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Siebentes Buch
Auf der roten Fluh

Erstes Kapitel

Eine Abschiedsrede Fabians. – Auch eine Art von Patriotismus, – »Ein schöner Stern geht auf«. – Frau Ziegenmilch »enorm fort«. – Der Exdirektor eines Kohlengeschäfts macht dem Autor Beine.

Der Fabian hatte zum Abschied noch zu mir gesagt: »Es ist dem Menschen nicht gut, daß er allein und heimatlos sei. Und dir, lieber Michel, dir ist es gar nicht gut. Du bist nicht gemacht, ein Einsamer und Heimatloser zu sein. Bleibst du beides noch lange, so wirst du ein vertrübter, vergrillter alter Mensch werden. Ich kenne dich. Denk an mich und an das, was ich dir da sagte, und sorge beizeiten, daß du zu mir sagen kannst: Alter Fabiane, siehst du, da bin ich daheim. Dann gehen wir aus der Stube, wo wir beim Mittagstisch saßen, in dein Bücherzimmer hinüber oder hinauf, rauchen zum Kaffee und schwatzen von alten Zeiten. Hierauf kommt deine Frau –«

»Meine Frau?« unterbrach ich den Freund. »Gott tröste dich! Wer sollte meine Frau sein?«

»Wie du nur wieder bist oder tust! Du weißt so gut oder besser als ich, daß, wenn ich dich an der Seite einer Frau denke, nur von einer die Rede sein kann. Den Namen brauch' ich nicht zu nennen, denn, lieber Alter, wenn du jetzt auch ein leidlicher Geschäftsmann sein magst, so praktisch, daß du es bis zum Heuchler gebracht hättest, bist du doch noch nicht geworden. Glaub' mir, ich sehe zur Stunde klarer in deine Sachen hinein als du selbst. Ich habe die Erzählung deiner Erlebnisse, deine zerstreuten Äußerungen und hingeworfenen Blicke summiert. Zwischen dir und der verhätschelten, launischen Tochter Mammons, dieser Julie Kippling, so reizend und verführerisch sie immer sei, konnte sich kein rechtes Verständnis bilden. Der ganzen Anlage deines und ihres Wesens zufolge war das unmöglich. Du bist so geartet, daß nicht die wilde und trübe Lohe der Leidenschaft dein Glück macht – du brauchst Liebe und du weißt, wo du sie findest. Verpasse nicht die beste Zeit! Nach dem, was du mir über die Resultate deiner letzten Geschäftsreise gesagt, darfst du ja kecklich an die Gründung eines eigenen Hausstandes denken. Das ist am Ende doch das Erstrebenswerteste, weil es das Reinmenschlichste ist und ewig sein wird.«

Die Abschiedsworte des Freundes klangen mir nach, als ich nun wieder allein meine Straße zog. Ich mußte ihm in meinen Gedanken immer lauter recht geben.

Die Periode der Kraftgenialität lag hinter mir, Nachdenken und Erfahrung hatten mich gelehrt, daß, wie schön auch Weltverbesserungsträume der Jugend stehen mögen, der gereiftere Mann, dessen Talente und Stellung ihn nicht befähigen, in die großen Geschicke tätig einzugreifen, sich bescheiden muß, in beschränkterer Sphäre das Tüchtige zu wollen und das Rechte zu tun, sich selbst und den Seinigen zu Glück und Freude. Nur wenige, sehr wenige können Helden der Menschheit sein, aber viele, alle vermögen, jeder in seiner Art, ein tüchtiges Glied der unendlichen Kette zu sein, welche die Gesellschaft ausmacht. Im Egoismus, und wäre es auch der Egoismus der Familie, zu verknöchern, ist freilich Philisterei. Aber in sich selbst und seiner Familie die Anlagen und Tugenden seines Volkes zur Entwickelung, die nationale Bildung zur Erscheinung zu bringen, und so, selbst aus dem kleinsten Kreise heraus, nach Gelegenheit und Kräften für das allgemeine Beste zu wirken, das ist auch Patriotismus und zwar, scheint mir, ein besserer und befruchtenderer als jener, welcher in den Zeitungen Phrasen und auf der Rednerbühne Gesten macht. Uns Deutschen vollends ist, glaube ich, dieser Patriotismus der angemessenste. Denn mag man es auch beklagen, es ist nun einmal doch so: wir haben zwar zeitweilig und, wenn es sein muß, vollständig das Zeug dazu, die heldische Seite der Geschichte zu vertreten und zu entwickeln; aber doch ist es unser eigenster Beruf, die humane zu pflegen. Und wir dürfen fürwahr uns rühmen, daß wir hierfür schon Großes und Größtes getan. Die Deutschen sind die menschlichsten Menschen, und was humane Freiheit sei, nur wir müssen und schätzen es. Wenn wir, wie ich in jeder Fiber meiner Seele hoffe, einmal dazu gelangen, ein in sich geschlossener und festgefugter Nationalstaat zu sein, wenn Deutschland, das erste Kulturland Europas, auch dessen erste Großmacht sein wird, dann wird und mag der Schatz von Humanität, welchen der Genius unserer großen Denker und Dichter und die stillgeduldige und rastlose Arbeit unseres Volkes durch die Jahrhunderte herab mitsammen angehäuft haben, in alle Welt hinausgetragen werden und in größerer Fülle und Mächtigkeit, als jetzt schon geschehen und geschieht, der ganzen Menschheit zugute kommen.

In diesem Gedankengange lag für mich viel Klärung und Beruhigung. Selbst die Sehnsucht nach Isolde, welche Fabians Rede in mir wachgerufen, hatte nichts von der ungestümen Hast und dem wilden Verlangen, welche die Nähe von Julie Kippling und der Umgang mit ihr in mir aufgestürmt hatten. In dem Maße, in welchem Zeit und Entfernung den Glanz der berauschenden Stanhopea verblassen ließen, ging der keusche Stern meiner Jugend leuchtender und verheißungsvoller mir in der Seele auf. Er sollte jetzt nicht mehr hinter der »wilden, trüben Lohe der Leidenschaft« verschwinden; ich fühlte es wohl.

Und sein Leuchten war so groß und schön, daß es mich viel Selbstüberwindung kostete, nicht von meinem Wege nach Süden abzuweichen, als ich drüben in der Ferne die Berge der Heimat meiner Kindheit blauduftig ragen sah. Ich hätte Isolde sehen, ihr sovieles, alles sagen mögen, aber ich bezwang mir das Herz in der Brust. Du hast ihr versprochen, durch eigene Kraft etwas zu werden, daher gedulde dich! Noch ein paar Jahre Arbeit, und du wirst ihr sagen dürfen, daß du Wort gehalten.

So heischte es mein Stolz, und ich gehorchte ihm. Aber doch nicht so ganz. Denn in der Grenzstadt, durch welche mich mein Weg führte, setzte ich mich hin und schrieb an Isolde einen langen Brief, in welchem ich mein ganzes Herz vor ihr ausschüttete. Ich machte das teure Mädchen bis ins einzelste hinein zum Zeugen des Kampfes, welchen ich durchgekämpft. Ich verschwieg nichts, beschönigte nichts, beichtete alles, selbst jene nächtliche Szene auf dem See, denn wie ich annehmen durfte, hatte mich ja Julie gerade durch die Mitteilung des Abenteuers an Isolde meines Gelübdes der Verschwiegenheit entbunden. Dann fragte ich Isolde, ob sie mir verzeihen, ob sie mich lossprechen könnte, und zuletzt deutete ich an, welche selige Hoffnung ich auf diese Absolution bauen möchte und würde.

Ich fühlte mich ordentlich leicht und froh, als ich den Brief zur Post trug, und wollte von da noch hinaus auf den Hafendamm, um das Abendrot auf dem schönen Bodensee liegen zu sehen und noch einmal zu den heimischen Gestaden hinüberzublicken.

Wie ich aber zur Einfahrt des Posthauses herauswollte, fuhr ein aus dem Innern der Schweiz kommender Eilwagen daselbst vor, und aus dem Schlage rief eine bekannte Stimme meinen Namen. Ich folgte dem Wagen in den Hof zurück, und als er hielt und der Schlag geöffnet wurde, fand ich mich keiner geringern Person als meinem ehemaligen Prinzipal gegenüber.

Es war nichts Außerordentliches, einem Geschäftsmann in einer Grenzstadt zu begegnen; allein Herr Oskar Ziegenmilch sah, wie ich bemerkte, viel unruhiger und aufgeregter aus, als einem so gewiegten Geschäftsmanne anstand. Er nahm sich auch nicht Zeit, nach seinem Gepäcke zu sehen, sondern zog mich beiseite und fragte hastig:

»Haben Sie schon von dem Unglück, von dem enormen Unglück gehört?«

»Von was für einem Unglück? Ich kam vor kaum ein paar Stunden von drüben her hier an.«

»Ah so! Sie kommen aus Deutschland?«

»Ja.«

»Und Sie haben dort von ihnen keine Spur gesehen?«

»Von was für ›ihnen‹ denn?«

»Ja so, Sie wissen nicht ... Ich bin noch immer so verwirrt, so enorm verwirrt ... entschuldigen Sie!«

»Gern; aber was hat es denn gegeben?«

»Enormes, ganz niederträchtig Enormes! Meine Lelia – ach was, zum Henker mit der Lelia! Das Romanzeug ist an allem schuld! – Meine Liseli ist fort.«

»Frau Ziegenmilch fort?«

»Fort, sag' ich, enorm fort.«

»Wohin denn?«

»Ja, wer weiß das? Vermutlich nach Deutschland.«

»Wie kam denn das?«

»Wie es eben kommt, wenn die Weiber ihren Männern durchgehen.«

»Was zum Kuckuck! Madame ist Ihnen durchgegangen.«

»Durchgerumpelt, würde ich sagen, wenn das eine Sache zum Spaßen wäre, das heißt sie ist mit dem Kerl, mit dem sauberen Rumpel, welcher Tische und Weiber verrückt machte, auf und davon.«

»Was? Die sittsame und gefühlvolle Frau Ziegenmilch ist mit dem alten Bummler fortgelaufen?«

»Fortgefahren mit Extrapost. Hat ihren Schmuck und eine hübsche Summe von Wertpapieren mitgenommen, die ich ihr nach und nach gegeben hatte, so zur Beschwichtigung, wenn sie sich mittels kleiner und großer Eifersüchteleien unangenehm machte – Sie verstehen mich? Es ist eine richtige Entführung – enorm, ganz enorm!«

»In Wahrheit, das geht über die gewöhnlichen Bummlerschnurren des alten Jungen hinaus. Die ehrsame Hälfte von Oskar Ziegenmilch und Komp. samt Schmuck und Wertpapieren entführen, da hört der Spaß auf.«

»Ja, ich weiß schon, wer den Schaden hat, bekommt den Spott noch gratis dazu – eine alte, eine enorm alte Geschichte.«

»Ich verspotte Sie nicht, mein Lieber; aber ich erlaube mir doch, Sie daran zu erinnern, daß ich Ihnen seinerzeit hinsichtlich dieses verteufelten Rumpel einen warnenden Wink gab. Wie ich sehe, wäre es gut gewesen, wenn Sie denselben beachtet hätten.«

»Ja, wer konnte aber auch von einem so enorm praktischen Kerl, wie dieser kahlköpfige Schubiak ist, so 'was erwarten?«

»Warum denn nicht? Herr Rumpel machte in Ihrer schönen Stadt erst in konservativer Politik, dann in Religion und Mystik. Darauf erschien es ihm noch gewinnbringender, in Entführung zu machen, und er griff zu. Herr Rumpel ist ein praktischer Mensch –«

»Das ist wahr, ein enorm praktischer Mensch ist er.«

»Gut, als solcher hat er nur Ihren eigenen Grundsätzen gemäß gehandelt, als er mit Beiseitesetzung der ›Katechismusmoral‹ ein Entführungsgeschäft machte, weil es lukrativ war. Geschäft ist Geschäft, und praktisch muß man sein, wie Sie wissen.«

Indem wir mitsammen nach dem Gasthaus gingen, wo ich abgetreten war, erzählte mir Herr Ziegenmilch die Entführungsgeschichte, soweit er sie nämlich kannte. Da war sie denn kurz beisammen: Herr Ziegenmilch war für einige Tage in Geschäften verreist gewesen. Bei seiner Nachhausekunft hatte er seine Frau nicht mehr getroffen. Sie war in eine der abendlichen Versammlungen gegangen, wo Herr Rumpel den odisch-magnetischen Mystagogen spielte, und war von da nicht wieder heimgekommen. Statt ihrer war am folgenden Tage ein Brief eingelaufen, worin sie ihrem Herrn Gemahl erklärte, ihr gefühlvolles Herz habe der Einladung des erleuchteten Propheten und Apostels Cyrillus Chrysostomus Theophil Rumpel, ihn auf einer Missionsreise zur Ausbreitung des odisch-magnetischen Heils zu begleiten, nicht zu widerstehen vermocht, um so weniger, da sie überzeugt sein müßte, Herr Ziegenmilch werde sich in Gesellschaft seiner Ladenjungfern leicht über ihre Abwesenheit trösten.

»Ich hätte nicht geglaubt,« fügte Herr Ziegenmilch seiner Erzählung fast melancholisch hinzu, »nein, ich hätte nicht geglaubt, daß mein sanftes Liseli so boshaft, so enorm boshaft sein könnte.'«

»Ich glaube auch nicht, daß Madame es war, welche diesen Trumpf ausspielte. Sicherlich hat ihr der erleuchtete Cyrillus Chrysostomus Theophilus den Brief diktiert.«

»Da könnten Sie recht haben, Herr Hellmut, enorm recht. Und denken zu müssen, daß so ein infamer Halunk über besagten Schmuck und besagte Wertpapiere verfügen soll!«

»O, Sie praktischer Mensch und Shylock!«

»Shylock? Shylock? Kenne keine Firma dieses Namens. Was wollen Sie damit sagen?«

»Weiter nichts, als daß Sie fähig wären, Shylocks Äußerung hinsichtlich der entführten Jessika zu parodieren und zu sagen: Ich wollte, meine Liseli läge tot vor mir, den Schmuck und die Wertpapiere in den Händen.«

»Da tun Sie mir unrecht, enormes Unrecht. Ich wollte nur, ich hätte meine Frau wieder. Was sie mitgenommen, mag meinetwegen zum Henker gehen. Oskar Ziegenmilch und Komp. können so etwas schon als Bagatelle ansehen. Wir« – Herr Ziegenmilch hatte nämlich bereits von Herrn Kippling gelernt, im majestätischen Plural von sich zu sprechen – »wir sind, Gott sei Dank, in der Lage, ein Verlüstchen verschmerzen zu können. Aber, unter uns, seit mein Fräuli fort ist, merk ich erst recht, daß ich sie eigentlich enorm gern habe. Sie war im Grunde doch ein gutes Tierli.«

»Wirklich? Und warum fällt Ihnen das jetzt erst ein? Eine vernachlässigte Frau verfällt auf allerlei dumme Schrullen. Das ist nur logisch. Besagte Ladenjungfern –«

»Bitte, nichts mehr von diesem Artikel! Ein so viel beschäftigter Mann wie ich, hat zuweilen so seine kleinen Anwandlungen von Zerstreutheit. Aber, wie gesagt, mein Liseli fehlt mir jetzt enorm und hat mir das Essen gar nicht geschmeckt, seit ich ihr liebes dickes Gesicht bei Tische nicht mehr gegenüber habe. Es ist ein enormes Pech! Ich meine, daß ich sie mit offenen Armen aufnähme, käme sie nur wieder zurück.«

»Haben Sie denn schon die nötigen Nachforschungen angestellt?«

»Soviel ich konnte. Schon seit vier Tagen fahre ich deshalb in der Welt herum. Ein Spur der Flüchtigen wies ins Gebirge hinein, verlor sich aber bald. Eine andere, die auf den Bodensee deutete, Hab' ich bis zur letzten Poststation verfolgt, wo sie ebenfalls ausging.«

»Haben Sie auch die Polizei in Requisition gesetzt?«

»Die Polizei? Wo denken Sie hin! Gott bewahre! Wir müssen auf unsern Ruf achten. Was gäbe das für ein Geschrei und Gelächter, wenn Oskar Ziegenmilch und Komp. mit Landjägern und sonstiger Polizei auf seine Gemahlin vigilieren gingen! Nein, nein! Ich habe deshalb auch zu Hause gesagt, Madame habe eine Badereise angetreten. Wir müssen das Geschäft, das Verfolgungsgeschäft mit äußerster Diskretion betreiben, mit enormer Feinheit und nur so unter der Hand. O, wir waren immer ein praktischer Mann, wir; aber die wahre Finesse, wie man seine Fortune poussieren muß, haben wir doch erst losgekriegt, seit wir die Ehre hatten, mit Herrn Gottlieb Kippling in Geschäftsverbindung zu treten. Ein großer Mann, der Herr Oberst und Kantonsrat – groß, enorm groß!«

»Ja, wie ist denn das Kohlenlager-Erfindungsgeschäft ausgefallen?«

»Kolant, enorm kolant, kolossal, wie der Schuft sagen würde, der Rumpel – aber ich will den Kerl nun gar nicht mehr nennen. Die Leute waren wie toll. Der Kurs unserer Kohlenaktien flog hinauf, als wollte er ein Loch in den Himmel stoßen.«

»Und Sie sind also noch Direktor der Köhlerei?«

»Nein, so unpraktisch waren wir nicht. Als das Unternehmen so recht im Flor stand, schlug Herr Gottlieb Kippling, seine Aktien los und zog sich von der Kompagnie zurück. Das war ein enormer Schlag ins Kontor, begreiflich! Wurde uns auch nicht wenig schwül bei der Sache. Fürchteten schon, erfahren zu müssen, daß mit großen Herren nicht gut Kirschen essen sei. Aber der Herr Oberst und Kantonsrat, welcher unsere Qualitäten kennen gelernt hatte, ließ uns nicht stecken, sondern zog uns bei guter Zeit, samt unserem Schäfchen, will sagen unserem Gewinnst, aufs Trockene.«

»Und die anderen hatten das Nachsehen?«

»Die anderen haben ihre Aktien. Mögen sehen, was sie damit anfangen. Praktisch muß man sein. Wundert mich aber doch, unter uns gesagt, wie ein so enorm praktischer Mann, wie der Herr Oberst und Kantonsrat ist, so darauf versessen sein kann, seine einzige Tochter so einem fremden Grafen oder Baron, was er ist, der wohl nicht viel mehr hat als sein Wappen und seine Sporen, an den Hals zu werfen.«

»Ist diese Verbindung schon eine öffentliche?«

»So ziemlich. Kennen Sie den Herrn von Rothenfluh? Er ist hochmütiger als zehntausend Millionäre zusammengenommen. Gab mir kaum eine Antwort, als ich vorige Woche die Ehre hatte, bei Herrn Gottlieb Kippling zu dinieren.«

»Der Freiherr befindet sich gegenwärtig wieder im Kipplingschen Hause?«

»Ja, er kam neulich.«

»Und seine Verlobung mit der Tochter des Hauses hat stattgefunden?«

»Wenn sie nicht schon statthatte, so steht sie doch bevor. Das kann jeder sehen, der nicht blind ist. Denn die stolze junge Dame ist ja augenscheinlich ganz enorm verliebt in den Junker, und sie wickelt ihren Vater um den kleinen Finger. Unpraktisch das, enorm unpraktisch! Oder es muß was dahinter stecken. Man munkelt in der Stadt davon, es werde eine Doppelheirat geben, denn der Herr Baron habe eine wunderschöne Schwester und die –«

»Was?«

»Nun, die würde die Frau von Herrn Theodor Kippling werden.«

»Das ist 'ne Lüge, 'ne dumme, verdammte Lüge!«

»Ei, wie sehen Sie aus, Herr Hellmuth, und was machen Sie für Augen! Was haben Sie denn?«

»Nichts. Aber ich muß Sie jetzt verlassen, Herr Ziegenmilch, denn ich habe kaum noch Zeit, meine Sachen nach der Post zu schaffen. Will mit dem Nachtwagen fort, um morgen bei guter Zeit in der Stadt zu sein. Adieu und viel Glück zu Ihrem dermaligen Geschäft!«

Zweites Kapitel,

worin zuvörderst ein ganz kurzer Monolog und hernach verschiedene bedenkliche Neuigkeiten mitgeteilt werden.

»Elender Klatsch! Ganz miserabler Klatsch! Aber ich muß doch zusehen, was alles während meiner Abwesenheit im Hause Kippling sich zugetragen. Daß Berthold und Julie ein Paar werden, nun, das ist in der Ordnung, ganz in der Ordnung. Sie will einen Helden à la Byron und er, er will eine Millionärin. Das paßt sich vortrefflich, das klappt! Aber das andere – ich bin gewiß, daß es nur Klatsch ist, nur Klatsch sein kann.«

Dieses kurze Selbstgespräch wiederholte sich während meiner nächtlichen Postwagenfahrt etwa ein dutzendmal, wenn ich mich recht erinnere. Zwischenhinein wurde auch der Entschluß gefaßt, mich etwas energischer, als bislang geschehen, mit meinen Privatangelegenheiten zu befassen ... Ei, wir sind doch alle mitsammen wunderliche Käuze! Sonst könnte es nicht vorkommen, daß wir eine Perle, wie rein und schön sie sei, erst dann in ihrer ganzen Kostbarkeit erkennen, wenn wir plötzlich eine schmutzige Hand nach derselben langen sehen.

In höchst unbehaglicher Stimmung kam ich in der Stadt an. Es war entschieden nicht Eifersucht, was ich empfand, wohl aber dunkle Besorgnis. Die beiden Kipplinge, der ältere sowohl als der jüngere, waren nicht die Leute, einen einmal entworfenen Plan aufzugeben, und die ganze Art und Weise, wie von Vater und Sohn die Bewerbung des Freiherrn um Julie aufgenommen und gefördert worden war, unterstützte allerdings die Ziegenmilchsche Vermutung, daß noch etwas weiteres dahinter stecken müßte.

Beunruhigt, wie ich war, konnte ich es kaum erwarten, vom Posthofe nach Hause zu kommen. Aber hier begrüßten mich Szenen, welche meine Gedanken doch wieder für eine geraume Weile von meinen Privatangelegenheiten ablenkten, wenigstens teilweise.

Als ich über den großen Hofraum zwischen den Magazinen nach der Gartenpforte ging, gewahrte ich an dem Orte eine sonderbare Verstörung, die hier um so auffallender war, wo eine mannigfaltige Tätigkeit sonst mit der Regelmäßigkeit einer guten Uhr verlief. Magazinarbeiter, Packer, Fuhrleute und Schiffer von den Kanalbooten standen plaudernd in Gruppen beisammen und ließen ihre Arbeiten ruhen. Aber man hörte keinen Scherz, vernahm kein Gelächter. Es ging überall ernst und still zu. Daß mich der große Warenprober der Firma, Herr Kambli, welcher gerade über den Hof ging, nicht mit einem Witz oder doch mit einem Witzversuch, sondern mit einer sehr ernsthaften Miene begrüßte, das war vollends, wie er sich ausgedrückt haben würde, gegen alle Kleiderordnung.

»Was haben denn die Leute?« fragte ich ihn.

»Schätze, sie machen ihre Glossen über das Unglück,« gab Herr Kambli zur Antwort.

»Über das Unglück? Ist Herrn Kippling oder den Seinigen etwas zugestoßen?«

»Körperlich nicht. Der Herr Oberst ist wohlauf und der junge Herr und das Fräulein auch, das heißt von letzteren vermut' ich es, denn sie haben gestern früh in Gesellschaft des Herrn Rittmeisters eine Bergtour angetreten.«

»So? Aber was ist denn sonst?«

»Mehr als genug. Das ganze, große, prächtige Etablissement im Bihltal droben ist gestern abgebrannt.«

»Kipplingsruhe?«

»Ja, jetzt heißt es mit Fug und Recht so, denn das Ganze ist nur noch ein ungeheurer Haufen von Schutt und Asche.«

»Wie kam denn das?«

»Ja, wer das schon wüßte! Sicher ist nur, daß der Brand gestern in der ersten Arbeitsstunde ausbrach, bei dem furchtbar heftigen Föhn, welcher unglücklicherweise gerade weht, mit reißender Schnelligkeit um sich griff und allen Rettungsanstalten zum Trotz so lange fortwütete, bis die Zerstörung eine vollständige war. Einige sagen, das Feuer sei im großen Webersaal, andere, es sei im Baumwollenmagazin entstanden. Brandstiftung wird stark vermutet und sitzt deshalb einer der Arbeiter, namens Zündt, bereits am Schatten.«

»Der Zündt? Der Vater des schönen Fabrikkindes, des Gritli?«

»Derselbe. Sie kennen also das hübsche Ding?«

»Ich sah es mal hier und nachher auch droben in Kipplingsruhe.«

»Ah, deshalb hat es Ihnen heute in aller Frühe auf dem Bureau so dringend nachgefragt.«

»Das Gritli hat mir nachgefragt?«

»Ja. Das junge Meidli, noch ein pures Kind, sah ganz verstört aus, wahrscheinlich infolge der Eintürmung seines Vaters. Wenn mir recht ist, hat das Kind geäußert, es habe Ihnen etwas zu sagen. Als man ihm mitgeteilt, Sie seien auf Reisen, habe es wie verzweifelt, wie ganz unsinnig getan und sei fortgerannt.«

»Sie erzählen mir Rätsel.«

»Ja, es sieht rätselhaft aus, vollends wenn man bedenkt, daß das Gritli von hier weg über die Brücke und am Kanal hinauslief, um sich droben in den See zu stürzen.«

»Wie, um Gottes willen! Das arme Kind hat sich ertränkt?«

»Es wollte sich ertränken, ohne Zweifel. Allein die Fährleute eines an der Kanalmündung vor Anker liegenden Holzschiffes fischten das Meidli heraus, und jetzt sitzt es, wo sein Vater sitzt, nämlich auf dem Verhöramt; denn sein Benehmen war so auffallend, daß man einen Zusammenhang desselben mit dem Brandunglück, vielleicht mit der Brandstiftung argwöhnt.«

»Seltsam! Aber ich erinnere mich, dem Gritli, welches meine Teilnahme erregt hatte, droben in Kipplingsruhe mal gesagt zu haben, es sollte sich nur ungeniert an mich wenden, wenn es in Not gerate.«

»In Not ist das Meidli jetzt allerdings, aber Sie werden ihm wenig helfen können. – Doch sehen Sie, da kommt unser Herr Chef.«

Von der Stadt herkommend, lenkte der Wagen des Herrn Oberst auf den Hof und fuhr am Kontor vor. Ich präsentierte mich meinem Chef, als er ausstieg, und wurde freundlich von ihm willkommen geheißen. Ich bemerkte auch weiter keine Aufregung an ihm. Die achteckige Brille faß ihm wie sonst auf der Nasenwurzel, und die gesunde Röte seines Gesichts war ungemindert.

Ein so enorm großer Mann wie Herr Gottlieb Kippling war – wenigstens in den Augen von Oskar Ziegenmilch und Komp. – durfte sich durch eine Feuersbrunft, so bedeutend diese auch sein mochte, nicht aus der Fassung bringen lassen.

»Sie kommen ja wie gerufen, Herr Hellmuth,« sagte er zu mir. »Wir werden in der nächsten Zeit alle Hände voll zu tun haben. Der Brandschaden ist ungeheuer, obgleich die Gebäulichkeiten versichert waren. Was ging an Material, was geht an Arbeitszeit verloren! Aber wir müssen es wieder hereinbringen. Weiter läßt sich nichts machen. Klagen und Jammern tut's nicht. Wir müssen ohne Zögern an den Wiederaufbau des Etablissements gehen. Habe daher heute mit Baumeistern und Werkleuten bereits die nötigen Verabredungen getroffen. Morgen schon wird mit Wegräumung des Schuttes begonnen. Man muß die Hände rühren und praktisch sein, und da ich jetzt gerade eine Stunde frei habe, dächte ich, Sie kämen mit mir in mein Arbeitszimmer hinauf, um mir über den Stand unserer Geschäfte in England und Frankreich des Näheren zu referieren.«

Wir gingen hinauf. Der Herr Oberst setzte sich vor sein Bureau, nahm aus einem Fache desselben die Geschäftsbriefe, welche ich während meiner Reise nach Hause geschickt hatte, legte sie vor sich hin und erbat sich, einen nach dem anderen durchgehend, meine mündlichen Erläuterungen dazu. Er war so ganz bei der Sache, als hätte es niemals, geschweige erst vor vierundzwanzig Stunden, eine Feuersbrunst gegeben, bei welcher sich der Schaden nach Hunderttausenden, vielleicht nach Millionen berechnete.

Ich gestehe, daß ich zu jener Stunde etwas wie Respekt, wie großen Respekt sogar vor Herrn Gottlieb Kippling empfand. Die Geistesklarheit und ruhige Energie, welche er in der Verhandlung mit mir darlegte, ließen mich ihn einem Feldherrn vergleichen, der, nachdem ohne sein Verschulden eine große Schlacht verloren gegangen, schon am Tage darauf ungebrochenen Mutes wieder zum Angriff übergeht.

Mein Referat war abgetan und der Herr Oberst gerade daran, mir seine Zufriedenheit mit meiner Führung seiner Angelegenheiten in der Fremde auszudrücken, als Herr Hanns Bürger eintrat.

Er bat um Entschuldigung, falls er störe, bot mir nach seiner Gewohnheit den Zeigefinger der rechten Hand zur Begrüßung und sagte:

»Rechne, die Sache wird immer unklarer – 's ist kla–ar.«

»Wieso?« fragte Herr Kippling. »Hat das mit dem Zündt angestellte zweite Verhör noch kein sicheres Resultat ergeben?«

»Nein. Der Mensch bleibt bei seinem verstockten Leugnen. Dagegen hat das Kind, das Gritli, sobald es einigermaßen wieder zu klarer, Besinnung kam, eingestanden –«

»Das Gritli hat eingestanden? Was denn?«

»Daß es die Brandstifterin sei.«

»Das Gritli? Unmöglich!« rief Herr Kippling aus, stand von seinem Rohrsessel auf und ging mit auf den Rücken gelegten Armen durch das Zimmer.

Als er bei Herrn Bürger vorüberkam, warf er unter dem Brillenrand hervor einen seiner lauernden, bohrenden Blicke auf den Prokuraträger.

Herr Bürger zuckte die Schultern, worauf Herr Kippling seinen Gang fortsetzte.

»Wenn das Gericht nicht etwa das Kind für unzurechnungsfähig erklärt, so kommt es ins Zuchthaus, für seine Lebtage vielleicht, das ist sicher,« murmelte er im Gehen. »Aber es kann nicht sein, nein, es kann nicht sein! Erst vor einigen Tagen hat mir der Oberaufseher des Webersaals auf Befragen mitgeteilt, das Gritli sei ein stilles, sanftes, fleißiges Kind. Wie sollte es plötzlich zu einem solchen Verbrechen kommen? Unmöglich!«

Die Tatsache der Brandstiftung, zusammengehalten mit der Persönlichkeit des Kindes, frappierte auch mich höchlich; aber fast noch mehr frappierte mich die Art und Weise, wie der Herr Oberst, der doch sonst seine Arbeiter rein nur als »Hände«, das heißt als Maschinen bedienende Maschinen ansah, von dem Fabrikkinde sprach. Der Sachlage nach hätte man von seiten des Herrn Oberst Zorn und verachtungsvolle Schmähung erwarten sollen, und statt dessen drückte er sich so aus, daß man glauben konnte, es tue ihm mehr um das Gritli als um Kipplingsruhe leid.

»Hm,« bemerkte Herr Bürger nach einer Pause, »rechne, auf den ersten Blick muß es allerdings seltsam und rätselhaft erscheinen, daß ein Kind, wie das in Rede stehende mit einmal auf den tollen Einfall gekommen sei, Feuer anzulegen. Allein bei näherem Zusehen gibt die Psychologie oder, da ja Herr Düngerling und Konsorten samt der Psyche auch die Psychologie abgeschafft haben, die Physiologie Erklärungen für solche Tollheit. Ist es doch, rechne ich, anerkannt, daß auf der Übergangsstufe vom Kinde zum Mädchen das weibliche Geschlecht nicht selten auf die seltsamsten Gelüste und Ausschreitungen verfällt. Vielleicht könnte gerade der gegenwärtige Fall der gerichtlichen Medizin ein auffallendes Beispiel von Pyromanie liefern. Wenigstens leugne, hörte ich, das Gritli jede Anstiftung entschieden, und jedenfalls hat sich das Kind nicht von seinem Vater zu der Tat anstiften lassen – 's ist kla–ar.«

»Von seinem Vater?« fragte Herr Kippling zerstreut.

»Nun ja, von dem Zündt,« erwiderte Herr Bürger, den Namen nachdrücklich betonend.

»Ach so!« murmelte Herr Kippling und setzte seinen Gang fort.

Er befand sich gerade bei der Türe, als diese aufging und der alte Kontordiener einen Brief hereinbrachte mit den Worten: »Zu Ihren eigenen Händen, Herr Oberst.«

In der ungewöhnlichen Zerstreutheit, welche ihn angewandelt hatte, hielt Herr Kippling das Papier einige Minuten lang unerbrochen in der Hand. Dann öffnete er es lässig und überflog nur wie mechanisch den Inhalt.

Aber plötzlich stieß er einen halberstickten Schrei aus, wankte auf seinen Füßen, taumelte in seinen Sessel, den Brief krampfhaft in der Hand zerknitternd und mit bleichen Lippen Unverständliches murmelnd.

Erschrocken über dieses Gebaren eines so kräftigen und willensstarken Mannes, sprangen Bürger und ich hinzu, indem ich dem noch an der Türe stehenden Diener zurief, einen Arzt herbeizuholen.

»Nein, nein!« sagte Herr Kippling, sich mit einer gewaltsamen Anstrengung aus seiner gebrochenen Stellung aufrichtend. »Ich bedarf keines Arztes, sondern nur eines Glases Wein. Geh es holen, Jakob, und dann, hörst? bin ich in den nächsten drei Stunden für niemand zu Hause.«

Der Diener ging. Herr Kippling setzte sich in seinem Stuhle zurecht und schob den zerknitterten Brief, dessen Inhalt so mächtig auf ihn gewirkt hatte, in die Brusttasche.

Dann sah er Herrn Bürger und mich mit forschenden Blicken an und sagte mit einer Stimme, deren Mattigkeit er vergeblich zu verbergen suchte:

»Meine Herren, Sie haben sich immer treu und redlich gegen mich erwiesen ... Beklagen Sie mich: ich bin ein unglücklicher Mann!«

Es hatte etwas Rührendes, diesen hartgesottenen Mann der Praxis plötzlich so kläglich sich äußern zu hören.

Ich war in peinlicher Verlegenheit, und Herrn Bürger erging es wohl nicht besser, denn er sagte ziemlich hölzern:

»Rechne, Ihr habt einen großen Schreck gehabt, Herr Oberst.«

»Jawohl,« versetzte Herr Kippling mit einem schweren Seufzer.

»Darf ich fragen, ob es sich um eine Geschäftssache handelt?«

»Nein – leider nicht. Es hängt mit –«

Er brach ab, wie sich besinnend. Aber doch noch nicht völlig Herr seiner selbst, sagte er:

»Mein lieber Herr Bürger, ich weiß, welche Wünsche Ihr gehegt habt, und Ihr wißt, daß mit der Erfüllung derselben auch die meinigen erfüllt worden wären. Aber grämt Euch nicht über die Nichterfüllung. Braucht Ihr doch, wie die Sachen jetzt stehen, vielleicht nie zu erfahren, was Kinder für ein – hm, für ein Segen sind.«

»Herr Oberst –«

»Ach ja, ich schwatze recht zerstreut ... Meine Herren, haben Sie die Güte, mich allein zu lassen ... Sie haben nichts zu besorgen, ich habe mich schon wieder erholt und muß sofort an eine dringliche Arbeit gehen. Sie können mir dabei nicht helfen ... Aber warten Sie noch einen Augenblick, nämlich Sie, Herr Hellmuth. Wollten Sie mir wohl einen Gefallen tun?«

»Von Herzen gern.«

»Gut, ich danke Ihnen. Kommen Sie in Zeit von einer Stunde wieder hierher, aber pünktlich!«

Als ich nach Verlauf einer Stunde wiederkam, fand ich, daß der Herr Oberst die gewöhnliche Fassung mit Bestimmtheit seines Wesens wieder gewonnen hatte. Er war beschäftigt, den Umschlag eines ziemlich dickleibigen Briefes oder Briefpakets zu versiegeln, und als er damit zustande gekommen, sagte er:

»Die Gefälligkeit, um welche ich Sie bat, Herr Hellmuth, ist eine Reise ins Gebirge. Vielleicht ist es nicht ganz schicklich, Sie schon wieder hinauszusprengen, nachdem Sie kaum von einer langen und mit höchst anstrengenden Geschäften verbundenen Tour zurückgekehrt sind. Aber die Umstände sind dringend. Ich muß einen vertrauten Mann schicken und habe nur die Wahl zwischen Ihnen und Herrn Bürger –«

»Bitte, Herr Oberst,« sagte ich, »es bedarf gar keiner Umschweife oder Entschuldigungen. Ich bin sogleich reisefertig. Wohin und was soll ich?«

»Es handelt sich darum, in möglichster Eile meinen Sohn aufzufinden und ihm diesen Brief zuzustellen.«

»Gut. Wo soll ich Herrn Kippling treffen oder wenigstens suchen?«

»Ja, sehen Sie, das ist eben die Mißlichkeit, daß ich Ihnen nicht genau oder vielmehr nur ganz im allgemeinen sagen kann, wo sie Theodor treffen werden. Ich dachte einen Augenblick daran, ihn mittels einer Annonce in den Zeitungen ... aber es geht nicht ... würde nur Aufsehen erregen ... Ich muß Sie, beiläufig bemerkt, bitten, mit niemand, hören Sie? mit niemand, Herrn Bürger ausgenommen, von dem Zweck Ihrer bevorstehenden Reise zu reden ... Theodor und Julie haben gestern früh in Gesellschaft des Herrn von Rothenfluh, welcher so ziemlich als der Verlobte meiner Tochter anzusehen ist, einen Ausflug in die Hochalpen unternommen. Ich war gegen diesen romantischen Einfall und jetzt weiß ich, daß ein richtiger Instinkt mich leitete. Aber Julie bestand darauf, indem sie sagte, auf Reisen erprobe sich die Liebenswürdigkeit der Leute am sichersten, und sie wolle daher sehen, wie der Freiherr die Probe bestehen werde. So ließ ich die jungen Leute gehen, sozusagen ganz ins Blaue hinein; denn von einem Reiseplan wollte Julie nichts wissen. Das sei langweilig, meinte sie, und erinnere sie an die Pensionatsreisen nach Anleitung des Guide. Ich weiß also nur, daß die drei mitsammen den See hinauf sind, um durch das Gaster und dann über den Wallensee in die Hochtäler von Graubünden zu gehen. Dort sei noch natürliche Natur und romantische Romantik, wie sich Julie ausdrückte. Sie sprachen aber auch davon, zuvor das an ihrem Wege gelegene Glarnerland zu besichtigen und in diesem Falle dann von Glarus nach Mühlehorn zu gehen, um von da über den Wallensee zu fahren.«

»Graubünden ist also jedenfalls das Reiseziel?«

»Jedenfalls, es müßte denn Julie plötzlich die Laune anwandeln, eine andere Richtung einzuschlagen.«

»Das wäre freilich kein unmöglich Ding.«

»Leider. Aber wir müssen doch nun einmal das Glarner- und Graubündnerland im Auge halten.«

»Gut. Im ersteren, welches ja sozusagen nur aus einem einzigen Tale besteht, müßten die Reisenden leicht aufzufinden sein. Schwieriger wäre die Sache in Graubünden, dessen Berge und Täler fast labyrinthisch durcheinander laufen. Ich denke aber, da eine Dame bei der Reisegesellschaft ist, wird diese wohl nicht in die wildesten Bergwildnisse sich hineinwagen.«

»O, darauf können Sie nicht rechnen, mein lieber Herr Hellmuth. Sie kennen ja Julie. Sie würde ihre Begleiter zu den tollsten Gletschertouren zwingen, wie sie sich's gerade in den Kopf gesetzt hätte, daß das schön sein müßte.«

»Nun wohlan, ich will mit dem zunächst abgehenden Dampfer den See hinauf. Morgen und übermorgen durchstreif ich das Glarnerland, und unterwegs stoße ich da wohl auf Spuren, die mich weiter leiten. Ich habe also, im Falle ich die Reisegesellschaft früher oder später treffe, nichts zu tun, als Herrn Theodor Kippling dieses Briefpaket zu übergeben?«

»Doch. Wenn Sie ihm das Paket – achten Sie sehr auf dasselbe, es sind auch Banknoten darin – übergeben haben werden und er von dem Inhalt Kenntnis genommen hat, werden Sie ihn fragen, ob er dem soeben an ihn gelangten Wunsche, nein, dem Befehle seines Vaters sofort Folge leisten wolle. Sagt er ja, so bringen Sie mir diese Antwort zurück. Sagt er nein, so schreiben Sie mir es auf der Stelle und bleiben dann in der Nähe Theodors, bis Sie Weiteres von mir hören.«

Hier, merkte ich, war meine Audienz zu Ende, obgleich mich der Herr Oberst diesmal nicht so ohne weiteres mit seiner sonstigen Vornehmheit entließ.

Ich ging nach dem Pavillon hinauf, wählte aus meinem inzwischen daselbst angelangten Reisegepäcke einen kleinen Handkoffer aus und benutzte die Stunde, die mir bis zum Antritte der neuen Reise noch blieb, mich im See vom Staub der alten rein zu spülen.

Auf mein Zimmer zurückgekehrt, wollte ich dem vorher zu diesem Zwecke bestellten Packknecht mein leichtes Reisegerät übergeben, um dasselbe nach dem Dampfboot zu schaffen, als Bürger kam und sich erbot, mich samt meinen Siebensachen in einer der zum Hause gehörenden Barken nach dem Hafen zu rudern. Natürlich nahm ich das Anerbieten an, und wir befanden uns bald auf dem Wege.

Als Bürger bemerkte, daß ich beim Vorüberfahren einen Blick auf das Badehäuschen am Ende des Kipplingschen Gartens warf, sagte er:

»Ah, Ihr erinnert Euch an vorjährige Mondscheinnächte – 's ist kla–ar. Aber die Nixen haben sich in diesem Sommer in Bergnymphen oder wie es, rechne ich, die Griechen nannten, in Oreaden verwandelt – tempora mutantur. Seid Ihr noch verliebt, lieber Junge?«

»Nein, alter Junge.«

»Gewiß nicht? Nun, das ist ja auch eine Neuigkeit. Rechne, ist heute der Tag der Neuigkeiten. Erstlich springt das arme dumme Ding, das Gritli, ins Wasser; zweitens gibt es, wieder herausgefischt, sich selber als Brandstifterin an; drittens erhält Herr Kippling senior einen mysteriösen Brief, der ihn seine Fassung völlig verlieren macht; viertens tretet Ihr, kaum erst heimgekehrt, eine sonderbarliche Botenfahrt an, einen gewissen Herrn Kippling junior in den Bergen aufzustöbern. Fünftens ist vor einer Viertelstunde die ehrsame Frau Regel, weiland Beschließerin oder Wirtschafterin zu Kipplingsruhe, gefangen hier eingebracht worden.«

»Was, die Frau Regel ebenfalls verhaftet?«

»Ihr sagt es.«

»Weshalb denn?«

»Das weiß der Herr Verhörrichter und noch andere Leute – vielleicht. Was mich betrifft, ich weiß nur, daß die Frau Regel in späteren Jahren ihres Lebens einen großen Schick hatte, die Bihlforellen richtig zu sieden, während sie in früheren auch andere Dinge verstanden haben muß – 's ist kla–ar.«

»Was ist klar?«

»Nichts.«

»Da habt Ihr's getroffen. Wenigstens, was diese ganze Brand-, Brief- und Verhaftungsgeschichte angeht.«

»Hm, rechne, ein in historischer Kombination geübter Mann könnte aus den mitgeteilten fünf Neuigkeiten ein hübsches Stück Tagesgeschichte zusammenleimen. Möglich, daß das in Ermangelung eines Historikers ein simpler Kriminalist von Staatsanwalt tut ... Aber da sind wir ja an der Treppe des Dampfboots. Gehabt Euch wohl; und wenn Ihr Herrn Theodor Kippling trefft, so sagt ihm, wie Ihr ja aus Erfahrung kennt, es sei eine merkwürdig schöne Sache ums Reisen.«

Drittes Kapitel,

welches so gar nicht romantisch ist, daß Autor fürchtet, es möchte von seinen schönen Leserinnen überschlagen werden.

Als der Dampfer aus dem Hafen strich, fuhr er, eine weite Kurve nach rechtshin beschreibend, am Kipplingschen Garten vorüber. Die Spiegelscheiben des palaisartigen Hauses glänzten hinter den Bäumen hervor und wie meine Augen, so richteten sich auch die anderer Passagiere bewundernd auf das prächtige Besitztum.

Aber war denn in den Prunkgemächern hinter jenen Fenstern das Glück daheim? Schwerlich. Es mußte ein großer Schmerz gewesen sein, welcher Herrn Gottlieb Kippling die Klage ausgepreßt hatte, er sei ein unglücklicher Mann, und das Herz mußte ihm ordentlich in Galle schwimmen, als er seine gewohnte Selbstbeherrschung und Zurückhaltung soweit vergaß, Herrn Bürger zu beglückwünschen, daß dieser noch nicht erfahren, was für ein Segen, das heißt was für ein Fluch Kinder seien. Es ist dafür gesorgt, daß es zuweilen selbst einem verhärtetsten Priester Mammons fühlbar werde, daß es noch Kostbareres gebe als Gold.

Über das Verdeck gehend, erfuhr ich auch, daß, so ungemessenen Respekt die praktischen Schweizer vor dem Reichtum hegen, dieser Respekt dennoch der Kritik nicht immer den Mund verschließe.

Eine Gruppe von älteren und jüngeren Männern stand rauchend in der Nähe des Steuerrades beisammen, und die Katastrophe von Kipplingsruhe bildete den Gegenstand ihrer Unterhaltung.

»Der Herr Oberst,« bemerkte einer, »wird den Schlag, so bedeutend derselbe auch ist, kaum verspüren. Die Hilfsmittel der Firma sind kolossal und ihr Kredit felsenfest.«

»Ja,« versetzte ein alter lebhafter Herr mit weißen Haaren und rotem Gesicht, »so felsenfest, daß selbst die garstige Kohlengeschichte von neulich keine Erschütterung bewerkstelligen konnte.«

»Was wollen Sie, Herr Nationalrat?« entgegnete der erste Sprecher, dem der Spekulant aus den Augen sah. »Der Herr Oberst benutzte eben auch das Eisenbahnfieber. Es nimmt jeder seinen Vorteil wahr wie er kann, und wenn man Fortune machen will, darf man nicht allzu ängstlich sein.«

»Nun, bei Gott,« erwiderte der alte Herr, »Ängstlichkeit, wenigstens Ängstlichkeit in Beziehung auf die Moral kann man gar manchem unserer Geschäftsleute nicht vorwerfen. Die Königin Industrie, welche ja unsere republikanischen Einrichtungen mehr und mehr illusorisch macht, lebt neuestens auch bei uns in flottester wilder Ehe mit dem König Schwindel. Aber geben Sie acht, meine Herren, was für eine Brut von Bastarden da von der Bank fallen wird. Es sieht ganz so aus, als ob auch hierzulande, wie das schon in Frankreich der Fall ist, Fortunemachen das höchste, ja einzige Gesetz werden sollte. Als Ergänzung wird man höchstens das sogenannte elfte Gebot substituieren: »Du sollst dich nicht lassen erwischen.'«

»Das ist nur zu wahr, Herr Nationalrat,« nahm ein dritter das Wort, welchen die übrigen Herr Sekundarlehrer betitelten. »Man sagt, unser Land könne ohne Industrie schlechterdings nicht mehr existieren, und ich gebe das zu. Aber was ich nicht zugebe und was, denke ich, kein redlicher Patriot zugeben wird, ist, daß unsere Industrie nur dazu da sei, ein paar Dutzend Fabrikherren zu Geldkönigen und Tausende und wieder Tausende unserer Mitbürger zu physisch und moralisch ruinierten Fabriksklaven zu machen.«

»Das ist übertrieben! Unpraktisches Zeug! Sozialistische Wühlerei!« bemerkte der Spekulant.

»Ja, so tönt die Orgelei, sobald man auf diesen Krebsschaden hindeutet,« entgegnete der Schulmann lebhaft. »Man muß nur wissen, wie es in vielen Fabriken hergeht. Aber davon wollen unsere Fabrikherren, die in der obersten Behörde sitzen, freilich nichts wissen.«

»Aber warum wählt denn das Volk gerade solche Herren zu seinen Vertretern und Gesetzmachern?« fragte ein vierter.

»Warum?« erwiderte der Schulmann. »Ei, du lieber Gott! Als ob unter unserer Fabrikbevölkerung von einem freien Wahlrecht auch nur im entferntesten die Rede sein könnte. Der Fabrikler muß wählen, wie sein Arbeitgeber will, und überhaupt müßte es ja mit einem Wunder zugehen, wenn unter Leuten, die von Jugend auf jahraus jahrein von morgens sechs Uhr bis abends sieben Uhr in dem Dunst und Qualm der Fabriken arbeiten und unter Maschinen selbst zu Maschinen werden, ein freies Bürgerbewußtsein sich entwickeln könnte. Da entwickelt sich höchstens tierischer Servilismus, welcher dann zuzeiten in tierischen Ingrimm und wilde Rachsucht umschlägt. Der Herr Oberst Kippling hat das gestern auch erfahren.«

»In der Tat,« sagte der alte Herr, »man hörte schon seit Jahren, daß zu Kipplingsruhe mit unmenschlicher Härte verfahren werde, und insbesondere soll der junge Herr Kippling ein überstrenges Regiment geführt haben, während er sich selber gegenüber den Arbeiterinnen jede frechste Ausschreitung gestattete.«

»Ich will vom letzteren Punkt gar nicht einmal reden,« bemerkte der Sekundarlehrer; »aber was die unmenschliche Härte betrifft, womit in dem niedergebrannten Etablissement verfahren wurde, so kann ich aus bester Quelle beispielsweise folgende Fälle anführen. Beim Reinigen des im vollen Gange befindlichen Getriebes wurde einem achtzehnjährigen Arbeiter in der Spinnerei der rechte Arm weggerissen. Er mußte im Hospital amputiert werden. Als einige Tage darauf der ebenfalls in der Fabrik beschäftigte Vater des Unglücklichen, um diesen auf seinem Schmerzenslager zu besuchen, Urlaub verlangte, wurde ihm dieser nicht bloß verweigert, sondern der Bittsteller wurde sofort aus Arbeit und Brot entlassen. Man opferte also den Vater, um jedes Opfers für den Sohn ledig zu sein. Einem Mädchen wurde in der Fabrik des Millionärs die Hand verstümmelt. Man bezahlte ihm die Kurkosten unter der Bedingung, daß es sie nachher abverdiene. Einem Arbeiter wurde durch eine Maschine der Fuß zu Müll gerieben. Im Hospital erzählte der Unglückliche, der junge Herr habe ihm seine Teilnahme dadurch bezeigt, daß er sagte, es sei ihm recht geschehen, er hätte sich ja besser in acht nehmen können.«

So ging das Register der Barbarei noch eine gute Weile fort. Aber ich hatte an dem Gehörten genug und begab mich auf die andere Seite des Verdecks, um in den wunderschönen Abend hinauszusehen und darob die widerwärtigen Eindrücke loszuwerden, die ich aus dem soeben Vernommenen geschöpft hatte.

Aber es glückte nicht. Zuerst drängte sich mir in ihrer ganzen Bitterkeit die Frage auf, ob es möglich wäre, daß ein Mensch wie dieser Theodor Kippling es wagen dürfte, an Isolde auch nur zu denken. Nein, es konnte nicht sein. Dann nahmen meine Gedanken eine allgemeine Richtung und das schmerzliche Problem, mit dessen Lösung schon soviele redliche Geister und edle Herzen vergebens sich abgemüht, das Problem, ein Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Besitz und Verdienst ausfindig zu machen, drückte mit seiner ganzen Wucht auf mich.

Ich konnte mir, so augenscheinlich mich der Aufenthalt in der Schweiz auch überzeugte, wie gedeihlich freie Institutionen für die allgemeine Wohlfahrt sind, dennoch nicht verhehlen, daß selbst die volksmäßigsten, trefflichsten politischen Einrichtungen nur eine schwache oder gar keine Garantie gegen die Despotie des Industrialismus bieten. Der Name Republikaner ist für Fabriksklaven nur ein bitterer Hohn. Die großen Industriellen und Handelsherren sind zugleich auch die politischen Souveräne des Landes. Sie haben das Wesen der Souveränität, das Volk hat nur den Schein. Wie überall, löst sich demnach auch hier der politische Gegensatz von Freiheit und Knechtschaft in den ökonomischen von Haben und Nichthaben auf. Was dazwischen liegt, ist Nebel und Phrase, und selbst das vernünftigste Staatsprinzip kann vorderhand weiter nichts tun, als möglichst vielen es möglich machen, aus dem Zustand des Nichthabens in den des Habens sich hinüberzuarbeiten.

Die ideellen Aufgaben der Gesellschaft müssen für eine geraume Weile sich bescheiden, zufrieden zu sein, wenn sie nur so unterderhand noch geduldet werden. Haben! Haben! Haben! Das ist der wilde Ruf, welcher über diesen wüsten Wirbel von Spekulation, Agiotage, Schwindel und Maschinengetöse, genannt Gegenwart, hinschallt ... Mir fiel die düstere Prophezeiung ein, welche mein teurer Vater vorzeiten über den Industrialismus ausgesprochen, und ich glaubte die riesenhaften Fledermausflügel des schwarzen Dämons, von welchem er geträumt, mir zur Stunde wieder ob dem Haupte rauschen zu hören wie damals in Kipplingsruhe. Auch eines Gespräches entsann ich mich, welches ich eines Tages in Paris mit einem französischen Gelehrten geführt hatte, dem einzigen Franzosen, zu welchem ich mich jemals freundschaftlich hingezogen fühlte. Wir schlenderten mitsammen über die Boulevards, und vielleicht war es gerade der großstädtische Glanz und Luxus um uns her, was unsere Unterhaltung auf die Schattenseiten des modernen Lebens lenkte. Ich habe nie eine beredtsamere Anklage des Industrialismus gehört als aus dem Munde dieses Mannes. »Die Fabrikarbeit,« hatte er unter anderem geäußert, »vergiftet die Seele und tötet den Leib. Diese unerbittlichen Maschinen mit ihrer grausamen Gemessenheit! Wissen Sie, daß ihre mechanische Härte und Fühllosigkeit sich am Ende auch den Menschen mitteilt, von denen diese eisernen Instrumente bedient werden? Durch die unausgesetzte Wechselwirkung zwischen Maschine und Mensch stumpft sein Herz sich ab und erfrischt sich nicht mehr. In der Tiefe seiner Seele bildet sich ein so instinktartiger Atheismus wie ein Schrei des Schmerzes und der Verdammnis. Er raunt dem Arbeiter Worte voll Haß und Rache zu. Und die Frauen der Arbeiter ihrerseits, sie haben ebenfalls keine religiösen Überzeugungen mehr, sondern nur noch dunkle Gefühle, krankhafte Träume und Phantasiebilder. Drei Hauptelemente lassen sich in dieser von der Industrie erzeugten Korruption unterscheiden: eine furchtbare geistige Roheit, ein blinder und unauslöschlicher Haß gegen die Reichen und eine unsäglich niederträchtige Ehrfurcht vor dem, Reichtum. Die Summe dieser Dreizahl ist notwendig eine unerhörte Verdummung der Massen, und diese kann nur die Vorläuferin des entsetzlichsten allgemeinen Verderbnisses sein.«

Mag immerhin mein Gewährsmann von Schwarzseherei nicht ganz freigesprochen werden, soviel ist gewiß, daß die Lage der europäischen Gesellschaft dermalen nichts weniger als tröstlich sich darstellt. Von den großen, politischen, religiösen und sozialen Fragen, deren Lösung das vorige Jahrhundert dem unserigen übermachte, ist nicht eine einzige wirklich gelöst worden. Der alte Hegel hat am Ende doch recht mit seinem grämlichen Worte, daß die Menschen aus der Geschichte nie etwas gelernt haben. Sonst wäre neuen Wein in alte Schläuche zu füllen, das heißt den geistigen Inhalt einer neuen Zeit in verrottete Formen der Vergangenheit zu zwingen und ihn dadurch versauern zu machen, nicht noch immer die unerquickliche Arbeit derer, welche dermalen die Weltgeschichte fabrizieren, das heißt zu fabrizieren glauben.

Aber die Weltgeschichte wird nicht fabriziert, nicht willkürlich gemacht Sie ist, wie die Natur, ein Organismus, eine Reihenfolge unbedingt notwendiger Entwickelungsformen, ein geistiger Prozeß, unendlich langsam vorschreitend, aber doch immer vorschreitend, sogar dann, wann er still zu stehen, ja rückwärts zu gehen scheint.

Um zu dieser Überzeugung zu gelangen, muß man freilich den Blick von der Oberfläche der Erscheinungen ab und der unendlichen inneren Vielheit der Entfaltungen des Lebens zuwenden. In dem rastlosen Entdeckungseifer der Wissenschaft, in dem Aufschwünge der Landwirtschaft, in der riesenhaften Ausdehnung der gewerblichen und kommerziellen Verhältnisse, in der fast märchenhaften Vervollkommnung der Verkehrsmittel liegt eine zwingende Notwendigkeit des Vorschritts, welche aller Maßregelungen mittels Bullen oder Ukasen spottet. Der Geist ist am Ende doch der absoluteste Herrscher und die Manifeste seiner Offenbarungen, die er zum Beispiel durch Fulton und Watt erließ, werden auch dann noch glorreiche Geltung haben, wenn man von besagten Bullen und Ukasen nur noch mit jenem Achselzucken sprechen wird, womit man heutzutage von den Dekreten der Hexenrichter früherer Jahrhunderte spricht.

Die an der Hand der Wissenschaft bewerkstelligten Vorschritte, welche die Mechanik in unseren Tagen gemacht hat, sind an sich ebenso bestaunenswert, als ihr Einfluß auf die künftige Gestaltung der menschlichen Gesellschaft unberechenbar ist. Die Maschinen kommen dem Menschen auf eine Weise und in einer Ausdehnung zu Hilfe, wie unsere Vorfahren es sich nicht träumen lassen konnten. Vielfach ersetzt die Maschine schon geradezu den Menschen, und hier, glaube ich, liegt die Schattenseite der Sache. Die ins Unendliche gehende Vervollkommnung der mechanischen Vorrichtungen setzt eine Menge menschlicher Arbeitskräfte außer Tätigkeit, das kann keinem Zweifel unterliegen. Insbesondere ist das Handwerk in offenbarer Gefahr, von diesen Riesenarmen des Geschwisterpaares Dampf und Mechanik erdrückt zu werden. Betrachte man beispielsweise nur die eine Tatsache, daß eine kleine, von einigen Knaben bediente Maschine, deren Herstellung wenige hundert Gulden kostet, in einem Tage vierhundert und mehr Schraubenmütter mit Gewinden versieht, wie deren ein geschickter und fleißiger Schlosser in der nämlichen Zeit höchstens fünfundzwanzig zu fertigen imstande ist, und man wird schon aus diesem einen Beispiel von Hunderten, von Tausenden die künftige Stellung vieler Handwerke folgern können. Mit der Progression der mechanischen Apparate muß auch das Übel der Übervölkerung progressiv wachsen, es kann nicht anders sein. Wohin also zuletzt mit allen den in Europa überschüssig, das heißt arbeitslos und demzufolge arm und elend werdenden Menschen? Ich bin über die Jahre der sozialistischen Phantasmagorien und Trugschlüsse hinaus und kann daher bescheiden gestehen, daß ich keinen anderen Ausweg anzugeben wüßte als den massenhafter Auswanderung. Der geneigte Leser wird sagen, dieser Vorschlag sei nicht sehr originell, und da hat er ganz recht. Mögen andere originellere bringen, wohl und gut; aber mögen es keine aus Hirngespinsten gewobenen, sondern wirklich ausführbare und zweckdienliche sein! Mir jedoch will inzwischen noch scheinen, die Natur habe nicht umsonst in Amerika, Asien und Australien, ja sogar da und dort – wenn auch hier in bescheidenerem Maße – in Europa selbst mit vorsorglicher Hand unermeßliche Länderstrecken bereitet, in welche die übervölkerten Länder unseres Erdteils die Überzahl ihrer Millionen ausströmen können.

Viertes Kapitel

Wer sucht, der findet, wenn auch nicht immer das, was er sucht. – Autor tut ein gutes Werk an einer »immens« mürben Seele, treibt dann etwas Naturschwärmerei und gerät bei dieser Gelegenheit in die Lage, für einen Spitzbuben gehalten zu werden.

Am folgenden Tage frühmorgens in Weesen angelangt, brachte ich in Erfahrung, daß die Reisegesellschaft, welcher ich nachging, vorgestern zur Mittagszeit von da rechts hinüber ins Glarnerland sich gewendet habe. Im Flecken Glarus wußte mir der Adlerwirt zu sagen, daß eine Gesellschaft von drei Personen, deren Beschreibung auf die von mir gesuchten vollständig paßte, vorgestern spät abends vom Klöntal her in seinem Hause eingetroffen sei und daselbst übernachtet habe. Sie hatten demnach wohl von Nettstall aus einen Abstecher an den Klönsee gemacht, der, einer der reizendsten Hochalpenseen, die Felsenwände des Glärnisch bespült. Aber Fräulein Julie schien vorläufig noch nicht sehr wildnis- und gletscherlustig zu sein, denn sie hatte – erzählte der Adlerwirt – den Vorschlag, nach Stachelberg zu gehen und von dort aus die Pantenbrücke und die den Tödigletschern gegenüberliegende Sandalp zu besuchen, abgelehnt, und so waren die drei gestern früh nach Mühlehorn am Wallensee hinuntergefahren. Der nämliche Schiffer, welcher die Gesuchten von dem zuletzt genannten Orte nach Wallenstadt hinübergerudert hatte, brachte auch mich dahin und sagte mir, er habe dort noch mit angesehen, wie die drei Extrapost nach Ragaz genommen hatten. Ich tat sofort ebenso und gelangte in später Nacht in den »Hof Ragaz«, welcher noch vor kurzem der Sommersitz Sr. fürstlichen Gnaden des Abtes vom (jetzt in ein Irrenhaus verwandelten) Kloster Pirminsberg war.

Weil mit Ausnahme eines verschlafenen Kellners im Hof Ragaz alles schon lange zur Ruhe gegangen, mußte ich meine Erkundigungen bis zum anderen Morgen verschieben. Da erfuhr ich dann, daß die drei richtig dagewesen und von Ragaz nach dem Bade Pfäffers gegangen seien. Das war natürlich, denn wer wird jene Gegend besuchen, ohne die prächtige Taminaschlucht sehen zu wollen? Aber trotzdem, daß ich meine Verfolgung möglichst beschleunigt hatte, waren mir die Gesuchten noch immer um zwei Tage voraus. In dem mit Leidenden angefüllten Bade Pfäffers wurde die Fährte, wie ein Jäger sagen würde, schon kälter. Der von mir examinierte Hausmeister wollte sich erinnern, »die schöne junge Dame mit den merkwürdig schwarzen Augen« habe darauf bestanden, das wilde Kalfäusertal und den Sardonagletscher zu besuchen. Der eine der zwei sie begleitenden Herren, der mit dem »kaibisch langen« Schnurrbart, habe das gebilligt, während der andere, »der alleweil an seinem dünnen Schnurrbärtchen herummachte«, dagegen opponierte und meinte, das sei unpraktischer Nonsens und es wäre schon genug, wenn er sich dazu hergäbe, statt nach Ragaz zurück und von da bequem nach Chur zu fahren, über den Kunkelpaß nach Graubünden hinüberzuklettern. Wie sich der Streit geschlichtet, wußte der Mann nicht zu sagen und er konnte nur noch das eine mit Bestimmtheit angeben, daß die fragliche Reisegesellschaft von Pfäffers nach Valens hinaufgestiegen sei.

Da stieg ich denn auch hinauf, und als sich droben das wildschöne, zwischen dem Kalanda, dem Monteluna und den grauen Hörnern gelagerte Hochtal vor meinen Blicken öffnete, erinnerte ich mich, daß mir Freund Bürger einmal eine Wanderung in diese Bergeinsamkeit empfohlen habe.

In Valens wußte man nichts von den Gesuchten. Vielleicht, dachte ich, bin ich drüben in Vättis glücklicher, und in der Tat fand ich auf dem Wege nach diesem am Fuße des Monteluna gelegenen Bergdörfchen etwas, wenn auch zunächst nicht das, was ich suchte.

Indem ich raschen Schrittes den über Alpenmatten und durch Buschwerk sich schlängelnden Fußpfad hinging, sah ich eine weibliche Gestalt in städtischer Kleidung mir entgegenkommen. Sie ging mit gesenktem Kopfe, der aufgespannte Sonnenschirm verdeckte ihre Züge, und in der linken Hand trug sie eine kleine Reisetasche.

Schon beim ersten Anblick der einsamen Wanderin stieg eine Vermutung in mir auf, welche Figur, Haltung und Gang der Dame bei ihrem Näherkommen alsbald bestätigten. Ich stand überrascht still, und den gesenkten Blicken, sowie dem besagten Sonnenschirm der Dame war es zuzuschreiben, daß sie, herangekommen, fast an mich anprallte. Sie stieß einen leisen Schrei aus, wich erschrocken auf die Seite, ließ den Sonnenschirm sinken, und aus dem »lieben, dicken«, jetzt aber blassen und sehr verweinten Gesicht sahen mich die »immens gefühlvollen« Augen von Frau Ziegenmilch voll schmerzlicher Überraschung an.

»Mein Gott, Sie, Herr Hellmuth?« rief sie aus und errötete bis unter die Locken.

Ich faßte freundschaftlich ihren Arm, denn ich fürchtete, sie würde Anstalten machen, in Ohnmacht zu fallen.

»Sie brauchen gar nicht zu erschrecken, meine liebe Frau Ziegenmilch,« sagte ich. »Sehen Sie, ich bin ganz glücklich, Sie so unvermutet hier zu treffen, und ich kenne einen, der noch viel glücklicher sein wird, Sie von Ihrer Badereise heimkehren zu sehen.«

»Von meiner Badereise? Ach, Sie wissen nicht –«

Ein Strom von Tränen erstickte die Stimme der armen dicken Entführten.

»Doch, doch,« sagte ich, »ich weiß genug. Unter anderem, daß Herr Ziegenmilch jedermann mitteilte, Sie seien nur auf einer kleinen Badereise abwesend, und daß er gegen mich speziell äußerte, das Essen schmecke ihm gar nicht mehr, seit er das liebe Gesicht seines Frauli nicht mehr bei Tische gegenüber habe, und daß er schon deshalb dringend wünschte, die Badekur möchte recht bald zu Ende sein.«

»Wäre es möglich? ... Der arme, gute Oskar! ... Sehen Sie, Herr Hellmuth, Sie erscheinen mir wie ein Engel vom Himmel und ... Sie waren immer gut gegen mich, immens gut ... und ... und ich Törin habe Ihre immens wohlgemeinte Warnung nicht beachtet ... Ach, du lieber Himmel, was es doch für schlechte Menschen in der Welt gibt! Es ist immens! ... Und Sie meinen also, mein armer guter Oskar werde mir verzeihen? ... Aber sehen Sie, bester Herr Hellmuth und wertester Freund, ich darf sagen, ich muß sagen ... ja, ich habe mir nur Leichtgläubigkeit und Unbesonnenheit vorzuwerfen.«

»Natürlich! Ich glaube es, glaube es von ganzem Herzen,« beteuerte ich.

In der Tat, das arme, kurze, runde, geschorene Schäflein dauerte mich. Die Gute sah in ihrer Scham, ihrer Reue, ihrem Beben und Weinen recht erbarmungswürdig aus.

Daß ich soeben von ihr als von einem geschorenen Schäflein sprach, hatte übrigens seinen guten Grund.

»Darf ich fragen,« sagte ich, »welchem Umstande ich das Glück verdanke, Ihnen in dieser Halbwildnis zu begegnen?«

»O,« versetzte sie, »ich schäme mich so immens ... Sehen Sie, ich glaubte, alle Leute müßten mir's ansehen, was für eine leichtfertige und törichte Frau ich sei. Ich hatte einmal von diesem einsamen Tale reden hören und bin da heraufgestiegen, um meine Scham und meinen Kummer in der Einsamkeit zu verbergen. Ich wollte schon gestern und vorgestern und ehevorgestern an Oskar schreiben, wagte es aber aus immenser Furcht nicht. Ich wünschte zu sterben, aber der Tod kam nicht und heute mußte ich aus der Herberge in Vättis fort, weil –«

Sie stockte und ward womöglich noch röter als zuvor. Es war auch wirklich für eine Frau, welche sich, wie man in der Schweiz zu sagen pflegt, in »hablichsten« Umständen befand, keine Kleinigkeit, zu gestehen, daß ihr das Geld völlig ausgegangen sei.

Um ihr Zartgefühl zu schonen und sie um so leichter zu bewegen, zu Oskar Ziegenmilch und Komp. heimzukehren, dichtete ich ein wenig und sagte, der mehrerwähnte Oskar habe mir ausdrücklich aufgetragen, seine teure Lelia mit allem Nötigen zu versehen, falls ich so glücklich wäre, sie zu treffen.

Entweder nahm sie in ihrer Aufregung diese Poesie für Wirklichkeit, oder sie hatte Takt genug, wenigstens so zu tun. Aber eine Frau, die jahrelang Käse ausgewogen hat, ist in Geldsachen skrupulös, und so sagte sie denn mit sehr gesenkten Augen und einem »immensen« Seufzer:

»Hat Ihnen mein lieber, guter Oskar – ach, jetzt weiß ich Unglückliche erst, welch ein liebes, gutes Manni er ist – hat er Ihnen nichts von meinem Schmuckkästchen und – und von dem Taschenbuch mit – mit Geld gesagt?«

»Doch, meine liebe Frau. Aber Herr Ziegenmilch ist ein ebenso nobler als praktischer Mann. Wissen Sie, was er in betreff der erwähnten Gegenstände zu mir sagte?«

»Was? Um Gottes willen! Sie spannen mich auf die Folter.«

»›Wenn nur, sagte er, mein Liseli – entschuldigen Sie, er gebrauchte diesen Ausdruck –‹«

»Der liebe, liebe Mann! Ja, ich will wieder sein Liseli sein. O, Herr Hellmuth, ich habe in diesen kummervollen Tagen einsehen gelernt, was ich mir seit langer Zeit schon für immens törichte Grillen in den Kopf gesetzt. Wenn dieser Kelch an mir vorübergeht, will ich wieder sein, wie ich vormals in der Spiegelgasse war. Ach, damals ist eine glückliche Zeit gewesen ... Aber was sagte mein lieber, guter Ziegenmilch?«

»Er sagte: ›Wenn nur mein Liseli wieder heimkäme! Der Schmuck und das Taschenbuch, welche Dinge sie aus Versehen mitgenommen, sie mögen meinetwegen zum Henker – rumpeln.‹«

Das mir unwillkürlich entwischte Wortspiel setzte die gefühlvolle Seele der kleinen Runden in Zornflammen.

»Der Elende!« rief sie aus, wieder weinend, aber jetzt vor Entrüstung. »Der gemeine Mensch, den ich wie einen Propheten und Heiligen verehrt hatte! ... Er hatte mich von Konstanz über den Bodensee nach Lindau, von dort zurück nach Rorschach und von da das Rheintal herauf nach Chur geführt, wo er, wie er vorgab, mich in einen Kreis von Erleuchteten einführen wollte. Statt dessen entlarvten an dem genannten Orte seine – ach, wie soll ich mich ausdrücken, ohne vor Scham in die Erde zu sinken? – seine immens unzarten Zumutungen mir die ganze Schwärze seiner Seele. Ich machte aus meiner Empörung kein Hehl und – und am Morgen darauf war der Schändliche, der Heuchler, der – der – verschwunden und –«

»Und hatte Schmuckkästchen und Taschenbuch mitgenommen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Nun, meine liebe Frau Ziegenmilch, Sie müssen sich das nicht weiter anfechten lassen. Ihre Geschichte ist nur eine Illustration mehr zu dem vor fünfhundert Jahren in den Rosenlauben von Schiras von dem alten Hafis, der freilich ein Erzketzer war, gedichteten Text:

Traue keinem Heiligen!
Süße Worte spricht er;
Aber in der Kutte steckt
Immer ein Halunke.«

Lelias gefühlvolle Seele war durch ihre Erlebnisse in Chur und dann durch die dreitägige Einsamkeit in Vättis so mürbe gemacht worden, daß sie sich widerstandslos meinem Anerbieten fügte, sie über Valens nach Ragaz hinab zu geleiten, von wo sie mit der Nachtpost nach Hause zurückkehren sollte. Auf dem Wege durch den Bergwald abwärts erfuhr ich zum Dank von meiner Schützlingin, daß Fräulein Kippling mit ihren zwei Reisegesellschaftern allerdings durch Vättis gekommen sei und dort einen Führer über den Kunkelpaß genommen habe. Etlichen von den Wirtsleuten in Vättis aufgeschnappten Äußerungen der drei Reisenden zufolge – Frau Ziegenmilch selbst hatte es nämlich nicht für gut befunden, der »hochmütigen, spottsüchtigen« jungen Dame unter die Augen zu kommen – hatten dieselben die Absicht gehabt, nach Chur und von da in die Engadiner Berge zu gehen.

Nachdem ich demnach mein gutes Werk nach Möglichkeit vollendet, das heißt die kleine, runde, zerknirschte Exentführte sicher in dem Postwagen untergebracht hatte, fuhr ich selber in entgegengesetzter Richtung mit der Abendpost nach der Hauptstadt Graubündens hinauf. Dort, im Hotel zum Steinbock traf ich wieder sichere Spuren von den von mir Gesuchten.

Diese Spuren wiesen richtig ins Engadin, wohin ich mich am folgenden Tage ohne Zögern auf den Weg machte. Aber jenseits des Julierpasses ging die Fährte aus oder tauchte wenigstens nur strichweise wieder auf. So in Samaden, Sankt Moritz, Pontresina. Eine vage Vermutung deutete ins Bergell hinüber.

So vertiefte ich mich denn ganz aufs Geratewohl in die erhabenen Wildnisse der Berninakette.

Es ist dafür gesorgt, daß die Größe und Schönheit der schweizerischen Alpenlandschaften nicht von Touristenfüßen platt getreten werden kann. Szenen, wie das obere Reußtal oder das Haslital oder Rosenlaui, Grindelwald, die Wengernalp, das Öschinen- und Gastertal, das Faulhorn, der Wildstrubel, aus dessen Gletschern die »sieben Brunnen« der Simme hervorspringen, der Blick vom Rohrbachstein am Rawyl auf die Walliser Bergkolosse, die Gemmi und der Gornergrat, das Äggischhorn und die Bellalp sie bieten, werden neu und groß bleiben, solange ein Menschenauge sie betrachtet. Aber um den Vierwaldstätter See her und über dem Berner Oberland lagert doch schon eine widerwärtige Touristenatmosphäre, in welcher eine noch widerwärtigere Touristenindustrie gar üppig gedeiht. Es stoßen einem da auf Schritt und Tritt doch gar zuviele rotgebundene Murrays und Bädekers und Krinolinenballons von allen Farben auf. Die Kultur leckt schrecklich zudringlich an jenen Gegenden herum. Dahinten dagegen, in den Bündner Alpen, da gibt es noch weite Strecken, wo die Alpennatur in jungfräulicher Majestät und Einsamkeit thront. Wenigstens fand ich sie noch so, als ich sie daselbst suchen ging.

Denn, seltsam, als ich erst ein paar Tage durch diese herrlichen Wildnisse gestreift, hatte ich den eigentlichen Zweck meines Hierseins so ziemlich vergessen. Nicht zum erstenmal, aber jetzt stärker als früher erfuhr ich den seelenlösenden Zauber der Alpenwelt. Was kümmern einen in diesen reinen Lüften die kleinen Interessen und dumpfen Sorgen der Welt da drunten? Ein Odem primitiver Poesie geht von diesen Felskolossen, diesen in der Morgensonne glühenden Firnen, diesen stürzenden Gletscherbächen aus, hebt die Brust, weitet die Seele und erfüllt sie mit reinen Gedanken und süßen Träumen. Was du je Schönstes und Bestes gesehen, gelesen, erlebt, wird wieder in dir wach, oder auch gehst du in seliger Selbstvergessenheit immer weiter hinein in die heilige Einsamkeit.

Aber ich hatte doch unrecht zu sagen, die Kultur habe noch nicht in die prachtvolle Öde hineingegriffen, welche ich durchwanderte. Denn ich sollte komisch genug erfahren, daß selbst die entlegensten Alpentäler vor der Zivilisation, wenigstens in der Erscheinungsform der Polizei, nicht mehr sicher seien.

Ich hatte am dritten Abend meiner Streiferei in einer einsamen Sennhütte eingesprochen und mich, nachdem ich meinen Hunger mit jener Alpenspeise gestillt, welche den mysteriösen Namen Käsappen führt, reisemüde auf die duftenden Schwaden des Heugadens gestreckt. Die Augen fielen mir bald zu, aber nach einiger Zeit erweckte mich Stimmengeräusch in dem anstoßenden Raum der Hütte, welcher nur durch eine schadhafte Bretterwand von meiner Schlafstätte getrennt war. Ich unterschied die Stimme meines Wirtes, des Sennen, und noch zwei andere, mir gänzlich unbekannte Männerstimmen.

»Potz Herrgöttlihagel!« sagte die eine. »Das war' nun schön, Vale, Valentin. wenn er's doch nicht wäre. Sind dem Kerl den ganzen Tag nachgestrichen, über Stock und Stein, über Steige, die eigentlich ein Christenmensch gar nicht gehen sollte. Und jetzt sollt's der Unrechte sein. Kaibisch dumm das!«

»Ja, weißt du, Sale,« Salomo. erwiderte die andere unbekannte Stimme, »ich hatte gleich so meine Zweifel, als wir den Kerl da unten beim Feisisbach näher zu Gesicht kriegten. Sagte dir ja, seine Postur passe nicht zum Signalement.«

»Ach was, Vale, du willst immer ein Doktor G'scheitle sein. Man kann eben einem Vaganten das Signalement nicht recht anmessen, wenn man ihn nur so flüchtig und gar nur von hinten zu sehen kriegt. Aber, sag' ich, was hat ein Mensch in dieser verflucht einsamlichen Weltgegend, wo's nicht einmal Schnaps, geschweige Wein gibt, herumzustrolchen, wenn er kein schlechtes Gewissen hat?«

»Da ist was d'ran, Sale.«

»'s ist eben so ein verrückter Dütschländer,« mischte sich der Senn ins Gespräch. »Steigt seit einigen Jahren dann und wann so ein Fremder da herum und lugt sich an unseren Bergen schier die Augen aus. Kuriose Leute, diese Dütschländer, schätz' ich.«

»Ja, lauter Halbnarren, bim Eid!« meinte der Sale. »Wenn's wirklich ein Dütschländer ist, wie Ihr an seiner Sprache gemerkt haben wollt, Senn, so hab' ich mir, bim Strahl, in diesen kaibischen Bergen umsonst Blasen an die Füße gelaufen. Und Ihr sagt, der Kerl habe einen großen schwarzen Bart?«

»Den hat er.«

»Könnte aber auch ein falscher Bart sein. O, man kennt, bim Eid, die Finten der fürnehmen Spitzbuben.«

»Aber Sale, er habe ja auch dunkelbraune Augen. Die können doch nicht falsch sein.«

»Das ist wahr, Vale,« gab der Sale widerwillig zu. »Aber weißt du was? Wollen uns den Kerl morgen früh doch ordentlich anlugen. Ist er's nicht, so haben wir, bim Strahl, die rechte Fährte verloren. Und doch wiesen alle Anzeichen auf diese kaibische Gegend. Aber jetzt wollen wir schlafen, denn ich bin hundshagelsmüd'.«

Das Gespräch verstummte, und ich hörte nur noch, wie sich die Männer auf den um die Feuerstelle herlaufenden Bänken zum Schlafen zurechtrückten.

Für mich hatte der Gedanke, für einen Spitzbuben gehalten worden zu sein und zwei Diener der öffentlichen Sicherheit einen ganzen Tag hinter mir hergezogen zu haben, etwas so Ergötzliches, daß ich darüber bald wieder einschlief.

Als ich mir in der Morgenfrühe den Heudunst aus den Augen gerieben und die Halme von den Kleidern geschüttelt hatte, ging ich hinaus, um mich an dem plumpen Rohrbrunnen vor der Hütte zu waschen. Eigentlich hätte ich ein Bad gewünscht, denn es ist in diesen bündnerischen Sennhütten ein Schmutz, und zwar nicht ein toter, sondern auch ein lebendiger, von welchem sich kein Idyllendichter von Theokrit bis auf Hebel herab träumen ließ. Solche kleine Unzukömmlichkeiten muß man bei wirklichen Alpenwanderungen mit in den Kauf nehmen.

Der Vale und der Sale standen schon da, beide zwar im Zivilanzug, allein ihre ehrenwerten Physiognomien trugen so deutlich den Polizeistempel, daß ich mir von Herzen gratulierte, kein Spitzbube zu sein. Ich bemerkte wohl, daß sie mich mit vigilierenden Blicken ansahen, und daß der Sale heimlich ein Blatt Papier hervorzog, ohne Zweifel das Signalement des Verbrechers, auf den sie fahndeten, um die Angaben desselben mit meiner Erscheinung zu vergleichen. Diese Vergleichung mußte aber nicht das gewünschte Resultat haben, denn der Sale sagte leise zum Vale: »'s ist nüt, bim Eid!« und hierauf frühstückten wir in aller Freundschaft mitsammen, das heißt wir aßen Käse und tranken, in Ermangelung des Brotes, Milch dazu. Dann verließen die beiden Herren von der Polizei die Hütte und gingen das schmale Hochtälchen abwärts, während ich aufwärts weiter wanderte.

Der Senn hatte mir nämlich von einer mächtigen Kaskade gesagt, die wenige Wegstunden von der Hütte entfernt aus einem der Gletscherfelder des Bernina hervorstürze. Diese wollt' ich noch sehen, dann zu der Hütte zurückkehren und von da meinen Weg talabwärts suchen. Aber es kam anders. Ich kehrte nicht wieder an den Ort zurück, denn inmitten der Bergwildnis, wo ich an jenem Tage nur einen Wassersturz suchte, sollte ich plötzlich in abenteuerliche Szenen und erschütternde Katastrophen versetzt werden.

Fünftes Kapitel

Autor verirrt sich, gerät in ein verwunschenes Schloß, speist unter Blitz und Donner und erlebt ein lieblichstes Wunder.

Die Gletscherkaskade hatte ich nicht gefunden, denn in diesen verworren durcheinander geschobenen Höhenzügen und Talrinnen findet sich kein Fremder ohne Führer zurecht. Ich wollte aber keinen Führer, weil es mir gar so schön vorkam, bei dem klaren Wetter ganz allein in diesen Einsamkeiten umherzuschweifen. In der Sennhütte, wo ich Mittagsrast hielt, erfuhr ich, daß ich bis zum nächsten Ort noch mehrere Stunden weit zu gehen habe. Der Geißbub, welcher mich mit Milch und steinhartem Schabzieger bewirtete, deutete an, ich würde wohltun, ihn als Wegweiser mitzunehmen, und nach einigen Stunden mußte ich mir gestehen, daß ich klug getan hätte, dieses Anerbieten anzunehmen. In dem Maße nämlich, in welchem die Schatten der Berge gigantischer und meine Beine müder wurden, drang sich mir auch die Überzeugung auf, daß ich ganz von der Richtung, die ich hatte verfolgen sollen und wollen, abgekommen sei und mich alles Ernstes verirrt habe. Anfangs nahm ich das leicht, wie alles hier oben. Als aber die Sonne zur Rüste ging und noch dazu über ihre sinkende Scheibe eine graudunkle Gewitterwolkenwand sich herzog, gewann die Sache allmählich ein mißlicheres Aussehen. Die Öde, in der ich mich befand, so erhaben sie war, konnte in einer Gewitternacht doch nur ein höchst unangenehmer Aufenthaltsort sein. Von einem sicheren Zufluchtsort aus einem Gewitter in den Hochalpen zusehen, ja freilich, das ist ganz prächtig; aber schutz- und schirmlos der Wut desselben ausgesetzt zu sein, das ist 'ne andere Tonart. Ich hatte schon in früherer Zeit, während meiner studentischen Schweizerreise, die Probe gemacht, und es gelüstete mich nach keiner zweiten. Außerdem hatte ich Hunger, ganz gemeinen, erzprosaischen Hunger, und so sah ich mich, von meiner letzttägigen Naturschwärmerei für den Augenblick sehr ernüchtert, mit nicht geringer Sehnsucht nach der Möglichkeit eines Nachtquartiers um.

Da merkt' ich nun erst recht die Einsamkeit um mich her. Weit und breit, wie es schien, keine Spur von Menschendasein, keine Sennhütte, keine Herdeglocke, nichts als Schweigen des Urgebirges, eine Stille, in welcher einem in solcher Lage das Rauschen der Bergwasser wie ein Hohnlachen über die Bedürftigkeit und Hilflosigkeit der Menschen klingen kann.

Ich stand bei einer Gruppe verwitterter Arven still, mich zu orientieren. Aber in dem engen Felsenkessel, in welchen ich hineingeraten, war das eine Unmöglichkeit. Eine jähansteigende mit erratischen Steinblöcken besäete Geröllwand lag hart vor mir, wahrscheinlich die Moräne eines urweltlichen Gletschers. Den Kopf in den Nacken zurückbeugend sah ich über den Rand der Moräne schneebekrönte Kuppen herüberlugen. Ich kletterte die Wand hinan, und vor dem droben Angelangten sprang ein prachtvolles Bild auf.

Der Bernina lag in fast blendender Beleuchtung in seiner ganzen Majestät und Herrlichkeit vor mir. Die Sonne schoß zwischen den geballten Gewitterwolken hervor ihre Strahlen auf die unzähligen Hörner und Zacken des mächtigen Gebirgsstocks, dessen Firnschnee wie geschmolzenes Silber blitzte, dessen Gletschergehänge blaugrünlich schimmerten.

In diese ungeheure Felsen-, Schnee- und Eismasse war ein grünes Tal tief eingeschnitten, auf dessen Sohle ein Bergstrom über Steintrümmer rauschend dahinschoß. Dieses schmale Hochtal teilte sich gabelartig. Der rechte Zinken lief langgestreckt in malerischen Windungen zwischen bizarren Felsengestaltungen hin, und im Hintergrunde lugte eine Kirchturmspitze hervor, Zeuge der Besiedelung des Tales. Der linke Zinken der grünen Gabel war viel kürzer und bohrte sich schroff aufwärts, bis eine schwindelnd hohe, jetzt in der Sonne rotglühende Balsaltwand seinem Vordringen ein Ziel setzte. Zu beiden Seiten dieser Wand kam ein Eisstrom talwärts, und diese Gletscherbänder spannten sich bis nahe zu dem breiten Bach auf der Talsohle herab. Jenseits desselben, in dem etwa eine Achtelmeile breiten Zwischenraum zwischen den beiden Gletscheradern, stieg ein sanft gewölbter Hügel auf, und von der Spitze desselben blickte ein schloßartiges Gebäude mit altertümlichen Türmen und Zinnen herab.

Die Alpentäler Graubündens find viel reicher an Burgruinen als die übrigen Landschaften der Schweiz. Dort, auf der Grenzscheide zwischen der germanischen und der romanischen Rasse, hat sich mittelalterliches Dynastenwesen, wenn nicht rechtlich, so doch faktisch weit länger gehalten als anderswo in der Schweiz, und es ist noch heute gar nicht selten, daselbst alte Geschlechter in alten, mit mehr oder weniger Sorgfalt unterhaltenen Felsennestern Hausen zu finden. Auch die Burg da drüben schien keine Ruine zu sein. Wenigstens deuteten die in der Sonne glitzernden Fenster auf eine wohnliche Stätte.

Das war mir lieb, denn das Gewitter schob sich immer drohender am westlichen Himmel herauf, bald verschwand die Sonne hinter den Wolkenmassen, und eine unheimlich fahle Beleuchtung begann sich über die ganze Szene zu legen.

Ich eilte talwärts und stieß dort auf einen Saumpfad, der mich zu einem über den Waldbach gelegten Steg führte. Diesseits des Steges teilte sich der Weg. Seine am linken Ufer des Wassers talaufwärts laufende Linie führte vermutlich in das Dorf oder Dörfchen, dessen Kirchturmspitze ich von der Moräne herab erblickt hatte. Aber bis dahin mußte es noch eine Wegstunde weit sein, und schon begann es zu dunkeln, und das Gewitter rückte mit dumpfem Gedonner naher. Rasch entschlossen, ging ich über den Steg und eilte den schmalen Pfad hinan, welcher sich in halben Spiralen den Hügel hinaufwand. Bewohnt oder unbewohnt, das Schloß da droben konnte mir doch Dach und Fach gewähren. Vielleicht kitzelte mich auch ein Nachgefühl jugendlicher Romantik, daß ich in dem alten Ding eine Zuflucht zu suchen ging. Ich hatte aber länger zu steigen, als ich vermutete, und schon leuchteten Blitze und fielen schwere Tropfen, als ich den Scheitel der Anhöhe erreichte, welche anderwärts unbedenklich ein Berg genannt werden könnte.

Jetzt stand das Schloß hart vor mir, und ich schritt rasch auf eine Art krenelierter Mauer zu, hinter welcher der Torbogen dunkelte, zog aber mit Schrecken meinen Fuß zurück, denn ich stand hart an dem Rand einer mächtigen Tiefe. Zwischen mir und der Burg klaffte ein Abgrund, und in dem zuckenden Licht der Blitze sah ich jetzt erst, daß das Schloß nicht auf dem Hügel selbst, sondern vielmehr auf einer hinter demselben aus schwindelnder Tiefe aufsteigenden Felsenklippe lag. Mich mit beiden Händen an der Mauer festhaltend, beugte ich mich vorsichtig vor, und es war weniger romantisch als unheimlich, wenn ich auf Augenblicke im Lichte der Blitze das grüne Gletschereis aus der schwarzen Kluft heraufblinken sah. Auch einen anderen nicht sehr tröstlichen Gegenstand verriet mir das zuckende Licht, nämlich drüben am Burgtor eine aufgezogene Zugbrücke.

Aber das verwunschene Schloß mußte doch bewohnt sein, denn mehrere Fenster waren beleuchtet. Ich schrie mit voller Kraft der Lunge nach Einlaß, aber der inzwischen mit ganzer Macht losgebrochene Gewittersturm ließ meine Stimme nicht aufkommen. Da, beim Herumtasten an der Mauer, kam mir etwas wie ein Glockengriff in die Hand. Ich riß daran und horch, drüben gellte richtig eine Glocke. Ich machte sie abermals und abermals gellen, denn zu Höflichkeit und Bescheidenheit war da keine Zeit. Meine Zudringlichkeit hatte auch den besten Erfolg, denn drüben unter dem Torbogen erschien Licht, und nach einigen Minuten legte sich die Zugbrücke knarrend und rasselnd über den Abgrund. Ich schritt ohne Verzug über die Bohlen und fand mich drüben vor einem verschlossenen Tor mit einem schmalen, ebenfalls verschlossenen Einlaßpförtchen in der Mitte. Aus einer Mauerluke daneben streckte eine alte runzelige Hand eine Laterne, und hinter derselben ward ein sehr altes Gesicht sichtbar.

»Wer seid Ihr?« fragte der Alte.

»Ein verirrter Reisender, der um ein Obdach für die Nacht bittet.«

»Wartet!«

Gesicht, Hand und Laterne verschwanden, die Zugbrücke ging hinter mir in die Höhe, und ich befand mich sozusagen zwischen Tür und Angel, das heißt zwischen dem versperrten Tor und der wieder aufgezogenen Zugbrücke. Das währte eine geraume Weile und war unbehaglich genug.

Endlich vernahm ich schlürfende Tritte, das Einlaßpförtchen tat sich auf, und im Licht der Laterne, welche er trug, stand der Alte vor mir, eine untersetzte Gestalt in altfränkisch geschnittener, verschossener Livree von dunkler Farbe. Er sagte nur: »Kommt!«, und da ich ihm folgte, führte er mich durch einen gewölbten Torweg und über einen kleinen Hofraum auf einen runden Turm zu, welcher die linke Flanke des Herrenhauses der alten, aber, soviel ich bemerken konnte, in leidlich gutem Zustande erhaltenen Burg flankierte. Als er mir innerhalb des Turmes eine breite steinerne Wendeltreppe hinaufgeleuchtet hatte, trat mir auf dem Vorplatz des ersten Stockwerkes eine höchst abenteuerliche Figur entgegen, ein kleines dürres Männchen mit mumienhaft vertrockneten Gesichtszügen, die nur noch durch ein Paar kleine, kluge Augen belebt waren. Dieses Männchen trug Schnallenschuhe, weiße Strümpfe, gute Beinkleider von pfirsichblütfarbenem Plüsch, eine schwefelgelbe Pattenweste, die mit ihren Schößen bis zur Hälfte der Schenkel hinabreichte, darüber einen zeisiggrünen Rock oder Frack, ferner eine weiße Halsbinde mit langen bordierten Zipfeln, im Nacken einen langen dünnen Zopf und im übrigen eine vollständig regelrechte Frisur à quatre épingles – alles nach der neuesten Mode von 1780 oder 1790, selbst die Form des Handleuchters mit zwei brennenden Wachslichtern nicht ausgenommen, bei deren Schein das alte Geschöpf mit sauersüßer Miene meine Gesichtszüge prüfte.

Als ich dieses Petrefakt einer Zeit, die uns noch so nahe und doch schon wie antediluvianisch weit hinter uns liegt, verwundert anguckte und bei mir dachte, ich sei da richtig in ein verwunschenes Schloß geraten, sagte es – nämlich das Petrefakt, nicht das Schloß – mit einem wie in der Stimmritze eingerosteten Organ:

»Monsieur wünscht ein Nachtquartier?«

»Ja, mein Herr. Ich habe mich in den Bergen verirrt und bin von dem Gewitter überrascht worden. Wenn ich die Ehre habe, den Besitzer dieser alten Burg vor mir zu sehen –«

»Pardon,« unterbrach mich der im Zeisigrock mit einem halben Lächeln und einer ganzen Verbeugung voll Anstand und Höflichkeit, »Pardon, Monsieur irrt sich. Ich habe die Ehre der Hausmeister dieses Schlosses zu sein. Aber Monsieur ist gewiß müde?«

»Sehr.«

»Und hungrig und durstig?«

»Noch mehr.«

»Will Monsieur – aber darf ich vielleicht um den Namen von Monsieur bitten?«

»Freilich. Ich heiße Hellmuth, Michel Hellmuth.«

Der Alte, welcher mir den Rücken gewandt hatte, um mir weiter die Treppe hinan zu leuchten, kehrte sich rasch um und sah mich eine Sekunde lang forschend an. Dann, die Stufen weiter hinaufsteigend, sagte er:

»Hellmuth, Michel Hellmuth – soso! Woher? wenn Monsieur einem alten Manne die Frage nicht übel nimmt.«

»Behüte! Ich bin aus Rothenfluh in Deutschland.«

»Soso!« machte der Alte wieder und hüstelte etwas Weniges dazu.

Wir waren inzwischen ins zweite Stockwerk gelangt, und mein Führer bog in einen langen und dunkeln Korridor ein, an dessen Wölbung meine Schritte auf dem Fußboden widerhallten. So ging es noch über mehrere Gänge, zur Abwechselung auch treppauf und treppab, ohne daß uns in dem unheimlich öden Hause irgend jemand begegnet wäre.

»Man scheint hier zeitig zur Ruhe zu gehen?« fragte ich den Alten.

»Das ist in unseren Bergen überhaupt so. Die Herrschaften haben sich schon vor einer halben Stunde in ihre Zimmer zurückgezogen.«

Die Herrschaften? Das klang ja ganz vornehm und bewies jedenfalls, daß das verwunschene Schloß in der Tat noch andere Bewohner habe als das Petrefakt von Hausmeister und den dito versteinerten Pförtner.

Der Alte öffnete endlich mit einem Schlüsselbund, welches er mit sich führte, eine Türe, lud mich mit einer Verbeugung zum Eintritt ein und zündete zwei auf dem Tische in der Mitte des Gemaches stehende Kerzen an. Dann sagte er: »Werde sogleich das Abendbrot für Monsieur Hellmuth besorgen« und ließ mich allein.

Ich befand mich in einem großen hohen Zimmer mit Alkoven, worin unter einer Art altfränkischen Thronhimmels ein breites Bett stand. Alles gemahnte hier an eine verschollene Zeit, die verblaßten Möbel à la Pompadour, die verblichene Vergoldung der Deckenstukkaturen und Tapetenleisten, die eingedunkelten Tableau an den Wänden, Landschaften und Schäferszenen à la Watteau und Boucher darstellend.

Während ich diese Herrlichkeiten betrachtete, kam das Petrefakt zurück und mit ihm eine alte, wie ein Mütterlein aus dem vorigen Jahrhundert gekleidete Dienerin. In diesem verwunschenen Schlosse schien alles alt und altfränkisch zu sein. Ich hätte mir leicht einbilden können, ein Stück achtzehntes Jahrhundert sei von einer Woge der Sündflut, genannt Revolution, in diesen weltverlorenen Winkel der Erde geschwemmt worden, um auf der Felsenklippe in einem der zahlreichen Berninatäler sitzen zu bleiben und zu versteinern.

Die Alte trug ein Speisebrett, dessen Fracht der Alte auf dem Tische ordnete, während sie im Alkoven sich mit dem Bette zu schaffen machte. Als beide mit ihrem Geschäft zu Ende waren, sagte der Pfirsichblütfarbene und Zeisiggrüne:

»Hat Monsieur Hellmuth sonst noch etwas zu befehlen?«

»Ich habe hier überhaupt nichts zu befehlen, aber auch weiter nichts zu wünschen und zu erbitten.«

»So wünsche ich Monsieur wohl zu speisen und gut zu schlafen,« sagte der höfliche Majordomus mit einer so weitschichtig tiefen Verbeugung, daß ihm der lange Zopf bolzgerade im Nacken stand. Das Mütterchen akkompagnierte diese Verbeugung von weiland mit einem fabelhaften Knix.

Als sie fort waren, tat ich, als ob ich zu Hause wäre, machte mich über die einfachen, aber schmackhaft zubereiteten Alpenspeisen und den vortrefflichen dunkelroten Veltlinerwein her, kümmerte mich verteufelt wenig um den Gewittersturm, welcher die klafterdicken Mauern des verwunschenen Schlosses umheulte, und ließ mir die rollenden, an den Bergwänden zehnfach widerhallenden Donner als Tafelmusik gefallen.

Sie verhallten zuletzt, und zugleich mußte auch mein Appetit sich gestehen, daß ihm genug getan worden sei. Ich schlürfte noch ein Glas Veltliner und bemerkte dann, daß es in dem Zimmer schwül, dunstig und muffig sei. Es mochte lange nicht gelüftet worden sein. Ich stand daher auf, um eins der drei in einer Reihe hinlaufenden Fenster zu öffnen, bemerkte aber, daß dasselbe eigentlich eine Türe sei. Nach etwelchem Rütteln und Zerren an der eingerosteten Klinke gelang es mir, den einen Flügel aufzubringen, und die herbe Kühle, welche im Hochgebirge einem Gewitter folgt, schlug mir von draußen entgegen. Da sie mir nicht abschreckend, sondern wohltuend vorkam, trat ich hinaus und gelangte, ein paar steinerne Stufen hinabsteigend, auf eine Art Balkon, der mit einer Brustwehr von starkem Gebälke eingefaßt war. Das war zweckdienlich, denn der Balkon hing über der jähen Tiefe, welche rings um die Schloßklippe gähnte.

Das Gewitter war, wie gesagt, vorüber, und in der von Wolken reingefegten Himmelskuppel brannten still die Sterne. Die Sichel des wachsenden Mondes stand hoch am Firmament und ließ nur ein blaßbläuliches Dämmerlicht auf die Kuppen der Schneekolosse ringsum niederrieseln. Wie heimliches Geplauder der Berggeister klangen und rauschten die stürzenden Bergwasser durch das heilige Schweigen der Nacht.

Plötzlich meinte ich zu hören, daß mit diesen Naturlauten da draußen ein Klang wie Harfenton sich mischte, der aus dem Innern des Schlosses zu kommen schien. Ich ging auf dem Balkon, der an dieser ganzen Seite des Gebäudes hinlief, dem leisen Klange nach und sah mich bald vor einer tiefen Mauernische, in die ein Fenster eingelassen war. Dasselbe war aber von innen so dicht verhangen, daß der Schimmer des dahinter brennenden Lichtes kaum durch die dunkle Gardine drang. Da war also weiter nichts zu sehen, aber weil in einem verwunschenen Schlosse auch ein anständiger Mensch neugierig sein darf, so stieg ich sachte eine schmale, dem Fenster zur Seite in die dicke Mauer eingeschnittene Treppe hinauf und sah mich droben auf einer kleinen Plattform oder Zinne, um die ein steinernes Geländer herlief. Hier vernahm ich den Harfenton deutlicher als drunten und erkannte bald die Ursache. Aus einer runden Öffnung in der Mitte des Steinbodens der Zinne drang zugleich mit einem starken Lichtschimmer der süße Saitenklang. Ich beugte mich nieder und sah vor mir ein starkes Eisengitter, welches über der runden Öffnung lag. Hinter den Eisenstäben war eine Glasscheibe angebracht, welche aber die Unbill der Witterung springen gemacht hatte. So konnte ich durch einen Spalt der Scheibe in die kleine Rotunde hinuntersehen, auf deren Wölbung ich stand.

Da erblickte ich ein lieblichstes Wunder!

Ich mußte mich rasch aufrichten, um den Freudenschrei, der mir aus dem Herzen sprang, mit den Lippen gewaltsam zurückzupressen.

Dann kniete ich nieder und legte Auge und Ohr, legte die Seele an das Eisengitter.

Auf einem altmodischen Stuhl mit hoher Lehne, an dem Tisch, auf welchem die Lampe stand, die das Gemach erhellte, saß Isolde von Rothenfluh, mit der Hand träumerisch über die Saiten einer Harfe von altfränkischer Form fahrend, welche sie zwischen den Knien hielt.

Es war kein Traum, nein, reizendste Wirklichkeit. Mit einem Schlage wurde mir alles klar: ich befand mich in dem Schlösse von Bertholds und Isoldes wunderlichem Großoheim.

Die Lampe warf ihr volles Licht auf die teure Gestalt, auf dieses Antlitz, das so edel und schön war wie das der Raffaelschen Madonna della Sedia.

Sie trug ein weißes Nachtgewand, das die jungfräuliche Schönheit ihrer Glieder streng verhüllte. Nur oben am Halse stand es offen, und ich bemerkte mit wehmütiger Freude die Perlenschnur, an welcher seit Jahren Isolde das kleine Silberkreuz trug, das sie von meiner Mutter zum Andenken erhalten hatte, als sie der Pflege unter dem Dache meines Vaterhauses entwachsen war. Dieser bescheidene Schmuck schimmerte im Lampenlicht auf den Brustfalten des Kleides und weckte tausend zärtliche Erinnerungen in mir.

Isolde beugte das schöne Haupt auf das Instrument nieder und schlug schwermütige Mollakkorde an. Dann erklang leise ihre seelenvolle Altstimme. Ich habe die Worte ihres Liedes treu im Gedächtnisse bewahrt, obwohl mich Isolde den Dichter desselben erst lange nachher kennen und lieben lehrte. Sie sang:

»Immer leiser wird mein Schlummer,
Nur wie Schleier wird mein Kummer
Zitternd über mir.
Oft im Traume hör' ich dich
Rufen drauß' vor meiner Tür',
Niemand wacht und öffnet dir –
Ich erwach' und weine bitterlich.

Ja, ich werde sterben müssen,
Eine andre wirst du küssen.«

Hier erlosch die Stimme, und nur noch ein bebender Harfenton zitterte durch das Gemach. Ein wilder Schmerz faßte mich an. Ich hätte laut aufschreien mögen vor bitterer Reue.

Isolde hatte sich erhoben und das Instrument weggelehnt. Sie stand eine Weile wie in trübem Sinnen. Die Arme hingen ihr schlaff an den Hüften nieder und ich glaubte Tränen an ihren Wimpern funkeln zu sehen.

Dann kniete sie an dem Stuhle nieder und neigte die Stirne aus die gefalteten Hände. Die reine Seele hatte noch nicht verlernt zu beten. Dieses starke und doch so demütige Herz war zu lauter, um sich über die Hilfebedürftigkeit des Weibes eine Selbsttäuschung vorzumachen.

Wenn ich mich jetzt jener Szene erinnere, glaube ich recht zu tun, wenn ich, den Fortgang derselben zu schildern, die zarten Verse entlehne, womit der arme Keats in seinem »St. Agnesabend« eine ähnliche beschrieben:

Voll auf die Stelle schien der Lampe Licht
Und warf auf Madelinens schöne Brust
Ein warmes Rot, wie sie voll Andacht kniete;
Wie Amethyst erglänzt' ihr Silberkreuz,
In ros'gem Licht die Hände, fromm gefaltet,
Und goldner Heiligenschein umfloß ihr Haar.
Sie schien – es fehlten Flügel nur – ein Engel,
Gekleidet in des Himmels lichte Tracht.
Und jetzt lebt auf ihr Herz: gesprochen hat
Sie ihr Gebet; von Band und Nadeln
Befreit sie ihre Locken, löst allmählich
Den warmgewordnen Schmuck von Arm und Hals,
Schnürt auf ihr duftig Mieder; langsam rauscht
Die weiße Kleidung nieder zu den Knien
Und halb umhüllt noch, wie im Tang die Meermaid,
Steht sie in waches Träumen still versenkt.

Sie nahm die Lampe und stellte sie auf den Nachttisch neben dem Bette. Dann zog sie die Gardine auf und schlug die Decke zurück.

Sie tat das alles mit einer keuschen Grazie, welche das jungfräuliche Schlafgemach zu einem Heiligtum umwandelte. Ich wandte den Kopf, als sie sich in ihre Pfühle senkte, um durch keinen vermessenen Blick an dieser edlen Züchtigkeit zu freveln. Dann, bevor sie die Lampe löschte, sah ich noch einmal hin und erblickte sie, sittsam eingehüllt, für einen flüchtigen Moment auf ihrem Lager wie

»In Hafens Ruh', bewahrt vor Freud' und Schmerz,
Verschlossen wie ein Meßbuch unter Heiden,
Geschirmt vor Sonnenstrahl und Regenguß,
Als schlöss' die Rose sich und würde Knospe wieder.«

Sechstes Kapitel

Autor läßt sich's abermals beigehen, den Lauscher zu spielen. – Edelmann und Geldmann. – Wer den irrenden Ritter in der alten Halle bewillkommnete. – Von Augen, die sich küssen. – Ein praktischer Mensch und ein Sonderling.

Es war spät geworden, bevor ich, in mein Zimmer zurückgekehrt, den Schlaf finden konnte. Aber ich will den geneigten Leser nicht mit den stürmischen Gedanken behelligen, die mich bis lange nach Mitternacht auf meinem Lager wach hielten. Endlich gewann der ermüdete Leib doch über die beunruhigte Seele die Oberhand, und ich schlief dann bis weit in den Morgen hinein. Als ich aufgestanden war und mich angezogen hatte, zeigte meine Uhr eine Stunde, um welche nur städtische Langschläfer, nicht aber rüstige Alpenwanderer das Lager verlassen.

Mein Zimmer erschien mir bei Tageslicht noch verblichener und veralteter, als es gestern bei Kerzenlicht ausgesehen hatte. Im ganzen Hause hörte ich kein Geräusch, keinen Ton. Entweder mußte ich mich von den bewohnten Räumen weitab befinden, oder es mußte hier die Hauswirtschaft einen merkwürdig stillen Gang gehen.

Ich öffnete die Türe zum Balkon und trat hinaus, wäre aber fast wieder zurückgetreten, geblendet von der Morgenpracht, in welcher die Gebirgsgruppe des Bernina vor mir stand. Die Morgennebel dampften aus den Talgewinden empor und umwallten, in den Lichtkreis der Sonne tretend, wie purpurne Gürtelbänder die Hüften der stolzen Bergriesen. Aber ich brachte der Größe dieses Schauspiels heute nur ein halbes Herz entgegen. Meine Füße strebten unwillkürlich der kleinen Treppe zu, welche zur Zinne emporführte. Doch bezwang ich mich und lenkte mein Auge wieder zu den Felsen und Firnen hinüber. Aber ich sah in all dem Wallen und Wogen und Glühen da drüben nur eins, nur die weiße Gestalt der holden Beterin von gestern abend. So schön und heilig war mir Isolde nie zuvor erschienen. Jetzt trat kein anderes Bild mehr trübend und trügend vor das ihrige; jetzt wußte ich, daß ich ihr mit ganzer Seele sagen durfte: Ich liebe dich!

Während ich dieser Möglichkeit, glücklich zu sein, nachsann, vernahm ich mir zu Füßen zwei Männerstimmen, die mir sogleich bekannt vorkamen. Sie mußten aus dem kleinen Garten kommen, welcher an dieser Seite des Schlosses angelegt war, da der Balkon, worauf ich stand, nicht, wie mir in der Nacht geschienen hatte, über die Schloßklippe hinausging. Wenigstens erblickte ich zwischen dem Gebälke der hohen Balustrade hindurch einige Fragmente von Taxushecken, welche andeuteten, daß hier vorzeiten eine Gartenanlage französischen Stils existiert hatte.

Die Sprechenden da unten kamen näher, ohne daß ich sie jedoch zu Gesicht bekommen hätte. Sie standen unter dem Balkon still, und ihre Stimmen ließen mir keinen Zweifel mehr übrig: ich hörte Berthold von Rothenfluh und Herrn Kippling den Jüngeren.

»Deshalb ist also mein Suchen vergeblich gewesen?« sagte ich mir. »Hierher, in dieses weltverlorene Schloß haben sie sich gewendet? Hierher zielte vielleicht ihre Reise von Anfang an? Und wenn der Freiherr da ist, so wird wohl auch Fräulein Julie nicht weit weg sein. Aber wie kam Isolde hierher? Wie hatten die anderen ihr Hiersein erfahren? Oder führte, wie mich selber, auch die drei nur der Zufall auf diese Felsenklippe?«

Der Dialog unten störte mein Selbstgespräch. Ich machte eine halbe Wendung, in mein Zimmer hineinzugehen, allein schon die ersten Worte, die ich von drunten vernahm, bannten mich auf meinen Platz.

»Ich bin der Sache müde,« sagte Herr Theodor Kippling, »um so mehr, da ich es in dieser abscheulichen Einöde nicht länger aushalten kann. Was soll man mit diesen ewiglangen Tagen und mit den noch längeren Nächten anfangen, da hier alles mit den Hühnern zu Bette geht? Und überhaupt, diese ganze alte Scharteke von einem Burgungeheuer ist mir unheimlich.«

»Was wollen Sie denn?« entgegnete Berthold beschwichtigend, aber doch mit einer so deutlichen Nuance von Stolz in der Stimme, daß man leicht merkte, er betrachte den Sohn des Millionärs als meilentief unter sich stehend. »Was wollen Sie denn? Isolde ist einmal hier, und Sie haben da die beste Gelegenheit, ihr den Hof zu machen.«

»Was hab' ich von dem Hofmachen? Und nicht einmal das läßt ja das stolze Fräulein zu. Je länger ich in ihrer Nähe lebe, desto dichter scheint die unsichtbare Scheidewand zu werden, welche sie zwischen sich und mir aufgeführt hat. Ich will mich nicht länger zum Narren haben lassen.«

»Mein lieber Herr Kippling, meiner Schwester fällt es gewiß im Traume nicht ein, Sie zum Narren zu haben. Das Kurze und das Lange von der Sache ist, daß meine Schwester Sie gar nicht haben will.«

»Und Sie sagen mir das mit so kaltem Blute?«

»Freilich, warum denn nicht?«

»Wie, Herr Baron, ist dies die Art, wie Sie Ihren Verpflichtungen gegen mich nachkommen?«

»Ich habe mich nach dieser Seite hin Ihnen nur verpflichtet, meiner Schwester Ihre Werbung vorzutragen und zu empfehlen. Es geschah dies redlich in dem Briefe, in welchem ich Isolden anzeigte, daß wir mitsammen wieder Rothenfluh besuchen würden, wo Sie dann die Gelegenheit ergreifen wollten, Ihren Gefühlen mündlichen Ausdruck zu geben. Die einzige Antwort Isoldes war, wie Sie wissen, daß sie vom Lindachhof abreiste und hierher ging, zu dem alten Sonderling von Großoheim.«

»Ja, das weiß ich, und ich weiß auch, daß der Agent, welchen ich aus Gründen der Liebe und aus Gründen des Geschäfts in Rothenfluh unterhielt, glücklich erlauerte, daß Ihre Schwester in diese dumme Wildnis geflohen. Ich hielt das aber nur für ein Sprödetun, wie das die Mädchen so an sich haben, denn sonst hätte ich mich sicherlich nicht dazu hergegeben, mit Ihnen und Julie tagelang die abscheuliche Bergkletterei zu teilen. Aber was hat mir das alles geholfen? Das stolze Fräulein tut ja, als ob ich gar nicht da wäre.«

»Das ist Ihre Sache. Ich konnte Ihnen meine Schwester nicht verkaufen. Würde ich auch dazu das Recht gehabt haben, so hätte ich doch schwerlich den Willen gehabt.«

» Peste! Sie nehmen diese Sache verzweifelt kühl, mein Lieber. Sie versprachen doch, mich in meiner Werbung um diese stolze Schöne zu unterstützen, deren Stolz und Sprödigkeit meine Liebe nur noch mehr befeuern.«

»Als ich Ihnen meine Unterstützung versprach, wußte ich noch nicht, was ich jetzt zu wissen glaube!«

»Was?«

»Daß Isolde schon gewählt hatte.«

»Wen?«

»Meinen und ihren Jugendgespielen, Michel Hellmuth.«

»Was? Den lumpigen Kommis meines Vaters? Bah.«

»Herr Kippling, Ihr Herr Vater sagte mir, Michel Hellmuth sei ein tüchtiger und braver Mann, und hören Sie, mein Bester, lassen Sie sich ein für allemal sagen, ich habe die Ehre, Herrn Hellmuth trotz allem, was zwischen uns liegt, meinen Freund nennen zu dürfen, und ich dulde nicht, daß in meiner Gegenwart übel von meinen abwesenden Freunden geredet werde. Ich habe in der Familie Hellmuth, unter deren Dache ich die besten und glücklichsten Tage und Jahre meines Lebens verbrachte, ohnehin eine unbezahlte und unbezahlbare Schuld kontrahiert ... Doch das gehört nicht hierher .... Sie aber, Sie sollen mit Achtung von Michel Hellmuth sprechen – verstehen Sie mich?«

»Bah!« entgegnete Herr Kippling, dieser kavaliermäßigen Zurückweisung geldprotziger Gemeinheit gegenüber geschmeidig einlenkend. »Bah! wozu das Pathos? Lohnte sich wahrhaftig der Mühe! Das fehlte noch, daß zu den übrigen Fatalitäten unserer Situation noch ritterlicher Nonsens hinzukäme. Wie wird Ihnen denn, mein Herr Doppelschwager in spe, wenn ich Ihnen sage, daß Ihr hochgelobter Michel um Julie herumgestrichen?«

»Hm, ich kenne die Geschichte. Fräulein Julie hat sie mir von A bis Z erzählt. Sie besitzt die Tugend der Aufrichtigkeit im höchsten Grade, das heißt wenn sie gerade die Laune anwandelt. Julies Erzählung zufolge ließe sich aber vielleicht mit mehr Recht sagen, sie sei um Michel herumgestrichen. Ich weiß, es hing nur von ihm ab, daß Julie seine Frau wurde.«

»Ha, ha, ha! Nicht auch vollends! Dazu hätten Kippling Vater und Kippling Sohn doch auch ein Wort zu sagen gehabt.«

»Hm, was Kippling Sohn betrifft, so kümmert sich dessen Schwester blutwenig oder vielmehr gar nicht um ihn, und was Kippling Vater angeht, so habe ich starke Gründe, zu vermuten, daß er seiner Tochter seinen Segen nicht vorenthalten hätte.«

»Ach was, das sind Schnurren! Und überhaupt, so ein Geplausche ist unpraktisch und unersprießlich. Wir wollen als verständige Männer reden, um zum Ziele zu kommen. Ich bin Geschäftsmann, das heißt ein praktischer Mensch, mein lieber Herr Baron, und da ich das Geschäft dieser Doppelheirat einmal entriert habe, so will ich es in Bälde zu Ende geführt oder aber in bäldester Bälde abgebrochen wissen.« .

»Nach Belieben, mein Herr.«

»Bitte nur nicht empfindlich! Nonsens das, unpraktisches Zeug! Lassen Sie uns kaltblütig und sans phrase sehen, wie die Sache liegt. Sie, Herr Baron, wollen meine Schwester zur Freifrau, ich will die Ihrige zur Frau Kippling machen. Über Standeshindernisse sind Sie hinaus, denn Sie wissen recht wohl, daß heutzutage Kapitalienbriefe die Adelsbriefe mehr als aufwiegen. Adelsvorurteile sind auch auf seiten Ihrer Schwester nicht vorhanden, ich weiß es. Weiter: Sie, Herr Baron, sind ökonomisch ruiniert. Das ist eine Tatsache, eine mißliche Tatsache, ich gebe es zu, aber immerhin eine Tatsache, und in Geschäften kommen nur Tatsachen in Betracht. Ich schlug Ihnen zuerst namens der Firma Kippling vor, ein Arrangement mit Ihren Gläubigern zu treffen, deren Zahl, ich weiß es, Legion ist, das heißt die Firma Kippling wollte diese Gläubiger abfinden – wie? das wäre unsere, der Firma Kippling Sache gewesen – und dafür sollte ihr das zufallen, was von Ihrem väterlichen Besitztum überhaupt noch übrig ist, das heißt das Schloß Rothenfluh samt dem unmittelbar dazugehörigen Güterkomplex, gelegen in der gleichnamigen Gemeindemarkung in Deutschland. Wir, die Firma Kippling, beabsichtigten daselbst die Anlage eines industriellen Etablissements, weil dafür Lokalität und Gegend günstige Vorbedingungen zu bieten schienen. Sie wollten aber auf diesen Vorschlag nicht eingehen, und da ich inzwischen die Ehre hatte, Ihre Schwester kennen zu lernen, und dadurch auf den Einfall kam, dem Erben des Millionärs Kippling müßte die besagte Dame, nicht weil, sondern obgleich sie ein Freifräulein ist, ein armes Freifräulein, denn Lindach ist nur eine Bagatelle, als Frau nicht übel anstehen, so schlug ich eine Modifikation des Geschäftes vor. Sie sollten Julie, der eine Neigung für Sie angeflogen war, heiraten und mit ihr die Gelder, welche nötig sind, Sie herausreißen; ich dagegen sollte Fräulein Isolde heimführen. Unter der Voraussetzung und Bedingung, daß unsere beiderseitigen – verstehen Sie wohl? unsere beiderseitigen Wünsche verwirklicht würden, brachte ich es dazu, ich, Theodor Kippling, daß die Firma Gottlieb Kippling, um Subhastation, Schuldenbetrieb, Wechselklagen und dergleichen Fatalitäten mehr von Ihnen abzuwenden, Ihren Gläubigern Bürgschaft leistete, im mutmaßlichen Wertbetrage dessen, was von der großen Herrschaft Rothenfluh überhaupt noch übrig ist. Diese Bürgschaft sollte bis zum ersten September laufenden Jahres gültig sein und ist es. Heute schreiben wir den zehnten August. Das Soll der Geschwister von Rothenfluh ist aber, wenigstens was Fräulein Isolde angeht, im Kipplingschen Hauptbuche immer noch ein bloßes Soll. So ist die Sachlage. Ist sie so, Herr Baron?«

»Ja, mein Herr. Aber es ist gar nicht nötig, mich daran zu erinnern.«

»Doch, mein Bester. Ihr Herren Kavaliere wißt nicht, daß Geschäft Geschäft und Zeit Geld ist, aber wir Geschäftsleute wissen es. Heute schreiben wir, wie gesagt, den zehnten August; am ersten September läuft unsere Bürgschaft aus. Unser Geschäft in diesem alten Eulennest hier muß also längstens binnen fünf bis sechs Tagen abgemacht sein, denn die Formalitäten zum Abschlusse des ganzen Arrangements nehmen die noch übrige Zeit vollauf in Anspruch. Also, mein Herr Baron, es ist nicht meine, sondern Ihre Sache –«

Diese Worte hörte ich nur noch undeutlich, denn die Redenden hatten ihren Standpunkt verändert, und im gleichen Augenblicke vernahm ich hinter mir in der Öffnung der Türe meines Zimmers die dünne Stimme des alten Hausmeisters – ach Gott, wie sah er erst bei Tage alt aus! – welcher mich mit einer tiefen Verbeugung fragte, ob es Monsieur beliebe, zum Frühstück zu kommen.

Ich folgte dem Vorangehenden auf einem anderen Wege, als wir gestern abend gemacht hatten, und gelangte über verschiedene öde Gänge zu einer breiten Treppenflucht, welche in das untere Stockwerk hinabführte. Hier gingen wir über einen Vorplatz, und dann öffnete mir der Alte die Flügeltür einer weiten Halle mit vom Alter gebräuntem Eichengetäfel, welche als Speisezimmer diente. Am oberen Ende einer langen schwerfälligen Tafel war in altfränkischem Geschirre ein Frühstück serviert, und da saßen Isolde und Julie, beide schön wie der Morgen. Aber ich sah nur jene, und das Herz klopfte mir gewaltig.

Die beiden Mädchen – außer ihnen war niemand in der Halle – erhoben sich bei meinem Eintritte, und ich war einigermaßen überrascht, daß sie durch mein Erscheinen weiter nicht überrascht schienen.

»Ah, da kommt ja der irrende Ritter,« rief mir Julie entgegen und schwenkte zum Gruße mit komischer Anmut die Butterschnitte, welche sie in der Hand hielt. »Willkommen im verzauberten Schlosse! Sie sollen alsogleich zwar nicht einen vollen Humpen, aber doch eine volle Tasse Milch von meiner Hand kredenzt erhalten.«

Isolde bot mir die Hand und sagte:

»Willkommen, lieber Michel! Der alte Hausmeister hat mir in der Frühe angezeigt, daß du als verirrter Wanderer gestern abend auf der roten Fluh angelangt seiest. Ich konnte erst gar nicht daran glauben – die Freude war zu groß –«

»Aber meine erst, Isolde, meine erst!«

Weiter konnte ich nichts sagen, aber ich hielt die teure Hand fest in der meinigen.

»Kinder,« rief Julie lachend aus, »habt euch doch um's Himmels willen nicht so verschämt lieb. Küßt euch! Ich sehe ja doch, wie eure Augen sich küssen.«

Isolde errötete leise über diese Profanation, allein das liebe Lächeln ihres Mundes bezeugte mir, daß sie nicht willens sei, die Behauptung Julies in betreff des Augenkusses Lügen zu strafen. Sie führte mich zum Tische, aber ich hatte noch nicht Platz genommen, als Berthold und Herr Kippling eintraten.

Die beiden Herren mußten von meiner Anwesenheit noch nicht wissen, denn sie waren offenbar höchlich überrascht, mich zu sehen. Auf Bertholds Stirne, welche noch düsterer und gefurchter war als bei unserer letzten Zusammenkunft, glomm ein schwacher Freudenschimmer auf, und er schüttelte mir herzlich die Hand.

»Das hätte ich wahrhaftig nicht gehofft,« sagte er, »daß der wilde Sturm von letzter Nacht einen so alten guten Freund auf die rote Fluh wehen würde.«

»Ja, – diantre und diable!« meinte Herr Kippling noch gedehnter, als er sonst zu sprechen pflegte, »Sie kommen allerdings überraschend, Herr Hellmuth. Aber der Wind wird sie wohl nicht hergeweht haben, denk' ich.«

Er ließ bei diesen Worten einen unverschämt lauernden Blick zu Isolde hinübergehen, welche aber denselben gar nicht beachtete. Nichtbeachtung charakterisierte überhaupt ihr Benehmen gegen den Sohn des Millionärs, wie ich bald bemerken konnte, und es lag darin weder Hochmut noch Unhöflichkeit. Sie nahm seine Anwesenheit wie etwas, was man nicht ändern könnte, aber eben auch nicht weiter beachten müßte. Julie behandelte ihren Bruder mit der offenen Geringschätzung, welche ich ihm gegenüber schon an ihr gewohnt war. »Wäre dieser Mensch nicht zufällig meines Vaters und meiner Mutter Sohn,« hatte sie mir früher einmal gesagt, »was ginge er mich an? Was habe ich mit ihm gemein?« Ich füge gelegentlich noch hinzu, daß vielleicht gerade diese Stellung Julies zu ihrem Bruder das trauliche, freundschaftliche Verhältnis, welches zwischen ihr und Isolde waltete, gefördert haben mochte. Wie dankte ich es der launischen Schönen, daß ihre seines Ortes erwähnte Begeisterung für Isolde augenscheinlich eine wirkliche und dauernde war! Dagegen schien das Verhältnis zwischen Berthold und Julie nicht eben große Vorschritte gemacht zu haben. Ich bemerkte keine bedeutenden Symptome von Verständnis und Innigkeit zwischen ihnen. Berthold war meist düster und zerstreut, oft ganz in sich versunken und teilnahmlos, weniger seiner Schwester als Julie gegenüber, welche ihrerseits ihn bald mit nachsichtiger Zärtlichkeit, bald wieder mit einer Art Scheu oder Furcht behandelte. Was mich betrifft, mir flößte er tiefes Mitleid ein. Er glich einem müdgehetzten Wilde, das sich unrettbar in die Jägernetze verstrickt hat. In seinem Auge wechselte der Ausdruck dumpfer Ergebung in das Verhängnis mit dem geheimer Angst oder auch geheimen Zornes.

»Nein, Herr Kippling,« sagte ich, »der Wind hat mich nicht auf die rote Fluh geweht, wie, scheint es, dieses alte Haus oder die Klippe heißt, worauf es steht. Ich wußte nicht, daß ich Sie hier treffen würde. Aber dennoch komme ich zu Ihnen, gerade zu Ihnen.«

»Zu mir? Woher denn?«

»Aus Ihrer Vaterstadt, von wo ich, im speziellen Auftrag Ihres Vaters, am Tage nach dem großen Brande von Kipplingsruhe abgereist bin.«

»In Kipplingsruhe hat es gebrannt?«

»Ja, mein Herr. Hier dieses Briefpaket, welches ich Ihnen von seiten Ihres Vaters zustelle, wird Ihnen das Nähere sagen.«

Er trat mit dem Paket in eine Fensternische, um es zu öffnen. Wir anderen setzten uns zum Frühstück, und wie ich merkte, mußte Julie gerade ihren zärtlichen Tag haben, denn sie überschüttete Berthold mit allerhand neckischen Fragen. Der Arme! Er versuchte zu lächeln und liebenswürdig zu sein, aber ich sah wohl, wie er sich Zwang antat. Ich nahm mir vor, ihm bei erster Gelegenheit zu sagen, daß ich Zeuge seines Morgengespräches mit Herrn Kippling gewesen sei, und dann mit ihm zu Rate zu gehen, ob sich denn gar kein Ausweg aus dem Wirrsal seiner Lage ausfindig machen ließe.

Ich wollte eben ansetzen, Isolden von unserem Freunde Fabian in Frohdorf zu erzählen, als Herr Kippling aus der Fensternische herüberrief:

»Saubere Neuigkeiten – diable! Denke Dir, Julie, Kipplingsruhe abgebrannt, gänzlich abgebrannt.«

»Was gehen mich Geschäftssachen an?« lautete die Antwort der Schönen.

»So? Seh mal einer den tollen Leichtsinn,« fuhr Herr Kippling fort, in seinen Papieren weiter lesend ... »Der Schaden ist ungeheuer trotz aller Assekuranzen, Kenne das ... werden Jahre vergehen, bis wir an dem Platz wieder solches Geld machen können wie bisher ... Verdammt das! Und kaum war ich fort, als der Unsinn geschah ... Was, der kleine Nickel, das Gritli Zündt hat das Feuer angelegt? Und die sitzt? Quer, sehr quer! ... Aber was ist das?«

Er brach ab. Ich fixierte ihn und bemerkte, daß sein verwüstetes Gesicht fahl wurde. Sein Auge begegnete dem meinigen, und er kehrte sich ab. Die Hand, in welcher er die Papiere hielt, sank ihm an der Seite herab – Banknoten flatterten aus dem Kuvert auf den Boden – mit der anderen trommelte er an den Fensterscheiben. Nach einer Weile, kehrte er sich wieder um und sagte mit einer Stimme, die diesmal weniger schleppte als zitterte:

»Herr Hellmuth, auf einen Augenblick – darf ich bitten?«

Ich trat zu ihm. Er zog mich in einen entfernten Winkel der Halle und sagte leise:

»Kennen Sie den Inhalt des Briefes, den ich soeben gelesen?«

»Wie sollte ich?«

»Ich meine – verstehen Sie? nur die Umrisse dieser dummen Geschichte.«

»Was ich weiß, ist, daß Kipplingsruhe ein Raub der Flammen wurde, daß das arme schöne Kind, das Gritli Zündt, am Morgen nach dem Brande in heller Verzweiflung zur Stadt gelaufen kam, sich im See ertränken wollte und, als dieses mißglückt war, sich als Anstifterin des Brandes bekannte.«

»Ja, ja, und weiter?«

»Daß auch die Frau Regel, Ihre Wirtschafterin, verhaftet wurde.«

»Und weiter?«

»Weiter nur noch, daß Ihr Herr Vater mir auftrug, Sie aufzusuchen, Ihnen diesen Brief zuzustellen und Sie, sobald Sie denselben gelesen, zu fragen, ob Sie seinem Wunsche, nein, seinem Befehle nachkommen wollten. Im bejahenden Falle soll ich es ihm persönlich, im verneinenden brieflich melden.«

»Weiter wissen Sie nichts?«

»Nein.«

»Nun,« bemerkte Herr Kippling wieder ganz in seiner gewöhnlichen Redeweise, »so will ich Ihnen sagen, daß ich noch etwas mehr weiß, nämlich, daß mon cher papa, ein so praktischer Mann er sonst ist, wunderlicherweise ganz vergessen zu haben scheint, daß sich mit Geld alles machen, alles ausgleichen läßt. Vielleicht ist er dieser seiner Vergeßlichkeit jetzt bereits inne geworden, und so werde ich mir die Freiheit nehmen, seinen Wunsch als nicht geäußert anzusehen, um so mehr, da ich, mein lieber Herr Hellmuth, hier in diesem verteufelten Eulennest ein wichtiges Geschäft, ein außerordentlich wichtiges Geschäft habe, das abgemacht sein muß, bevor ich daran denken kann und will, abzureisen. Ein praktischer Mensch wie ich läßt sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen.«

Damit ging er hin, hob die zu Boden gefallenen Banknoten sorgfältig auf, steckte sie ein, setzte sich zu Tische und frühstückte mit bestem Appetit.

Als wir aufstanden, sagte ich zu Berthold, ich möchte ihn, nachdem ich sofort einen Boten zur nächsten Poststation expediert haben werde, ersuchen, mich dem Schloßherrn, seinem Großoheim, vorzustellen, damit ich demselben für die mir widerfahrene gastliche Aufnahme meinen Dank bezeigen könne.

»Ja, lieber Michel,« versetzte der Freiherr, »das dürfte Schwierigkeiten haben, welche du nur allenfalls mit Isoldes Hilfe überwinden kannst. Ich selber habe den Burgherrn noch nicht gesehen, obgleich ich der Sohn seines Neffen bin.«

»Was?«

»Ei, ja doch. Du weißt ja wohl noch aus unserer Knabenzeit, was für wunderliche Sagen über den Großoheim umgingen. Seitdem er sich vollends hierher, auf die rote Fluh, den Stammsitz derer von Rothenfluh – Fluh oder Flüh heißt man hierzulande einen Bergrand, eine Felsenzinne oder Felsenklippe – ja, seitdem er sich hierher zurückgezogen, ist es mit seiner Menschenscheu oder seinem Menschenhaß – was weiß ich? – vollends ganz arg geworden. Der alte Papagei von Hausmeister, dessen alte Frau, der alte Torwart und noch so ein Dritteldutzend alter Geschöpfe, lauter Fossilien aus der Rokokozeit, hausen hier mit dem alten Sonderling auf dem alten Stein, hinter der meist bei Tag und jedenfalls immer bei Nacht aufgezogenen Fallbrücke. Er für seine Person hat seit Jahren den großen westlichen Turm der Burg nicht mehr verlassen. Dort hat niemand Zutritt als der alte Hausmeister und neuestens, wie ich glaube, Isolde. Da soll er, höre ich, mit seinen Büchern und physikalischen Instrumenten wohnen wie ein Zauberer in seiner Höhle. In die Vortüre zu seinen Zimmern ist eine Öffnung eingeschnitten und mit einem eisernen Schieber versehen; durch diese Luke bezieht er seine Bedürfnisse, und da erscheint er, wenn er Audienz zu geben geruht. Denn zu ihm hinein darf kein Mensch, selbst der Alte im grünen Papageifrack nicht. Allmonatlich an einem bestimmten Tage erscheint der Wirtschaftsverwalter, welcher in dem kleinen Dorfe da hinten im Tale wohnt, und legt Rechenschaft über die Einkünfte ab, welche der Großoheim aus seinen in der Gegend verstreuten Weiden und Sennereien bezieht. Was bei diesen Abrechnungen nicht der Papageigrüne als zur Führung des einfachen Haushalts notwendig in Beschlag nimmt, weist der Großoheim sogleich den Armen der umliegenden Talschaften zu, die deshalb auch diesen sonderbarlichen Alten vom Berge gehörig verehren. – Auf eine gewisse Anfrage von meiner Seite,« setze Berthold leiser hinzu, »ließ mir der Großoheim herübersagen, seit Jahren halte er darauf, daß seine Einkünfte bei Heller und Pfennig aufgehen, und für den Fall seines Todes habe er sein Besitztum, nach Abzug der für seine Diener bestimmten Legate, wohltätigen Anstalten vermacht. Du ersiehst aus letzterem,« schloß mein Jugendfreund mit einem sardonischen Lächeln, »daß ich mich nicht sehr aufgefordert fühlen konnte, mir um die persönliche Bekanntschaft mit dem Alten sonderliche Mühe zu geben. Im übrigen ist er gastfrei, und du brauchst dir gar kein Gewissen daraus zu machen, seinen Veltliner zu trinken, der in der Tat sehr trinkbar ist.«

Siebentes Kapitel

Die Stunde des Glücks. – Der Brautkuß. – Frage mich nicht! – Der Alte im Turm. – Ein Brautgeschenk und ein wunderlicher Segen.

Während des Frühstücks hatte ich die Gelegenheit wahrgenommen, Isolde um eine Unterredung zu bitten; denn ich hatte das lebhafte Gefühl, daß es endlich klar werden müßte zwischen ihr und mir.

Sobald ich meinen Brief an den Herrn Oberst expediert hatte, ging ich nach dem runden Gemache, welches Isolde bewohnte. Sie empfing mich mit der ganzen Herzlichkeit ihres Wesens. Ich geleitete sie zu dem Stuhl, auf welchem ich sie gestern nachts hatte sitzen sehen, und blieb vor ihr stehen.

»Lieber Michel,« sagte sie, »du weißt gar nicht, wie tröstlich mir deine Ankunft ist. Und halte mich nur für keine Phantastin, wenn ich inmitten meiner Kümmernisse oftmals still dachte und hoffte, zur rechten Stunde werde der Freund schon erscheinen, auch ohne daß ich ihn riefe. – Ich bin hierher gegangen, um einem nochmaligen Besuche Bertholds und dieses Herrn Kippling in Lindach auszuweichen. Das ist alles, was ich hinsichtlich der Bewerbung des letzteren um meine Hand zu sagen habe. Dieser Mensch muß aber ausspioniert haben, daß ich vor dem gedrohten Besuche nach der roten Fluh geflohen, und nun sind wir hier in der seltsamsten Lage. Berthold erwartet von einer Verbindung mit Julie eine Wendung seines Schicksals, das, wenn auch selbstverschuldet, doch immer beklagenswert ist. Ob er das schöne Mädchen liebt, weiß ich nicht, bezweifle es aber, denn – es ist schrecklich zu sagen – ich glaube, er kann nichts, gar nichts mehr lieben. Ich meine, die arme Julie fühlt das, und kurz, es will sich kein rechtes Verständnis zwischen den beiden herstellen.«

»Das beklage ich von Herzen; aber, meine teure Isolde, ich bin hierher gekommen, um einer mir näher liegenden Sache willen.«

»Ich wußte das, Michel, ich wußte das. Siehst du, ich kann mich nicht verstellen. Aber willst du nicht sitzen, mein Freund?«

»Nein, Isolde. Einem, der sich zu rechtfertigen hat, geziemt es, vor seiner Richterin zu stehen.«

»Ich deine Richterin, Michel? Was hätte ich denn an dir zu richten?«

»Meine Untreue. Vor allem, hast du meinen Brief nicht erhalten, in welchem ich dir von Konstanz aus alles beichtete? Doch nein, das geschah ja erst vor wenigen Tagen und du mußtest damals schon hier sein. So höre mich denn; es ist nur billig, daß ich mich auch mündlich vor dir demütige, wie ich es schriftlich getan.«

»Halt, mein Freund, ich will nicht, daß der Mann gedemütigt werde, und wäre es auch nur durch ihn selber – der Mann, den ich liebe.«

»Isolde!«

»Ja, das Wort ist heraus ... Warum sollt' ich mich des Bekenntnisses schämen? Du hast es ja schon vor Jahren empfangen, als wir noch glückliche Kinder waren. Damals, weißt du noch? auf der Breunighalde unserer Heimat ... Gestern noch, mein teurer Freund, hätte ich das Wort nicht gesprochen, nein, nein. Heute sprach ich es und wiederhole es. O, wie konnten so wenige Stunden so viele Not und Pein bringen? Heute, als du zu uns in die Halle tratest, sagte mir dein Auge, daß ich zu dir sprechen dürfe und müsse: Ich liebe dich! Du blicktest mich an wie damals, als ich im namenlosen Bangen meines erwachenden Herzens dich Schlafenden küßte und du die Augen auftatest und die Bebende fragtest, ob sie dir gut sei.«

»O, Isolde, edles und reines Heiz, du kannst, ohne zu erröten, auf jenen seligen Moment zurückblicken, aber ich – laß mich knien vor dir – ich kann mich nicht rechtfertigen, aber du, kannst du verzeihen?«

Sie legte mir die Hände auf die Schultern und sah mich liebevoll an mit ihren schönen Augen, aus welchen eine Seele ohne Falsch und Makel blickte.

»Sieh, Michel,« sagte sie, »weil du noch nicht vergangen sein lassen willst, was vergangen ist, so wisse: Julie hat mir alles erzählt, was du mir beichten könntest. Wie hättest du gegen sie gleichgültig bleiben können? Sie ist so schön, so voll Geist und Leben und, gewiß im Grunde ihres Herzens ist sie auch gut. Und sie liebte dich, Michel, ja, sie liebte dich und wird vielleicht ihr Leben lang nie ganz den bitteren Gedanken verwinden, daß sie nicht den rechten Weg getroffen, dich zu gewinnen. Sie ließ mich tief in ihre Seele blicken, und es ist dort etwas, was mir noch hier auf der roten Fluh, noch gestern verriet, daß Julie dich noch immer liebe, obgleich sie es sich selber leugnet. Das hat mir, ich gestehe es, bitteres Leid bereitet, so bitteres, daß ich an dir und mir verzweifelte und recht selbstsüchtig wurde.«

»Selbstsüchtig? du, Isolde? Das ist ja gar nicht möglich!«

»Doch, doch, mein Freund. Ich fühlte mich ganz aus Rand und Band kommen, siehst du. Brennende Eifersucht nagte mir am Herzen, und Haß verdunkelte mir die Seele. Als ich dieses Böse endlich überwunden, war der Sieg auch kein guter. Ich hatte mich an den Gedanken gewöhnt, du mußtest ein so reizendes Wesen lieben, wie Julie ist, es könnte nicht anders sein. Zwar wollte mir eine geheime Stimme im Wachen und Träumen zuflüstern, du könntest mich doch nicht ganz vergessen haben –«

»O, sie sprach wahr, diese Stimme, mein teures Mädchen. Mochte der Zauber, womit Julie mich bestrickte, noch so mächtig sein, niemals doch konnte er das Gefühl verwischen, das ich aus goldner Jugendzeit mit herübergebracht hatte, das Gefühl, daß mein Glück Isolde heiße.«

»Es ist so, ich weiß es jetzt. Julie selber ahnte, fühlte das. In der ersten Stunde des Vertrauens sagte sie mir: Jetzt weiß ich, warum mich Michel Hellmuth bloß geküßt, aber nicht geliebt hat. Seine Liebe bist du, Isolde. – Ja, ich wiederhole es, sie ist im Grunde ihres Herzens gut und edel. Ich gewann sie lieb und – ich wollte ihr an Edelmut nicht nachstehen. Lächle nicht über mich, mein Freund, wenn ich dir eine große Torheit gestehe. Du weißt, ich bin nur dazu geschaffen, die stillen Wege des Lebens zu gehen. Alles Aufgespannte, Aufgeregte, Gewaltsame ist mir zuwider, weil es meiner Natur widerspricht. Ich habe gar nichts von einer Heroine, Amazone oder, wie man jetzt sagt, von einer Emanzipierten in mir. Und doch– ich wollte dich und Julie glücklich wissen, und so faßte ich einen verzweifelten Entschluß, zu dessen Ausführung ich mir gestern noch, hier auf dieser Stelle, in nächtlicher Einsamkeit die Kraft vorspiegelte, die ich doch nicht besaß. Ich wollte der Bewerbung des Herrn Kippling Gehör schenken, unter der Bedingung, daß Julie deine Frau würde.«

»Ach, Isolde, jetzt erst bin ich recht gedemütigt vor dir.«

»Nein, nein, sprich nicht so und glaube doch nicht, daß ich das sagte, um mich mit einem heroischen Opfermute zu brüsten, den ich ja gar nicht besaß. Nein, ich hätte es nicht gekonnt! Jede Fiber in mir sträubte sich dagegen und ich fühlte, ich wäre lieber gestorben. Ich sprach dir nur davon, daß du daran die Tiefe meines Leides um dich ermessest und die Höhe des Jubels meiner Seele, als mir an diesem gesegneten Morgen dein Auge sagte, daß wir wieder vereinigt seien.«

»Für immer, Isolde? Vollende du Teure, Gute, Versöhnliche, vollende deine Großmut und sage: für immer!«

Sie faßte meine Hände, und aufstehend hob sie mich sanft zu sich empor. Der schönste Purpur jungfräulichen Liebesgefühls überflog ihr edles Antlitz, indem wir Aug' in Auge standen. Dann schlug sie ihre Arme um meinen Nacken, barg ihre Stirne an meiner Brust und flüsterte:

»Michel, Gespiele meiner Kindheit, mein Freund, mein Bruder, ich liebe dich, und ich will dir angehören für immer, für alle Zeit und Ewigkeit.«

Voll Seligkeit küßte ich ihre reine Stirne, ihre feuchten Augen, und als ihre Lippen unter den meinen zum Gegenkusse leise sich regten, da war mir dieser keusche Brautkuß der Geliebten wie das Siegel unter einer süßestes Glück verheißenden und verbürgenden Urkunde.

»Sieh, Isolde,« sagte ich, die aus ihren goldenen Haaren geflochtene Schnur, welche sie mir vor Jahren, als ich zur Universität abging, zum Abschied gegeben, aus der Brust hervorlangend, »sieh, das Liebeszeichen ist nie von mir gewichen. Das andere Andenken, welches ich daran gebunden, ist der Trauring meiner Mütter. Nimm ihn, du Teure, Beständige. Mit diesem heiligen Pfand verlob' ich mich dir für Zeit und Ewigkeit.«

»O,« sagte sie, den Ring fromm mit den Lippen berührend und dann an den Finger streifend und durch Tränen lächelnd, »wir sind ja schon lange verlobt, Geliebter. Denkst du noch der traurigen Nacht, bevor deine teure Mutter von uns ging?«

»Ich weiß, ich weiß! Sie legte unsere Hände zusammen Isolde. Die Nähe des Todes machte sie zur Seherin, die unsere Zukunft schaute. Ihr Segen wird mit uns und wir werden glücklich sein.«

»Wir werden es sein, aber wir werden arbeiten müssen, unser Glück zu begründen. Du hast eine arme Braut, Teurer. Ich habe Lindach, den letzten Rest vom väterlichen Erbe, meinem Bruder angeboten. Er hat das Anerbieten ausgeschlagen, doch die Not wird ihn bald zwingen, seinen Entschluß zu ändern. Mag es sein. Ich will ja gern mit dir für dich arbeiten. Ich habe mir mancherlei Kenntnisse und Fähigkeiten angeeignet und mancher überflüssigen Bedürfnisse mich entwöhnt.«

»Ich weiß, Isolde von Rothenfluh war nie eine vornehme Müßiggängerin, und sie ist so geartet, daß sie sich als Hausfrau eines Bürgers nie nach dein glänzenden Nichts der Salonwelt sehnen wird. Aber sorge dich nicht, Geliebte. Zwar kann ich nicht, wie ich nach noch einigen Arbeitsjahren zu können gehofft hatte, zu dir sagen: Genieße an meiner Hand, was dem gebildeten Sinne das Leben Schönes bietet. Aber ich bin doch jetzt schon davor bewahrt, dir nur Sorge und Arbeit bieten zu können. Das Leben hat mich geschult, das Glück hat mich begünstigt. Ich habe gespart und außerdem auf meiner letzten Reise zu Liverpool eine günstige Konstellation zu einer Privatspekulation benutzt, welche einschlug. Sorge dich nicht. Ich habe, womit wir unseren Hausstand begründen können, und auch noch etwas mehr. Und es klebt kein Unrecht an dem, was ich dir bieten kann. Unser Dasein wird sich freundlich gestalten – vertraue mir nur!«

»Von ganzem Herzen, von ganzer Seele, Teuerster. Sieh, ich bin so glücklich, so sehr glücklich. Mögen alle guten Geister über dieser Stunde walten!«

»So geschehe es!«

»Und nun komm, geliebter Mann! Ach, das Unglück ist verschlossen, aber das Glück ringt nach Mitteilung. Wenn du es mir nicht verwehrst, möchte ich es wenigstens einem sagen, wie glücklich ich bin.«

»Ja, komm, Teure, wir wollen zu deinem Bruder. Mein Herz hatte sich von ihm gewandt, aber ich liebe ihn wieder, seit ich weiß, daß er sehr unglücklich ist.«

»Er ist unglücklich, ja – o, grenzenloser unglücklich, als du ahnen kannst. Ein giftiger Wurm zehrt an seinem Herzen und ich – ich kann ihn nicht trösten. Für ihn gibt es keinen Trost. – Nein, nicht zu Berthold will ich dich führen, sondern zu dem armen alten Großoheim. Er soll uns segnen, er ist so gütig gegen mich gewesen.«

»Ich folge dir. Aber sage mir, was hat dich dem armen Berthold so sehr entfremdet, dich, die Liebevolle, Gütige, Milde? Seine unglückselige Verschwendungssucht allein kann doch diese tiefe Kluft nicht zwischen dir und ihm aufgetan haben.«

»Frage mich nicht!« flehte Isolde mit gefalteten Händen. »Ich muß dir antworten, wenn du mich fragst, denn ich habe ja keinen Gedanken mehr, der nicht dein Eigentum wäre. Aber, o, laß keinen dunkelsten Schatten in das goldene Licht dieser Stunde treten. Reinstes Glück ist so selten in diesem ewigen Wechsel der irdischen Dinge. Frage mich nicht und komm!«

Ich ging an ihrer Hand durch das alte, grabstille Gebäude, in dessen weiten Räumen die wenigen Bewohner ungesehen und ungehört sich verloren. Zuletzt kamen wir am Ende des westlichen Flügels an eine Türe, welche Isolde mittels eines Druckes auf eine geheime Feder öffnete. Ein schmaler Steg führte von der Außenschwelle nach einem mächtigen viereckigen Turm hinüber, dessen kühnaufsteigende Höhe die ganze Burg überragte. Am anderen Ende des Steges ließ Isolde abermals eine geheime Feder auf das Schloß einer schweren eisenbeschlagenen Bohlenpforte spielen, und als wir diese passiert hatten, stiegen wir eine ausgetretene Steintreppe hinauf und gelangten in eine uralte gewölbte Halle. Der Türe gegenüber, durch welche wir eingetreten, bemerkte ich eine zweite und in der Mitte derselben die mit dem eisernen Laden verschlossene Luke, von welcher mir Berthold gesagt hatte.

»Sei freundlich mit dem alten Manne, soviel du kannst. Seine Art zu sprechen ist rauh und wunderlich. Die Welt mußte ihm viel Leid antun, bis er so wurde. Ich erzähle dir wohl einmal davon.«

Dies gesagt, klopfte Isolde in drei Absätzen je dreimal an den eisernen Schieber und harrte dann geduldig.

Erst nach geraumer Weile ließ sich von drinnen eine grämlich barsche Stimme vernehmen: »Wer ist da?«

»Ich bin da,« erwiderte Isolde und nannte ihren Namen.

»Ich will jetzt niemand sehen, Kind. Komm morgen.«

»Aber, lieber Oheim, ich habe dir heute, gerade jetzt, etwas von Wichtigkeit zu sagen.«

»Was will ich von euren Wichtigkeiten?«

»Du hast meinen Vater geliebt, Oheim, du wirst seiner Tochter nicht ihre Bitte abschlagen, zu ihrer Verlobung deinen Segen zu geben.«

»Verlobung, Kind? Was zum Teufel!«

Bei diesen Worten rasselte der Schieber empor, und in der Öffnung erschien ein in seinem verworrenen Wald von Bart- und Haupthaar kaum erkennbares Greisenantlitz. Haare, Brauen und der in verwilderten Strähnen weit über die Brust herabwallende Bart waren silberweiß, die blauen Augen lebhaft funkelnd, der Mund streng und abweisend.

Isolde hielt mich bei der Hand.

»Wer ist der Mann?« fragte der Alte.

»Michel Hellmuth, der brüderliche Genosse meiner Kindheit, von dem ich dir soviel erzählte – jetzt mein Verlobter.«

»Du bist Kaufmann, Bursch?« wandte sich der Alte an mich.

»Dermalen ja.«

»Und warum trägst du einen Schnurrbart?«

»Weil es mir so beliebt.«

»So? ... Isolde, nimm dich in acht, du wirst den da nicht unter den Pantoffel kriegen.«

Das holdeste Inkarnat überzog die Wangen Isoldes, als sie entgegnete:

»Das will ich auch gar nicht, Oheim. Es steht geschrieben: ›Er soll dein Herr sein‹«

Der Greis fixierte uns lange. Dann sagte er etwas milder:

»Junger Mann, halte sie gut und hoch, hörst du? oder du bist ein Lump!«

»Ich werde sie hoch halten und kein Lump sein.«

Er war aber, ohne meine Antwort abzuwarten, von der Luke verschwunden. Nach einigen Minuten kam er wieder zurück, bot Isolden eine altfränkisch geformte Lederkapsel heraus und sagte:

»Da, Kind, nimm das zum Brautgeschenk von dem Alten von der roten Fluh. Meinen Segen hast du obendrein. Seid so glücklich als möglich. Und hört, wenn ihr mal Kinder habt und sie euch ärgern und betrüben, so tröstet euch damit, daß die Eltern stets durch ihre Enkel an ihren Kindern gerächt werden.«

Der Schieber rasselte zu.

Als Isolde drunten auf dem Stege die Kapsel öffnete, blitzten ihr Juwelen in uraltmodischer Fassung entgegen.

Achtes Kapitel

Bertholds und Julies Glückwünsche. – Ein Sonnenaufgang und ein plötzlich sprudelnder Herzensquell. – Religionsgespräch. – Eine Lösung. – Der Tote auf dem Gletscher. – Der Tod sühnt alles.

»Ich habe endlich das Gleichgewicht meines Lebens gefunden« – schrieb ich folgenden Tages an Freund Fabian – »Isolde ist mir verlobt, und nun soll die Gründung von Herd und Heim nicht mehr lange auf sich warten lassen. Ich fühle mich glücklich, sehr glücklich.«

Isolde war es auch, und wir hüteten den Schatz unseres jungen Glückes mit Bedacht vor profanen Blicken.

Wenigstens glaubten wir so zu tun; aber es ist eine alte Geschichte, daß Liebende gar nicht merken, wie sehr sie sich verraten. Es mußte wohl auch bei uns beiden so sein. Denn Herrn Kipplings forschende Blicke wurden immer scheeler, allein dabei ließ er es Isolden und mir gegenüber bewenden. Er mochte sich aus früherer Zeit erinnern, daß ich unter Umständen nicht viel Umstände mache. Berthold achtete wenig oder gar nicht auf das, was um ihn her vorging. Nur wich er seinem Quälgeist, Herrn Kippling aus, wo er immer konnte, indem er bei Tage weite einsame Streifereien in den Bergen machte und sich abends sehr zeitig auf sein Zimmer zurückzog, um dort, wie ich zufällig bemerkt hatte, seine Behauptung, daß der Veltliner des Großoheims sehr trinkbar sei, durch die Tat zu bewähren. Sei es aber, daß Herr Kippling ihn aufmerksam gemacht hatte, sei es aus eigenem Antrieb, eines Morgens, als er eine Weile mit mir in der alten Halle allein war, sagte er, aus seinem finsteren Hinbrüten aufsehend, plötzlich zu mir:

»Lieber Michel, ich weiß, du bist mit Isolde einig. Ich sah den Trauring deiner guten Mutter an der Hand meiner Schwester ... Wenn mich noch etwas freuen könnte, so wär' es das. Seid glücklich, recht glücklich mitsammen.«

»Wir würden es sein, Berthold, wir würden es sein, wäre nur nicht die quälende Sorge um dich.«

»Um mich? Ihr sollt euch nicht um mich sorgen, ihr sollt mich nur vergessen. Vergessen sein, von euch, von allen – weiter habe ich keinen Wunsch mehr.«

Herrn Kipplings Eintritt unterbrach das Gespräch. Dann kamen auch die beiden Mädchen. Julie zog mich beiseite und sagte mit ungewöhnlicher Herzlichkeit:

»Ich gratuliere Ihnen von ganzer Seele, teurer Freund. Ihre Braut hat nicht geplaudert, aber sie kann sich nicht verstellen ... Sehen Sie, daß ich recht hatte, als ich Ihnen sagte, daß Sie Isolde und nur Isolde liebten? Das wenigstens hätte sich gut gefügt. Wollte der Himmel, auch die anderen Wirrsale, die uns umgeben, fänden irgend eine Lösung. Diese Ungewißheit, dieses Dunkel wird allmählich unerträglich. Zum Glück hatte der Umgang mit diesem rein und reich besaiteten Herzen, der Umgang mit Isolden klärend und beruhigend auf mich gewirkt. Es hat sich in diesen Tagen vieles in mir gelöst und gehellt. Diese Alpenfahrt war also doch nicht unfruchtbar, wenn ich mir auch gestehen muß, daß der Hauptzweck derselben unerreicht blieb. Ich sage es mit Schmerz, der arme Berthold ist ein verlorener Mann. Er sucht Betäubung im Wein und – seine schreckliche Krankheit, die denn doch etwas anderes in einem Byronschen Gedicht und etwas anderes in der Wirklichkeit ist, hat sich, wie ich weiß, seit unserem Hiersein schon zweimal wieder gezeigt. Mein Laratraum ist, fürchte ich, ausgeträumt ... Aber Isolde hat mich Fassung und Resignation gelehrt, so fremd Ihnen auch diese Worte in meinem Munde vorkommen mögen. O, sie ist rein, schuldlos und idealisch gestimmt wie ein Kind und doch klar und verständig wie ein Weiser. Sie hat mir zuerst gezeigt, was edle Weiblichkeit ist. An ihr ist nichts Gemachtes, sondern alles quillende Natur und durch Studium und Nachdenken erhöhter Seelenadel. Wer könnte ihrem stillen Einfluß widerstehen? Haben Sie nicht bemerkt, wie sie den frechsten aller Menschen, meinen Bruder, schon durch ihre bloße Erscheinung eingeschüchtert? Sie gemahnt an die Prinzessin in Goethes Tasso; aber was sie vor dieser voraus hat, ist ihr reiches, warmes Herz. Nochmals, ich wünsche Ihnen von ganzer Seele Glück. Doch das müssen Sie mir versprechen, über der geliebten Isolde die Freundin Julie nicht ganz zu vergessen.«

»Wie könnt' ich das, Fräulein?«

»Nennen Sie, ich bitte – nennen Sie mich schlechtweg Julie, wie ich Sie Michel nennen will. Ich bin meine Kapricen noch nicht ganz los und habe die Kaprice, die traulichere Anrede für eine Garantie Ihrer Freundschaft anzusehen.«

So vergingen mehrere Tage. Wir drei, Isolde, Julie und ich, waren alle die Zeit fast immer beisammen, und mich freute es, zu sehen, daß die beiden Mädchen vertraut wurden wie Schwestern.

Auf den Sonntagsmorgen hatten wir verabredet, von dem Altan vor Isoldes Zimmer aus den Aufgang der Sonne über die prächtige Bergwelt zu betrachten.

Mit einem Gefühle von Andacht harrten wir dem majestätischen Schauspiel entgegen. Wie Herolde in leuchtenden Purpurmänteln, verkündigten die erglühenden Gipfel des Bernina die Erscheinung der großen Königin des Tages. Wundersam war es zu sehen, wie droben schon alles Glanz und Glut war, während auf den Tälern drunten noch die fahle Dämmerung lag. Nun aber schwebte im Osten die Feuerkugel höher und höher herauf, ihr Rot wurde Gold und allmählich strömte sie die unermeßliche Flut dieses Goldes über Höhen und Tiefen, Firne und Gletscher, über Berg und Tal hin, bis endlich Himmel und Erde voll waren von Licht und Glorie.

Julies Augen wurden feucht, Isoldes Lippen regten sich leise, wie betend. Sie holte zur Morgenfeier aus ihrem Zimmer ein Buch und las uns daraus jenen unvergleichlich schönen Hymnus, in welchem der englische Dichter Coleridge die Gefühle ausströmte, die ihn bestürmten, als er im Chamounital die Sonne über dem Montblanc aufgehen sah.

Ich kenne wenige Gedichte, welche die Seele so unwiderstehlich ergreifen wie dieses. Und auch wir standen ja mitten in Umgebungen wie jene, welche den Dichter begeistert hatten. Er beschreibt, wie seine Seele mit dem Morgenstern erwacht, wie sie in der Betrachtung der allmählich sich hellenden Alpenwunderwelt um ihn her höher und höher strebt, bis sie endlich auf Andachtsfittichen adlergleich über der erhabenen Szene schwebt. Dichtung und Wirklichkeit ging uns in eins auf, als Isolde mit ihrer guten, lieben, jetzt vom Enthusiasmus der Stunde getragenen Stimme die prachtvolle Schlußapostrophe des Hymnus las:

»Und du auch, greiser Berg, mit deinen Gipfeln
Zum Himmel starrend, von dess' Wänden oft
Sich die Lawine donnernd niederstürzt,
Die reine, heitre Luft durchblitzend, fallend
Tief in die Wolken, die um deine Brust –
Auch du, o riesenhafter Berg, auch du,
Der, während ich mein Haupt, das ich in Andacht
Gesenkt, jetzt wieder hebe, und von deinem
Fuß mit dem tränenfeuchten Auge langsam
Aufsteige – scheinst wie eine dunst'ge Wolke
Dich feierlich vor mir emporzuheben –
Zu steigen, höher, immer mehr zu steigen
Wie eine Weihrauchwolke von der Erde.
Du Königsgeist, der unter Bergen thront,
Gesandter du der Erde an den Himmel,
Du großer Hierarch, dem stillen Äther,
Den Sternen sag's und der aufglühnden Sonne:
Mit tausend Stimmen lobt die Erde Gott!«

Julie warf sich, tief erschüttert, an die Brust der Freundin und küßte innig ihre Stirne.

»O,« rief sie aus, »o Isolde, teures Herz, wie dank ich dir! Nicht genug, daß du mich Resignation gelehrt hast, du lehrst mich auch wieder glauben und hoffen ... O, mein Gott, wie schön ist deine Welt, die dich mit tausend Stimmen lobt! Laß auch das Stammeln der meinen dir gefallen!«

Isolde, selber schön erregt, aber nach ihrer Art milder und gefaßter, küßte der Erschütterten die stürzenden Tränen von den Wangen und sprach liebevolle Worte zu ihr.

Jahre lang magst du in dürrer Felsengegend nach einem Bronnen schürfen, und doch genügt zuletzt ein Hammerschlag an der rechten Stelle, daß der lauterste Quell dir entgegensprudle. So gibt es auch im Menschenherzen tiefgeheime Adern des Gefühls. Ein gutes Wort zur rechten Stunde gesprochen, kann sie rieseln und rinnen machen. Aber oft, viel zu oft geht ein Menschenleben hin, ohne daß das bannlösende Wort gesprochen wird.

Ich wartete ruhig, bis die hochgehenden Wogen stürmischer Empfindungen sich wieder gelegt hatten, und erinnerte dann, die Wiederkehr leidenschaftlicher Erregung von Julies Gemüt zu verhüten, die Freundinnen an mein Versprechen, ihnen die Frohdorfer Geschichte vom Jages und vom Vefele zu erzählen. Wir nahmen in Isoldes Zimmer Platz und, durch die geöffnete Balkontüre die Berninaherrlichkeit vor mir, begann ich meine Erzählung.

Es gingen ein paar Stunden darüber hin, und als ich geschlossen hatte, sagte Isolde:

»Da sieht man doch wieder, was ein wahrhaft guter Mensch, wie unser Fabian einer ist, unter den mißlichsten, ja verzweifelten Umstanden Gutes wirken kann. Die Art und Weise, wie der treffliche Freund, gegenüber dem von plötzlich in ihm ausgestandener Gewissenspein gefolterten Brunnenbauer sein Priesteramt verwaltete, erscheint mir in ihrer einfachen Milde wahrhaft erhaben. Immer ist mir vorgekommen, daß es besser um die Menschheit stünde, hätten die Priester nicht allzuoft vergessen und vergessen gemacht, daß Versöhnung die Grundidee aller Religion ist.«

Julie saß nachdenklich, nachdenklicher, als ich sie je gesehen hatte. Endlich äußerte sie:

»Wenn ich Ihre Geschichte recht verstanden habe, teurer Freund, so ist ihre Moral die, daß es im Bewußtsein des Volkes noch göttliche Mächte gibt, welche mächtiger sind als Gott Mammon, dem die sogenannte gebildete Gesellschaft dermalen so eifrig dient. Aber ich kann in religiösen Sachen kaum mitsprechen. Hätte ich meine Mutter nicht so früh verloren, so würde diese Seite meiner Erziehung nicht so vernachlässigt worden sein, wie sie es wurde. Was reichte man meinem Gemüt für religiöse Nahrung, dogmatische Steine, die ich unverdaut wieder auswarf, sobald ich die Freiheit dazu hatte.«

»Ja, das ist eben der Jammer,« sagte ich, »und das macht die sogenannte Frömmigkeit der Frauen der höheren Stände durchschnittlich so schal und unersprießlich. Die Religiosität von neunundneunzig unter einem Hundert derselben ist rein nur äußerlich und ganz gedankenlos, nur ein mechanisches Hinnehmen von mechanisch Gegebenem. Es liegt ein tiefer Sinn in dem biblischen Mythus, welcher erzählt, wie Erzvater Jakob mit Gott gerungen hat. Jeder Mensch, welcher über den Zustand naiver Gläubigkeit hinaus ist, muß mit seinem Gotte ringen, muß ihn erringen, um ihn zu besitzen. Nur was man erworben hat, besitzt man. Das Volk bedarf dieses Prozesses nicht, weil sein religiöses Bewußtsein ein primitives, ein naives ist und bleibt. Nur die Dialektik des Verstandes kennt den Zweifel. Es ist Torheit, zu fordern, daß das Volk den dialektischen Prozeß durchmache, welchen jeder Gebildete, wenn er wirklich ein solcher ist, durchmachen muß, und Wahnsinn ist es, das Volk religionslos machen zu wollen. Das hieße der Seele des Volkes geradezu den Odem entziehen.«

»Und doch,« versetzte Julie, »wird, soviel ich weiß, dieser Wahnsinn gegenwärtig so recht mit Methode getrieben.«

»Was tut das?« bemerkte Isolde. »Es hat nie ein religionsloses Volk gegeben und wird nie ein solches geben bis an das Ende der Tage. Ich habe mir diese Überzeugung gebildet, wenn ich an den langen einsamen Winterabenden zu Lindach mich mit Büchern beschäftigte, die vielleicht über den Horizont meines Geschlechtes hinausliegen. Der, wie mir scheint, redlichste unserer modernen Denker, ein Mann, dessen Stirne vom Schweiß des rastlos arbeitenden Gedankens betaut ist, hat gesagt, die Götter seien nur die gegenständlich gewordenen Wünsche der Menschen; der Gott sei der idealisierte, der verklärte Mensch. Aber leugnet diese Umkehrung des biblischen Satzes, daß Gott nach seinem Bilde den Menschen geschaffen, etwa die unzertrennliche Verknüpfung der Gottesidee mit der Idee des Menschen, leugnet sie die Notwendigkeit der Religion? Ich glaube nicht. Wenn Furcht und Hoffnung die Quelle des religiösen Glaubens sind, wohlan, diese Quelle wird nie versiegen, solange es Menschen gibt. Wie abgetragene Hüllen legt die religiöse Idee im Vorschritte der Geschichte Dogmen und Kulte beiseite, aber sie selbst ist ewig: die Formen wechseln, das Wesen bleibt. Die Idee von Gott der sublimierte Reflex der Idee vom Menschen? Es sei. Denn auch so ist – fühle ich – das Gottesbewußtsein das zusammenhaltende Band, welches die Menschheit vor atomistischer Zerbröckelung bewahrt, der Polarstern, auf welchen der Mensch sein Seelenauge richten muß, damit er. der unfaßbar kleine Bruchteil des im Weltozean schwimmenden Wassertropfens, genannt Erde, nicht in dieser Unermeßlichkeit schwindelnd sich verliere ... Wenn die Gottheit das Ideal der Menschheit ist, muß da nicht das Identische in uns diesem höchsten Ideal sehnsüchtig zustreben, und muß da nicht der wahrhaft gebildete Mensch gerade als solcher nur um so religiöser und frommer sein? Der Atheismus, der Abfall vom Ideal, ist unfromm, das heißt liebeleer. Er wird daher nie eine weltgeschichtliche, Menschengeschick bestimmende Tat vollbringen. Wer nicht mehr glauben kann an alles Große und Schöne, an den Vorschritt im riesenhaften Entwickelungsprozeß der Weltgeschichte, an die schöne grüne Erde hier unten, an die ewigen Gestirne droben, an sich selbst, an die Menschen, an die Gottesidee, in welcher als in einer geistigen Sonne alle Strahlen des ideellen Lebens zusammenlaufen, der ist tot –«

»Tot!« echote unterbrechend eine schrille Stimme in unserem Rücken.

Wir hatten, dem Gedankengange Isoldes folgend, nicht beachtet, daß die auf den Korridor hinausgehende Türe geöffnet worden war. Mißmutig über die unwillkommene Störung wandte ich mich um.

In der Türöffnung stand der alte Hofmeister, in den mumienhaften Zügen ein Leben jähen Entsetzens, welches zu der Possierlichkeit seiner Rokokotoilette einen grellen Gegensatz bildete.

Etikette, Förmlichkeiten und Redensarten vergessend, schrie er mit seiner dünnen Falsettstimme in das Gemach herein:

»Der junge Freiherr liegt zerschmettert auf dem Gletscher!«

So hatte denn eine unglückselige Verwickelung die schrecklichste Lösung gefunden.

Ich weiß mich aber der Einzelheiten jener trüben Stunden nicht ganz deutlich zu erinnern. Es ging gar zu verworren her auf der roten Fluh, und ohnehin vermag ja nur die Malerei oder die Schauspielkunst derartige Überraschungen zu veranschaulichen.

Sennen, welche ins Dorf hinauf zur Kirche wollten und, um ihren Weg zu kürzen, statt um den vor der roten Fluh liegenden Hügel herum, über den Gletscherarm gingen, über welchem die Klippe aufragt, hatten den Toten gefunden. Er war schon starr und kalt. Er mußte nächtlicherweile, wahrscheinlich schon früh in der Nacht, von der Mauerzinne gestürzt sein, welche den Bogen des Burgtors bekrönte. Wenn man von drunten die schwindelnde Höhe bemaß, konnte man annehmen, daß schon der Luftdruck den Unglücklichen während seines Sturzes getötet haben müsse, oder wenigstens, daß er es nicht mehr empfunden habe, als der Felszacken, auf welchem der Körper aufgeschlagen, ihm das Rückgrat brach.

War da ein Selbstmord geschehen? Hatte der an Lebensmut und Hoffnung gänzlich Verarmte sein qualvolles Dasein freiwillig in den Abgrund geworfen?

Ich glaubte es nicht und glaube es jetzt noch nicht. Julie hatte, wie erwähnt worden, angedeutet, daß Anfälle, wie ich Berthold von einem solchen in jener Nacht im Tempel Mammons befallen gesehen hatte, auch während seines Aufenthalts auf der roten Fluh vorgekommen seien. Der Mondsüchtige, welcher sein unheimliches Übel durch übermäßigen Weingenuß sicherlich nur noch mehr gereizt hatte, mußte in seinem Schlafwandel auf den Burghof geraten und von da zur Torzinne emporgeklettert sein. Sei es, daß der Schlafwandelnde dort auf seinem schwindelnden Wege ausgeglitten, sei es, daß der plötzliche Schrecken des Erwachens seine Füße ihren Halt verlieren gemacht, genug, es konnte diese Erklärung der Katastrophe als die einfachste und wahrscheinlichste gelten.

Ich war, so schnell meine Füße mich trugen, in die Schlucht hinabgeeilt und ließ den Toten durch die um denselben versammelt gebliebenen Sennen zur Burg hinauftragen. Als die Bahre mit der traurigen Last auf dem Burghofe niedergesetzt wurde, kamen Isolde und Julie heraus, während Herr Theodor Kippling, welchem dieser Todesfall das schlau gewobene Netz einer großen Spekulation zerriß, scheu in der Ferne stehen blieb.

Vergebens winkte ich die Mädchen zurück.

Isolde rang die Hände. Niemals hatte ich sie so fassungslos gesehen, und nie wieder sah ich sie so.

Julie zog leise das Tuch weg, womit ich das Antlitz des Toten verhüllt hatte. Es war unverletzt und zeigte eine Ruhe, einen Frieden, wie er diesen Zügen seit vielen Jahren fremd gewesen.

Isolde warf sich an der Bahre nieder. Ihre Augen waren trocken, brennend. Mit brennenden Lippen beugte sie sich über den toten Bruder, fuhr aber entsetzt zurück und kehrte ihr Auge wie hilfesuchend nach mir.

»Michel«, flüsterte sie zitternd, »es ist schrecklich! Ich vermag die Stirne von meiner Mutter Sohn nicht zu küssen, seine Hand nicht zu berühren ... Siehst du nicht? Es klebt Blut daran – o, und wessen Blut!«

»Bringen Sie Ihre Verlobte hinweg, Michel,« sagte Julie leise. »Sie redet irre.«

»Nein, nein,« schrie Isolde auf. »Aber der Tod sühnt alles, alles! O, Berthold, mein armer unglücklicher Bruder, Friede sei mit dir!«

Und von einem edlen Impulse getrieben, schlang sie die Arme um den Toten, küßte ihm Stirne und Mund und badete sein Antlitz mit ihren Zähren.

Mit sanfter Gewalt machte ich sie von dem toten Bruder los und führte sie hinweg, während Julie dem Leichnam fromm die Augen zudrückte.

In jener Stunde brach die in ihren Tiefen erschütterte Seele Isoldes ein jahrelang qualvoll bewahrtes Schweigen und offenbarte mir ein schreckliches Geheimnis.

Aber ich habe auch jetzt noch kein Recht, darüber zu verfügen. Mag es mit dem Toten in Frieden ruhen! Der Tod sühnt alles.

Neuntes Kapitel

Eine modernste Familientragödie.

Am Tage darauf bestatteten wir den Toten auf dem Friedhof bei der kleinen Dorfkirche im Hintergrunde des Tales. Dort waren vor Jahrhunderten die Herren von der roten Fluh beigesetzt worden, und so mischte sich der Staub des jüngsten männlichen Sprosses eines erlöschenden Geschlechtes mit dem seiner Altvordern. Der Strom kehrt nicht zu seiner Quelle zurück; aber hier bettete der wundersame Wandel der irdischen Dinge den letzten Stammhalter einer alten Familie in denselben Fleck Erde, in welchem der Urahn, der Begründer des Hauses seine letzte Ruhestätte gefunden hatte.

Ich konnte, als die Erdschollen auf den Sarg rollten, mir nur sagen, daß es eine gute Schickung gewesen, welche dieses verlorene Leben hinwegnahm. Der so schwer Verirrte und, ach, so schwer gebüßt Habende hatte nun Ruhe, nachdem er sich selbst und anderen nur noch zur Last gewesen. Geboren und aufgewachsen unter Verhältnissen, die ein langes, gutes, ihm selbst und anderen zu Glück und Freude gereichendes Dasein verbürgten, war der Unglückliche vom Dämon der Genußsucht, diesem Fluche unserer Zeit, schon frühzeitig ergriffen und rasch zum Äußersten fort, ja darüber hinaus gerissen worden. Als das edlere Element in ihm endlich wieder erwachen wollte, war es zu spät. Eine schreckliche Erinnerung schwang ihre Furiengeißel ruhelos über ihm und peitschte ihn dem Tod entgegen. O, dieses Grab könnte den Luxusmenschen des neunzehnten Jahrhunderts eine furchtbare Mahnung predigen. Aber wie die Lehren der Geschichte, so verhallen auch die Mahnungen der Gräber für die ungeheure Mehrzahl der Menschen ungehört.

Ein Beispiel dessen war mir sogleich zur Hand in der Person des Herrn Theodor Kippling, welcher sich nur widerwillig und verdrossen dem kleinen Leichengefolge angeschlossen hatte. Er wartete kaum das Entlassungswort des Dorfgeistlichen am Grabe ab, um sich gleichmütig seine Zigarre anzubrennen.

»La farce est fini!« äußerte er auf dem Rückwege zur roten Fluh gegen mich. »Am Ende war es auch das Gescheiteste, was der Herr Rittmeister tun konnte, so im Schlaf in den Abgrund hinabzuspringen. Es hat ihm sicherlich gar nicht wehe getan. Aber ich meine, er hätte damit anständigerweise noch ein paar Wochen warten können bis nach Vereinigung unseres Geschäftes. Diese Geburtsaristokraten sind doch verteufelt unpraktisch und rücksichtslos. Nun, wir müssen sehen, wie wir ohne ihn mit der Sache fertig werden. Die Zahl der Gläubiger, welche Ansprüche an die freiherrliche Hinterlassenschaft haben, ist Legion; aber gerade deshalb, glaub' ich, wird denselben um so leichter zu beweisen sein, daß es zuletzt doch besser ist, wenig als gar nichts zu bekommen. Ich will morgen schon diese häßliche Wildnis verlassen, um selber nach Deutschland zu gehen und die Sache für unsere Firma zu arrangieren. Das Schloß Rothenfluh bietet weite Räumlichkeiten zur Anlage eines Etablissements, und wenn die Einrichtung praktisch und kräftig an die Hand genommen wird, so können wir dort zuverlässig viel früher zu arbeiten anfangen, als in der erst wieder von Grund aus zu erbauenden Kipplingsruhe.«

Ich zog es vor, nur durch mein Schweigen anzudeuten, wie widerwärtig mir die Äußerungen dieses Menschen waren, in welchem die herzlose Spekulationswut unserer Tage sozusagen Fleisch geworden war. Er hob wieder an:

»Julie wird sich trösten müssen über den Verlust der Aussicht, gnädige Frau betitelt zu werden. Nonsens! Was das Fräulein von Rothenfluh betrifft, so ist bei veränderter Konstellation der Umstände meine Bewerbung um diese stolze Schönheit nicht mehr praktisch. Nun, mein lieber Herr Hellmuth, Sie werden sich ja wohl des armen Freifräuleins erbarmen?«

»Mein Herr,« erwiderte ich, ihn auf eine nicht mißzuverstehende Art über die Schulter ansehend, »Fräulein von Rothenfluh hat mir die weit über mein Verdienst gehende Ehre erwiesen, meine Bitte um ihre Hand zu erhören, und ich muß Sie also ersuchen, mit geziemender Achtung von meiner Verlobten zu reden.«

»Warum denn nicht? Ich statte Ihnen hiermit in aller Form meine Gratulation ab, und wenn Sie zu bescheiden sind, diesen Sukzeß Ihren Verdiensten zuzuschreiben, so wissen Sie ja, daß, wer das Glück hat, die Braut heimführt.«

Ich sagte nichts darauf, und wir stiegen den Schloßhügel hinan, an dessen Fuß wir inzwischen angelangt waren. Droben war die Zugbrücke niedergelassen. Im Burghof stand ein gesatteltes Saumpferd, von einem weiten Gange dampfend. Der alte Hausmeister unterhielt sich mit einem fremden Bergführer, welcher mit dem Pferde gekommen zu sein schien. Als uns der Alte erblickte, kam er auf uns zu, machte seine Reverenzen und sagte zu meinem Begleiter:

»Der Herr Vater von Monsieur ist soeben auf der roten Fluh angelangt. Er erwartet Monsieur in der großen Halle.«

»Mon cher papa?« versetzte Herr Kippling leichthin. »Was, zum Teufel, will der in dieser Einöde? Kurios!«

Der geneigte Leser wird mich entschuldigen, wenn die Ankündigung der Anwesenheit des Herrn Oberst auf der roten Fluh mich fast neugieriger machte, als ob dieser Neuigkeit Herr Kippling der Jüngere zu sein schien. Jener hatte also meinen Brief wohl schon erhalten, in welchem ich ihm gemeldet, was zu melden gewesen war. Nämlich, daß Herr Kippling Sohn gemeint, Herr Kippling Vater habe vergessen, daß mit Geld alles zu machen, mit Geld alles auszugleichen sei; ferner, daß ein praktischer Mensch nicht so leicht ins Bockshorn zu jagen sei, und endlich, daß er, Herr Kippling Sohn, entschlossen sei, erst abzureisen, nachdem er sein Geschäft auf der roten Fluh abgemacht habe.

Mir waren diese Ausdrücke, als ich sie an den Herrn Oberst schrieb, ziemlich unklar oder geradezu unverständlich gewesen. Jetzt sollte ich darüber Aufklärung erhalten. .

Wir fanden den Handelsherrn in der alten Halle. Julie war bei ihm und sonst niemand zugegen. Als ich hinter seinem Sohne eintrat, grüßte mich der Oberst mit einer leichten Handbewegung, aber sofort schien er von meiner Anwesenheit weiter keine Notiz zu nehmen. Er hatte augenscheinlich Wichtigeres zu denken und zu tun. Seine Aufregung war ganz außerordentlich. Zwar, seit ich ihn damals, am Tage meiner Abreise in die Berge, weich gesehen, wußte ich, daß die hochmütige Kühle und berechnende Gemessenheit des Mannes nicht gegen alle und jede Eindrücke vorhielten; aber doch hätte ich nicht geglaubt, daß er so ganz aus den Fugen kommen könnte, wie er jetzt war. Bestürmt von einer großen Sorge und einem nur allzu gerechten Zorn, aufgeregt von der Eile, womit er gereist war, war das erste, was er bei seiner Ankunft auf der roten Fluh erfahren, die Katastrophe gewesen, welche am Tage zuvor daselbst stattgefunden hatte. So erklärte es sich denn allerdings leicht, daß sein Gebaren hastig, sein Gesicht braunrot war, und daß seine Augen, welche er des diplomatischen Schirmes der achteckigen Brille entäußert hatte, mit wildem Feuer leuchteten.

Ich hätte ohne Zweifel so rücksichtsvoll sein sollen, mich sofort von der beginnenden Kipplingschen Familienszene schleunigst zurückzuziehen. Indessen wird mein Bleiben vielleicht dadurch verzeihlich, daß sich der ganze Auftritt mit wahrhaft dramatischer Rapidität entwickelte.

Der Herr Oberst trat hart vor seinen Sohn hin und sagte mit mühsam gedämpfter Stimme ohne weitere Einleitung:

»Also du meinst, mit Geld lasse sich alles ausgleichen, selbst das Schändlichste?«

»Que voulez-vous donc, mon cher papa?« entgegnete Herr Kippling Sohn, mit dem Finger die Asche von seiner Zigarre schnellend.

»Die Zigarre weg und den Hut herunter, Bube, wenn du mit mir sprichst, oder ich vergesse mich und hole an dir nach, was ich in deinen Knabenjahren nur allzusehr versäumte!« rief der Handelsherr aus, an seinem Grimme würgend.

»Warum denn nicht?« sagte Herr Kippling achselzuckend und warf Hut und Zigarre auf den Tisch.

Dann wandte er das kalte glasige Fischauge auf den Vater und sagte lässig:

»So, jetzt bin ich in kindlich ehrerbietiger Position. Laß mich hören, was los ist, wenn's beliebt.«

Julie wandte sich mit einer Gebärde des Ekels nach dem Fenster.

Der Herr Oberst holte tief Atem, und mit einer gewaltsamen Anstrengung, sich zu beherrschen, sagte er:

»Warum bist du nicht geflohen, wie ich dir befahl?«

»Geflohen? Wegen so einer Bagatelle? Und zumal in einer Zeit, wo ich, was allerdings illusorisch war, gerade im besten Zuge war, ein prächtiges Geschäft zu machen?«

»Er spricht von einer Bagatelle, der Unselige!« rief der Vater aus und schlug die Hände zusammen. »Weißt du, daß du wegen Vergewaltigung einer Unmündigen, eines Kindes, kriminaliter angeklagt und mit Steckbriefen verfolgt bist? Weißt du, daß die Gendarmerie auf dich fahndet?«

»Das letztere wußte ich allerdings noch nicht. Auch das nicht, daß die Juristen das Ding so nennen. Que de bruit pour une omelette! Schönen Fabriklerkindern passiert zuweilen so etwas Menschliches.«

»So etwas Unmenschliches, willst du sagen, Unmensch, der du bist! O, beim Himmel, ich könnte vergessen, daß du mein Sohn bist, und mich freuen, wenn Gerechtigkeit an dir geübt wird. Und sie wird geübt werden. Schon zweimal hat die Justiz deinem Treiben bei den wüsten Orgien in dem Sündenhaus am Flusse durch die Finger gesehen, und das Geld hat den Skandal vertuscht. Aber diesmal ist das Maß des Frevels voll zum Überfließen. Die Frau Regel hat dem Untersuchungsrichter alles gestanden.«

»Die Frau Regel hat geplaudert? Alles? Das ist dumm!«

»Sie hat geplaudert. Hoffe nichts. Sie hat gestanden, daß sie das unglückliche Kind auf deinen Befehl in das Haus gelockt, und daß du, Elender, nachdem deine brutalen Verführungskünste mittels Weins an dem Instinkt der Unschuld gescheitert, zu roher Gewalttat verschrittest. Am Morgen nach der Frevelnacht ist dein Opfer im Fieber des Wahnsinns hingegangen und hat Feuer in das Baumwollenmagazin geworfen, als müßte es so sein, weil kein Feuer vom Himmel fiel, die unerhörte Untat zu rächen.«

»Du bist tragisch gestimmt, mon cher père. Ich für mich kann der Sache keine so tragische Seite abgewinnen. Freilich, das konnte ich nicht entfernt annehmen, daß eine Fabriklerin ihre Unschuld mit der Fackel in der Hand rächen würde. Neu das, ganz neu. Aber sie ist Brandstifterin – Basta! Mein Advokat müßte der dümmste seines Handwerks sein, wenn er den Herren Richtern und Geschworenen meine völlige Schuldlosigkeit nicht wasserklar bewiese. Die Frau Regel – verdammt sei sie! – wird wohl vermocht werden können, ihre Geständnisse zurückzunehmen. Ich will es besorgen – kenne das. Daß sie geplaudert, ist allerdings dumm, viel dümmer, als man von einem so geriebenen Weibe erwarten konnte, welches zu den Zeiten meines cher papa – weißt du? – in derlei Affären so pompös praktisch war.«

Der Herr Oberst machte eine Bewegung, um sich auf seinen Sohn zu stürzen. Aber die namenlose Frechheit desselben schien ihn zu lähmen. Die Arme fielen ihm schlaff an den Seiten nieder, während er mit dumpfer Stimme sagte:

»Elender Bube, du höhnst deinen Vater, nachdem du deines Vaters Tochter entehrt hast.«

»Meines Vaters Tochter? Du bist wohl nicht bei Sinnen?«

»Doch, doch, obzwar ich Grund genug hätte, den Verstand zu verlieren.«

Und so laut, als wollte er das Gräßliche zum Himmel aufschreien, setzte er hinzu:

»Das arme Kind, welches du so brutal zugrunde gerichtet hast, es ist deine Schwester!«

Julie stieß einen Schrei aus und eilte auf ihren Vater zu, welcher sich an dem Tische festhielt, wie um nicht umzusinken.

Der Keulenschlag, welchen der Vater auf den Sohn geführt, störte denn doch, wenn auch nur auf flüchtige Augenblicke, dem letzteren »den toten Sumpf« seiner Seele auf.

Er trat einen Schritt zurück, und in seiner Kehle gurgelte es, als schnappe er nach Luft. Aber das ging schnell vorüber und der Sumpf glättete sich wieder.

»Wenn,« sagte er, »dies mehr sein soll als ein melodramatisches Effektmittel, so frage ich: Wer ist schuld an alledem? Wenn das Mädchen deine Tochter ist, mein Vater, warum hast du sie als Fabriksklavin unter Fabriksklaven aufwachsen, Sklavenarbeit tun und einem rohen Trunkenbold von Stiefvater anheimfallen lassen?«

Der Oberst beugte das Haupt vor dieser vernichtenden Anklage, und die Hände vor das Gesicht schlagend, stöhnte er:

»Wahr! Wahr! O, das ist mehr, als Fleisch und Blut zu ertragen vermag.«

»Vater, lieber Vater,« sagte Julie, seine Hand ergreifend und sie an die Lippen drückend, »wie du auch gefehlt habest, diesem Schändlichen da steht kein Recht zu, dich zu höhnen und anzuklagen. Laß ihn! – Wir wollen alles tun, das unglückliche Kind zu retten, und ich will versuchen, gutzumachen, was an ihm gefrevelt wurde. Deine Tochter soll meine Schwester sein!«

»Dank dir, Kind, Dank dir! Das war ein gutes Wort, und noch nie hast du mich so glücklich gemacht. O, du hast ein Herz! Ich wußte es wohl, allen deinen Phantasien und Launen zum Trotz.«

»Das ist ja recht rührend,« sagte Herr Kippling der Jüngere. »Man könnte es für eine Rührszene aus einem Birch-Pfeifferschen Stücke nehmen. Ich für meine Person tauge nicht für das rührende Fach. Du weißt ja mon cher père, daß du mich zu einem rein praktischen Menschen erzogen hast. Als solchen will ich mich auch in dieser dummen Geschichte bewähren; denn so wahr ich Kippling heiße –«

»Eben den suchen wir!« rief es zur Türe hinein.

Herr Kippling wandte sich um und sah sich meinen beiden Bekannten von der Sennhütte her, den Gendarmen Sale und Vale gegenüber.

»Was wollt ihr hier?« fragte der Überraschte hochherab, aber doch mit einem Anflug von Zittern in der Stimme.

»Was wir wollen?« versetzte der Sale. »Partout nichts, schätz' ich, als Euch, nämlich Herrn Theodor Kippling von da und da. Sind kaibisch lange nach Euch herumgestrichen in dieser kaibischen Weltgegend. Derohalb macht jetzt keine Umstände, junger Herr. Helfen doch nichts! – Heraus mit den Handschellen, Vale! – Signalement, Verhaftsbefehl, alles in Ordnung. Kaibisch verdrießlich für Euch, aber wahr – bim Eid!«

»Nehmt Geld, liebe Leute,« sagte der unglückliche Vater mit schwacher Stimme. »Fordert, so viel ihr wollt – ihr sollt es haben – jetzt, auf der Stelle – aber laßt den Gefangenen entwischen – diese Schmach ist zu groß.«

»Geld, viel Geld, Herr Oberst?« versetzte der Sale, dem Gefangenen die Handschellen anlegend. »Hm, was meinst, Vale?«

Der Vale schmunzelte.

»Wart', du ewiger Hagel!« schrie ihn sein Kamerad an. »Weißt nicht, daß im Dienstbüchli, Paragraph so und so geschrieben steht: Du sollst dich nicht lassen bestechen! – Nein, Herr Oberst, 's tut's nichts. Müssen Order parieren. Was würde aus der Welt, wenn die armen Leute auch vollends mogeln und mukmakeln wollten? Die ganze Kalberei ginge ja zum Teufel! Empfehle mich! – Fort, marsch!«

Sie führten ihren Gefangenen hinaus, und als die Türe hinter ihnen zufiel, brach der Oberst in den Armen seiner Tochter zusammen.


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