügt mir nicht und wird keinem englischen Beamten genügen. Eine gewisse Ähnlichkeit und die Bekundung dieses Herrn dort über das angebliche Zeugnis einer Dame über ein angebliches Geständnis und Anerkenntnis Sir Johns! Nein, meine Herren, auf solche vage Beschuldigung hin lehne ich jede Amtshandlung gegen einen der hervorragendsten Bürger von London ab.«

»Aber wollen Sie nicht wenigstens diskret prüfen, ob dieser Sir John überhaupt Engländer ist!« bat Watson.

»Nein, lieber Kollege Watson, auch hierzu halte ich mich auf Grund Ihrer wenig stabilen Grundlagen nicht für befugt. Falls Sie der Meinung huldigen, daß ich irre, steht Ihnen die Beschwerde an meine vorgesetzte Stelle offen.«

Man verabschiedete sich sehr höflich, Jerram berstend vor Empörung über diesen »Schutz des Mordbuben«, Hay mit enttäuschungsfahler Glatze über das Entgleiten seiner schönsten Hoffnungen und das Zerplatzen seines aussichtsreichsten Geschäftscoups, Watson, unberührt von dem ersten Mißerfolge, in tiefem wissenschaftlichem Sinnen.

Ohne auf Jerrams zornfauchende Verdächtigungen der englischen Beamtenschaft und Hays Entwürfe einer flammenden Beschwerde zu achten, schritt er zwischen dem langen und dem kurzen Manne als ausgleichender Mittelpfeiler das Victoria Embankment entlang an der Themse hin, der Charing-Cross-Brücke zu.

Plötzlich machte er kehrt. Er war sich im klaren. An Beschwerde war nicht zu denken. Der Mann in Scotland Yard war vollkommen im Recht. In Neuyork hätten sie auch nicht anders gehandelt. Nirgends in der Welt. Auf diese »Beweise« hatte er nie sehr fest gebaut. Er hatte sich tragen lassen wie immer. Er vertraute seinem stets gütigen Stern und seiner Eingebung des Augenblicks, der er seine starken Erfolge verdankte.

»Bravo«, frohlockte der lange Kapitän, als Watson ohne Aufklärung dem Polizeigebäude wieder zustrebte. »Das wäre ja auch noch schöner, solche schlagenden Beweise abzulehnen.«

»Wollen Sie sich beschweren?« fragte der klügere Hay gedehnt. Seine vernichtenden Indizien gegen Rutland waren ihm in der Hand des Londoner Polizeimannes plötzlich sehr kläglich und dürftig erschienen. Sie waren geradezu in Sekunden verdorrt. Er konnte sich dieses Naturphänomen selbst nicht recht erklären. Aber mit einem Male dünkte es ihm sehr kühn, allein auf die Aussage Muriels hin diese weite Reise zu unternehmen. Wie gut, daß er seinem Aufsichtsrate gegenüber geschwiegen hatte. Das wäre eine herrliche neue Blamage gewesen! Immer wieder dieser verflixte Rutland, der ihn hineinlegte! Immer wieder. Aber, zum Donnerwetter – er war es doch! Er war doch Paterson! Dieser Polizeimann in Scotland Yard hatte ihn ganz dumm gemacht! Nicht sich beirren lassen! Rutland war der Mörder Paterson. Das mußte man doch beweisen können! Donnerwetter noch einmal!

»Wollen Sie sich beschweren?« fragte er, von der Wirkung dieses Schrittes, ohne weitere Vorbereitung, wenig überzeugt.

Watson schüttelte den Kopf mit den funkelnden Brillengläsern.

»Victoria Street 123. Amerikanische Botschaft«, gab er lakonisch von sich. Er war ein geschworener Feind vieler Worte.

»Sehr gut!« lobte Jerram. »Die werden den Kerls in Scotland Yard schon zeigen, was eine Harke ist.«

Er schritt heftig aus mit seinen langen Stangenbeinen. Hay konnte kaum nachkommen.

»Lauft doch nicht so«, ächzte er, riß den Strohhut vom Kopfe und trocknete mit dem Taschentuche den Schädel. Es war ein heißer brütender Augusttag.

Watson verlangsamte mitleidig den Schritt, während Jerram ungezähmt vor ihnen dahintobte.

»Was wollen Sie auf der Botschaft?« forschte Hay. »Verdammt, daß man nicht einfach nach Neuyork telegraphieren und Frau Bouterweg als Zeugin vernehmen lassen kann. Das wäre ein zwingender Beweis. Aber ich gebe mich da keinen falschen Hoffnungen hin. Sie würde alles bestreiten. Aus Angst vor dem Aufruhr und der Ungültigkeit ihrer Ehe. Und dann sind wir geliefert.« Watson winkte nur mit der Hand ab. Worte erforderten Hays Auslassungen nicht.

»Was wollen Sie auf der Botschaft?« wiederholte Hay neugierig, vor Hitze prustend. »Sehen«, sagte Watson und bog an der Westminster Abtei ein.

Damit mußte Bob Hays Wißbegierde sich vorläufig zufrieden geben.

Botschafter und Erster Rat waren auf Urlaub. Sie wurden von einem sehr liebenswürdigen, vor Diensteifer überschäumenden jungen Sekretär empfangen. Als er den Namen des Beschuldigten vernahm, wurde er auffallend zurückhaltend.

»Hören Sie mal, meine Herren!« rief er perplex. »Die Sache scheint mir doch sehr – wie soll ich sagen – sehr – monströs. Sir John Rutland ein Mörder! Und Amerikaner. Unmöglich!«

Hay brachte seine Beweise, Jerram gläubig seine Überzeugung vor.

»Ehe ich eingehend mit dem Herrn Botschafter gesprochen habe, kann ich nicht das Geringste unternehmen!« scheute der junge Herr vor einer Verantwortung zurück, die ihm etwas reichlich mit Dynamit geladen zu sein schien. »Ich werde mich hüten, mir die Finger zu verbrennen. Das ist eine so delikate – ja, meine Herren, ehrlich gesprochen, erscheint mir die ganze Angelegenheit reichlich hirnverbrannt.«

Jerram und Hay fielen mit heftigen Worten über den Botschaftssekretär her. Doch Watson stand auf.

»Danke sehr«, sagte er und griff den Hut vom Tische.

Seinen beiden Begleitern blieben die überzeugendsten Argumente im Munde stecken vor Staunen über diesen jähen Aufbruch. Watson war nicht der Mann, zwecklos seine Zeit zu vertrödeln.

Als sie wieder in der Sonnenglut der Victoria Street buken, schlugen beide mit ungebändigten Vorwürfen auf ihren stillen Reisegefährten ein. Er duldete stumm. Auch zur Abwehr und Rechtfertigung waren ihm Worte zu kostbar.

Gelassen schritt er wieder am Parlamentsgebäude vorüber, der Themse und New Scotland Yard entgegen.

»Also doch Beschwerde!« jubelte Jerram und malmte mit seinen großen, gelben Zähnen, als genieße er nun schon vorkostend seine Rache.

»Reden Sie doch!« flehte Hay, »und spannen Sie einen nicht so barbarisch auf die Folter, wenn diese Lustbarkeit auch zu Ihrem Berufe gehören mag.«

Doch Watsons Lippen blieben verschlossen. Kopfschüttelnd, erbittert schritten und trippelten Jerram und Hay neben ihm her, in das Polizeipräsidium hinein, Treppen hinauf, Gänge hinab bis zur Office des Beamten, den sie vor einer halben Stunde verlassen hatten.

Das Gebot der Stunde hatte Watson, wie immer, einen Gedanken beschert. Er hatte sich nicht vergeblich, seinem Glücke vertrauend, treiben lassen.

Der Beamte furchte in kaum verhehlter Ungeduld die Stirn, als das Trio wieder eintrat.

»Ich bitte«, begann Watson dienstlich und formell, »um einen Haftbefehl gegen den amerikanischen Staatsbürger George Paterson, früheren Oberleutnant der Marine der USA., den ich des Mordes anklage unter der Behauptung, daß Besagter sich auf britischem Gebiet aufhält.«

Der Engländer blickte kurz auf. Er durchschaute den gewandten Polizeikniff.

Jerram und Hay sahen sich verständnislos an. Nach einer kleinen Pause der Überlegung erwiderte der Beamte:

»Mr. Watson, dieses Ersuchen kann ich natürlich nicht ablehnen. Ich erlaube mir aber, Sie als Kollege darauf hinzuweisen, daß weder Sie noch die Kriminalpolizisten, die ich Ihnen zur Verfügung stellen werde, das Haus Sir John Rutlands auf Grund dieses Haftbefehls betreten dürfen.«

»Ich weiß«, entgegnete Watson kühl, »ich kenne die Habeas-Corpus-Acte.«

»Auch dürfen Sie den betreffenden Herrn nur verhaften, wenn er sofort – hören Sie – sofort – zugesteht, George Paterson zu sein.«

»Ich weiß«, bemerkte Watson trocken.

»Andernfalls haben Sie und meine Leute, denen ich ihre besonderen Verhaftungsvorschriften geben werde, sich höflichst zu entschuldigen und sich sofort zurückzuziehen.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für die Belehrung«, gestand Watson fast gerührt.

»Und daß ich Sie dringend bitte, mit größter Schonung und Diskretion zu Werke zu gehen, ist sicher unnötig zu erwähnen.«

»Sicher«, bestätigte Watson.

»Dann steht Ihnen morgen der Haftbefehl zur Verfügung.«

Watson dankte und ging, zwei verstörte Zweifler im Kielwasser.

Noch im Hofe durchbrach Jerram jede gute Sitte und jede Zivilisation.

»Watson«, schnaubte er, »sind Sie von Sinnen? Was nützt Ihnen der Haftbefehl. Er wird doch nie zugeben, daß er der Mörder Paterson ist. So verrückt ist doch kein Mensch.«

Da Watson stetig seines Weges schritt, stimmte Hay in den keifenden Klagegesang ein. »Das einzige, was Sie mit diesem Blödsinn erreichen werden, ist, daß er gewarnt sein wird – – «

»Und auf immer verduften!« übernahm Jerram wieder die führende Stimme und schwenkte verloren die langen Arme.

Da hob Bobby Hay den rot erhitzten Kopf. Sein kluger Geschäftssinn witterte Land.

»Wenn schon!« trompetete er frohgemut. »Soll er verduften! Mehr brauche ich nicht! Genügt mir vollständig, wenn er vom Präsidentenstuhle bei Killick & Ewarts kippt. Absolut! Von mir aus soll er sich dann in Kamtschatka seinen Kohl bauen.«

»So?!« schmetterte Jerram, daß der Posten an dem Tore, das sie gerade durchschritten, hastig an den Gummiknüppel faßte. »So?! Hältst du so unser Abkommen? Entwischen soll dieser Schuft? Nein, mein Lieber.«

Und sich mit donquichotischer Würde an Watson wendend, sprach er:

»Mr. Watson, im Namen des amerikanischen Volkes und Gesetzes fordere ich von Ihnen, daß Sie diesen Mann dem elektrischen Stuhle überliefern.«

Doch Watson blieb die Antwort schuldig.


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