René Schickele
Meine Freundin Lo
René Schickele

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Die Abgeordnetenkammer war der Arbeit müde und wollte um jeden Preis schnell damit fertig werden. Sie tagte in der Frühe, sie hielt Nachtsitzungen ab. Die Mehrheitspartei schlug sich, mit der sprunghaften und nachlässigen Tapferkeit eines sieggewohnten Haufens, durch Budgetfragen und Interpellationen, die Abstimmungen folgten einander, Sieg auf Sieg. Es ging spielend, aber es dauerte lang. Trotz des entschiedenen Vorwärtsmarschierens tauchten immer neue Schwierigkeiten auf, durch die sich die Mehrheit, zu Dreihundert in einem Knäuel zusammengeballt, einen Weg bahnen mußte. Dabei ging es dann nicht immer vorsichtig genug her, es wurden 73 Ungeschicklichkeiten begangen, überflüssige Gewalttaten, auffallende Ungerechtigkeiten, die alle Unzufriedenen aufreizten und unerwartete Bündnisse zur Folge hatten. Zwei Parteien bildeten sich, von denen die eine ihre Kraft an der andern ausließ, und diese, jeden Vorteil ausnützend und auf der Lauer nach einer Stunde, wo die Sieger von der ewigen Anstrengung erschöpft wären, sich zurückhielt, aber ohne den Widerstand aufzugeben. Und manchmal gab es Stockungen und Anfänge von Panik in den Reihen der Regierungstruppen, die, wie man sagte, das Schlimmste befürchten ließen. Die Abgeordneten lebten in einer unleidlichen Aufregung, die noch von ihren Familien geschürt wurde. Die Gatten und Väter des Palais Bourbon hatten ihre Familien entweder bereits in die Ferien entlassen und brannten nun vor Ungeduld, ihnen nachzufolgen, oder die Familien warteten unter beschwörenden Gebärden und Verwünschungen auf das Signal zum Beginn der Sommerfreude. Die Minister gar waren außer sich. Nicht nur, daß in 74 den von ihnen auserwählten Badeorten schon Wohnungen gemietet, ihre Landhäuser schon gelüftet waren. Aber sie empfanden die Verstocktheit der Opposition als eine unverdiente Kränkung und ihre Geduld als ein Mangel an Anstand – an elementarster Menschlichkeit. Sie hielten die immer wiederholten Angriffe in Anbetracht ihrer offenbaren Aussichtslosigkeit für eine elende Schikane, zu der ernsthafte Politiker sich, wie sie laut erklärten, nicht hätten hergeben sollen. Dagegen schöpfte die Opposition aus ihrer eigenen Ungeduld und der immer fassungsloseren Nervosität der Gegner Schätze von Energie. Sie hatte nichts zu verlieren und konnte deshalb alles wagen.

Unter den bürgerlichen Oppositionellen tat sich ein junger Abgeordneter hervor, der bisher wenig beachtet worden war. Als er am zweiten Tag plötzlich das Wort nahm, glaubte man seinen Namen zum erstenmal zu hören: Emile Cunin. Er ging auf die Rednertribüne, um gegen die falsche Auslegung eines Wortes zu protestieren, 75 das ein unterdessen erkrankter Freund und Parteigenosse am Vorabend geäußert hatte. Er sprach ziemlich leise, aber sehr deutlich, in artig gerundeten Wendungen. Seine Stimme hatte einen hellen Klang, der freundlich berührte wie sein junges klares Gesicht und seine Wohlerzogenheit. Er war nicht groß und nicht klein, ziemlich rund, aber biegsam. Auf den breiten Schultern saß gleich ein starker, hell umrissener Kopf mit breitem Kinn, breiter Stirn und grauen Augen. Das Gesicht war gebräunt, das sorgfältig gescheitelte Haar, der knappe Schnurrbart hellblond. Er verbesserte den Ministerpräsidenten, der das Wort zitiert hatte, und fügte mit einer entzückenden Höflichkeit ein paar blitzschnelle Bosheiten hinzu. Er sprach keine fünf Minuten. Als er die Tribüne verlassen hatte, blieb in allen die Erinnerung an etwas Formvolles, Fliegendes, Aufleuchtendes zurück. . . . Man sah sich nach ihm um, wenn er in den Sitzungssaal trat. In der Salle des Pas-Perdus, dieser verrauchten Sakristei der Politik, wo sich die 76 Abgeordneten unter ihre Klientel von durchgefallenen Kollegen, Journalisten, Beamten, Wahlmännern und freieren Liebhabern der Regierungskunst mischen, zeigte man ihn einander; man suchte seine Bekanntschaft zu machen. Emile Cunin nahm dieses Interesse mit der größten Korrektheit entgegen; er schien weder geschmeichelt, noch überrascht, er war liebenswürdig, und er hütete sich, den Neugierigen geistreich oder gar als hervorragender Zeitgenosse zu begegnen. Dadurch erwarb er sich, in zwei, drei Viertelstunden den Ruf, nicht nur ein sympathischer und redegewandter, sondern auch ein kluger Mensch zu sein.

Während der Nachtsitzung, die dem Auftreten Cunins folgte, ließ mich Variot in die Salle des Pas-Perdus rufen. Er stand vor der Treppe, die zu der Journalistenloge führt, den spitzen Filzhut in den Nacken geschoben, die Hände auf die Hüften gestützt, mit herausforderndem Gesicht. Ich erriet, daß Cunins Erfolg ihn in die Kammer gelockt hatte. Er 77 kannte den Abgeordneten von der Schule her. Cunin hatte ihm einmal eine freie Fahrt an die Riviera verschafft.

»Habe ich dir nicht schon immer gesagt,« begrüßte er mich, »daß Emile Cunin ein Kerl ist? Gib acht, wie er es anstellt. . . . Ich habe mich von ihm hereinführen lassen. Die Abendblätter bringen seine ganze Rede, sie versehen sie mit den schönsten Komplimenten. Das ist ein Erfolg, mein Lieber!« Wir spazierten Arm in Arm durch die Salle des Pas-Perdus. Er lehnte sich auf mich und sprach mir ins Ohr. »Cunin ist mein Mann. Er wird mir den Weg bahnen. Allein käme ich nie in die Politik, das ist zu kompliziert und kostet zuviel Geld. Aber Cunin ist ein politisches Tier, mit allen Instinkten der Rasse ausgestattet, ein sehr verfeinertes Exemplar, wohlverstanden, . . . deshalb um so gefährlicher. Wenn er mich auf den Rücken nimmt, habe ich nichts zu fürchten. Wie ich seit Jahren darauf warte, daß er losgeht! Denke nur, drei Jahre sitzt er schon in dieser Kammer, drei Jahre 78 hält er die Augen auf, blickt um sich, horcht, errät, überlegt – und schweigt.«

Ich teilte Variots Bewunderung. Cunin glich keinem von denen, die uns hier umdrängten. Sie schwatzten und flüsterten in den Ecken, manche sahen gut aus, alle waren klug und erfahren, aber sie vermischten sich, es war schwer, den einen vom andern zu unterscheiden. Sie litten an einer zu großen Familienähnlichkeit. Sie waren die Masse. Man brauchte Cunin nur zu sehen, um seine besondere Kraft zu fühlen. . . .

»Cunin ist mein Mann,« wiederholte Variot und ließ einen triumphierenden Blick über die Zigaretten rauchenden Gruppen schweifen, die den weiten Raum füllten. Mir war, als ob ich mit Cunin selbst lustwandelte und Cunin mir die Kraft gäbe, mich allen diesen politisierenden Menschen überlegen zu fühlen. . . .

»Aber,« fragte ich ernüchtert, »was wird denn deine Genugtuung bei dem Handwerk sein, wenn du nur das giltst, was Cunin für dich tut?«

79 Variot schüttelte heftig den Kopf.

»Was ich in der Politik suche, ist etwas, wovon Cunin gar nichts versteht. Er will sich in die Höhe bringen.«

Seine Faust öffnete, in der Luft, heftig eine Tür: »Er will alles allein sein; wie soll ich sagen: er will auf dem Gipfel seiner Laufbahn das politische Frankreich selbst sein.« Er zog die Tür wieder zu: »Ich, ich will dabei sein, um ihn in der Nähe zu betrachten. Er ist der Schauspieler. Er schafft und stirbt. Ich mache aus ihm eine dauernde, allen politischen Kämpfen entrückte Gestalt, die in ihrer Menschlichkeit das bleibenswerte Bild von dem gibt, was in seinen Äußerlichkeiten und zufälligen Fügungen morgen verronnen sein wird. . . .«

Alle drängten nach den Türen. Die durcheinander lärmenden Gespräche fielen wie ein Schwarm Vögel zu Boden. Die Abgeordneten drückten einander durch die Tür zu den inneren Wandelgängen, die zwei Diener wie die Flügel eines Käfigs weit geöffnet hielten. Ich hielt 80 einen Journalisten fest, der an uns vorübereilte.

»Was geschieht?«

»Krach!« rief er und sprang die Treppe zu den Tribünen hinauf.

»Schnell,« sagte ich fiebernd. . . . Variot drückte meine Hand und behielt sie in der seinen. Er sei in der Präfektenloge untergebracht, erklärte er, und wolle nur nachsehen, ob Cunin im Spiel sei. Wenn nicht, hole er Lo ab und fahre mit ihr nach Hause.

Er ließ meine Hand los. Aber nun hielt ich ihn am Ärmel zurück. Nein, Lo käme nach der Vorstellung hierher. Er solle solang in seiner Präfäktenloge aushalten. . . . Ich zog ihn die Treppe hinauf. . . . Wenn es für mich zu spät würde, könne er noch immer mit Lo nach Hause fahren. Er versuchte auf jeder Stufe haltzumachen, um hinter mir zurückzubleiben. Er hatte wohl schon keine Lust mehr, die Präfektenloge zu beziehen. Wahrscheinlich überlegte er, ob es nicht geraten wäre, gleich auf und davon zu gehen; vielleicht 81 konnte er sonst mit Lo nicht allein sein, denn wer garantierte ihm, daß die Sitzung bis nach Mitternacht dauerte?

Ich sagte, und dabei presste ich die Nägel in das Stück Ärmel, das ich gefaßt hielt:

»Wenn Lo nicht vorzieht, in der Stadt zu bleiben!«

Ich zog an, aber er riß sich los und versicherte mir, nachdem er sich mehrere Stufen unter mir in Sicherheit gebracht hatte:

»Ich habe genug Politik für heute. Ich geh zu Lo.«

Es machte mir keine Freude, ihn jetzt zu verlieren. Ich versuchte ein Letztes.

»Und Cunin?« fragte ich. »Du wolltest mich doch Cunin vorstellen!«

Er war schon die Treppe hinunter.

»Nachher, nachher!«

Er drehte sich nicht einmal nach mir um. . . .

Die Pultdeckel klapperten. Auf der Rednertribüne stand ein Mann, der sich im Lärm verständlich zu machen suchte, 82 er öffnete und schloß den Mund, er beugte sich nach rechts, er eilte nach links, er bellte zu den Stenographen hinunter und benahm sich wie ein Taubstummer, der gehört werden wollte, und wenn er dabei das Leben ließe.

Der Präsident hatte sich von seinem Thron erhoben und schien schwere Steine unter die Abgeordneten zu werfen. Die taten, als merkten sie es nicht. Der Mann auf der Tribüne zog ein Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Lärm hörte auf. . . . Schnell fuhr das Taschentuch in die Luft, ein Trompetenton erklang: »Meine Herren. . . .«

Der Präsident setzte sich, der Mann sprach. Von Zeit zu Zeit brach der Lärm von neuem los. Dann trocknete der Mann sich die Stirn, es trat Stille ein, und die Rede ging weiter. Aber nach einer Weile entfesselten selbst die originellsten Äußerungen keinen Widerspruch mehr. Der Redner überbot sich in Serien von kleinen Sturmläufen. Die Mehrheit ließ sich in dem einmal angeschnittenen 83 Plauderstündchen unter Nachbarn nicht stören. Als nach einer halben Stunde noch immer keine Zeichen von Erschöpfung an ihm zu bemerken waren, leerten sich die Bänke. Auf der einen Seite saßen sechzig todernste Männer: die Sozialisten. Sie hielten tapfer zu ihrem Redner. Am andern Ende des Halbkreises, von den Sozialisten durch eine Wüste von leeren Bänken getrennt, saß ein einziger Konservativer und ließ sein rundes, in eine weiße Weste gezwängtes Bäuchlein unter den gefalteten Händen hüpfen. Sein rotes kindliches Gesicht strahlte mit tausend Fältchen, zwischen denen die Augen ganz verschwanden. Er lachte, wie andre schlafen. . . . Der Redner bemerkte ihn zuerst. Er war so überrascht, daß er mitten im Satz abbrach und mit dem Finger hinzeigte. Die sechzig Sozialisten polterten von ihren Sitzen! Sie standen, eine finster drohende Masse, da und schrien zu dem kleinen einsamen Mann hinüber. Der schüttelte nur den Kopf, wobei das Bäuchlein noch heftiger ins Tanzen geriet und die Falten 84 sich noch mehr zusammenzogen. Ein maßloses Staunen bemächtigte sich da der sechzig Aufrechten. Sie sahen, aber sie verstanden nicht. Einige Sekunden herrschte vollkommene Stille. Schließlich zuckte der Redner mit der Achsel und räusperte sich. Er wollte weitersprechen. Die sechzig zuckten ebenfalls mit der Achsel. Niemand schien sich mehr um den kleinen Mann zu kümmern. Aber an den langen Seitenblicken, die sie hinübersandten, und an den heimlichen Beratungen merkte man, daß sie zweifelten, ob der da drüben irrsinnig geworden sei, oder ob er im Auftrag der geflüchteten Abgeordneten handelte. Ist das ein Einzelfall, fragten sie sich, oder – die Opposition? . . .

Lo stand in einem Winkel der Salle des Pas-Perdus zwischen Variot und Cunin. Vor ihnen saß, auf dem Eckbänkchen, eine Dame, mit der sich Lo, leicht vorgebeugt und den Kopf ein wenig zur Seite gewandt, unterhielt. Sie sah mich kommen und nickte bedenklich.

Variot stutzte und blickte sich suchend 85 um. Nun sah auch er mich. Er winkte mir in die Luft entgegen. Ich war bei ihm. Er schlug mir und Cunin gleichzeitig auf die Schulter und sagte:

»Hier, mein lieber Cunin, haben Sie unsern Freund Henri Daue.«

Cunin schob mich vor die Dame; ich erfuhr, daß sie seine Frau war.

Los Blick wiederholte mir, daß sie sich langweilte. Sie fragte, ob ich bis zum Schluß der Sitzung bleiben müsse; ob ich unbedingt bleiben müsse. Sie wandte sich an Cunin:

»Nicht wahr, es geschieht nichts mehr heute abend.«

Der Abgeordnete war aber gar nicht sicher. Bei der Verfassung, in der sie sich alle befänden –!

»Gut,« meinte Lo. Sie begriff mich. Aber: »Wenn etwas geschieht, . . . angenommen es geschieht wirklich etwas, welche Gefahr läufst du dann, wenn du nicht dabei bist?« Das hatte ich ihr schon einigemal erklärt. . . .

Variot nahm mich in Schutz. Ich sei 86 nun einmal Journalist. Meine Zeitung warte bis sechs Uhr früh auf Telegramme. . . .

Ich verbesserte: »Bis vier.«

Bis vier. Es sei aber noch nicht Mitternacht. Er sehe ein, daß ich jetzt nicht fortkönne. Alles, was recht sei, das könne man nicht von mir verlangen.

Lo wurde böse. »Sei ruhig, du!« rief sie mit einem Lachen, das sie vor der Dame in der Ecke entschuldigen sollte. Variot bekam gleich erschrockene, demütige Augen und begann mit heftigen Griffen seinen Bart zu kämmen. Frau Cunin sah ihn, nach einem empörten Blick auf Lo, mitleidig an. . . . Er bemerkte es und wandte sich flammend an Cunin:

»Cunin, du bist unparteiisch! Du bist Abgeordneter! Du weißt! Sag, im Ernst: kann das Ministerium heute gestürzt werden, ich sage: kann, besteht die Möglichkeit?«

»Nein,« sagte der Abgeordnete.

Variot stand hilflos da. Er fühlte sich verraten. Er stammelte: »Aber –«

Cunin half ihm:

87 »Es kann geohrfeigt werden – um gleich die harmloseste der Möglichkeiten zu nennen.«

»Nun und –« rief Variot in lachendem Überschwang, »eine Ohrfeige im Morgenblatt, das ist eine Sensation! Verstehe, Lo . . .«

Lo nickte eifrig.

»Ich verstehe. Deshalb könntest du uns den Freundschaftsdienst erweisen und hierbleiben . . . und, wenn es nötig wäre, selbst telegraphieren.«

Sie nannte die Adresse der Zeitung, sie bat ihn um einen Bleistift, um die Adresse aufzuschreiben, und erinnerte ihn kurz und eindringlich, daß er sehr gut Deutsch könne.

Variot antwortete nicht. Seine Aufmerksamkeit war vom Diener an der Tür in Anspruch genommen. Der interessierte ihn so, daß man nicht wußte, ob er Lo zuhörte. Aber er schüttelte den Kopf.

Lo seufzte und schlug die Augen nieder.

Da erhob sich, sibyllinisch, die Stimme der Frau Cunin und kündete an, daß sie vermittelnde Worte sprechen werde. Ihr 88 Mann versuchte sie mit einem »Aber –« aufzuhalten, über das sie sich mit einer unendlich überlegenen Handbewegung hinwegsetzte. Wir konnten, obwohl zu viert, nichts dagegen unternehmen, daß Frau Cunin verstand. . . . Sie nannte Lo eine Frau und uns alle Männer. Cunin verneigte sich dankend. Sie nahm nicht für die Frau Partei, weil das geschmacklos gewesen wäre, sondern bat Lo, mich meinem Beruf zu überlassen und die Begleitung des freundlichen Herrn Variot anzunehmen. Und um zu beweisen, daß dieser Rat ihr von der bloßen Vernunft eingegeben sei, erhob sie sich, um ihren Mann ebenfalls seinem Beruf zu überlassen. Dabei hatte sie nicht einmal jemand, der sie nach Hause begleitete! . . .

Cunin tröstete sie. »Nun, mein Liebling, so wirst du im Wagen fahren.« Und er nahm ihre Hand und wünschte ihr gute Nacht.

Variot war beschämt und aufgebracht. Frau Cunin, deren schwere Körperformen mütterliche Güte ausströmten, nahm 89 Abschied von Lo. Die war in den Haß gegen die Frau derartig versunken, daß sie sich wortlos von Variot wegführen ließ.

»Ich gratuliere dir zu deiner Frau,« raunte er Cunin zu, laut genug, daß Lo ihn hören konnte.

Cunin und ich standen einander gegenüber. . . . Wir dachten. . . . Wir schienen beide zugleich damit fertig geworden zu sein, denn wir blickten zur gleichen Zeit auf.

Er nickte lächelnd: »Ja, ja.« . . .

Darauf ging ich nicht ein. Vielmehr sah ich ihn fragend an.

»Ja,« sagte er noch einmal, aber diesmal ernsthaft und entschieden, als ob er einen Punkt setzte.

»Was machen Sie heute nacht? Schlafen Sie? Dann lade ich Sie ein.«

Ich schlief nie, wenn ich in der Stadt bleiben mußte. Ich schlief nicht, weil mir daran lag, mit dem ersten Zug nach Hause zu fahren. Ohne Lo langweilte ich mich in Paris.

Ich dankte, ich wollte aufbleiben.

Cunin streckte mir die Hand hin:

90 »Schön. Wenn Sie erlauben, bummle ich mit Ihnen. Ich erwarte Sie am Ausgang. Bis nachher.« . . .

Cunin und ich saßen auf dem roten Plüschsofa des Weinrestaurants »Monico«. Es langweilte sich nicht mehr so angenehm hier, wie früher. Die fünfzehnjährigen Mädchen, die sich in der Mitte zur Musik der Zigeunerkapelle drehten, waren gewaltig gewachsen und hatten sich auch sonst zu ihrem Nachteil verändert. In Wirklichkeit erkannte man sie nicht wieder. Der Unternehmer hatte sich, als der erste Frühling seines Einfalls verwelkt war, auf die Suche nach der einbringlichen Jahreszeit in Varietéagenturen begeben, die ihm die verlangten zarten Mädchen schickte, wie sie eben zu finden waren. Es ist etwas Trauriges um die Vergänglichkeit, wiederholte ich mir. . . . Dann fühlte ich mich jedesmal schwermütig werden. Ich versuchte Cunin darüber aufzuklären, aber er hob nur die Achsel oder antwortete mit einem belanglosen Nicken. Ihm war das gleichgültig, wer hier tanzte, wenn nur 91 schnell getanzt wurde und die Musik laut genug war. Er fühlte sich unter diesen Fremden und im künstlichen Röhren des Nachtbetriebs hunderttausend Kilometer von Paris entfernt. Es erholte ihn von den anstrengenden Sorgen um seine Person. Mit ein klein wenig Phantasie konnte er sich den überflüssigen, inhaltlosen Geschöpfen gleich fühlen, die hier mit einem Mindestmaß von Anstrengung glücklich werden wollten. . . . Eigentlich genügte es zu schreien, in die Hände zu klatschen, »Ah!« zu rufen, wenn ein neuer Kopfputz hereintrat, und mit einem der Mädchen mühsam Französisch zu sprechen. Süß ermattet, empfand er den Ehrgeiz als etwas unendlich Schönes, das auf einen Augenblick von ihm gegangen war. Er fühlte es leise durch sein Blut rinnen wie die lebendige Erinnerung an eine Sonne, die morgen wiederkam, wie sie heute geschieden war: ein großes Feuer der Höhe, ein gewaltiges Licht um das Haupt einer Traumgestalt, zu dessen strengen Gesichtszügen sich sein Wille aufrecken konnte. Ja, er 92 konnte es, das war seine Kraft, und in den Augenblicken des Triumphes stand dieser Wille Auge in Auge mit der maßlosen Gestalt und schauderte wonnig in der Furcht, außer sich zu geraten, sich zu verzehren, aus dem Raum hinauszufallen. . . . Es war nur ein Schauer. Cunin liebte sein Handwerk so, daß er bisweilen fähig war, seine letzten tragischen Möglichkeiten zu erkennen. Er hätte sich nie dabei aufgehalten. Die geringste praktische Angelegenheit wäre ihm wichtiger erschienen. . . . Ich fragte ihn dies und jenes aus der Politik, worüber, wie ich glaubte, nur ein Mann wie er mich aufklären konnte. Er erzählte mir Lebensgeschichten und Anekdoten, entwirrte mir zuliebe die Fäden einer Musterintrige, damit ich sah, wie schwer die Arbeit war. Die Männer, von denen er sprach, stellte er mit wenigen grell leuchtenden Worten an ihren Platz; es waren Menschen, die mit neuen oder alten, guten oder mittelmäßigen Mitteln den Beruf eines Politikers ausübten, wie auch andere ihrem Geschäft nachgingen, 93 Überzeugte, Fanatiker, Frivole, Langweilige und Interessante, solche, die den Erfolg festhielten, Verbrauchte, und die Traurigen oder Zynischen, die entgleist waren. Die einen arbeiteten, die andern spielten. Viele warteten auf das Wunder. . . .

Es ging gegen Morgen. Man merkte es daran, daß der Karneval an der Tür aufgehört hatte und die Gesichter zwischen den blendenden Spiegeln graue und grüne Flecken bekamen. Um die Trinker festzuhalten, wurde die Musik heftiger, die Mädchen tanzten jetzt ohne Unterbrechung.

Cunins graue Augen glänzten, er rauchte fieberhaft.

»Und wie werden Sie sich morgen in der Kammer fühlen?« fragte ich.

»Je weniger ich schlafe, desto fester. . . .«

Er konnte sich auf sich verlassen. Solang er nicht einschlief, war er ganz wach, und solang er wach war, behielt er alle seine Fähigkeiten. . . . Wie Lo, dachte ich. . . .

Doch sah er nach einer Weile durch die Öffnung des Ventilators, daß es schon heller Tag war. Er fragte, ob er mich 94 verlassen dürfe. Ich bejahte eifrig, aber er blieb sitzen. »Seit Jahr und Tag habe ich mich nicht mehr so wohl gefühlt,« seufzte er.

Neben uns erzählte ein Engländer von seiner sanftäugigen Frau und seinen lachenden Mädchen. Die bis unter die Schultern dekolletierte dicke Frau neben ihm hörte, die Hände in der Einsenkung der Seidenrobe zwischen den Schenkeln fromm gefaltet, mit ungeheuchelter Rührung zu.

»Vous connais ça?« fragte der Engländer, dem die Augen voll Tränen standen. Sie strich ihm über das Knie: »Mais oui, mon chéri, moi aussi je suis mère.«

Er nahm die fette, mit Ringen gespickte Hand und führte sie an die Lippen. Sie legte seinen Kopf auf ihre Schulter, schlang den Arm um ihn und wiegte den großen blonden Mann leise hin und her.

»Spielt etwas Sentimentales« schrie sie den Musikanten zu. Ihre Hand machte eine Bewegung, als ob sie Geld zählte. Die Musikanten lachten: »Oh yes . . . Allright.«

95 Zuerst beratschlagten sie, wobei sie prüfend zum Engländer hinübersahen, der die Augen geschlossen hielt. Dann stellten sie sich im Halbkreis um das Paar und spielten mit todernsten Gesichtern, mit langen wehmütigen Blicken, die mit den Tönen gingen. Der erste Geiger gar war wie eine Trauerweide über den Engländer gebeugt und ließ ein schwellendes Klingen auf ihn niederregnen. Von Zeit zu Zeit versuchte der Blonde sich mit einer müden, wegwerfenden Handbewegung aufzurichten: wahrscheinlich fiel ihm ein, daß Tod und Leben sinnlos waren. . . .

Jetzt mußte ich gehen, wenn ich den ersten Zug nicht verfehlen wollte. Auf der Straße versicherte mir Cunin, daß er hoffe, noch oft mit mir zusammen zu sein, er habe da einen schönen Abend verbracht. . . . Ich bin ihm sympathisch, sagte ich mir und fand es sehr natürlich; denn ich war ihm ebenso gleichgültig, wie er mir, und also stand unserer Freundschaft nichts im Wege. Er schlüpfte in ein 96 Automobil, ich in ein anderes. Aber der Wagen hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, als er auch schon mit einem gewaltsamen Ruck stillstand. Die Tür wurde aufgerissen. Ich blickte in das blasse Gesicht Variots. . . . Seine Augen zuckten krankhaft, aber er schien gar nicht aufgeregt. Während ich seine feuchten Hände hielt, sah er mich lächelnd an. »Oh, es geht mir gut,« sagte er. »Ich habe einen Nachtspaziergang gemacht, weil ich keine Lust zum Schlafen hatte. Weißt du, daß Meudon gar nicht so weit von Paris ist, wie man meinen sollte?« Er war am Bois de Boulogne vorbei nach Paris gegangen, in zweieinhalb Stunden. Nur einmal, an der Umwallung, hatte er furchtbar Angst gehabt, als er plötzlich im Dunkel zwei Mannsbilder neben sich erblickte. . . . Er hatte ein Weib abgewiesen, das keinen Hut trug und der die Haare um das Gesicht hingen. . . . Als er schneller ging, um sie los zu werden, hatte er plötzlich die zwei Kerle beinahe gestreift. »Gott, wie mir die Angst ins Genick 97 fuhr! Aber als ich mich in Sicherheit glaubte, schien mir, daß der Tod mir leicht gewesen wäre.«

Wir lächelten einander an. Ich hatte ihn doch sehr gern, den Variot. Er konnte Lo nicht vergessen; war das seine Schuld? Hätte ich ihn deshalb quälen sollen? Und Lo gehörte mir ja; wie lang, wußte ich nicht, aber jetzt gehörte sie mir. Ich konnte sie sicher nicht länger behalten, als sie mich liebte. Wie lang, darüber hatte ich keine Macht. . . . Die da im rasselnden Automobil Montmartre hinunterfuhren, waren gute Freunde! Wahrscheinlich blieben sie es länger, als sie einer Frau der Geliebte wären. Es war ein wahrhafter Freundschaftsakt und fast ein Schwur, als wir gemeinsam eine Zigarette anzündeten.  . . In diesem Augenblick taten mir sogar die Frauen leid, weil ihnen diese Zuflucht fehlt. . . . Die klug und erfahren genug dazu gewesen wären, hatten keine Freundinnen. . . .

Im Zug sprachen wir von Cunin, von Variots Drama, von Bertrand, der im August 98 mit Lo eine Tournee durch die französische Provinz unternehmen wollte; dann, nach einem längeren Stillschweigen, als wir an traurigen Baracken vorbeifuhren, von den englischen Arbeitshäusern und den Aussichten des Sozialismus, die ich nach Variots unkontrollierbarem, aber deutlichem Vorgefühl bedeutend überschätzte; wobei er allerdings zugab, daß die Bedürfnisse einer Masse, deren geistige Emanzipation in gewaltigem Fortschritt begriffen sei, sich den Besitzenden im selben Maß fühlbar machen müßten. Ich konnte ihm nicht den Zukunftsstaat erklären, für dessen Beschaffenheit ich mich übrigens nicht interessierte, daran scheiterte dieses Gespräch. Das nächste, das vor meiner Gartentür noch nicht erschöpft war, drehte sich um die Rentabilität von Farbenfabriken. Wir hatten beide eine ganze Reihe von Bekannten, die in dem Fach arbeiteten; es schien alles gut zu gehen. . . . Ich hatte das Tor aufgeschlossen und den Hebel oben vorsichtig unter der Glocke durchgeschoben, damit nicht ihr grimmiges Gebell unsere Freundin weckte.

99 »Schlaf wohl,« sagte ich. »Ich bin müde.« Variot antwortete enttäuscht:

»Darf ich nicht mit hinein? . . . Ich bin so gar nicht schläfrig.«

Er schmeichelte wie ein Kind. Aber was wollte er denn bei uns tun? Lo schlief. In zehn Minuten schliefe ich auch.

Er werde lesen. Sich Notizen machen. Vielleicht ein wenig auf dem Sofa im Eßzimmer schlafen. Darauf kam es ihm an: mit uns Kaffee zu trinken!

Ich fand das übertrieben. Nach den endlosen Kammersitzungen, der Nacht im »Monico« und den vielen Gesprächen brauchte ich ein wenig Ruhe. Ich wollte schlafen und dann mit Lo zusammen sein, sonst nichts, gar nichts. . . .

Er stand noch immer und bearbeitete seinen Spitzbart.

»Also komm nach Mittag herunter.«

Wenn er jetzt nicht nachgab, war ich entschlossen, Brutalitäten zu begehen.

»Nun?« sagte ich drohend.

»Es geht nicht. Lo läßt mich nicht hinein. Wir sind böse.«

100 Ich blieb hart. Ich schloß das Tor wieder zu und schlug vor:

»Wenn du willst, begleite ich dich nach Hause. Aber wenn wir uns trennen, möchte ich die Gewißheit haben, einige Stunden allein zu sein. Freu dich, daß Lo mich gewählt hat. Ein anderer hätte dich schon lange in die Seine geworfen.«

Er murmelte:

»Oder ich ihn.«

Aber ich war müde. Es war mir alles gleichgültig. Ich seufzte:

»Erzähle.«

Als er Lo zur Bahn brachte, hatte sie auf keine seiner Fragen geantwortet. Sie nahm sein Billet nicht, sondern kaufte sich ein anderes. Sie verbot ihm, mit ihr in dasselbe Coupé einzusteigen; das war das erste, was sie sagte. Als er nicht gehorchte, gab es einen heftigen Auftritt. Sie wollte ihn nicht mehr sehen. Er verdarb ihr die ganze Freude, er machte ihr seine Gesellschaft unleidlich. Heute abend habe sie sich gefreut, mit mir in Paris zu bleiben, weil sie zum letztenmal gespielt 101 habe. Er mischte sich ein, er stelle sich zwischen mich und sie, und wenn er, mit ihr, nicht einfach mein Freund sein könne, wie ich früher mit ihr der seine gewesen sei, so möge er sich anstellen wie er wolle: sie sähe ihn nicht wieder. So sprach sie und schwieg, obwohl er Erklärungen über Erklärungen häufte und sich, wie er mir vormachte, mit den gekrallten Fingern auseinanderriß. . . . Sie nahm seine Hand nicht zum Abschied!

Er blieb vor mir stehen:

»Sag mal, Henri, du magst mich doch leiden?«

Das wohl, aber ich dachte genau wie Lo, genau. Ich setzte zu einer scharfen Rede an. . . . Er unterbrach mich:

»Natürlich: du –! Gewiß. Ja. Nur bitte ich dich, beruhige Lo. Ich muß sie überzeugen, daß ich sie keineswegs zurückerobern will. Sie soll sich nur gefallen lassen, daß ich sie liebe. Kann das euer Glück stören?«

»Ja!« rief ich. »Ja! . . . Ja! . . . Ja! . . . Ja! . . .«

102 Er schüttelte heftig den Kopf und rief ebenso oft: »Nein!«

Ich zeigte mich hochfahrend:

»Du mußt es wissen!«

»Ja, wer denn sonst?«

Da drehte ich mich langsam um und nahm den Hut ab, und plötzlich lief ich.

Natürlich kam ich nicht früh genug an, um das Tor hinter mir zu schließen. Variot hatte mutig den Arm zwischen die Mauer und die Türklinke gesteckt. »Zerbrich ihn!«

Ich mußte versprechen, Lo zu beruhigen. Ich mußte zugeben, daß ich mir nicht schadete und ihn beglückte.

Nun wollte er mich auch erfreuen:

»Ein schöner Tag heute!« sagte er mit einem Blick in den blauen Himmel, einem Blick, der über Los Fenster glitt. Dann durfte ich schlafen gehen. . . .

Am Nachmittag war ich wieder in der Kammer. Cunin saß still an seinem Platz, die gekreuzten Arme auf das Pult gestützt, ein aufmerksamer Zuhörer für jeden, der sprach. So hatte er, wie man sich nun zu entsinnen glaubte, immer dagesessen. 103 Wenn seine Freunde Lärm schlugen, blieb er ruhig. Er wölbte nur noch mehr die Schultern, der kurze Hals verschwand, der starke, helle Kopf starrte den Mann auf der Tribüne an. . . .

Wir aßen in der Nähe der Kammer zu Abend und gingen dann auf dem Boulevard St. Michel spazieren. Cunin war schlecht aufgelegt. Er fürchtete, daß er keine Gelegenheit mehr fände, in die Debatte einzugreifen. In diesem Fall müßte er, wie er mir erklärte, in vier Monaten von vorn anfangen. Bis dahin wäre die Wirkung seiner Intervention verloren und er selbst vergessen. Solche Sitzungen wie diese gab es nicht alle Tage, und nur die jetzt herrschende Aufregung ermöglichte es ihm, dem jungen Abgeordneten, ohne Auftrag der Partei einzugreifen, und wie es ihm beliebte. Die heutige Nachtsitzung war die letzte, die Parteien hatten verabredet, sich heute endgültig zu vertagen. Einige Minister und viele Abgeordnete waren schon abgereist. Niemand dachte mehr daran, das Kabinett zu stürzen, Cunin 104 am allerwenigsten. Er wollte sich nur, vor den Ferien, die Tribüne erobern, nicht so sehr, um dem Ministerium ein Leid zu tun, als um sich seiner eigenen Partei zu offenbaren.

Als wir uns in der Salle des Pas-Perdus trennten, wünschte ich ihm Glück. Jetzt, wo er in den hitzigen Gesprächen und der Masse fiebernder und gleichgültiger Kollegen stand, war er plötzlich sicher, daß es ihm gelänge: »Ich habe Glück,« sagte sein helles Gesicht und sein Handdruck. . . . »Vorwärts, es koste, was es wolle.«

Ich saß in der Journalistenloge und wartete. Bei jeder Unterbrechung fuhr ich zusammen, als habe jemand Cunin etwas aus der Hand gerissen, an dessen Besitz sein Schicksal gebunden war. Aber er rührte sich nicht, obwohl es immer später wurde. Der Ministerpräsident hielt eine heftige Rede, auf die, wie alle wußten, die Abstimmung und die Vertagung folgen sollten. Es war die letzte, an Schlagworten und Versicherungen reiche Rede, womit 105 ein Regierungschef seine Mehrheit in die Ferien entläßt.

Da geschah es endlich. Cunin schnellte von seinem Platz auf. . . . Der Ministers Präsident vollendete den Satz nicht, die Abgeordneten wandten sich nach Cunin um. Inmitten der größten Stille bat er den Minister um die Erlaubnis, seine Ausführungen mit wenigen, aber, wie er glaubte, notwendigen Worten zu unterbrechen. Er entschuldigte sich bei der Kammer, daß er, ein junger Abgeordneter, schon wieder das Wort ergreife und die Aufmerksamkeit der Kammer für sich in Anspruch nehme, wo doch so viele bedeutendere Kollegen und viel interessantere Redner sie vollauf beschäftigten. Aber daß er es gewagt habe, den Ministerpräsidenten zu unterbrechen, schon das zwänge ihn kurz zu sein und erspare der Kammer eine Rede, die er sonst wohl oder übel hätte halten müssen.

Man hätte in diesem Augenblick nicht erraten können, welcher Partei Cunin angehörte. Die Mehrheit zeigte sich ebenso 106 wohlwollend wie die Opposition. Er erntete die beifällige Freundlichkeit aller. Er blickte in lauter lächelnde Gesichter.

Darauf wandte er sich mit einer leisen Verbeugung an den Ministerpräsidenten und wies ihm in schnellen, warm klingenden Sätzen einen »Irrtum« nach. Das Wort Irrtum wiederholte er drei, viermal, bis ein Sozialist verstand und »Unwahrheit« verbesserte. Cunin hob höflich abweisend die Hand und versicherte dem Ministerpräsidenten, daß er, der Ministerpräsident, der erste sein werde, seinen Irrtum einzusehen.

Die Opposition klatschte Beifall und die Mehrheit widersprach nicht.

Nun fügte es sich aber, daß der Minister nicht daran denken konnte, den Irrtum einzusehen, weil es sich um ein gutes Argument und überdies nicht um eine Tatsache, sondern um die Auffassung einer Tatsache handelte. Die Auffassung Cunins war die eines Oppositionellen, und der Ministerpräsident bestritt ihre Zulässigkeit. Er bestritt sie mit Ausdrücken der 107 Anerkennung für Cunins Talent. Man sah sich wiederum freundlich nach Cunin um. Der bedauerte lächelnd, daß er nun sein Versprechen doch nicht halten und der Kammer die leidige Rede nicht ersparen könne. Aber er verpflichtete sich feierlich, sich kurz, sehr kurz zu fassen. . . . Er bat ums Wort!

Die plötzliche Schroffheit, mit der Cunin den letzten Satz sprach, erstaunte. Und als der Ministerpräsident geendet hatte, bestieg Cunin die Tribüne und hielt eine Rede gegen die Regierung, wie man sie, in dieser gedrungenen Wucht und voll leuchtenden Klarheit während dieser Debatte noch nicht gehört hatte. Jeder Satz war wie auf sich selbst gestellt: eine Ironie oder eine scharfe Nüchternheit. Auch diesmal sprach Cunin nur kurze Zeit.

Er verließ die Tribüne unter der jubelnden Begeisterung seiner Partei und der verwunderten Achtung der Mehrheit. Eine halbe Stunde nachher nahm das Kabinett das Vertrauensvotum der Kammer 108 entgegen, die sich sodann auf den Herbst vertagte. In der Salle des Pas-Perdus schüttelte der Ministerpräsident Cunin die Hand. Er beglückwünschte ihn zu seinem ersten Erfolg. Der ganze Saal hörte ihn sagen: »Es wäre mir ein Vergnügen gewesen, von so gut gewachsenen Händen erdrosselt zu werden.« Wenn die Worte ein wenig ironisch klangen, so lag das nur an der Jugend Cunins. Er stand hell und stark vor dem kleinen gebeugten Mann im Zylinder, mit einem wirklich unbefangenen Lächeln und ernsten Augen, in die man nicht hineinsah. Überdies war er sehr elegant gekleidet. Er machte, in diesem historischen Augenblick, den besten Eindruck.


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