René Schickele
Meine Freundin Lo
René Schickele

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Wir hatten auf der Veranda den Sonnenuntergang bewundert, einen Sonnenuntergang voll namenloser Wildheit, wie die Spiegelung ungeheuerlicher Vorgänge, die sich in fernen, heißen Ländern abspielten: der Brand eines Urwalds, ein Volk, das sich zwischen flammenden Städten und rauchenden Feldern zerriß, 154 Vulkane, die das Dach der Erde gesprengt und die Berge eingeatmet hatten und, groß wie ein Weltteil, ein einziger Glutherd zwischen funkelnden Meeren, in den Himmel loderten. . . .

Wir saßen einander gegenüber. Lo und ich. Sie spielte mit den Blüten der Sykomore, die ich für sie unter dem Baum im Garten aufgelesen hatte. Ich war entschlossen, nach Paris zu fahren und in irgendeinem Varieté über meine und Los Gefühle nachzudenken. Es gibt kein besseres Mittel, Gefühlen zu widerstehen, als über sie nachzudenken. Die Gefühle gewöhnen sich an einen, und man gewöhnt sich an seine Gefühle. Man hilft ihnen auf den Sprung. Man dressiert sie. Und beim Verlassen des Zwingers stellt man mit Genugtuung fest, daß die Hand, die das Gitter schließt, ruhig und fest, daß sie die Hand eines Siegers ist. Man wirft einen letzten Blick auf die Tiere, die, den Kopf zwischen den gestreckten Pfoten, ermattet daliegen und traurig blinzeln, und dann begeht man entschlossen eine größere 155 Torheit, als man vorher je begangen hätte. Das wußte ich wohl, und ich hätte Lo gerade so gut gleich mit meiner Eifersuchtsszene überraschen können. Nur fehlte mir der Mut. Wenn man aber seine erbosten Gefühle erst gebändigt hat, kommt der Mut von selbst, weil man ihn gar nicht mehr braucht, weil man die vorher geplante Schandtat geradezu verachtet. . . . Ich hatte den Smoking angezogen, um darüber nachzudenken, ob Lo mich noch liebte oder ob sie mich nicht mehr liebte. Den Überzieher auf den Knien und den Hut auf dem Kopf, saß ich da und schwor mir, während ich mit unendlicher Langsamkeit die Handschuhe zuknöpfte, schwor in einem einzigen langen Schwur, Lo höflich bis zum Ende anzuhören, aber dann aufzustehen, ihr die Hand zu küssen und zu gehen. . . . Ich hielt es für durchaus nötig, sie heute abend mit unsern Freunden allein zu lassen. Lo sollte sich prüfen. Lo sollte sehen, ob sie sich ohne mich einsam fühlte. Ich erwartete, daß der Gedanke an ihren zerquält 156 in einem langweiligen Varieté schmachtenden Freund sie unter den vielen fremden Menschen nicht fröhlich werden ließe, daß sie selbst traurig würde und nichts anders wünschte, als zu ihrem Verbannten zu flüchten und ihm mit einem »Dich oder keinen« allen Gram von der Seele zu nehmen.

»Siehst du,« sagte Lo, »es gibt Leute, die sich zwei Monate geliebt haben, vielleicht sogar zwei Jahre, und die dann aus Dankbarkeit auch gleich die nächsten fünfzig Jahre zusammenhalten. Das nennt man eine glückliche Ehe. Sie machen sich blind, sie stellen sich taub und halten sich am Stuhl fest, wenn unter ihnen die Erde bebt. Die Erdbeben, das sind die sogenannten Ehekrisen, die Prüfungen. Und das nennt man Treue. Der Mensch gewöhnt sich an alles, sogar an das Unmögliche, die Treue. Wenn einer lange genug den Tauben und Blinden gespielt hat, dann wird er es eines Tages wirklich – gewöhnlich um die Zeit, wo die Schärfe der Sinne auch bei normalen Wesen nachläßt. Also, treu bin 157 ich nicht, und ich werde nie heiraten – obwohl ich zugebe, daß die Ehe große Bequemlichkeiten bietet, sogar der Frau, wenn die Frau nicht intelligent, aber um so sentimentaler, arm oder nicht mehr jung ist. Es fällt sogar einer Kokotte nicht leicht, sich unverheiratet durchs Leben zu schlagen. . . . Die Zeiten sind schlecht. . . . Im Ernst, du, ich kann mir absolut nicht denken, was zwei, die jahrelang immer zusammen gewesen sind und sich bis ins Letzte kennen, noch Interessantes aneinander entdecken können! . . . Die lieben doch nicht! . . . Sie betreiben ein Gewerbe; wenn du willst, eine Fabrik – nein, weißt du, lieber den Tod!«

Pausen, die auf das Wort »Tod« folgen sind peinlich. Und Lo hatte die violetten Blüten in ihren Händen gesammelt und das Gesicht hineingelegt.

»Du,« sagte sie ohne mich anzusehen, »ich erzähle dir das nur, damit du mir glaubst, wenn ich sage, daß ich dich lieb habe.« Und das Gesicht, das sie ein wenig gehoben hatte, sank wieder in ihre Hände. . . .

158 Als es dunkelte, schrieb ich hastig einen Zettel, den Lo vor das Gartentor legte. »Liebe Freunde, ich muß unbedingt nach Paris. Es tut mir leid, aber das ist mein Beruf. Lo begleitet mich. . . . Liebe Frau Louise, werfen Sie die Zeitungen in den Garten. . . . Liebe Frau Caroline, Ihr Kochgenie wird heute leider keine Triumphe feiern; aber wer ist darum zu beklagen? Ihre ergebenen. . . .« Wir schlossen das Haus. Wir löschten die Lichter. »Lo!« rief ich hundertmal, und sie antwortete: »Du!«

Dann kamen die andern. Sie zogen erst gewaltig an der Glocke, bevor sie den Zettel sahn. Variot las ihn vor. Über die Bitte an Frau Caroline Mac Mahon lachten sie laut. Es war eine Weile still. Dann riet Bertrand: »Warten wir auf Mac Mahon. Sie soll uns bei Variot kochen.« Aber keiner antwortete.

Lo atmete nicht mehr. Ich fühlte, wie sie vorsichtig von mir abrückte – oh, nur ein ganz klein wenig. Ich ließ ihre Hand los. . . . Wir warteten beide auf Cunins Stimme.

159 Sie schlug auf, hell und fröhlich:

»Nein. Fahren wir nach Paris zurück und suchen wir sie!«


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