René Schickele
Meine Freundin Lo
René Schickele

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Das war die dünne, klare Winterluft, in der die Liebenden einander verlassen. So sieht einer den andern an. Fast lernt man einander von neuem kennen. Du merkst dir, welches Kleid sie trägt, und wie lange. Wenn Sie es wechselt, überlegst du, warum sie das getan haben mag. Ihre Frisur erscheint dir plötzlich außerordentlich kunstvoll, du wagtest es nicht, sie durch eine unvorsichtige Liebkosung zu zerstören. . . .

Lo war eine Dame, die sich ausgezeichnet kleidete. Ich hätte nie geglaubt, daß eine Frau mit zehntausend Franken soviel Staat machen konnte. Sie waren klug, die Kleider, und in der Liebe erfahren. Lo hatte sie ins Vertrauen gezogen, sie kannten alle ihre Gedanken. Und sie schützten ihre Herrin wie eine unsichtbare Leibgarde. Denn Lo war jetzt so unnahbar. Die Hand, die sie mir reichte, hielt mich in 160 einem gewissen Abstand, den ich nicht überschreiten durfte. Wir gingen jeder auf der entgegengesetzten Seite des Weges nebeneinander her und führten zwischen uns ein Lämmchen mit Glöckchen und einem roten Samtband, unsre gemeinsame Liebenswürdigkeit. Ich fand das Lämmchen entzückend, ich schäkerte mit ihm, um Lo zum Lächeln zu bringen. Ich wagte nicht, es mit einem Fußtritt aus dem Weg zu räumen.

Wenn Lo in ein Zimmer trat, war nichts anders mehr da als sie. Ja, sie war mit einem Blick gekommen, in den sich gleich alles verliebt hatte. Die Möbel schienen einen Ausdruck zuvorkommender Höflichkeit anzunehmen. Ich konnte ihr nicht einmal behilflich sein. Ihre Hände waren um sie wie kleine, vornehme Tiere, und bedienten sie hurtiger und geschickter, als ich es getan hätte. Außerdem genossen sie ihre Gunst. . . . Lauter kleine, vollendete Kunstgriffe: wie sie ein Buch vom Tisch nahm und darin blätterte und, plötzlich verweilend, las; wie sie mit allem, was an ihr 161 war, aufstand, den ersten Schritt tat, die Tür hinter sich schloß und wiederkam; wie ihr ganzer Körper mit den losen Falten eines Hauskleides spielte, wie sie, fertig angezogen, unter ihrem großen Hut den Gartenweg hinabging. . . . Sie bewegte sich mit der Sicherheit einer Nachtwandlerin, ich bemerkte nie eine Anstrengung bei ihr, sie stockte nicht einmal. . . . Ich begann, sie oberflächlich zu finden.

Sie hielt sich lange in ihren Zimmern auf. Ich verstand, daß sie allein sein wollte. Los Zimmer waren jetzt auch mir verschlossen.

Manchmal log sie, aber dann warf sie mir einen Blick zu, der sagte: »Ich lüge. Frage nicht weiter.« Es wäre die gröbste Taktlosigkeit gewesen, ihr nicht zu glauben. Da ich sie verlieren mußte, wollte ich sie wenigstens nicht vergessen. Ich photographierte sie. Cunin fand die Abzüge auf meinem Schreibtisch, und er bat mich, sie ihm zu schenken. Aber Lo, die gerecht war, nahm sie ihm schnell aus der Hand. »Verstecke sie,« sagte sie mir. Da schenkte 162 ich Cunin die Abzüge. Er nahm sie freudig an, dankte mir und ließ sie beim Weggehen auf dem Schreibtisch liegen.

»Ist das eine Niederlage?« fragte ich Lo.

Sie sagte lächelnd »Gute Nacht« und ging mit traurigem Gesicht hinaus.

Ich konnte ihr nicht grollen, weil erwachsene Menschen wie ich und Cunin uns wie Knaben benahmen. Ich bat sie im geheimen um Verzeihung.

Bald war ich wirklich nicht mehr eifersüchtig, ich hatte mich erzogen. Ich las die »Drei Musketiere« von Dumas. Gleichzeitig unternahm ich es, eine Geschichte der politischen Parteien in Frankreich seit 1870 zu schreiben. Lo, die Clemenceau bewunderte, interessierte sich dafür.

Eines Abends – ich saß auf der Veranda und studierte das »Journal Officiel« der Kommune – kam Lo aus Paris nach Hause. Sie stellte sich vor mich hin, wir sahen einander an, aber ich ertrug ihren Blick nicht: »Ja,« sagte ich armselig, und, indem ich den Kopf über dem großen Buch in beide Arme stützte: »Adieu.«

163 Sie strich mir einigemal über die Haare. Dann sagte sie mit zitternder Stimme:

»Ich fahre heute Nacht mit Cunin nach London.«

Ich nickte, und sie fuhr fort:

»Höre . . . Ich möchte dir etwas sagen . . .«

Als ich heftig den Kopf schüttelte, hielt sie, wie erschrocken, inne. Eine Weile blieb sie noch schweigend vor mir stehn. »Ja,« rief ich noch einmal flehend, da schlich sie auf den Fußspitzen davon. Aber ihre Kleider rauschten leise, wie früher, wenn sie morgens an meiner Tür vorbeiging und mich nicht wecken wollte.

Ich hörte sie im Haus umhergehen, Schränke öffnen, die Schubladen der Kommoden herausziehen. . . . Als am hinteren Tor die Glocke gezogen wurde, lief sie schnell die Treppe hinunter und öffnete. Es war der Bahnbeamte, der ihre Koffer abholte.

Nun wurden ihre Koffer hinausgetragen. . . .

Du mußt doch Abschied nehmen, sagte 164 ich mir und ging langsam die Treppe hinauf.

Ich traf sie, wie sie hinter dem Bahnbeamten, der eine Handtasche trug, aus meinem Zimmer kam. Ich blieb stehen und lächelte sie an. Und sie hob die Hand, als ob sie mich liebkosen wollte. . . . Aber sie ging an mir vorüber: »Gleich,« lächelte sie. Ich konnte noch sehen, wie das Lächeln gleich von ihr abfiel.

Lo ist auch traurig, sagte ich mir. . . .

Lo stand in der halb geöffneten Tür. Es dämmerte im Zimmer, ich konnte ihre Züge nicht genau erkennen. Sie trug einen hellen Reisemantel und einen Turban, der die Haare bedeckte und wie ein Helm über dem dunkeln Gesicht glänzte.

»Ich gehe. . . . Auf Wiedersehen!«

Ich sprang auf . . . und fiel gleich in den Stuhl zurück, denn sie hatte hastig die Tür geschlossen. Die Glocke am Gartentor heulte. Ich konnte Lo nicht mehr sehen. Ich sah nur den Zug, der sie fortführte.

Die Frau aus dem Dorf brachte die 165 Zeitungen. Gleich danach kamen Variot und Bertrand. Der Regisseur zündete die Lampe an und wollte eilig in Los Zimmer gehen, deren Tür, wie er bemerkt hatte, zum erstenmal weit aufstand. Ich hieß ihn bleiben.

»Lo ist mit Cunin abgereist.«

Da stellte er die Lampe wieder auf den Tisch und sagte mit dem gedämpften Tonfall des Zartgefühls:

»Dann eilt es ja nicht so.«

Er schnalzte mit der Zunge, nickte einigemal bedeutsam, ging, plötzlich wie verträumt, zum Fenster, wo er lange in den Anblick des kleinen, am Horizont flimmernden Paris versunken schien. . . .

»Lo«, jubelte Variot, »vergißt ihre Freunde nicht. Bald besitzt sie ein Privathotel und ein Automobil, die wir ihr leider nie geschenkt hätten; aber wir werden uns noch lange, an ihrer Tafel um sie trauernd, in der Tiefe des Gemüts an ihr erfreuen können. . . . Sie ist eine kurzfristige Geliebte, aber eine ewige Freundin.«

Bertrand sang in die Nacht hinaus:

166 »Die du dich dort hinter den vielen Lichtern in erster Klasse Schlafwagen entfernst – Unsere liebe Frau von der Freundschaft, sei uns gnädig!«

Ich mußte daran denken, mit welch erschütterndem Herzgesang Lo sich hingab, als habe sie einem schon immer ganz gehört.

 


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