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Zweites Buch
Theorie

Erstes Kapitel

Eine Warnungstafel. – Von einem heiligsten Wunder. – »Treib das Kalb aus!« – Ein Gewissensbiß und ein altes Sprichwort. –»Ade nun, ihr Lieben!« – Eine Haarschnur, ein Dolchstoß und eine schwarze Kluft. – Debut in der Renommisterei. – Jung und töricht.

Indem ich die Feder wieder ansetze – Leser! schon dieser hausbackene Ausdruck kann dir verraten, daß du es mit einem ziemlich altfränkischen Menschen zu tun hast – also, indem ich wieder die Feder ansetze, meine Denkwürdigkeiten oder, bescheidener gesprochen, meine Erinnerungen weiterzuführen, muß ich als ehrlicher Mann hier eine Warnungstafel aushängen.

Darauf steht geschrieben: »Man hüte sich vor Illusionen!« Nämlich ich kann der zarten Leserin und dem gewiegten Leser, welche dieses Buch zur Hand nehmen sollten, durchaus nicht versprechen, daß dasselbe den neuesten Zuschnitt novellistischer Mode tragen werde. Ich bin jederzeit gern meinen eigenen Weg auf meine eigene Weise gegangen, und so schreib' ich auch. Ich verstehe mich nicht auf die novellistische Schmeichelkunst, in deren Besitze die beliebten Erzähler des Tages je nach der gerade herrschenden Windströmung heute der Fürstenschaft und morgen der Pfaffheit zu Hofe kriechen, da dem Adel schmeicheln und dort die Bourgeoisie streicheln, hier die liebe Bauersame mit Hegelei überzuckern und weiterhin das Proletariat zur Quintessenz der Menschheit erheben. Ich vermag mich schlechterdings nicht zu jener Höhe liebedienerischer und dabei geschäftemacherischer Verlogenheit hinaufzuschwindeln, von welcher Höhe herab unsere großen Novellisten je nach der novellistischen Nachfrage den Baron oder den Kaufmann, den Professor oder den Dachdecker, den Pastor oder den Bauer, den Schulmeister oder den Fabrikarbeiter den Leuten als ein Ideal vorzudemonstrieren wissen. Auch in der Pariser Romanküche, wo man Katzen in Fasanen verwandelt und Frösche zu Krammetsvögeln herrichtet, bin ich nicht in die Schule gegangen. Ich verstehe nichts von solcher Kochkunst. Zwar werde ich im weiteren nicht bloß, wie bislang, Idyllisches, sondern leider auch modernst Leidenschaftliches und sogar Schreckliches zu erzählen haben, aber ich gestehe zum voraus meine Ungeschicklichkeit, solchen Gerichten jenes Parfüm französischer Fäulnis anzuraffinieren, welches ja auch in deutschen Damenboudoirs so wohlgelitten ist oder wenigstens noch vor kurzem war. Ich schreibe sozusagen ganz zwecklos und zunächst zu meinem eigenen Vergnügen, habe auch die altväterische und, wie ich wohl einsehe, sehr unzeitgemäße Neigung, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen. Das ist töricht und doppelt töricht zu einer Zeit, wo die Poloniusse, welche auf Verlangen in einer und derselben Minute eine Wolke für ein Kamel oder für ein Wiesel oder für einen Walfisch ansehen, zu Dutzenden in der Literatur herumlaufen. Aber es kann doch, in Gottes Namen, nicht jeder ein Polonius sein. Es werden daher in meiner Erzählung keine Diebe und Mörder figurieren, die eigentlich philosophische Tugendspiegel sind, es werden darin auch keine Marienblumen und andere Magdalenen heilig gesprochen, und selbst die Bauern – denn auch von Bauern werde ich zu reden haben – werde ich auftreten lassen, ohne sie vorher zum Umkleiden und Parfümieren in eine ästhetische Trödlerbude zu schicken, sogar auf die Gefahr hin, daß ihre »natürliche« Natur ihnen den Zutritt in Kreisen versperre, wo überhaupt nur Masken gern gesehen sind.

Nachdem ich so meinem Gewissen genug getan, kann ich nur sagen: Leser, bleib zurück oder komm mit! Entschließest du dich zum Mitkommen, so wirst du ein Stück Leben sehen, wie es ist. Das Gewöhnliche wie das Ungewöhnlichste, das Alltägliche wie das Furchtbarste, was ich dir erzählen werde, ist mit photographischer Treue aus der Wirklichkeit herausgegriffen.

Als eines der höchsten und heiligsten Wunder »in dieser Welt des Atmens« ist mir immer erschienen, daß eine Mutter nie müde wird. Diese Liebe, wahrlich, sie ist, wie das Hohelied singt, »stark wie der Tod«. Ja, man könnte, ohne gerade ein Schwärmer und Phantast zu sein, sich manchmal einbilden, daß Mutterliebe selbst über Tod und Grab hinausdauere. Hast du nie einen Moment erlebt, wo du, niedergedrückt vom tiefsten Leid, verzweiflungsvoll aufblickend, plötzlich wieder jene Augen voll Beschwichtigung und Trost auf dir ruhen fühltest, jene Augen, die deinem ersten Blicke begegneten, die Augen deiner Mutter, welche hingegangen, während ein letzter Segenswunsch für dich auf ihren erblassenden Lippen verzitterte? Der Mutter Segen baut den Kindern Häuser – ja, und er tut noch viel Besseres, Heiligeres: er verleiht dem Menschen das Bewußtsein, daß es Bande gebe, die nur dann brechen können, wenn die Kreatur aus dem Kreise des Menschlichen hinausgerissen wird ins Ungeheure, wo der Mensch nur noch ein gräßliches Zerrbild seines Wesens ist. Wenn ein Muttermord geschieht, fällt vor Entsetzen ein Stern vom Himmel, sagt ein tiefsinniges Volkssprichwort. Ich glaube das, die Physiker und Astronomen mögen es noch so lächerlich finden.

Und doch trägt die Summe von Zärtlichkeit, Sorge und Schmerzen, genannt Mutterliebe, welche eine längere Zifferreihe bildet als die englische Staatsschuld, oft so kärgliche Zinsen. Das mag, zur Ehre der menschlichen Natur sei es gesagt, daher kommen, daß man, was man an einer Mutter habe, erst dann recht weiß, wenn man sie nicht mehr hat.

Diese Betrachtung stieg unwillkürlich in mir auf, als ich erzählen wollte, welche Mühe sich meine Mutter gab, daß meiner Ausrüstung zum ersten Flug in die Welt nichts fehlte. Ich sehe sie noch, wie sie mit Beihilfe Hildegards meinen Koffer packte. Ach, zu jedem Stück, welches da hineinkam, legte sie ein liebevolles, vorsorgliches Wort, gleichsam ein Stück ihres zärtlichen Mutterherzens. Ganz unten hatte sie ohne mein Vorwissen ein halb Dutzend alter Maria-Theresientaler versteckt, eingewickelt in ein kleines schwarzseidenes Tuch, welches sie früher um den Hals getragen. Dieses Geld war der letzte Rest vom Inhalt des »Sparhafens«, welchen sie aus ihrer Kindheit mit in die Ehe herübergenommen. Ich wußte, wie sie an diesen Talern hing, deren jeder einen glücklichen Tag ihrer Jugend bezeichnete, und als ich daher beim Auspacken des Koffers den kleinen Schatz vorfand, gelobte ich, daß er mir heilig sein sollte. Ganz wurde dieses Gelöbnis freilich nicht gehalten – ach, ein Student hat so schwache Augenblicke und so dringende, ganz unabweislich dringende Ausgaben! – aber einen der sechs Maria-Theresientaler hab' ich doch durch alle Wechselfälle des Lebens hindurch gerettet, und er ist mir ein echter und rechter Hecketaler gewesen. Auch das schwarze Seidentuch hab' ich noch, und nie, ich darf es sagen, ist mein Blick darauf gefallen, ohne daß ich mit zärtlichem Danke seiner vormaligen Trägerin gedacht hätte.

Aber damals, als sie so sorgfältig meinen Koffer packte, stand ich dabei und sah ihrer Mühwaltung ohne besonderen Anteil zu. War mir doch der Kopf von den Vorahnungen akademischer Herrlichkeit voll. Wenn mir recht ist, wälzte ich im Gemüte die höchst wichtige Frage, welches studentische Korps ich mit meinem Beitritt beehren sollte. Ich nahm es daher ziemlich leicht, als die Mutter ein abgegriffenes altes Büchelchen oben auf den hochgestapelten Inhalt des Koffers legte mit den Worten: »Sieh, Siegfried« – die Gute hätte mich seit jener Szene unter dem Apfelbaum um keine Welt mehr anders als Siegfried genannt – »das ist das Gebetbüchle, worin ich dich lesen lehrte. Früher war es das meine, und ich hab's noch von meiner Mutter selig. Du wirst nicht mehr darin lesen ... ich weiß, ich weiß ... aber tu es mir zuliebe, hörst du? und wirf manchmal einen Blick auf das arme alte Ding. Es wird dich an die andächtigen Stunden deiner Kinderjahre, an gute Vorsätze und an mich erinnern.« – »Ja, ja, Mutter, schon recht,« versetzte ich ziemlich zerstreut, – »und da, leg nur gleich das andere Buch dazu.«

Damit zog ich einen dicken, in Schweinsleder gebundenen Elzevir-Duodez aus der Tasche, eine Ausgabe des Euripides, welchen ich bei meinem vorhin abgestatteten Abschiedsbesuch bei dem guten Benefiziaten von diesem »in memoriam« erhalten hatte. Der alte Hairle hatte sich nur schwer von diesem Schatze getrennt. Hätte er doch nur gewußt, wie verteufelt wenig mir daran lag! Dreimal nahm er die schweinslederne Herrlichkeit vom Büchergestell, und dreimal wanderte sie wieder auf dasselbe zurück. Beim vierten Anlauf endlich war das Buch, von einem schweren Seufzer begleitet, aus seiner Hand in die meine übergegangen ... Meine Mutter, welcher schon das gelehrte Äußere des Elzevir imponierte, wurde vollends von heiligem Respekt erfüllt, als sie einen Blick auf das Innere warf und auf dem vergilbten Schmutzblatt vor dem Titel eine lange Reihe griechischer, von der Hand des Magisters geschriebener Hieroglyphen wahrnahm. Mit ehrerbietiger Achtsamkeit legte sie den Euripides neben das Gebetbuch und schloß den Kofferdeckel, während ich ein Lächeln verbiß. Hatte doch Dominus Zipfelius als letzte Anmahnung für seinen zur Universität abgehenden Zögling auf jenes Blatt einen der fulminantesten Ausfälle des griechischen Tragikers gegen die »Weibsstücker« geschrieben.

Am Abend vor unserer – Fabians und meiner – Abreise machte mein Vater noch einen langen Gang durch die heimischen Fluren mit mir.

Da gab er mir, nach seiner Art mehr in der Form kordialen Gespräches als in sauertöpfischer Predigtweise, seine väterlichen Lehren und Warnungen.

»Du wirst jetzt,« sagte er unter anderem, »ein sozusagen ganz freier, auf dich selbst gestellter Mensch sein. Genieße diese Freiheit, aber vergiß nie, daß sie doch nur die Vorbereitungszeit auf die schwere Pflicht des Lebens ist. Die Jugend will ein bißchen toben, das ist ihre Art und sogar ihr Recht, aber hüte dich, mit dem Inhalt des schäumenden Jugendbechers so töricht verschwenderisch umzugehen, daß nichts mehr darin übrig bliebe als der bittere Bodensatz der Reue. Die so mit der akademischen Freiheit wirtschaften, sind nach ihrem durchstürmten Triennium nur noch jammerselige Philister. Treibe immerhin das Kalb aus, wie die Engländer sagen, ja, treibe immerhin das Kalb aus, mein Junge! Wenn es nicht in der Jugend ausgetrieben wird, manifestiert es sich oft im Alter noch als ungebärdigster Ochse. Sei meinetwegen ein flotter Bursch, aber nie überschreite auch nur halben Fußes die Grenzlinie zwischen Flottheit und Gemeinheit. Hinsichtlich des Geldes werde ich nicht knauserig gegen dich sein, aber präge tief in dein Gedächtnis, daß ich dir jetzt sage: Du bist nicht der Söhn eines reichen Mannes! Es hätte vielleicht ... doch das gehört nicht hierher ... Du bist zum Theologen bestimmt, aber gib dir neben deinem Berufsstudium redliche Mühe, dich zum Menschen, zum deutschen Manne auszubilden, zum deutschen Manne, hörst du? Ich weiß, du hegest Liebe für unsere vaterländische Geschichte, unsere Literatur, unsere Altertümer – pflege diese Liebe! Denn siehst du, man mag sagen, was man will, trotz alledem und alledem ist Deutschland das edelste Land der Erde. Von uns, von unserem Gedankenhort zehren alle übrigen Nationen. Mögen sie es leugnen, die Undankbaren, was tut es? Der deutsche Geist rastet trotzdem keinen Tag, keine Stunde, keine Minute auf seinem stillen Eroberungszug durch die Welt ... Halte fest an deiner Freundschaft mit dem Fabian. Sie hat, ohne daß er oder du es merktest, schon bisher heilsam auf dich gewirkt. Eure Wege werden zwar nicht immer dieselben sein können, schon deshalb nicht, weil Fabian in das klösterliche Theologenstift eintritt; aber dessenungeachtet suche seinen Umgang, wo du kannst. Tue ihm Gutes, unterstütze ihn, aber in zarter Weise, hörst du? Denn dein Freund ist ein lebendiger Beweis des Satzes, daß die Kinder der Armen oft das feinste Gefühl haben. Und nun noch das, ja, noch das: ich sehe es voraus, Michel, daß du bei deinen theologischen Studien Kämpfe des Zweifels durchzumachen haben wirst. Ja, es wird so kommen. Kämpfe sie wacker, mein Knabe, und nie – sei dieser Bitte eingedenk! – nie laß davon auch nur eine Silbe gegen deine Mutter verlauten. Ihre Frömmigkeit ertrüge das nicht, nein, sie ertrüge es nicht, weißt du? ... Und vergiß es nicht, du wirst eines Tages zu deinem Leide erfahren, daß man nur eine Mutter hat.«

Nach einer Pause sagte ich: »Es liegt mir noch etwas auf dem Herzen, Vater.«

»Was?«

»Der Freiherr ist doch immer recht gütig gegen mich gewesen, und als er mir heute noch ein reiches Geschenk mit auf den Weg gab, schämte ich mich fast, es anzunehmen.«

»Warum?«

»Von wegen dem Stein, weißt du?«

»Stein? Stein? Was für ein Stein?«

»Der falsche Mithrasstein.«

»Aha, der liegt dir auf dem Herzen? Siehst du nun, Bursch, daß das Unrecht eine Spur hinterläßt, welche sich nicht verwischt?«

»Ich mein', ich sollte dem guten Herrn die Sache noch aufdecken, bevor ich gehe.«

Mein Vater schwieg eine Weile nachdenklich und sagte dann:

»Nein, es geht nicht. Aber sei dir dies ein warnender Fingerzeig, daß es leichter sei, unrecht zu tun, als es wieder gut zu machen. Der Freiherr hat so großes Wesen aus seinem angeblichen Funde gemacht, hat so vielen Leuten davon gesprochen, daß es ihn, wie es nun einmal ist, tief schmerzen und kränken müßte, zu erfahren, daß er durch einen leichtsinnigen Bubenschwank gefoppt worden sei. Wir müssen ihm, bei aller Achtung vor deinem wenn auch ziemlich verspätet sich regenden Redlichkeitsgefühl, diese Kränkung ersparen. Seine Illusion macht ihn glücklich und, ach, die Menschen können ja überhaupt ohne Illusionen nicht leben. Sie bedürfen derselben wie des täglichen Brotes. Aber, Michel, keinen Mithrassteinschwank mehr, hörst du? Nie mehr! Diese Erfahrung kann dich lehren, wie sinnvoll das alte Wort von dem unbedacht geschleuderten Stein sei. Es paßt hierher, wie eigens dafür gemacht – bei Wodan und Frouwa!«

Am andern Morgen in aller Frühe zogen wir aus, der Fabian und ich, in nordwestlicher Richtung durchs Gebirge, die Wandertaschen auf dem Rücken. »Denn,« sagte mein Vater, »seit die Studenten das Fußreisen zu verlernen anfangen, geht's bergab mit der Studentenromantik.« Wir sollten an diesem Verfall keine Mitschuld tragen und demnach zu Fuße reisen.

Endlich war der herbe Augenblick des Abschieds von der Mutter und der Schwester vorbei, welche letztere – ich hatte es wohl bemerkt – heute zwar ungenierter, aber trotzdem doch fast etwas weniger traurig war als neulich, da der Berthold wieder fortgemußt hatte. Ich hielt es nach Art eines jungen Guckindiewelt für mannhaft, den strömenden Tränen meiner armen Mutter, die ihren Michel, wollte sagen ihren Siegfried zum erstenmal für längere Zeit scheiden sehen mußte, eine gefaßte, das heißt erkünstelte frohe Zuversicht entgegenzusetzen, und brachte mit etwelcher Anstrengung sogar einen leidlichen Abschiedsscherz zuwege; aber als nun unter der Haustüre noch unsere beiden alten Mägde, die Theres und die Annem'rei, so redlich mich anweinten, als auf der obersten Hausstaffel, während meine Mutter mir ihr letztes »Behüt' dich Gott!« auf Lippen und Wangen küßte, Don Murr mit einem Geschnurre, das mir sehr elegisch vorkam, sich an meinen Beinen rieb und von der untersten der alte Hylas so herzbrechend zu mir herausblickte, als wollte er sagen: »Ade, seh' dich nimmermehr!« und als wir nun durch den Garten gingen, wo jeder Zoll Erde mich an meine glückliche Kindheit erinnerte – da, ja, da kam mir ein verteufelt unmannhaftes Schlucken in die Kehle und ich tat, als trocknete ich die Tränenspuren, welche meiner Mutter letzte Umarmung auf meinen Wangen zurückgelassen. Aber es war auch das Naß meiner eigenen Augen dabei.

Der Vater wollte uns noch eine Strecke weit das Geleite geben, und als wir erst den Garten hinter uns hatten, schritten wir rüstig in den frischen Oktobermorgen hinein.

Wir kreuzten den Schloßpark. Dort zur Rechten hob sich der große westliche Turm des Freiherrnsitzes ans den alten, schon halb entblätterten Ulmen empor. Aus der Wand, welche der Turm flankierte, sprang der zierliche Erker vor, in welchen Isoldes Zimmer auslief. Ich meinte, es müsse sein wie in einem Fouquéschen Roman, das heißt, ich schmeichelte mir mit der leisen Hoffnung, das Burgfräulein würde am Erkerfenster erscheinen, um mir mit weißem Tuch noch einen letzten Gruß zuzuwinken.

So romantisch kam es nun freilich nicht, aber besser. Denn während ich nach dem Erker hinstarrte, stieß mich Fabian leise an und sagte: »Da kommt das gnädige Fräulein.«

Und wirklich, Isolde kam uns langsam entgegen, hart beim Krähenkloster, wo mir damals der Bruder Jehan ein glückverheißendes Orakel erteilt hatte.

»Was tust du schon so früh hier, liebes Kind?« fragte mein Vater, und es war fast, als klänge seine Stimme nicht so liebevoll, wie sie sonst immer klang, wenn er mit dem jungen Mädchen sprach.

»Der schöne Morgen,« versetzte sie …. »ich wachte so früh auf und ... und ....«

Sie errötete leise und stockte, als wollte sie sich auf Angabe eines stichhaltigen Grundes für ihren Frühgang besinnen.

Aber Isolde von Rothenfluh hat nie eine aussprechen können und so, vielleicht auch ermutigt durch die helle Freude, die bei ihrem unerwarteten Erscheinen in meinen Augen funkelte, fuhr sie treuherzig fort:

»Ich dachte mir, daß ich euch noch hier begegnen könnte, und ich wollte dem Fabian noch Adieu sagen und …. auch dem Michel.«

»So macht die Sache rasch ab, Kinder,« sagte mein Vater. »Gar zuviele Rührung taugt nichts beim Antritt einer Reise.«

Isolde griff mit der Hand in die Chatelaine, welche an ihrem Morgenkleide hing, und reichte sie dann dem Fabian hin, welcher schüchtern einen Händedruck erwiderte, der, wie ich nachher erfuhr, kein leerer war. Das gute Kind hatte seinen Spartopf geleert, um dem armen Studenten ein Viatikum zu reichen, das ihn reicher machte, als er sein Leben lang gewesen war.

Fabian, der, allen kameradschaftlichen Umgangs mit Isolde ungeachtet, zu ihr stets »hinaufgeblickt« hatte »als zu einem Wesen höherer Art«, stotterte Dankesworte, die sehr schlecht »gesetzt« waren und die das junge Mädchen dadurch abschnitt, daß es sich zu mir wandte.

Ich habe es nie vergessen, wie sie damals vor mir stand und nach kurzem Zögern die Augen zu mir aufschlug. Es war darin etwas von dem Ausdruck, womit sie vor einiger Zeit an der Breunighalde den Scheinschlafenden angesehen hatte.

»Michel,« sagte sie, uneingeschüchtert durch die ernsten Blicke, womit mein Vater mich betrachtete, »Michel, unsere Hildegard hat mir gesagt, daß sie vergessen, dir eine Schnur für deine Uhr zu flechten. Da hast du eine. Ich hab' sie schnell noch für dich geflochten.«

Sie zog die Schnur hervor, geflochten aus ihren wunderschönen Haaren, und neigte sich gegen mich, mir sie umzuhängen.

Da ward mir doch, weiß der Himmel, ganz Fouquésch zumute, und ohne Zweifel hätt' ich, wäre nur mein Vater nicht anwesend gewesen, mein Knie gebeugt, um die Gabe in Empfang zu nehmen.

So aber begnügte ich mich, die Mühe abzunehmen und den Kopf vorzubeugen.

Isolde legte mir die Schnur um den Nacken und flüsterte kaum hörbar:

»Vergiß mich nicht!«

»Nie, niemals!« wollte ich leidenschaftlich ausrufen, aber das Wort blieb mir in der Kehle stecken. Meine Augen sagten es aber statt des Mundes so deutlich, daß Isolde die ihrigen senkte.

So trat sie zurück, bot mir die Hand, erwiderte leise den heftigen Druck der meinigen und sagte:

»Behüt' dich Gott, Michel, und sei brav!«

»Gut so, liebes Kind, und du, Michel, merke dir das,« sagte mein Vater. »Brav sein heißt die Pflichten erfüllen, welche unsere Stellung im Leben uns auferlegt. Und jetzt wollen wir gehen.«

Wir gingen. Das Herz quoll mir in der Brust, und bei jedem Schritt glaubte ich umkehren zu müssen, um der geliebten Jugendgespielin noch ein herzlich Wort zu sagen, allein ich bezwang mich und schritt mechanisch fürbaß.

Aber bei der nächsten Biegung des Weges mußte ich mich doch umschauen.

Da stand Isolde wie festgebannt unter den alten Bäumen und hielt ihr Tuch an die Augen gedrückt. Ob sie weinte? Ich blieb einen Augenblick stehen. Sie bemerkte es und winkte mir mit dem weißen Tuch einen letzten Gruß zu. Dann entzog mir die Krümmung des Weges den Anblick der teuren Gestalt.

Wir schritten schweigend talwärts, verfolgten eine Strecke weit den Lauf des Baches und stiegen dann rechter Hand den Bergwaldsteig hinan. Uns allen dreien war das Herz schwer.

Als wir auf dem Plateau, wo sich der Wald lichtete, angelangt, auf die einzeln stehende Blutbuche zugingen, bis wohin mein Vater uns begleiten wollte, sagte er:

»Wenn der Mensch seine Heimat verläßt, muß er sich immer darauf gefaßt machen, bei seiner Wiederkehr vieles verändert zu finden. Es wird euch wohl auch so gehen.«

Ich sagte nichts, obwohl mir diese Worte wie eine Einleitung zu Bedrohlichem klangen.

»Da ist zum Beispiel das junge Fräulein,« fuhr der Vater fort – warum sagt er nicht schlichtweg Isolde, wie sonst? dachte ich – »die werdet ihr, wenn ihr übers Jahr in die Ferien kommt, wohl nicht mehr zu Hause treffen.«

»Was?« platzte ich heraus.

»Ja, siehst du, Michel, ich vergaß, dir gelegentlich zu sagen, daß das Fräulein dem ältesten Sohne des Grafen Zackstein drüben im Fränkischen zur Frau bestimmt ist ...«

»Isolde?«

»Freilich, Fräulein Isolde ...«

»Und sie wird ihn nehmen?«

»Warum denn nicht? Wie kommst du mir vor, Junge? Es ist eine alte Vereinbarung zwischen dem Freiherrn und dem alten Grafen, welche vorzeiten Kriegskameraden waren.«

Ich mußte unwillkürlich mit der Hand nach dem Herzen fassen, so gewaltsam schnürte es sich mir in der Brust zusammen.

Mein Vater mochte diese Gebärde wahrgenommen haben, denn er fuhr mit weicherer Stimme fort:

»Es ist eine in jeder Beziehung glückliche Partie und eine standesgemäße. Der Freiherr Bodo hält, obwohl der humanste Mann von der Welt, dennoch viel, sehr viel auf seinen Stand und dessen Stellung, besonders in solchen Dingen. Wer möchte ihn deshalb tadeln? Der junge Graf Zackstein wird eines Tages der Erbe sehr reicher Besitzungen. Er ist eine höchst einnehmende Persönlichkeit, ein trefflicher Kavalier. Er hat eine Zeitlang in der diplomatischen Laufbahn gedient und ist jetzt auf Reisen gegangen ...«

»Er mag zum Teufel gehen!« dachte ich.

»Als ich diesen Sommer in der Residenz war, hörte ich viel Gutes von ihm ...«

»Ich schlag' ihn aber doch tot, wo ich ihn finde!« schwur ich bei mir.

»Bei seiner Zurückkunft soll das förmliche Verlöbnis mit unserm Fräulein stattfinden. Bis dahin wird unser Fräulein mit ihrer Gouvernante bei ihrer Tante, der Schwester des Freiherrn, in der Residenz leben, um da den letzten Schliff zur großen Dame zu erhalten, die sie künftig sein wird.«

Mein Vater hielt eine Weile inne, als zitterte die väterliche Hand, die aus Liebe, ja aus Liebe – das fühlte ich doch dunkel zwischen all der Qual hindurch – das Messer in die Brust des Sohnes gesenkt hatte. Dann setzte er, um zu vollenden, was er mußte, hinzu:

»Wahrscheinlich, lieber Michel, wirst du unser Fräulein erst als Gräfin wiedersehen.«

Mir läutete es vor den Ohren wie von einer Riesenglocke, und vor meinen Augen flackerten Irrwischlichter. In ihrem Scheine sah ich plötzlich die ungeheure schwarze Kluft, die Standeskluft vor mir klaffen, welche mich von Isolde trennte ... Jetzt begriff ich mit einem Schlag, was der Kampf der Plebs gegen das Patriziat im alten Rom und was der Bauernkrieg zur Reformationszeit zu bedeuten gehabt habe, und begriff auch das Jahr 1789 und, ja, auch Danton und Saint-Just und Robespierre. Der Schmerz ist mitunter der Geschickteste aller Lehrer.

Der Tumult meiner Gefühle zu jener Stunde war ein zu heftiger, als daß er mir eine deutliche Erinnerung an die Einzelheiten des Abschieds von meinem Vater übrig gelassen hätte. Genug, als ich sozusagen zu mir selbst kam, fand ich mich mit Fabian allein auf der Heide, über welche unser Weg hinlief. Die Sonne stieg schon höher und höher, und immer noch schritt ich schweigend zu und immer zu, der Fabian schweigend mir zur Seite, nachdem wiederholte Versuche von seiner Seite, ein Gespräch anzuknüpfen, mißlungen waren.

Bei leidenschaftlichen Menschen – und ich war in Jugendtagen so ziemlich ein solcher – sind aber schroffe Übergänge in den Stimmungen nicht ungewöhnlich, und so kann es den allfälligen Leser meiner Geschichte nicht überraschen, wenn ich sage, daß den achtzehnjährigen Burschen, welcher vorhin aus Verzweiflung ohne weiteres in die erwähnte schwarze Kluft kopfüber sich gestürzt hätte, wäre dieselbe nur gerade in natura vorhanden gewesen – plötzlich eine wildlustige Laune anwandelte.

»So, Fabiane, Fabianior, Fabianissime,« rief ich meinem Gefährten zu, indem ich mich unter einen Baum am Wege in das absterbende Heidekraut warf – »so, jetzt hätten wir den ganzen Kram und Quark hinter uns und sind endlich unsere eigenen Herren. Tu den Schnappsack auf, Mann, tu den Schnappsack auf, sag' ich. Meine Mutter hat noch was Gebratenes für uns hineingesteckt, und da ist Wein in meiner Reiseflasche. Ich bring' dir's zu, Fabiane Fabianorum, da trink – es lebe die Freiheit! Es lebe der Unsinn! Es lebe der Teufel und seine vermaledeite Großmutter!«

Der Freund sah mich mit großen Augen an.

»Was hast du denn?« fragte er.

»Was ich habe? Nichts oder, halt, ja, eine unbändige Freude hab' ich.«

»Das freut mich. Und sieh, ich bin auch gar nicht so traurig, wie ich gestern fürchtete, daß ich heute sein würde.«

»Traurig? Was fällt dir ein? Mir ist ungeheuer lustig zumute, auf Cerevis! Ja, so frei und so lustig ... hm, ich könnte ... ja, was wollte ich denn eigentlich gleich sagen?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich bin auch ganz hellauf, weil meine Mutter sich beim Abschiede ganz gefaßt benahm ... Du weißt, die arme Frau hat nur mich auf der weiten Welt, und ich fürchtete, wie gesagt, sie würde sich gar zu sehr grämen, als ich fort mußte ... und ... und ...«

»Was und?«

»Alle Leute im Dorfe sind beim Abschiede noch so freundlich gegen mich gewesen ... und das gnädige Fräulein war so großmütig – sieh nur her! – und, ja, Hildegard war zuletzt noch so gut mit mir, so recht herzlich gut ...«

»Halt ein mit deiner Litanei, empfindsamer Maikäfer du! Ich sag', zum T....., das heißt nicht gerade zum Teufel, aber doch sonst wohin mit den Weibsstückern! Unser Magister hat ganz recht; sie taugen alle keinen Pfifferling. Er hat's aus dem Euripides gelernt. Hätt' ich nur meinen Koffer mit der alten Scharteke da, ich wollt' dir's vorlesen.«

»Ach geh doch', Michel! Ich hab's wohl gesehen, was du für Augen machtest, als dir das gnädige Fräulein die Haarschnur gab und ...«

»Jetzt mach mich nicht rabiat, Fabian, hörst du? Ich bin ohnehin schon so fuchsteufelswild ... Doch bah, sie heiratet den Grafen Zickzack oder wie der Kerl heißt. Mir einerlei, ganz einerlei – was geht's mich an? Müßte ja Tinte gesoffen haben, wenn ich mich darüber ärgern wollte, – so müßt ich, auf Cerevis! Sie heiratet standesgemäß, natürlich, ganz in der Ordnung! Wappen zu Wappen, gleich und gleich gesellt sich gern ... Möchte nur zuvor gelegentlich dem Kerl ein paar Rippen zerbrechen ... Sie kriegt jetzt den letzten Schliff zur großen Dame ... gut, schon recht ... mira! Untertäniger Diener, gnädige Frau Gräfin ... ich kümmere mich kein Brosämle darum und ... he, wir wollen eins singen, Fabiane, und gib die Flasche her! Steig' dir ein Quärtle, Mann, und damit basta und Hurra!«

Ach, während ich mich in solchem Kraftgepolter erging, stand mir das Weinen näher als das Lachen, und während jetzt der Fabian für einen Augenblick den Kopf wandte, drückte ich Isoldes Haarschnur verstohlen an die Lippen.

So töricht ist die Jugend ... Aber, o, wie süß ist es, jung und töricht zu sein!

Zweites Kapitel,

welches nicht sehr lang, aber ziemlich geräuschvoll ist.

Ich darf sagen, daß ich schon auf der Reise zur hohen Schule manches lernte. Unter anderem die ländliche Ansicht aufgeben, daß die Wirte etwas anderes seien als die Diener ihrer Gäste. Am ersten Tage unserer viertägigen, keineswegs in forcierten Märschen zurückgelegten Wanderung hatte ich – von dem Fabian gar nicht zu sprechen – bei unserer Einkehr Wirte und Wirtinnen, ja sogar Kellner und Kellnerinnen mit der ganzen Bescheidenheit eines Grünlings behandelt, welcher froh ist, sein gutes Geld gegen schlechtes Essen und Trinken austauschen zu dürfen. Von Station zu Station wurde ich aber anspruchsvoller, weil ich bemerkt hatte oder bemerkt zu haben glaubte, daß die Menschen für Geld den größten Demütigungen mit Freuden sich unterziehen, und nach Art der Jugend diese Vorstellung ins Maßlose übertrieb. Der gute Fabian sah verwundert drein, wenn ich so herrenmäßig unsere Bedürfnisse bestellte und mit herablassender Höflichkeit die kritischen Bemerkungen dieses oder jenes Gastgebers über das Wetter oder über mutmaßliche Quantität und Qualität der bevorstehenden Weinlese anhörte.

Am vierten Nachmittag kam uns zeitig der gewaltige, zu einem Observatorium umgeschaffene Turm des alten Pfalzgrafenschlosses zu Gesichte, welches die Universitätsstadt überragt. Nun taten wir erst recht gemächlich. Waren es doch die letzten Stunden unseres ungestörten Beisammenseins. Noch vor Einbruch der Nacht sollte ja der Fabian durch die Mauern des theologischen Stiftes von mir getrennt sein, dessen Pforte für ihn zwar täglich, aber doch nur zu genau und knapp abgemessenen Stunden sich öffnen würde.

Eine jener Anstalten, genannt Sommerkneipen, wie sie in der Nähe von Universitätsstädten häufig anzutreffen sind, stand am Wege, ein Waldhorn im Schilde führend. Diese Gelegenheit zum »Vespern« schien uns günstig, und bald saßen wir in der gemütlichen Stube mit ihrem gebräunten Getäfel hinter einem massiven Tisch, auf dessen geglätteter Schieferplatte gewiß schon mancher edle »Tarok«, mancher fidele »Bierramms« mit seinen zweiundsiebzig Regeln gespielt worden war. Es roch sozusagen ganz akademisch in dieser Stube, und die hübsche Wirtstochter im faltenreichen schwarzen, nur etwas weniges über die Knie hinabreichenden Rock, im roten Mieder, in roten Strümpfen mit blauen Zwickeln, auf dem Kopf das fezartige »Schäpple«, unter welchem die flachsblonden, mit roten Bändern durchflochtenen Zöpfe hervor und weit den Rücken hinabhingen, an den Füßen die »Stöckleschuhe« mit zollhohen Absätzen – also so eine Wirtstochter, hatte uns mit dem Nötigen versorgt und erzählte uns mitteilsam, daß die »Herren« – Herren par excellence heißen nämlich in jener Universitätsstadt und ihrer Umgebung die Studenten – Sommers und Winters gar häufig hierher ins Waldhörnle kämen, insbesondere als Teilnehmer an den ländlichen Tanzbelustigungen, welche, wie wir später erfuhren, in dem akademischen Wörterbuch den nicht weniger mysteriösen als wohlklingenden Namen »Kuhschweife« führen.

Waldhörnlewirts Sefele Provinzielles Diminutiv für Josefine. war, wie aus den Mitteilungen des Mädchens hervorging, im »Komment« ziemlich gut beschlagen, und wir hörten ihr mit Vergnügen zu, als ein neuer Gast eintrat, der freilich hier kein neuer sein mochte, denn das Sefele begrüßte ihn mit dem Titel »Herr Kandidat« offenbar als einen alten Bekannten.

Es war eine kurze, untersetzte Figur von respektabler Korpulenz. Sein Anzug allerdings war etwas weniger respektabel, denn die verschossene Nankinghose paßte nicht ganz zu der Jahreszeit, und der schwarze Sammetrock erinnerte, besonders was den Kragen und die Ellbogen betraf, auffallend an die Vergänglichkeit der schwarzen Sammetröcke. Halsbinden betrachtete der Herr Kandidat augenscheinlich als entbehrlichen Luxus, und sein Seidenhut war errötet vor Scham über seine verbogene und zerknitterte Form. Als sein Besitzer denselben abnahm, kam eine Stirne zum Vorschein, die, weil in eine Glatze auslaufend, von majestätischem Umfange war. Darunter hing in dem breiten roten Gesicht eine lächerlich kleine Stülpnase, während das stattliche Doppelkinn von einem nicht sehr kultivierten Bart eingerahmt wurde. Die kleinen, dunklen, rastlosen, in ihrem schmutzigrötlichen Weiß schwimmenden Augen sperberten rasch im Zimmer umher, und sicherlich hatten sie mit einem Blick unsere Grünlingsschaft herausgefunden.

»Blume aller Wirtstöchterlein, soweit man kocht,« wandte er sich an Sefele, »wollen Sie mir gefälligst ... doch ich sehe, da ist Gesellschaft, gute Gesellschaft, natürlich, und muntere, fidele hoff' ich .... Ja, wie heißt es nur gleich im Faust? Richtig:

Ich muß dich nun vor allen Dingen
In lustige Gesellschaft bringen.
Damit du siehst, wie leicht sich's leben läßt ...

Großer Dichter, der Goethe, pyramidalischer, wissen Sie? Schiller zwar auch groß, obeliskisch, aber zu idealisch, ein klein wenig zu idealisch ... Liebe das Reale, wissen Sie? ... Ach, die Herren trinken Roten? Edles Getränk! Wie sagt Novalis?

Auf, grünen Bergen ward geboren
Der Gott, der uns den Himmel bringt ...

Ja, wie gesagt, ein edles Getränk, mein Lieblingsstoff, wissen Sie? Mit Erlaubnis meine Herren .... Bin ein geselliger Mensch ... Gaudeamus igitur ... Sefele, Jungfer Josefa, Fräulein Josefine, ein Glas, wenn's Ihnen gefällig ist .... Meine Herren, mit wem habe ich die Ehre? Ah, sehe es, neuankommende Kommilitonen .... Füchse .... Spucken noch soviel aus beim Rauchen, kenne das ... wird sich wohl verlieren mit der Zeit .... Schöne Gegend, die Füchsegegend, wissen Sie? Die Zukunft rosenrot angestrichen, dick rosenrot, wissen Sie? Und die Gegenwart, ha! Wie singt ein neuester grandioser Dichter?

Blaue Ringelwolken dringen
Aus dem tiefen Pfeifenkopfe,
Und die blanken Schläger klingen
Mit erdonnerndem Geklopfe.

Sporen klirren, Peitschen knallen,
Trinke nach, ich trinke vor!
Arndts und Körners Lieder schallen
In der Burschen vollem Chor.

In der Hand den Ziegenhainer
Und die Mappe, ha, verdammt!
Stolz am Kinn den Wallensteiner,
Auf dem Haupt den schwarzen Samt ...

Zwar noch nicht vorhanden, der Wallensteiner, wird aber schon kommen. Geduld überwindet Sauerkraut, wissen Sie? ... Ja, wie ich bereits zu bemerken die Ehre hatte, schöne Gegend, die Füchsegegend ... Region der blanken, blöden Jugendeselei, wie der gottvolle Heine sagt, wissen Sie? Pagina so und so im Buche der Lieder ... kennen es, ohne Zweifel ... wer sollt' es nicht kennen? Süperber Kerl, der Heine ... fleischgewordener Witz ... der alte Jean Paul, Baireuther Konfusionsrat, ein Stiefelwichser gegen ihn, wissen Sie ... Im übrigen keine Beleidigung, meine Herren ... weit entfernt ... war selber mal Fuchs ... olim meminisse juvabit ... Eigentlich schöne Sorte von Leuten, die Füchse ... Von jeher berühmte Kerle darunter ... Reineke Fuchs, wissen Sie? ›Pfingsten, das liebliche Fest war gekommen‹ – et cetera ... Sefele, Herzensschätzle, eine neue Flasche! ... Beiläufig ... mit Mephisto zu sprechen:

Erklärt euch, eh' ihr weiter geht.
Was wählt ihr für 'ne Fakultät?

Doch bei Licht betrachtet, dafür ist noch morgen Zeit, wie's im alten guten Burschenlied heißt, wissen Sie? ... Kapitalstoff der Rote! Ihre Gesundheit, meine verehrlichen Herren ... Echt vaterländisches Gewächs! Bin für das Vaterländische, wissen Sie? Versteht sich am Rand. Sehe ich meinen roten Freund da, singe ich mit Altmeister Goethe:

Warum immer weiter schweifen?
Und das Gute liegt so nah!
Lerne nur das Glück ergreifen,
Denn das Glück ist immer da.

Ja, es ist da, und ich ergreife es, und feierlich bringe ich es ihnen zu und erbitte mir ein deutschbiedermännisches Bescheidtun. Pro patria, meine hochverehrten Herren und Füchse, pro patria! ... Wie schön und wahr singt der Tyrtäos der Gegenwart:

Wo solch ein Feuer noch gedeiht
Und solch ein Wein noch Flammen speit,
Da lassen wir in Ewigkeit
Uns nimmermehr vertreiben.

Allerdings erfordert andererseits die deutsche Vielseitigkeit, ja, es erfordert der christlich-germanische Kosmopolitismus, daß ein wissenschaftlich gebildeter Mann auch dem Auslande Gerechtigkeit widerfahren lasse. Zwar ist's ein wenig trivial, aber doch ungeheuer tiefsinnig, wenn unser pyramidalischer Dichterkönig meint:

Ein echter deutscher Mann kann keinen Franzmann leiden,
Doch ihre Weine trinkt er gern ...

Ergo ... ich hoffe, Sie werden mir die Ehre erweisen, später bei Gelegenheit mit mir ein Fläschchen Champagner zu leeren, zu Ehren Goethes, zur Ehre des deutschen Charakters, wissen Sie? ... Man schläft darauf so patent, wissen Sie? ... Ein probater Schlaftrunk, der Champagner, beim Jupiter! Die Kohlensäure fährt einem mit leichter Hand über die heiße Stirn und dämpft alle die Weltumsturzgedanken und Menschenrassezuchtverbesserungsideen, die einem im Schädel rumoren, wissen Sie? ... Bin nämlich ein Zerrissener – wer ist's nicht? ein total Zerrissener, der schlafen gehen möchte, mit Hamlet fragend:

Ob's edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden oder
Sich waffnend gegen eine See von Plagen
Durch Widerstand sie enden?

Jedennoch, ich bemerke, daß dieses Kapitel zu melancholisch ist für junge strebsame Gemüter ... Nichts mehr davon ... bin gewohnt, meinen Schmerz, meinen Weltschmerz allein und stumm zu tragen ... Sefele, Goldkäfer, die Flasche ist leer ... O, meine lieben Herren, hüten Sie sich vor der Melancholie! Sie vertrocknet einem die Leber, daß man sich vor Durst, vor ewigem Durst gleich in das Meer der Ewigkeit stürzen möchte, wenn das Meer aus solchem Roten da bestände. Ja und Amen. ›Ihr dumpfen Sorgen weicht von mir!‹ Lassen Sie uns mit dem alten Horaz sprechen:

Nunc vino pellite curas;
Cras ingens iterabimus aequor.
Verscheuchet jetzt mit Wein die Sorgen! Morgen besegeln wir wieder das Weltmeer.

Wo nahm nur der Mensch die Lunge her? Mir schwindelte, während ich an diesem alles mit sich fortwirbelnden Redestrom stand, oder vielmehr saß, und der gute Fabian starrte mit mundaufsperrender Verwunderung dem Sprecher ins Gesicht.

Aber der Herr Kandidat war nicht nur ein Mann des Wortes, sondern auch sehr ein Mann der Tat. Während seine Zunge eine fabelhafte Volubilität entwickelte, waren seine Schluckmuskeln in so ziemlich entsprechendem Maße tätig. Mit wunderbarer Geschwindigkeit blies er ein ums andere Mal sein Glas, welches er ohne überflüssiges Zeremoniell aus unserer, das heißt aus Fabians und meiner Flasche füllte, nur so aus. Ich hatte mein Leben lang so etwas nicht gesehen, nicht einmal gehört, denn Rabelais' Buch vom Gargantua war mir damals noch nicht bekannt.

Heutzutage gibt es gar keine Originale mehr, oder sie werden wenigstens seltener und immer seltener. Sie können in unserer uniformierten Gesellschaft nicht mehr gedeihen. Wo eins auftauchen will, legt sich die Plattdrucksmaschine der Konvenienz so rücksichtslos bleiern darauf, daß es ängstlich wieder unterduckt. Noch mehr, das grauenhaft mechanische Treiben der Gegenwart tötet nicht nur die Originale selbst, sondern auch den Glauben an die Möglichkeit derselben. So ein Original, wie ich es vorhin dem geneigten Leser vorgestellt habe, kommt daher der jüngeren Generation schon ganz antediluvianisch-märchenhaft vor. Zu meiner Zeit, das heißt als ich jung war, ist aber die Welt noch nicht uniformiert gewesen, und die erwähnte Plattdrucksmaschine hatte noch keine so gräßlichen Verwüstungen angerichtet. Damals hatte unser Herrgott noch gar vielerlei und mitunter sehr absonderliche Kostgänger, und namentlich gab es auf den deutschen Universitäten kostbare Inventarstücke, welche von einer Studentengeneration auf die andere übergingen.

So eins war der Herr Kandidat, der uns im Verlaufe meiner Geschichte noch öfter begegnen wird, in allerlei Verwandlungen.

Eine Weile imponierte mir – was imponiert einem »Fuchs« nicht? – sein Gallimathias. Es lief durch denselben eine Ader von Humor, für welchen ich immer Sinn und Vorliebe gehabt habe. Man konnte doch so einem Gesicht voll gutmütiger Schelmerei, voll unverwüstlicher Laune unmöglich gram sein. Des Mannes Geschwätz war so ergötzlich, daß es – nachdem erst ein paar Gläser von dem Roten dem schüchternen Fuchse Mut gemacht – mich reizte, daran teilzunehmen. Es verdroß mich allmählich, daß der Herr Kandidat uns doch für allzugrün, für gar zu ungeheuer grün ansah, und ich wollte ihm das zu verstehen geben.

Das Sefele, welches längst Gelegenheit gehabt haben mochte, über die Zahlungsfähigkeit des Kandidaten sich eigene Ansichten zu bilden, wollte den Wink desselben, eine vierte Flasche zu bringen, nicht verstehen und sah den Fabian und mich fragend an. Der Fabian aber hatte nur für den Kandidaten Augen, und was mich betrifft, ich zögerte, weil mich die unendlich wehmütige Miene, womit der Kandidat von der leeren Flasche auf das Sefele und vom Sefele auf die leere Flasche blickte, höchlich ergötzte.

»Kann ich die Ehre haben,« sagte ich, »zu erfahren, mit wem ich zu trinken das Vergnügen habe?«

»Freilich, freilich, gehorsamer Diener ... Kandidat Rumpel, den Herren zu dienen ... Cyrillus Chrysostomus Theophilus Rumpel.«

»Da haben Sie einen Namen, der viel Lärm in der Welt macht.«

»Hahaha ... nicht übel ... ganz erträglicher Witz! ... Aber meinen Sie nicht, es müsse eine schreckliche Situation gewesen sein, als es damals zu Kana in Galiläa hieß: »O Herr, sie haben keinen Wein mehr!«

»Doch; aber darf ich fragen, zu welcher Fakultät Sie gehören, Herr Kandidat Rumpel?«

»Fakultät! Überwundener Standpunkt ... gänzlich überwunden ... Rokoko, wissen Sie! Könnte zwar mit dem seligen Faust sagen:

Habe, ach, Philosophie,
Juristerei und Medizin
Und, leider, auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn ...

Tu' es aber nicht ... ich bin ein Verallgemeinerer in der Wissenschaft wie im Leben, wissen Sie? ... Jedennoch, ganz beiläufig, die Physiker mögen sagen, was sie wollen, es gibt leere Räume ... gibt es nicht? Sehen Sie sich doch einmal die brutale Tatsache dieser leeren Flasche an ... ha!«

Ich gab dem Sefele einen bejahenden Wink, und die Äuglein des Kandidaten glänzten auf.

»Sie lesen wohl an der Universität, Herr Kandidat Rumpel?« fragte ich.

»Lesen?« gab er zur Antwort, ein neues Glas schlürfend und den Wein mit vielem Behagen mit der Zunge zerdrückend. »Nun ja, zu meinem Privatvergnügen, aber nur dann und wann; denn was hätte ich noch nicht gelesen?«

»Ich meine Kollegien.«

Er blies die Backen auf und deklamierte pathetisch:

»Sprich mir von allen Schrecken des Gewissens,
Doch von Kollegien sprich mir nicht!

Erinnert mich nämlich das an die trübseligste Periode meines Lebens, an die, allwo ich die Ratte hatte, als Kollegienleser, vulgo Privatdozent, an unserer alten alma mater mich aufzutun, vulgo zu habilitieren, wissen Sie? Brauche mich dieser jugendlich törichten Schwärmerei nicht zu schämen, denn –

Es irrt der Mensch, solang er strebt ...

und schon diverse Jahrhunderte vor Schiller war es erwiesen, daß

Es gibt im Menschenleben Augenblicke,
Wo man bedeutend dümmer ist als sonst.

Aber die Götter hatten ein Einsehen. Akademischer Brotneid ... gelehrte Kabalen ... Kathederhaarbeutel ... Professorenzopf ... wissen Sie? Wollen kein eminentes Talent, kein jugendlich feuriges Genie neben sich aufkommen lassen, die alten Perückenständer ... wissen wohl auch warum ... hm!«

»Sie wurden nicht zugelassen?«

»Zugelassen? Ganz recht, wurde nicht zugelassen zu der akademischen Brotkrippe und ließ mir das damals dummerweise sehr zu Herzen gehen. War aber kurz resolviert. Sprach mit dem großen Scipio: Ingrata patria! wurde rasend europamüde, schnürte mein Bündel, was nicht viel Zeit wegnahm, und ging über den großen Bach, denn – so sang ich mit Platen –

Denn nach Westen zieht die Weltgeschichte.«

»Wie, Sie waren in Amerika?«

»War ... Sie können Gift darauf nehmen! Was ist's auch Verwunderliches? In zwanzig Jahren wird niemand mehr auf den Namen eines anständigen Menschen Anspruch machen können, wer nicht wenigstens in allen fünf Erdteilen gewesen ist, wissen Sie? Der Fortschritt ist in unserer Zeit ein so rabiater, daß ich, Cyrillus Chrysostomus Theophilus Rumpel noch den Tag zu erleben hoffe, wo ein regelmäßiger Postkurs durch Sonne, Mond und Sterne eröffnet wird.«

»Bleiben wir einstweilen noch auf der Erde. Also Sie waren in Amerika?«

»Und ob!«

»Da haben Sie wohl manches Abenteuer erlebt?«

»Pyramidalisches! ... Trug meinen Weltschmerz, meinen Byronismus, meine Europamüdigkeit tief in die Savannen hinein, in die Urwälder, in den allerwestlichsten Westen ... wissen Sie? War ein Backwoodsman jeder Zoll, ein Trapper comme il faut, ging auf die Büffeljagd, saß am Ratsfeuer der Rothäute, zimmerte mir mit dem Tomahawk eine Blockhütte in des Urwalds schattigstem Schatten ... wissen Sie? O, jene Zeit, wo ich bei Tage mit der Natur auf du und du stand und während der Nächte im ungeheuersten Gefühl der Einsamkeit mit jenem ausgewanderten Dichter, der etwas abseits von mir Hinterwäldlerei trieb, ausrief:

Allein, allein! – Und so will ich genesen?
Allein, allein! – Und dies der Wildnis Segen?
Allein, allein! – O Gott, ein einzig Wesen,
Um dieses Haupt an seine Brust zu legen!«

»Zu jener Zeit,« fragte ich mit der Witzelei eines frisch aus der Provinz kommenden Fuchses, welcher zeigen will, daß dahinten auch Leute wohnen, denen die Belletristik kein böhmisches Dorf sei, »zu jener Zeit haben Sie wohl auch mit Coopers letztem Mohikaner und dessen Freund Lederstrumpf Bekanntschaft gemacht?«

»Nein, hatte nicht die Ehre,« entgegnete der Kandidat, mir humoristisch zublinzelnd, als er bemerkte, daß die Augen des schüchternen und vertrauensvollen Fabian vor Verwunderung immer größer wurden, »nein, hatte wirklich nicht die Ehre. Hielten sich nämlich die von Ihnen erwähnten distinguierten Personen gerade in einer andern Gegend auf ... Ist dieses Amerika so fabelhaft groß, wissen Sie? Hatte übrigens Berührungen mit den Eingebornen genug, angenehme und unangenehme. War da ein Kerl, namens Puk-kau-kik-kak, was zu deutsch bedeutet: die vier Fuchsschwänze – führen wunderliche Namen, diese Rothäute, wissen Sie? Nun ja, besagter Puk-kau-kik-kak, großer Krieger, berühmter Häuptling –«

»Skalpierte Sie?«

»Das nicht, nein,« erwiderte der Kandidat, mit der Hand über seine Glatze fahrend. »Das Vakuum hier rührt nicht vom Skalpiermesser, sondern davon her, daß ich zufällig über meine Haare hinausgewachsen bin. Es war so ein Nachschluß meines Organismus, dem aber nicht mehr alle Teile des letzteren folgen konnten ... unter anderem blieben auch die Haare zurück, wissen Sie? ... Jedennoch, um auf die vier Fuchsschwänze zurückzukommen ... Der Sachem hatte eine allerliebste Tochter, Gli-gla-glo-glu-glauk benamset, was im Deutschen die immergrüne Fichtennadel bedeutet ...«

»Aha, die stach Sie ins Herz?«

»Und wie! O, meine hochzuverehrenden Herren und Freunde, hüten Sie sich vor der Liebe! Was sagt jener berühmte Autor? ... Liebe ist der schmerzlichste Wahnsinn, weil er sich empfindet ... Was sagt ein anderer dito berühmter? ... Liebe ist die größte Narrheit, weil der verliebte Mensch mehr an eine andere als an seine eigene Person denkt ... Ach und weh ...

Infandum, regina, jubes renovare dolorem Unaussprechlichen Schmerz zu erneuen, o Königin, gebeutst du.

In was für Schwulitäten hat mein allzu zärtliches Herz mich gebracht, als es sich an der immergrünen Fichtennadel gespießt hatte! Waren da bei dem Stamme sechs junge Krieger –«

»In Steifleinen.«

»Ah, Sie zitieren Shakespeare? Respekt! Großglockner, Finsteraarhorn, Monterosa, Montblanc, Ararat, Chimborasso, Dhawalagiri unter den Dichtern ... wissen Sie? ... Sir John Falstaff ... inkarnierter Welthumor ... hm! Und da wir gerade bei Sir John sind ... ... Sefele noch eine Flasche Sekt! Junge Leute müssen auch leben – wissen Sie? ... Ja, was wollt' ich sagen? Richtig, besagte neun junge Krieger –«

»In Steifleinen –«

»Nein, entschuldigen Sie, in Büffelfellen. Es ist eine lange und schauerliche Geschichte ... Rothäutige Eifersucht ... barbarische Rachelust ... Bleichgesichtsflucht durch die Prärie ... Pfadfindern ... Umzingelung ... Waldbrand ... endlich Gefangennehmung durch mehr besagte elf –«

»Junge Krieger in Steifleinen oder Büffelfellen –«

»Richtig, war schon an den Pfahl gebunden, um regelrecht gemartert und dann in der Form von indianischen Beefsteaks verschmaust zu werden ... Kannibalismus, wissen Sie?«

»Entsetzlich!«

»Sehr! ... Rettete mich aber ein Genieblitz, wissen Sie? Bewies den Barbaren, daß es gegen alle Grundsätze der Nationalökonomie verstieße, einen so mageren Menschen, wie ich vor Kummer, Sorgen und Ängsten damals einer war, zu verspeisen. Sollten mich doch wenigstens erst volkswirtschaftlich herausfüttern. Genieblitz schlug ein in die waldursprünglichen Schädel ... Qualmoment ging vorüber ... rationelle Herausfütterung begann ... fand aber nicht für gut, das Ende abzuwarten ... ließ mir durch meine Atala, die immergrüne Fichtennadel, bei gelegener Zeit davonhelfen. Glorioses Geschöpf! Meine Herren, auf das Wohl der allerliebsten, unvergeßlichen Gli-gla-glo-glu-glauk!«

»Solche Erfahrungen machten Sie wohl zum Amerikamüden, Herr Kandidat?«

»Ja, und wie! Ist am Ende mit der alten Jungfer Europa doch noch immer am besten auszukommen, wissen Sie? Kehrte heim, amerika-, asien-, afrika- und australienmüde, und duckte mich wieder unter die mütterlichen Flügel unserer alten alma mater, von welcher ich mit dem alten Horaz sage:

Ille terrarum mihi praeter omnes angulus ridet.« Dieser Erdenwinkel heimelt vor allen andern mich an.

»Sie machten noch einen Versuch, die Leiter zum Katheder zu erklimmen?«

»Gott bewahre! ›Die Ideale sind zerronnen‹, singt Schiller und ›Bescheidenheit, das schönste Kleid‹, sagt Christoph Schmid. Als angehender Philosoph war ich ausgezogen, als angegangener kam ich zurück, fest entschlossen, fürder im Lande zu bleiben und mich redlich zu nähren. Tat so und tue so, wissen Sie? indem ich auf den Korpskneipen Privatissima über den ›höheren Blödsinn‹ lese und für dumme Jungen – wissen Sie? welche bei ihrem Abgange von der Universität ein Dr. vor ihren Namen haben wollen, ungeheuer gelehrte Dissertationen schreibe. Will mich auch ihnen zum voraus bestens empfohlen haben.«

»Sehr verbunden,« sagte ich lachend und bemerkte dann, die Andeutung des Kandidaten, daß eine sechste Flasche das Halbdutzend gerade voll machen würde, überhörend, es sei jetzt Zeit, aufzubrechen, wenn wir unsern Bestimmungsort noch vor Einbruch der Nacht erreichen wollten.

»Gut,« sagte Herr Cyrillus Chrysostomus Theophilus Rumpel, »in diesem Falle wollen wir uns gegenseitig mit unserer Begleitung beehren ... Sefele, Goldkind, Hab' acht auf den Roten! Setz' ihn bei Leibe nicht jedem Kamel vor, sondern nur Leuten von Distinktion, wie unsereinem. Hasse es, wenn so ein Stoff durch bildungslose Kehlen rollt ... ist 'ne Sünde, wissen Sie? ... Im übrigen, meine Herren, haben Sie sich Glück zu wünschen, daß Sie in meiner Gesellschaft die Schwelle unserer alma mater beschreiten werden. Neuankommende Füchse werden gern gehänselt. Wenn man Sie aber im Geleit eines der öffentlichen Charaktere unserer Universität ankommen sieht, wird man Sie gehörig respektieren – wissen Sie?«

Drittes Kapitel,

worin kein Beitrag zur »Naturgeschichte des deutschen Studenten« geliefert, wohl aber eine Ketzerei gegen das Dogma, genannt »Komment« begangen und ferner erzählt wird, wie einer die Poetische Masernkrankheit bekam und was ihn davon kurierte.

Schöne Leserin, sei nicht bange für dein Zartgefühl, es soll nicht verletzt werden! Ich beabsichtige keineswegs, die »Naturgeschichte des deutschen Studenten« mit einem neuen Kapitel zu bereichern oder ein Paar alte derselben zu rekapitulieren. Die akademischen Mysterien, welche gerade nicht immer die reinlichsten sind, sollen von mir nicht ans Tageslicht hervorgezerrt werden. Muß ich doch gestehen, daß die Erinnerung an das studentische Kommersieren, Renommieren, Randalieren, Duellieren mir keineswegs so überwältigend groß und schön vorkommt, daß ich mich versucht fühlte, des Breiteren davon zu reden. Ich werde daher über die materielle Seite meines Studententums nur wenige Worte sagen.

Natürlich trug ich schon nach wenigen Tagen eine dreifarbige Schleife an meiner Uhr, zum Zeichen, daß es mir sehr pressierte, die akademischen Gesetze zu umgehen. Ich war angehender »Burschenschafter« und erinnere mich wohl noch des kindlichen Wonnegefühls, womit ich, das verpönte Schwarz-Rot-Gold unter dem Rocke, an dem geieräugigen »Police-Maier«, dem Häuptling der Universitätspolizeimannschaft, vorüberschritt, an dem Verhaßten, der einem die idyllischen Freuden eines honorigen Nachtrandals so unerbittlich verbitterte und der den durchschnittlich so harmlosen Lärm einer Paukerei auf eine Stunde weit hörte. Uns arme Burschenschafter hatte dieser Obersbirre ganz besonders »auf dem Strich«; denn es war damals verboten, sich als Deutscher zu fühlen oder wenigstens diesem Gefühle lauten Ausdruck zu geben.

In der Burschenschaft lebten die Traditionen der Befreiungskriegszeit fort. Ich will damit nicht leugnen, daß aus den Reihen dieser studentischen Patrioten eine Menge von Leuten hervorging, die sich später als die unterwürfigsten Lakaienseelen und die hartgesottensten Bureaukraten manifestierten. Aber trotzdem steht fest, daß zu meiner Zeit vaterländische Anschauungen, eine edlere Ansicht vom Leben, ein ideales Bewußtsein, eine jugendfrische Begeisterung in der Burschenschaft weit mehr gepflegt wurden als in den landsmannschaftlichen Korps, deren ganzes Dichten und Trachten in den hergebrachten Äußerlichkeiten eines Studententums aufging, dessen Formen nur allzu deutlich an eine barbarische Vergangenheit erinnerten.

Nun, ich entrichtete meinem Alter den gebührenden Zoll, indem ich diese innerlichst leeren und hohlen Formen redlich mitmachte. Ich kommersierte, explenierte, suitisierte, randalierte, ritt, fuhr, kontrahierte, paukte wie die andern auch. Ein Hund – Pudel natürlich – durfte mir ebenfalls nicht fehlen, und ich hatte die stolze Genugtuung, daß derselbe unter dem Namen Hannikel seiner künstlerischen Ausbildung wegen in allen Kneipen berühmt, seiner unausrottbaren Diebesgelüste wegen in allen Küchen der Stadt tödlich gehaßt war.

Beim Rückblick auf meine akademische Laufbahn kommt es mir sehr verwundersam vor, daß die studentische Jugend, deren ganzes Streben nicht so fast auf Freiheit als vielmehr auf totale Willkür der Individualität geht, sich dennoch knechtisch unter jenes abenteuerliche, Komment betitelte Gesetzbuch duckt, welches darauf Anspruch macht, der Kodex eines übrigens ganz abstrakten und, bei Licht betrachtet, inhaltslosen Ehrenbegriffes zu sein, aber in Wahrheit nur ein wunderliches Sammelsurium von Unsinn und Brutalität ist. Ich finde es ganz in der Ordnung oder vielmehr ich kann es mir leicht erklären, daß die fanatischen Anhänger dieser studentischen Konstitution zuletzt, der hohlen Kommentromantik müde, in völlige Erschlaffung versinken und einer nihilistischen Bummelei anheimfallen, welche zwischen Selbstpersiflage und Blödsinn schwankt. Wie oft habe ich bemooste Häupter mit schlaffen Zügen und roten Nasen, die glücklich auf dem bezeichneten Standpunkte angelangt waren, jenes berühmte Bummlerlied singen hören, das unter anderen gleich kostbaren Strophen auch diese enthält:

Wann das Feuer mit dem Wasser,
König Saul und Salmanasser
In der Luft um Sechser fletscht
Und der faule Lazzarone
Aus vertrockneter Zitrone
Tausend Burschenbänder quetscht –
Dann Ade, Ade, Ade,
Dann Ade, Ade, Ade,
Dann Ade, Schatz lebe wohl!

Weiß der Himmel, ich ließ es nicht an Bemühung fehlen, »das Kalb auszutreiben«. Aber ein gewisser mir angeborener Reinlichkeitssinn, um nicht zu sagen Idealismus, sowie die Freundschaft Fabians verhinderten, daß ich mir dabei die Schuhe allzusehr beschmutzte. Der arme Fabian mußte zwar in dem halbklösterlichen Zwinger des theologischen Konvikts leben und konnte so von der akademischen Freiheit und Herrlichkeit nicht sehr viel abbekommen; aber ich ließ es mir doch angelegen sein, in lebhafter Verbindung mit ihm zu bleiben, und sein stiller Einfluß ließ mich nie ganz vergessen, daß ich doch eigentlich »studierenshalber« auf der Universität sei.

Ich studierte auch wirklich, wenigstens zeitweise. Fabians Zureden und Beispiel brachte mich dazu, die philosophischen und theologischen Disziplinen mit Ernst anzugreifen. Allein je mehr ich mich bemühte, in dieselben einzudringen, desto lebhafter wurde in mir das Gefühl, daß ich zum Gelehrten und Theologen nicht das Zeug habe. Schon der Gedanke, ein Büchermensch zu werden, erschreckte mich, und wenn Fabian mir von dem Glücke redete, dereinst auf einer stillen Landpfarre den Musen und einem stillbegnügten, harmlosen Genuß des Daseins zu leben, schnitt ich wohl seine Bemerkungen mit dem Ausruf ab: »Ach, geh mir! Ich möchte lieber Spektakel machen und alles kurz und klein schlagen!«

Fabian war eine jener glücklich organisierten Naturen, in welchen die Woge der Leidenschaft zwar manchmal auch aufschäumte, aber nie, ohne daß sich fast augenblicklich das Öl von früh an gewohnter Resignation besänftigend darauf gösse. Ich wußte, er liebte meine Schwester mit der ganzen Innigkeit seiner Seele, ich sah, wie seine stillen, sanften Augen aufleuchteten, wenn ich ihm Grüße von Hildegard überbrachte, aber der Hoffnung hatte er schon entsagt, und nie mehr seit jenem gewaltsamen Ausbruch seiner Gefühle an der Breunighalde hatte er seine Empfindungen laut werden lassen.

Seltsam, Fabian wirkte auch in dieser Richtung so wohltätig auf mein leidenschaftliches Gemüt, daß ich ohne allzu große Aufregung erfuhr, Isolde sei, von Hildegard begleitet, wirklich nach der Residenz abgereist. In dem Brief, in welchem der Vater mir diese Neuigkeit mitteilte, verpflichtete er mich, während des Aufenthalts Isoldes in der Residenz diese nicht zu besuchen. Ich gehorchte, wenn auch seufzend, und mein Gehorsam wurde dadurch belohnt, daß mir der Vater die Mittel zur Verfügung stellte, in den Osterferien eine Reise nach Norddeutschland und in den Herbstferien eine Schweizerreise machen zu können.

In Erwartung dieser Genüsse tröstete ich mich damit, daß mir Hildegard aus der Hauptstadt schrieb, Isolde rede täglich von mir und gefalle sich so wenig in dem residenzlichen Treiben, daß sie ihren Vater dringend anliege, sie nach Rothenfluh zurückzurufen. In einem weiteren Schreiben Hildegards war sehr viel von Berthold die Rede, der jetzt Offizier geworden sei. Die Äußerungen meiner Schwester waren aber so verworren, daß sie mir erst klarer wurden, als zur gleichen Zeit der Vater in einem Briefe die Äußerung hinwarf, der gute Freiherr sei oft sehr verstimmt; er habe Kummer, denn sein Sohn in der Residenz scheine auf bedenkliche Abwege geraten zu sein. In einer Nachschrift empfahl mir der Vater lebhaft neben meinen übrigen Studien meine Weiterbildung in den modernen Sprachen, selbst das »widerwärtige Genäsel«, das Französische, nicht ausgenommen, ja nicht zu vernachlässigen. Man könne nicht wissen, wozu das noch gut sei, und abgesehen davon, müsse mir es ja Vergnügen machen, die großen Autoren der Fremde in ihrer eigenen Sprache lesen zu können.

Weil ich nun, ein gehorsamer Sohn, soviele ausländische Poeten las – daß ich die einheimischen las, versteht sich von selbst – und weil mir daneben Rhythmus und Reim ziemlich leicht von der Hand gingen, kam ich auf den wunderlichen Einfall, selber ein Poet zu sein. Nun, wer hat sich das in den Jahren zwischen achtzehn und zweiundzwanzig nicht eingebildet? Genug, ich machte Verse in allen Metren und Tonarten, verübte ein furchtbares Schauertrauerspiel, und da ein anständiger Dichter doch nicht bloß Lyriker und Dramatiker sein kann, fing ich ein heroisches Epos in Nibelungenstrophen und ein komisches in Ottave rime an. Alle diese klassischen Produkte schrieb ich mit vielem Behagen recht nett ins Reine und hatte dann eine rührende Freude daran. Hielt auch noch extra ein poetisches Tagebuch, um es dem Petrarka gleichzutun, und ich erinnere mich, daß das hundertmal variierte Schlußterzett meiner Sonette die immer wiederkehrenden Reime hatte: »Isolde – Haar von Golde – einzig Holde.«

Der Herr Kandidat Rumpel, welcher nicht zum Vorteil meiner Finanzen meine Gesellschaft häufig suchte, pries mit Emphase meinen dichterischen Genius. Sogar die Vorlesung meines Trauerspiels stand er aus, freilich bei einem hinlänglichen Vorrat von Wein, und schrie am Ende zustimmend: »Kolossale Tragödia! Sie übermüllnern den Müllner, überhouwalden den Houwald, und der Werner muß vor Ihnen Pech geben. Das heißt in der Tat den ›Gründlingen des Parterre‹ – wissen Sie? – mit schaudererweckendem Gedonner an die Tränendrüsen schlagen. Ganz äschyleisch, ganz shakespearisch, ganz! Ich prophezeie Ihrer Schöpfung mit dem alten Horaz:

........ Hic liber mare transit
Et longum noto scriptori prorogat aevum.
Der Ruf dieses Werkes wird meerüber dringen und seinem Verfasser langdauernden Ruhm bringen.

Zwar könnte ein Kritiker von der gewöhnlichen Sorte gegen Ihr Poem den ledernen Einwand erheben, von Rechts wegen müßten selbst in dem traurigsten Trauerspiel von den Personen immer noch eine oder zwei übrigbleiben, um die andern zu begraben; ich aber verachte mit Ihnen derartige philiströse Utilitätsprinzipien. Sie verstehen aufzuräumen, ja, beim Jupiter. Vielleicht könnten Sie es noch nachträglich so einrichten, daß ganz zuletzt auch noch der Souffleur auf irgend eine erschütternde Art die Spitze der auf der Bühne getürmten Leichenpyramide abgäbe – wissen Sie? Doch kurz und gut, Ihre Tragödia ist klassisch durch und durch, kolossal, pyramidal lapidarisch!«

Freilich war ich nicht einfältig genug, den handgreiflichen Spott in dieser Huldigung nicht zu merken, aber doch einfältig genug, Rumpels Zustimmung höher zu schätzen als die verständigen Bemerkungen, welche Fabian über meine Dichterei machte. Er war augenscheinlich nicht sehr erbaut davon, da er ein feines Gefühl für das Ursprüngliche und Schöne besaß, und riet mir, wahrscheinlich um mich von meiner Reimwut zu kurieren, ich möchte meine Gedichte doch einmal dem berühmten Ästhetiker von der Hegelschen Schule, welcher an unserer Universität las und dessen Kollegien ich frequentierte, zur Beurteilung vorlegen. Gut, dachte ich, du sollst schon sehen, Fabiane! und reichte schon folgenden Tages ein ungeheuer dickes Paket voll Unsterblichkeitshoffnungen bei dem Professor ein. »Nun,« fragte mich nach einiger Zeit der Fabian, »was hat er gesagt?« – »Nichts,« erwiderte ich brummend. Der Fabian sagte dann auch nichts mehr, weil er mich nicht wilde machen wollte.

In der Tat, der geistvolle Professor hatte nichts gesagt. Das dicke Paket war wohlversiegelt wieder zurückgekommen, ohne ein aufmunterndes oder ein verwerfendes Urteil zu enthalten.

Fortan machte ich keine Verse mehr. Was die schon gemachten betraf, so verbrannte ich sie nicht, denn bekanntlich würde sich ein Poet, sei es ein wirklicher oder ein bloß eingebildeter, lieber die Nase abbeißen, als die Kindlein seiner Phantasie dem Feuer opfern; aber ich schob sie in einen Winkel und hinterließ sie bei meinem Abgange von der Universität großmütig meinem Hausphilister, einem Viktualienkrämer, zu beliebigem Gebrauch. Als mich später wieder einmal mein Weg durch die Universitätsstadt führte und ich in einem öffentlichen Garten ein Glas Bier trank, wehte mir der Wind von einem der benachbarten Tische ein Blatt Papier vor die Füße, in welches ein ehrsamer Bürger den Käse gewickelt hatte, den er zu seinem Vespertrunk aß. Als mein Blick mechanisch auf das Papier am Boden fiel, erkannte ich auf dem so schnöde mißbrauchten meine eigenen Schriftzüge, ja sogar die ewigen Reime: »Haar von Golde – Isolde – einzig Holde« – und wehmütig sprach ich mit Schillers Thekla: »Das ist das Los des Schönen auf der Erde«. Ich hoffe, der geneigte Leser, welcher ja wohl auch einmal Verse gemacht hat oder gar noch jetzt macht, werde mir diese Wehmut zugute halten.

Ich machte also keine Verse mehr. Aber die Liebe zur Poesie ließ ich mir durch die Erkenntnis, daß ich selber kein Poet sei, nicht verleiden, und wohl mir, daß ich es nicht tat. Diese Liebe ist ein großer Segen meines Lebens geworden, ein Trost in Leiden und Mühen, eine nie versagende Erfrischung der Seele. Es ist der Fluch der modernsten Erziehung, daß ihr bronzestirniger und mühlsteinherziger Materialismus mit bleierner Hand den Schmetterlingsflügelstaub der Poesie von den Schwingen der Kinderseelen wischt. Daher diese Generation von egoistischen Einmaleins-Menschen, welche jetzt heranwachsen und das ganze Leben zu einem grauenhaft öden Rechenexempel zu machen drohen. Der Engländer Dickens hat mit der ganzen ätzenden Schärfe seines Humors in der Figur des Mr. Gradgrind diesen unheilvollen Materialismus gebrandmarkt. Ach, bereits wimmelt es überall von solchen Gradgrinden, und traurige Vorzeichen deuten auf eine bevorstehende Götterdämmerung für die Welt der Schönheit. Doch getrost, die Edda prophezeit ja, daß aus dem Schutt Ragnaröks eine neue Welt emporgrünen werde, jugendlich schön und hold und heiter.

Viertes Kapitel

Keine Reisenovelle, aber doch eine Reisenovellette.

Wäre ich noch jung, wollte ich versuchen, hier einige Reisenovellen zu liefern, wie sie Mode waren zur Zeit, wo ich meine Studentenfahrten durch Deutschland und die Schweiz machte. Heutzutage, wo der Dampf die ungeheuersten Entfernungen zusammenschrumpfen läßt, wo demnach jeder reist oder gereist ist und wo sogar »Reisebilder«, aufgenommen auf einer Reise um die Erde, nur noch flüchtige Neugier erregen, ist das ganze Fach der Reisenovellistik Rokoko geworden. Ich behellige daher den Leser nicht ausführlich mit den kleinen Abenteuern eines »fahrenden Schülers« und mit den großen Gefühlen, welche mich überkamen, als ich auf Helgolands roter Klippe und auf der Kuppe des Faulhorns stand. Auch nicht mit den Ärgernissen des Zusammenstoßens meiner süddeutschen Viereckigkeit mit der norddeutschen Pfiffigkeit, noch endlich mit dem Hunger und dem Durst, welchen ich in der Metropole der deutschen Intelligenz an der Spree ausstand.

Heil dir, Hamburg, mit deinem gemütreichen Rostbraten und deinem soliden Rotwein! Es war nicht Mitleid, was mich nachmals mein Scherflein in deine Brandbettelbüchse werfen ließ, bewahre, sondern es war innigstes Dankgefühl, es war die Erinnerung an jene Stunde, wo ich mich in deinen gesegneten Mauern, frisch oder vielmehr sehr matt von Berlin gekommen, nach mehreren Wochen zum erstenmal wieder recht satt aß. So etwas vergißt ein fühlendes Gemüt nicht, so wenig, als ein Binnenmensch aus dem Süden Deutschlands je den Moment vergißt, wo er bei Kuxhaven zum erstenmal das Meer sah, oder auch den Moment, wo er, etliche Seemeilen über Kuxhaven draußen, zum erstenmal mit jener Dame aus Helheim, genannt Seekrankheit, Bekanntschaft machte.

Was die Schweiz angeht, an diesem Orte nur dieses: eine Fahrt in einer Vollmondnacht auf dem Vierwaldstätter See zwischen Brunnen und dem Rütli, ein Sonnenaufgang auf dem Rigikulm, ein Sonnenuntergang auf der Wengernalp, ein Gang bei blauem Himmel über die zwischen den gloriosen Kolossen Finsteraarhorn, Lauteraarhorn, Schreckhorn und Wetterhorn gelagerten Gletschermassen, ein Blick in den Handeckschlund, wenn die Sonne im Zenit steht – das gehört mit zu dem Besten, was der Mensch überhaupt erleben kann.

So eine Alpenwanderung macht einem die Seele weit, licht und gesund. Das kleine Ich mit seinen wahren oder eingebildeten Schmerzen kann gegen die großen Eindrücke der Natur, die in schöpferischem Spiele zu dem Erhabensten das Lieblichste gesellt, nicht standhalten. Auch ich erfuhr das. Beim Beginne meiner Reise war meine Stimmung sehr werterisch gewesen, denn allfort mußt' ich daran denken, daß jetzt die Zeit gekommen sei, wo Isolde mit dem Grafen Zackstein sich verloben sollte. Der Gedanke wuchtete schwer auf mir. Aber droben in der Region, wo die Gletscherbäche singen, wurde die Last leichter und immer leichter. Und dann hatte ich auch ein kleines Abenteuer, dessen ich hier doch erwähnen muß.

Als ich das Haslital herab nach Meiringen kam, wimmelte das Gasthaus zum wilden Mann, wo ich einkehrte, nicht allein von jenen reisenden Teekesseln, welche »englisch lispeln«, sondern auch von einer ganzen Schar allerliebster Jüngferchen, den Mitgliedern eines Mädchenpensionats aus dem »Welschland«. Das flatterte und flüsterte die Treppen auf und ab wie eine verstörte Taubenschar, um nicht zu sagen, wie eine verstörte Hühnergemeinde. Der Herr Institutsdirekter, ein kurzer, dicker Mann mit einer ungeheuren bis zu den Ohren hinaufreichenden weißen Halsbinde, und die Frau Direktrice, eine lange, magere Dame, in deren ältliche Züge die pädagogische Essigsäure eingefroren war, verhandelten eifrig mit dem Wirt, wobei der dicke, kurze Herr eine wahrhaft zappelnde Unruhe an den Tag legte, während die Dame eine majestätische Fassung bewies.

Bei dieser Gelegenheit rechtfertigte sich zuerst meines Vaters Meinung, daß die Kenntnis des französischen »Genäsels« doch auch zu etwas gut sei, denn ich erfuhr dadurch, daß Monsieur le directeur und Madame la directrice in großen Sorgen seien um eins ihrer Pensionatsvögelchen, welches sich zwischen Thun und Meiringen unbegreiflicherweise von der wohlgehüteten Schar verloren habe. Bereits waren Boten nach verschiedenen Richtungen ausgesandt wurden, aber keinem derselben war es gelungen, die verflatterte »Demoiselle Julie« aufzufinden und unter die mütterlichen Fittiche von Madame zurückzubringen. Mit verschiedenen schweren Seufzern setzte sich endlich der Mann mit der weißen Halsbinde zum Abendessen, »Es hat nicht viel zu bedeuten, mon cher,« hörte ich seine majestätische Gattin zu ihm sagen – »es ist nur wieder einer der gewöhnlichen wilden Hummelsstreiche des Mädchens.«

Ich dachte nicht mehr an diese Geschichte, als ich folgenden Tages von Meiringen nach Brienz schlenderte und von da über den See zum Gießbach hinüberfuhr. Aber die Verflatterung des Pensionatsvogels kam mir wieder zu Sinne, als ich, an den prächtigen Wasserfällen hinaufgehend, auf dem Steg, welcher über einem der oberen hängt, ein junges Mädchen stehen sah, das mir, als ich den Steg betrat, aus schwarzen Augen voll Feuers einen forschenden Blick entgegensandte.

Die junge Dame trug ihren eleganten Reiseanzug mit einer Art koketter Lässigkeit. In der Linken hielt sie eine kleine Reisetasche mit zierlicher Stickerei, und mit der Rechten stützte sie sich leicht auf einen langen Alpstock. Unter einem braunen Strohhut mit breitem Rande ringelte sich reiches, lichtbraunes Haar, zu welchem dunkle, kühngeschwungene Brauen einen reizenden Gegensatz bildeten, auf Nacken und Schultern nieder. Die Gesichtszüge waren fein und regelmäßig, nur stimmte der etwas zu große Mund nicht ganz zu ihnen. Aber die aufgeworfenen Lippen blühten in einem Rot, welches dem Feuer der Augen entsprach. Hielt man dazu noch die Formen der mittelgroßen, beweglichen Gestalt, Formen, welche die Backfischeckigkeit schon vollständig überwunden hatten und zu blühender fast üppiger Rundung gediehen waren, so bekam man den Eindruck schöner Sinnlichkeit.

Ich gestehe, dieser Eindruck auf mich war ein bedeutender, fast heftiger. Zu jener Stunde hab' ich nicht an Isolde gedacht.

»Das ist sehr schön!« sagte ich, höflich meinen Schlapphut lüftend und in die silbernen Strudel niederblickend.

»Sehr schön,« erwiderte das Dämchen, einen Schritt weiter von mir wegrückend und mich abermals unter ihrem Hute hervor von oben bis unten musternd.

»Ich habe wohl die Ehre, mit Fräulein Julie zu sprechen?« fragte ich, entschlossen, ein Gespräch mit der einsamen Schönen anzuknüpfen.

»Mit Fräulein Julie?« entgegnete sie, mit leichtem Schrecken noch einen Schritt zurückweichend.

»Ja,« sagte ich, »aber mein Fräulein, ich befasse mich gar nicht damit, entflogene Vögel einzufangen.«

Sie lachte fröhlich und kam wieder einen Schritt näher. Das Rauschen des Wasserfalls ließ es ja nicht zu, daß man sich aus der Ferne unterhielt.

»Ah,« sagte sie, »Sie sind unserer Herde von Lämmchen begegnet, mein Herr, und der alten Schäferin und dem dicken Schäfer –«

»Dessen ungeheuerliche weiße Halsbinde jetzt mit Tränen um das verlorene Lämmchen benetzt sein mag.«

»Tut nichts, das erspart ihr eine Wäsche. Übrigens, da Sie kein Vogelfänger sind, so kann ich Ihnen schon sagen, daß ich der entflohene Vogel bin. Es war gar zu langweilig, dieses reisende Pensionat. Bei jeder schönen Stelle las uns Monsieur den betreffenden Abschnitt aus dem Guide vor und sprach Madame ein langes Gebet. Es war wirklich zu ennuyant. Ich muß ohnehin noch einen ganzen schrecklichen Winter all den Pensionatsschnickschnack mitmachen.«

»Das bedaure ich, mein Fräulein.«

»Da haben Sie recht. Es ist abscheulich. Aber wenn man einmal aus dem langweiligen Nest heraus und in den Bergen und noch dazu sechzehn Jahre alt ist, so mag man sich doch nicht mehr wie ein Küchlein von der Gluckhenne herumführen lassen. So eine Bemutterung ist unausstehlich.«

»Allerdings! Aber ich finde diese Bemutterung doch höchst preiswürdig.«

»Wie, mein Herr?«

»Ja, mein Fräulein. Wäre besagte Gluckhennenschaft nicht vorhanden gewesen, hätten Sie keinen Überdruß daran empfinden können. Hätten Sie keinen Überdruß empfunden, wären Sie nicht entflogen. Wären Sie nicht entflogen, hätte ich nicht das Glück gehabt, Ihre Bekanntschaft zu machen – quod erat demonstrandum. Sie werden zugeben, daß das eine tadellos logische Schlußfolgerung ist.«

Sie lachte wieder und fragte:

»Sie sind wohl Student, mein Herr?«

Ich bejahte und war froh, daß sie nicht nach der Fakultät fragte, denn ich fürchte, ich hätte meine Priesterschaft in spe schmählich verleugnet.

Fräulein Julie sah mich wieder forschend an, und mir kam vor, als würden ihre schwarzen Augen immer größer und feuerwerfender. Ihre Miene war auch gar keine mißfällige – unter uns, lieber Leser, es tut das meiner Eitelkeit noch jetzt wohl – als sie dann sagte:

»Darf ich wissen, mein Herr, wohin Sie vom Gießbach aus Ihren Alpstock setzen werden?«

»Nach dem Faulhorn zu, wenn es Ihnen so recht ist, Fräulein.«

»Wenn es mir recht ist? Wie galant! Aber in der Tat, es ist mir recht, ich will auch nach dem Faulhorn.«

»Glückauf, und gesegnet sei mir dieser Tag! Aber, mein Fräulein, man sagte mir in Brienz, der Weg vom Gießbach da hinauf sei im einzelnen nicht ganz ungefährlich und im ganzen sehr beschwerlich.«

»Was tut das? Ich will einmal auf das Faulhorn, und gerade hier will ich hinauf. Weil der alte Puter, der statt des roten ein weißes Halstuch trägt, und die alte fromme Gluckhenne mit ihren Küchlein durchaus nicht auf das Faulhorn wollten, hauptsächlich deshalb hab' ich mich in Interlaken von der Herde verloren und bin über Bönnigen und Iseltwald hierher gekommen.«

»Aber der beschwerliche und gefährliche Weg?«

»Fürchten Sie sich davor?«

»Ich? Bah! Das heißt, ich fürchte mich doch davor – um Ihretwillen.«

»O, das können Sie sich ersparen. Ich weiß nicht, was Schwindel ist, und bin sehr gut zu Fuß.«

Wie sie das sagte, kam, wie zur Bekräftigung, ein allerliebstes Füßchen unter dem Saum ihres Kleides hervor. Dasselbe sah zwar in seinem merkwürdig schmalen Zeugstiefelchen nicht sehr bergpfadmäßig aus, aber – es war allerliebst. Während ich mir darüber allerlei wunderliche Gedanken machte, sagte Fräulein Julie:

»Ich begreife gar nicht, warum ich nicht schon vor acht oder zehn Tagen dem reisenden Pensionat entsprungen bin. Es wandert sich so angenehm einsam –«

»Aber doch noch angenehmer zweisam.«

»Meinen Sie? Hm, da kommt es doch wohl darauf an, wer mit einem geht. Lassen Sie mich, bevor ich mich entschließe, zweisam da hinaufzugehen, Ihnen doch einmal recht ins Auge sehen.«

»Kurioser Einfall,« dachte ich. Wäre ich damals schon so alt gewesen, wie ich jetzt bin, würde ich das Gebaren von Fräulein Julie für ein sechzehnjähriges Mädchen vielleicht etwas zu – wie soll ich sagen? – etwas zu emanzipiert gefunden haben. Da ich aber selber noch ein ziemlich naiver Bursch war, hatte ich wohl das Recht, es kostbar naiv zu finden. Isolde freilich würde – aber ich dachte ja damals nicht an Isolde.

Als mir Fräulein Julie recht ins Auge sehen wollte, ging sie schon vor mir her, den steilen, schmalen, feuchten Pfad durch das Ahorngesträuch hinauf.

Sie blieb jetzt stehen und kehrte sich um, und da ich etwas tiefer stand, befand sich ihr Gesicht mit dem meinigen in gleicher Linie.

So sah sie mich ein paar Sekunden an, während die verführendste Schelmerei in ihren Mundwinkeln kicherte und ihre halbgeöffneten Lippen kaum eine Spanne weit von den meinigen so verlockend rot blühten.

Seltsam, in diesem kritischen Augenblick fiel mir plötzlich ein, irgendwo von einer Schönen gelesen zu haben, sie habe einen falschen Zug um den Mund gehabt, etwas wie den Schatten des Schwänzleins einer forthuschenden Eidechse.

Das war doch ein recht dummer Eidechsengedanke. Er ging aber so schnell, wie er gekommen.

»Nun,« sagte Fräulein Julie, »ich denke, ich kann mit Ihnen zweisam nach dem Faulhorn gehen.«

So sprechend, tippte sie mir mit dem Zeigefinger ihrer Rechten, von welcher sie den Handschuh gezogen, leicht auf die Schulter und wandte sich zum Weitergehen.

Aber in diesem Augenblick wich ihr ein loser Stein unter dem Fuße, sie glitt aus und wankte, und ich – nun, bei allen Göttern! ich wäre kein flotter Student, sondern ein Tropf gewesen, wenn ich nicht, indem ich sie vor den Folgen dieses kleinen Unfalls bewahrte, meinen Arm um ihren Leib geschlungen und ihr bei dieser Gelegenheit einen Kuß geraubt hätte.

Denke ich jetzt an diesen Kuß zurück, will mir fast scheinen, daß Fräulein Julies rote Lippen schon gewußt hätten, was Küssen sei.

Sie fuhr zurück, aber nicht zu jach und heftig, schlug mir mit dem Handschuh auf den Mund, aber so, daß es gar nicht weh tat, und sagte lachend:

»Ich sehe, wenn man zweisam geht, muß man sich vor den losen Steinen sehr in acht nehmen.«

»O, gar nicht!«

»Doch, doch .... und .... wissen Sie denn nicht, daß man den Bergführern ihren Lohn erst auszahlt, wenn sie einen glücklich an Ort und Stelle gebracht haben?«

Der Hut war ihr in den Nacken geglitten, ein Sonnenstrahl fiel durch die Ahornblätter auf ihr gerötetes Gesicht – es war reizend!

»Ich will ein treuer Führer sein, Fräulein Julie,« sagte ich.

»Das wollen wir sehen,« versetzte sie, elastischen Schrittes bergan steigend.

Nach einer Weile sagte sie, mir über die Schultern einen raschen Blick zurückwerfend, der gar nicht böse war:

»Ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen. Wie heißen Sie doch?«

»Michel Hellmuth.«

»Hellmuth? Nun, an Mut scheint es Ihnen gerade nicht zu fehlen. Aber wie kommen Sie denn zu so einem – so einem populären Vornamen?«

»Mein Vater gab mir denselben, und er bildet sich viel darauf ein. Sie müssen wissen, Michel bedeutet nach seiner Meinung der Starke.«

»Nun, da kann man sich den Namen schon gefallen lassen. Aber darf ich fragen – doch nein, wissen Sie was? Wir wollen uns gar nicht gegenseitig weiter ausfragen. Wir sind ja nicht zwei alte Tanten. Unsere Bekanntschaft, die doch nur eine flüchtige sein wird, behält so die romantische Beleuchtung, in welcher sie mir erscheint. Man muß dem Augenblick zu leben verstehen. Oder nicht?«

»Gewiß, aber ich wünsche, der Augenblick währte eine Ewigkeit.«

»Schmeicheln Sie? Das sollte ein Michel, das heißt ein Starker, nicht tun.«

»Ich schmeichle nicht. Aber wenn ich Sie so vor mir herschweben sehe, möchte ich –«

»Was?«

»Daß alle die Steine da auf unserem Wege recht lose wären.«

»Gott tröste Sie!«

»Ich wollte lieber, es tröstete mich eine gewisse Göttin.«

»Wirklich? Sehen Sie, wär' ich nun eine alte Jungfer, so müßte ich tun, als verstände ich Sie nicht. So aber sage ich nur, daß ich mythologische Komplimente sehr du mauvais goût finde. Also keines mehr von dieser Sorte oder noch besser, überhaupt keines mehr. Ich bin froh, daß mir einmal für ein paar Tage alle die langweiligen Schnörkel der Konvenienz aus den Augen sind. Mir ist froh und frei zumute. Ich bin ganz glücklich, und was mein Vergnügen erhöht, ist, daran zu denken, was Madame la poussinière dazu sagen würde, wenn sie wüßte, daß ich zu dieser Stunde nicht einsam, sondern vielmehr zweisam auf das Faulhorn steige. Ciel! was würde das für ein Augenverdrehen geben, wenn sie gar wüßte –«

»Was für lose Steine es auf dem Wege zum Faulhorn gibt?«

»Ja, und was für lose Studenten, die den gefährlichen Namen Michel führen und –«

»Und?«

»Nicht schüchterner sind, als sie sein sollten.«

So plauderten wir vergnüglich, und der schöne Frühherbstnachmittag verging mir wie im Traum. An den gefährlichen Stellen des Weges verschmähte Fräulein Julie meinen stützenden Arm nicht, und ich hatte sogar die Ehre, ihre anmutige Last über eine breite Runse, in welcher ein wildes Bergwasser schäumte, hinwegzutragen. Da ich mich selbst bei dieser verführerischen Partie bescheiden benahm, wurde die junge Schöne ganz zutraulich, und so kamen wir als die besten Freunde von der Welt auf der berühmten Bergkuppe an, gerade noch zeitig genug, um das glorreiche Schauspiel mit anzusehen, wie die untergehende Sonne ihren Purpur über die Schneekolosse des Berner Oberlandes hinströmte.

Am folgenden Morgen hatte ich die Ehre, Fräulein Julie zum prächtigen Gletscher von Rosenlaui hinab und von da weiter nach Grindelwald zu begleiten. Am dritten Tage stiegen wir mitsammen die Berghänge zur Wengernalp hinauf. Fräulein Julie war voll Scherz und Lachen, voll Witz und Mutwillen. Ob auch mehr oder weniger Koketterie mit unterlief? Ich weiß es nicht; aber was ich weiß, ist, daß es sich sehr angenehm in dieser Gesellschaft reiste – sehr!

Wir hatten den Bergkamm erreicht, welcher das Grindelwaldner Talgebiet von dem Lauterbrunner scheidet und deshalb auch den passenden Namen Scheideck führt. Dort, vom Fuße der riesigen Felspyramide des Eigers aus, erblickst du plötzlich die Jungfrau in der ganzen Herrlichkeit ihrer unvergleichlichen Formen. Der Mönch steht düster daneben – der arme Bursch! Er kann nicht über die eisige Kluft hinüber, die ihn von der Spröden trennt, und die Lawinen, welche von dem Haupte der Riesenjungfrau über ihren blendenden Busen herabrollen, klingen wie wildes Hohngelächter.

Fräulein Julie wollte diese Metapher nicht ganz gelten lassen.

»Die Lawinen erscheinen mir gar nicht so lächerlich,« sagte sie, »und ich ziehe es vor, dieselben für Tränenströme zu halten, welche die arme Jungfrau vergießt, aus Verdruß über die mönchische Unbehilflichkeit und Unbeweglichkeit ihres Freiers.«

Ich hatte keine Zeit, das Dilemma zu untersuchen, ob diese Bemerkung wörtlich auf Mönch und Jungfrau zu beziehen oder aber parabolisch zu nehmen sei, denn im nämlichen Augenblick rief meine schöne Reisegefährtin aus:

» Mon Dieu, sehen Sie da unten das bunte Gewimmel von Strohhüten und Perkalkleidern? Es ist die Gluckhenne mit ihrem Puter und allen den frommen Küchlein – o Schmerz!«

Wir waren nämlich schon eine gute Strecke die Alm abwärts gegangen, welche sich bis zu dem Trümletental am Fuße der Jungfrau hinabzieht. Ungefähr in der Mitte der sanftgelegenen, welligen Fläche liegt das Gasthaus zur Wengernalp, in dessen Räumen die Sommermonate über tagtäglich alle Sprachen Europas ertönen. Auf der Matte vor dem Hause waren Scharen von Reisenden, Führern und Pferden gelagert; aber sehr abseits von den anderen erblickte man ein dicht zusammengedrängtes frauenzimmerliches Häuflein, welches in der Tat schon von weitem einem reisenden Mädchenpensionat sehr ähnelte.

»Wollen wir umkehren, Fräulein?« fragte ich.

»Ah, Sie sind also meiner Gesellschaft noch nicht müde?« entgegnete sie.

»Ach nein!«

»Wie schmachtend Sie das sagen! Bitte, keine Sentimentalität! Das empfindsame Wesen ist mir zuwider. Lassen Sie uns so munter scheiden, wie wir zusammen gereist sind.«

»Aber müssen wir denn schon scheiden?«

»Ja. Ich habe nun drei Tage in der Freiheit gelebt und will mir einstweilen daran genügen lassen. Aller guten Dinge sind drei, wie Sie wissen. Aber tun Sie mir den Gefallen und erzählen Sie dem Puter irgend eine gute Schnurre, welche unser Beisammensein erklären soll – nicht zu meiner Entschuldigung, ich bedarf keiner solchen – aber zum Ärger der Gluckhenne.«

»Gut, ich will mein Möglichstes tun; aber –«

»Was aber?«

»Der mir in Aussicht gestellte Führerlohn –«

»Garstiger Egoist!«

Der Blick, welcher dieses Scheltwort begleitete, hob seine Wirkung auf. Zudem war keine Zeit zu verlieren – wir befanden uns gerade in einer schmalen, von einem Bache durchströmten Eintiefung des Terrains – sozusagen, für einen Augenblick von der Welt abgeschlossen – ich war auch weder so unbeweglich noch so unbehilflich wie der Mönch da drüben und – kurz, ich erhielt meinen Führersold in zwei Küssen ausbezahlt, die nicht gerade als geraubte qualifiziert werden konnten.

Julie schien für einen Moment fast weich zu werden.

»Sehen Sie,« sagte sie, indem ihre schone Hand, welche ich an mein Herz gezogen hatte, den Druck der meinigen erwiderte, »sehen Sie, mein Freund, Berge kommen nicht zusammen, wohl aber Menschen –«

»Und Menschenlippen, ja ... und aller guten Dinge sind drei, wie Sie wissen.«

Ich zog sie an mich, und sie schlang ihre Arme um meinen Nacken und küßte mich lang und heiß.

Dann trat sie zurück, strich sich die Locken aus der Stirne, band ihren Hut fest, nahm ihren Alpstock auf und schritt den Rain hinan mit den Worten:

»So, jetzt tapfer dem Feind entgegen!«

Einige Minuten später schallte uns die Matte herauf in allen möglichen Backfischtonarten der Ruf entgegen: »Demoiselle Julie! Demoiselle Julie!« und hinterdrein kam das dünne »Mon Dieu!« von Madame und das dicke »Mais – mais« von Monsieur.

Dieses Reiseabenteuer sollte nicht ohne bedeutenden Einfluß auf mein späteres Leben bleiben. Damals aber, als ich mich auf der Wengernalp von Julie trennte, fühlte ich nur, daß die schwarzen Augen meiner schönen Reisegenossin eine Flamme in mir entzündet hatten, die das Vestafeuer meiner ersten Liebe zu ersticken drohte. Wenn ich an Isolde dachte, glühte in meiner Seele heiße Scham. Ich glaubte oft ihre keuschen, süßen Augen mit stillem Vorwurf auf mir ruhen zu fühlen. Aber sie heiratet ja den Grafen Zackstein, brummte ich damals wohl vor mich hin, wie um mich vor mir selbst zu entschuldigen.

Diese sophistische Entschuldigung sollte sich bei meiner Rückkehr in die Universitätsstadt als gänzlich unhaltbar erweisen. Ich fand Briefe vor, welche unter anderem aussagten, Isolde sei nach Rothenfluh zurückgekehrt, nachdem sie den Grafen entschieden ausgeschlagen. Meine Schwester, welche mir dieses schrieb, mußte Kummer haben, der Ton ihres Briefes war so traurig, und während sie sonst immer so viel von Berthold schrieb, sagte sie jetzt nur, derselbe habe einen langen Urlaub genommen, um eine Tour durch Frankreich und Italien zu machen. Ganz unten an Hildegards Brief standen, von Isoldes Hand geschrieben, die Worte: »Ich grüße Dich!«

Sie entzückten mich und bereiteten mir zugleich bitteren Schmerz. In einem und demselben Augenblick verwünschte ich jene drei Tage meiner Schweizerreise und wünschte sie doch wieder mit heimlicher Sehnsucht zurück. Oft setzte ich mich hin, um Isolde mein Abenteuer brieflich zu beichten, aber eine unüberwindliche Scheu vereitelte stets diese Absicht. In Stunden, wo der Humor über die unklare Gärung meiner Gefühle triumphierte, kam ich mir vor wie Buridans Esel, nur mit dem Unterschied, daß statt der bekannten Heubündel zu meiner Rechten ein schöner Stern stand, zu meiner Linken eine Blume von tropischer Farbenpracht und berauschendem Duft. Und am Ende ließ mich dann der glückliche Leichtsinn der Jugend zu mir selber sagen: Bah, auch die exotische Blume, Julia regia, ist ja nicht für dich. Wer weiß, wo sie jetzt blüht und für wen sie jetzt duftet! Und was den Stern betrifft, o –

Die Sterne die begehrt man nicht,
Man freut sich ihrer Pracht,
Und mit Entzücken blickt man auf
In jeder heitern Nacht.

Fünftes Kapitel

Ein Privilegium der Jugend. – Zwei Fahnenträger einer bewegten Zeit. – Die hegelsche Philosophie und ein apostolisches Wort. – Titanismus. – Gibt es Ahnungen? – Ein erloschener Stern und ein Gebet. – Die gesprengte Kette. – »Segen über euch!« – Eine Tote in Blumen.

Es war eine geistig hochbewegte Zeit, in welche meine Studienlaufbahn fiel, und ich besaß Empfänglichkeit genug, um an dieser Bewegung lebhaften Anteil zu nehmen. Das Feuer meiner Seele lodert heute nicht mehr so hoch und heiß wie damals, aber noch immer glüht – dank den Göttern! – in mir jenes something unearthly, wie Byron es nannte, jener der Zentralsonne, der Weltseele entsplitterte Funke, der in jedem Menschen, welcher nicht ein bloßer Erdenkloß, glimmt und glostet. Darum, wie manche meiner jugendlichen Illusionen tot und ab sind, vermag ich doch noch nicht mit skeptischem Lächeln auf jene Tage zurückzublicken, wo auch ich, in bescheidenster Weise freilich, mitwob an dem bunten Gewebe von politischen, sozialen und literarischen Theorien, welche die Praxis des Lebens mit so rauher Hand zerriß. Nein, noch jetzt kann ich mich nicht bemitleiden ob dem jugendlich gläubigen Enthusiasmus, womit ich mich umtrieb in Regionen –

Wo auf Weltverbesserung
Wünsche kühn sich lenken ...

Die Jugend besitzt das kostbare Vorrecht, sich einbilden zu dürfen, es sei ebenso leicht als notwendig, die Welt aus ihren Fugen zu reißen; denn sie hat noch nicht mit Hamlet daran verzweifeln gelernt, dieselbe wieder einzurenken. Und dann – wäre die Jugend nicht allzeit revolutionär gesinnt gewesen, wahrlich, die Weltgeschichte wäre längst zum toten Sumpfe geworden.

Die brütende Schwüle der Restaurationszeit hatte sich in dem Gewitter der Julirevolution entladen. Durch ganz Europa ging ein frisches Aufatmen. Eine neue literarische Epoche kündigte sich an: die moderne, welche die Erbschaft der klassischen, der Goethe-Schillerschen, wie der romantischen übernahm, um sie weiteren Entwickelungen zugrunde zu legen. Zwar sind, wie bekannt, bislang keineswegs alle die »Blütenträume« gereift, welche in der Literatur der dreißiger Jahre auftauchten, nicht einmal die spezifisch literarischen. Aber das steht fest, daß in Literatur und Leben damals überall die Anfänge neuer Gestaltungen gemacht wurden.

Deutschland, welches ja überhaupt die mit so vielen Schmerzen, Demütigungen und Opfern erkaufte Ehre genoß, für die anderen Nationen zu denken, Deutschland war wiederum der Hauptschauplatz dieser geistigen Umwälzung. Die oppositionellen Anläufe der Restaurationsperiode, das Mißbehagen an der Nichterfüllung der patriotischen Hoffnungen, welche noch von den Befreiungskriegen her in den Gemütern lebten, der Schmerz über des Vaterlandes Zersplitterung und politische Nullität, der Sturz der Bourbons, die Erhebung Belgiens, die Insurrektion Polens, die Revolutionsversuche in Italien und Spanien, die demokratische Reformbewegung in den schweizerischen Kantonen, ferner der Byronsche Skeptizismus und Weltschmerz, die sibyllinischen Orakel der Rahel und Bettina, die Hegelsche Philosophie als unerbittlicher Kritizismus alle wissenschaftlichen Disziplinen durchdringend und durch Strauß auf die Urkunden des Christentums angewandt – das waren so die Faktoren der Bewegung im deutschen Geistesleben von damals. Nach der politischen Seite hin stand Börne, nach der poetischen hin stand Heine an der Spitze derselben ... Börnes Briefe aus Paris! Es ist schon nur noch wie die Erinnerung an einen Traum, wenn man heute an diese in Druckpapier gewickelten, in allen Farben eines verzweifelnden Humors spielenden Flammen zurückdenkt. Und doch war ihre Wirkung auf die deutsche Jugend eine unermeßliche. Ein junger Poet jener Tage hat aus diesen Episteln eine »Neue Bibel« zusammengereimt, und sie waren in der Tat die Bibel des deutschen Radikalismus. Wenigstens eine Zeitlang. Denn bald machten sich deutsche Bedenken gegen das Französische in jenen Ergüssen einer zornvollen Freiheitsliebe geltend. Auch in mir, der ich in der Antipathie gegen das Franzosentum erzogen worden war und der ich es auch jetzt in reiferen Jahren und nach eigener Anschauung nur als einen wunderlichen Mischmasch von Äffischem und Tigerlichem ansehen kann. Gott helfe mir, ich wünsche gewiß so lebhaft als irgend einer, daß der schöne Traum von der Völkersolidarität zur Wirklichkeit werde, daß ein Tag komme, wo alle Nationen frei, glücklich und durch die Baude brüderlicher Liebe miteinander verbunden sein werden; aber ich müßte den teuren Glauben an die Zukunft meines Volkes aufgeben, wenn ich wünschen wollte, daß die Zukunft nach französischer Schablone zugeschnitten werden sollte. Das wollte doch im Grunde Börne, und sein Irrtum rührte daher, daß er sich mit der närrischen Illusion trug, der Phrasenmantel, womit die Franzosen bei Gelegenheit ihre krasse Selbstsucht, ihren komödienhaft eitlen Dünkel verhüllen, berge wirklich eine kosmopolitische Realität. Börne war ein großes und edles Herz, keine Frage. Aber er vergaß, daß man ein Volk nicht zur Freiheit und Selbstachtung erzieht, indem man es vor sich selbst und vor dem Ausland erniedrigt ... Heine kann als Politiker nicht in Betracht kommen, überhaupt nicht als ernsthafte Person. Wenn aber die Zaubermelodien seiner Liederbücher, wenn das witzfunkelnde Antithesenspiel seiner Prosa selbst eine bis auf die letzten Hefen eingetrocknete Seele, wie die des Friedrich von Gentz, in lautes Entzücken versetzten, so braucht nicht erst gesagt zu werden, daß eine strebsame Jugend der Wirkung eines solchen Geistes sich nicht entziehen konnte. Ich weiß noch ganz gut, daß ich einige Tage lang in einer Art von seliger Trunkenheit umherging, als ich zuerst mit dem »Buch der Lieder« bekannt geworden war. Ich gab mich, wie tausend andere, dem gewaltigen Zauber hin, ohne auch nur im entferntesten daran zu denken, daß diese Lyrik bloß das Produkt einer der Fäulnis sich zuneigenden Hyperzivilisation sein könne ... Heines satirische Kraft ist eminent. Seit Rabelais ist so etwas nicht wieder dagewesen. Man hat Heine den modernen Aristophanes genannt, während er sich selbst irgendwo – also doch einmal in seinem Leben bescheiden – mit Kunz von der Rosen, dem Hofnarren Karls V., verglich. Er war aber mehr, er war der Hofnarr seines ganzen Jahrhunderts, dem er noch auf dem Sterbebette die lachendsten Witze vorgerissen hat.

Die burschikose Ungeniertheit, womit Heine und mehrere seiner Mitstrebenden die Hegelsche Philosophie propagierten, hat zu dem Ansehen derselben in weiteren Kreisen nicht wenig beigetragen. Die aschgraue Dialektik des königlich preußischen Staatsphilosophen nahm sich im Brillantfeuer Heineschen Witzes viel einladender aus, in der Tat sehr einladend und appetitlich. Unter den Fanfaren eines übermütigen Humors wurde das Hegelsche Evangelium vom Mensch-Gott verkündigt, und auch ich erfuhr mit großer Genugtuung, daß die göttliche Idee in meinem Ich zum selbstbewußten vernünftigen Geist geworden sei. Nur schade, daß der inkarnierte Gott seine Göttlichkeit mitunter in so ungöttlichen Dingen manifestieren mußte, wie zum Beispiel im »Pumpen«. Aber ich ließ mich das wenig anfechten und setzte mich, für eine Weile wenigstens, mit einem: »Gott ist alles, was da ist« – über die empfindlichsten Stoße hinweg, welche die Wirklichkeit meiner Hegelschen Theorie beibrachte. Freund Fabian wollte von dieser nichts wissen, und machte mich ans die gewundenen Mentalreservationen und perfiden Verklausulierungen in Hegels System aufmerksam. »Wenn du,« sagte er, »im Pantheismus Befriedigung suchst, so halte dich wenigstens an unsere alten Mystiker. Im Tauler und Böhm ist hundertmal mehr Seele und Poesie als im Hegel.«

Fabian kannte mich. Er wußte, welchen beschwichtigenden Einfluß Dichterworte auf mich übten, und schrieb mir daher eines Tages, nach einem langen Gespräch über das Zweifelhafte und das Tröstliche der pantheistischen Weltanschauung, die schöne Strophe von Anastasius Grün ins Stammbuch:

Ich aber weiß, des Daseins Ring, der helle,
Er ist in einem ungeheuren Bogen
Durch Stern und Baum, durch Rosen, Sonnenbälle,
Durch Menschenherz und Engelsbrust gezogen –

und fügte dann mündlich hinzu, er für seine Person finde volle Beruhigung in jener Paraphrase eines Wortes des Apostels Paulus: »Alles ist aus Gott, durch ihn und zu ihm geschaffen: in ihm leben, weben und sind wir; wie er es im Beginne gewesen, wird er auch am Ende wieder alles in allem sein und alles aufnehmen in den stillen Kreislauf seiner ewigen Harmonie.«

Das war nun schon recht: ein stilles, resigniertes Gemüt, wie Fabian eins war, konnte sich damit wohl zufrieden geben. Aber ein leidenschaftlich Herz wie das meinige schlug lange nicht kühl genug, um sich durch solche Theosophie länger als auf Momente schweigen und schwichtigen zu lassen.

Jeder Mensch, dessen Gedanken überhaupt über die Katechismussphäre hinausgehen, erlebt eine Periode des Zweifels, eine Revolution in seinem Innern, die ihn, je nach dem Stärkegrad seiner Gefühle, mehr oder weniger unglücklich macht. Seichte Köpfe fahren dabei am besten. Sie brechen einfach mit der Autorität und ergeben sich einer gedankenlosen Gleichgültigkeit, die jeder Beschäftigung mit höheren Problemen achtsam aus dem Wege geht und jede Frage nach des Menschenlebens Sinn und Frommen als Schnickschnack ansieht, welchen man den »stubengelehrten Zungendreschern« überlassen müsse. Ja, sie sind glücklich, diese Gleichgültigen, denn –

Sie stört nicht im Innern
Vergeblicher Streit ...

Und nicht nur das. Sie sind oft auch recht wackere Menschen, so recht das, was man praktische Naturen nennt. Sie sind – oder können es wenigstens sein – gute Familienväter, zahlungsfähige Bürger, die an die Lehre vom beschränkten Untertanenverstand zwar nicht glauben, aber dieselbe doch für ganz »praktisch« halten, daneben nach »sauren Wochen frohe Feste« feiern, auch »des guten Scheines wegen« nicht unfleißig zur Kirche gehen, die kleinen Ziele des Lebens mit Geschicklichkeit verfolgen und die großen einfach in den Bereich des »Mythus« oder des »Humbug« verweisen.

Die anderen aber – und es muß doch wohl auch solche Käuze geben – die anderen, in deren Adern ein Tropfen von jenem Blute rollt, welches die Titanen dereinst zur Empörung gegen die Götter trieb, können sich der ruhelosen Frage: Warum ist der Mensch? Und warum ist er so, wie er ist? nicht entschlagen. Es ist freilich dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, das heißt, der Titanismus wird schließlich immer seiner Ohnmacht inne. Allein wenn sich jenes furchtbare Warum? mit schöpferischem Genie verbindet, so entstehen titanische Fragezeichen, die wie prächtige Blitze das Dunkel, in welchem wir tappen, nicht erhellen, aber zeigen. Das Buch Hiob, der äschyleische Prometheus, Wolframs Parzival, Hamlet, Don Quijote, Faust, Childe Harold – das sind solche fragende Blitze, nicht vom Himmel zur Erde, sondern von der Erde gen Himmel geschleudert ...

In einer lauen Sommernacht erfaßte mich mitten im bacchischen Gewühle eines Kommerses eine tiefe Traurigkeit. Gibt es Ahnungen und wirft wirklich, wie jener englische Poet meint, »Zukünftiges seinen Schatten voran«? Stehen Seelen, die sich lieben, in einem Rapport, dessen Geheimnis keine Wissenschaft zu durchdringen vermag? Genug, mich überkam eine düstere Ahnung, welche durch das Getöse studentischer Freude, das mich umgab, nur noch peinigender gemacht wurde. Ich stürzte hinaus, eilte die stillen Gassen hinab, ging über die Brücke und warf mich in die dunkeln Baumgänge auf der Wiese am andern Ufer des Flusses, welcher die Gärten und Häuser der Stadt bespült. Eilenden Fußes durchlief ich die Alleen, als wollte ich der dumpfen Angst entfliehen, die mich verfolgte.

Dieses persönliche Gefühl heftiger Traurigkeit wurde, wenn ich mich so ausdrücken darf, zu einem menschheitlichen. In jener Stunde empfand mein Herz den Krallendruck des Weltschmerzes. Aus dem Baumschatten hervortretend, starrte ich verzweiflungsvoll hinauf in den Ozean der Welten, in welchem unsere schöne, arme Erde wie ein Tropfen verschwimmt, und unwillkürlich drängten sich mir die Worte des Dichters auf die Lippen:

O, wer löst mir das Rätsel des Lebens?
Das qualvoll uralte Rätsel,
Worüber schon so manche Häupter gegrübelt,
Häupter in Hieroglyphenmützen,
Häupter in Turban und schwarzem Barett,
Perückenhäupter und tausend andere
Arme, schwitzende Menschenhäupter –
Sagt mir, was bedeutet der Mensch?
Woher ist er gekommen? Wo geht er hin?
Wer wohnt dort oben auf goldenen Sternen?

Sie funkeln ruhig weiter, still und groß, die ewigen Lichter des Firmaments. Sie gaben keine Antwort. Aber der Schmerz der Kreatur schreit doch nie ganz vergeblich zur Natur. Es liegt eine besänftigende, seelenlösende Magie in dem Schweigen der Sommernacht. Der Fluß schickte einen einladend kühlen Hauch zu meiner heißen Wange herauf, ich warf die Kleider von mir und tauchte mich tief in das erquickende Element, während der Mond hinter den fernen Bergen herauskam und sein mildes Licht über das sacht rauschende Wasser hinstreute.

Erfrischt, beruhigt, von quälenden Gedanken befreit, wandelte ich dann noch lange unter den Weiden am Ufer. Aus der Ferne tönte gedämpft das silberne Lachen einer Mädchenschar, welche in einer versteckten Gartenbucht weiter oben am Flusse badete. Damit mischte sich der Ton einer Flöte, welcher aus dem offenen Fenster eines der Häuser unter dem Schloßberg herabkam. Vielleicht hauchte ein Liebender in diesen schmelzenden Tönen seine Sehnsucht aus.

Ich sah nach dem wohlbekannten, bescheidenen Bürgerhause hinüber, dessen kleiner Garten mit der niedrigen Mauerzinne hart an den Fluß stieß. Wie oft schon war ich zu allen Jahres- und Tageszeiten da vorübergegangen, um mit Blicken ehrerbietiger Scheu das Erscheinen des hageren, hochgewachsenen Greises mit dem Silberhaar zu erharren, der dort aus seinem Erkerzimmer in den kleinen Garten herauszutreten pflegte, auf der Stirne die dreifache Majestät des Genius, des Unglücks und des Alters! Auch jetzt stand er dort an der Brustwehr, und das Mondlicht fiel voll auf dieses Antlitz, von welchem die vieljährige Nacht des Wahnsinns den Stempel des Göttlichen noch nicht ganz hatte verwischen können. Er ging hinein und schlug drinnen auf dem Klavier, dem treuen Gefährten seiner Einsamkeit, die melancholische alte Melodie an: »Mich fliehen alle Freuden«, die ich ihn schon so oft hatte variieren hören, kam dann wieder heraus und blickte mit seinen großen geisterhaften Augen lange in das gestirnte Firmament empor. Suchte er dort den Stern seiner Jugend, seines Lebens: »Diotima?« ... Vielleicht war es eine Täuschung des Mondlichtes, aber ich glaubte große Tränen in diesen Dichteraugen blinken zu sehen, die vormals mitten in unserem deutschen Norden den Genius von Hellas in der ganzen Schöne seiner göttlichen Nacktheit erblickt hatten, in diesen Dichteraugen, welche in heiligen Weihenächten in jener Gartenlaube am Leutrabach in Jena den Blicken Schillers begegnet waren. Überkam ihn die Erinnerung an süße Mondnächte seines Lebensmorgens? Peinigte auch ihn das uralte, qualvolle Rätsel des Lebens? Tönte ihm noch einmal, ein Widerhall aus früherer Zeit, »Hyperions Schicksalslied« in der Seele auf? ... Ich selber sprach es leise und andächtig vor mich hin, und die tiefsinnigen Worte wirkten tröstend auf mich wie ein frömmstes Gebet.

Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien,
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.

Schicksalslos wie der schlafende
Säugling atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe,
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller,
Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn.
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahrelang ins Ungewisse hinab.

 

Am folgenden Tage eilte ich spornstreichs der Heimat zu. Um Mittag hatte ich einen Brief erhalten, worin der Vater eine gefährliche Erkrankung der Mutter meldete. Es sei, schrieb er in abgebrochenen Worten, das Schlimmste zu befürchten. Ich sollte eilends kommen, die Kranke verlangte sehr nach mir. Eine Stunde darauf saß ich auf einem Postklepper, der schaumbedeckt bei der nächsten Station anlangte. Ich ließ mich durch die Nacht nicht aufhalten, aber die mancherlei Verzögerungen auf den Poststationen ließen mich erst am folgenden Morgen auf der letzten, in unserem Heimatstädtchen, anlangen, von wo ich, so rasch als meine Füße mich trugen, in unsere Berge hinaufeilte.

Es war Erntezeit und auf den Feldern, durch welche mein Weg führte, waren Sensen und Sicheln in Tätigkeit. Sobald ich die Markung von Rothenfluh betreten hatte, sprach ich die erste Schnittergruppe um Nachrichten über das Befinden meiner Mutter an. Ich wußte wohl, daß das ganze Dorf daran lebhaftesten Anteil nähme. Die guten Leute erkannten mich nicht sogleich wieder; ich war während meiner Abwesenheit noch bedeutend gewachsen und jetzt ein Bursch von ansehnlicher Länge, mein Gesicht hatte sich gebräunt, und außerdem wurde dasselbe durch einen langen Schnurr- und Knebelbart maskiert. Dann, als ihnen meine hastigen Fragen die Erinnerung schärften, hieß es: »Ach, Herr Jeses, Herr Jeremle, 's ist der Michel, dem Kons'lenten sein Michel ... Ja, die Frau Kons'lentin liegt halt tief im Bett drin ... sie tut übel dran sein ... aber der lieb' Gott wird die gut' Frau g'wiß noch nit zua sie nehma ... Doch, Herr Michel, seht, da kommt numme grad' der Dokter.«

In der Tat, der alte Doktor aus der Stadt, unser mir wohlbekannter Hausarzt, fuhr gerade in seiner alten Kalesche den Weg herab, der vom Dorfe nach der Stadt führte. Ich eilte dem Gefährt entgegen und bat den alten Herrn, einen Augenblick zu halten.

»Ah, Sie sind's, Michel, will sagen, Herr Hellmuth?« sagte er, als er mich erkannt hatte. »Gut, daß Sie kommen. Die Kranke verlangt sehnlichst nach Ihnen ... Es steht leider nicht gut mit ihr, gar nicht gut ... Sie müssen sich wie ein Mann fassen, da Sie ja wie ein solcher aussehen ... Ihre Mutter, die gute Seele, hat sich ihre Krankheit geholt, indem sie Fräulein Isolde, die am Typhus darniederlag, Tag und Nacht Pflegte. Wenn nicht heute noch eine günstige Krisis eintritt ... Sie verstehen mich ... Ich muß jetzt zur Stadt, komme aber mittags wieder heraus.«

Die letzten Worte verstand ich nur noch halb, denn ich lief schon wieder eilends die Straße hin. Eine Viertelstunde darauf befand ich mich unter dem Dach des elterlichen Hauses. Ach, wie war es da unheimlich still und wie verweint waren die Gesichter der alten Theres und alten Annem'rei!

Doch ich will nicht zu ausführlich sein in meinen Erinnerungen an jene trübe Zeit. Es gibt Schmerzen, die man nur andeuten darf, wenn man sie nicht entweihen will, und zudem, hier handelt es sich um ein Leid, von welchem jeder glaubt, nur er habe es in seiner ganzen Tiefe empfunden.

Mein Vater kam mir auf der Treppe entgegen. Ich sah es seinen Augen wohl an, wie sehr er sich Gewalt antun mußte, um nicht in Tränen auszubrechen.

In das Krankenzimmer getreten, fand ich dort Hildegard und Isolde an dem Bette sitzend, dessen Vorhänge zugezogen waren. Beide Mädchen konnten bei meinem plötzlichen Erscheinen einen leisen Ausruf nicht unterdrücken.

Per Vater legte den Finger auf die Lippen, aber das Mutterherz hatte den unwillkürlichen Laut schon verstanden.

»Siegfried, Siegfried, du bist da!« klang es schwach und doch wie jubelnd hinter dem Vorhang.

Im nächsten Augenblick kniete ich an dem Bett, und fieberheiß hielten die Mutterarme meinen Kopf umschlungen ...

In der folgenden Nacht – ach, der Tag hatte keine heilsame Krisis gebracht – wachten Isolde und ich allein bei der Kranken. Ich hatte den überwachten Vater mit sanfter Gewalt genötigt, wenigstens für eine Stunde sein Schlafzimmer aufzusuchen, und Hildegard, die dazu nicht zu bewegen gewesen, war in einem Lehnstuhl am Fenster vor Übermüdung eingenickt.

Isolde, selbst kaum von einer schweren Krankheit genesen, saß mir blaß und kummervoll gegenüber, und schweigend bewachten wir die schweren, unregelmäßigen Atemzüge der Mutter, die gegen Mitternacht endlich den Schlummer gefunden hatte. Er währte nicht lange, aber als die Kranke jetzt die Augen wieder aufschlug, erschienen sie mir klarer und weniger verstört als vorher.

Sie ließ ihre zärtlichen Blicke von Isolde zu mir und von mir zu Isolde gehen und bat dann diese, das Tischchen mit der Lampe näher ans Bett zu rücken.

»Soldchen, liebes Kind,« sagte sie, »sieh doch den Michel, nein, den Siegfried an. Ist er nicht recht stattlich geworden?«

Isolde senkte die Augen, und ein leises Rot glomm ihre blassen Wangen an.

Die Mutter betrachtete mich lange und liebevoll, und es war, als drängte sie einen schweren Seufzer zurück, der ihre Brust hob, als sie zu mir sagte:

»Siegfried, mein Kind, ich werde bald von dir gehen.«

»O, Mutter, sprich nicht davon! Es kann nicht sein.«

»Doch, doch, sieh, ich fühl' es wohl. Es ist Gottes Wille so ... weine nicht, Kind ... Mütter müssen sterben, aber sie möchten ihre Kinder glücklich zurücklassen.«

Und sie richtete sich, soweit es ihre Schwache gestattete, in ihren Kissen auf, sah mich wieder lange an und fuhr fort:

»Ich weiß, mein Kind, du tatest es mir zu Liebe, als du dich entschlossest, ein Geistlicher zu werden ... Still, still ... laß mich ausreden ... Ich wollte nur dein Glück, dein zeitliches und ewiges. Aber deine Briefe ... es ist, obgleich du mir es verbergen wolltest ... aus Liebe, ich weiß es ... es ist etwas in deinen Briefen, was mir Zweifel an deinem geistlichen Beruf erregte.«

»Sprich nicht so, Mutter. Du sollst mich in Chorrock und Meßgewand sehen, ich schwöre ...«

»Nein, halt ein, Kind, du sollst dich nicht ins Unglück hinein schwören ... Sieh mich an ... Dein Heiz ist nicht beim Altar ... und ich ... ich entbinde dich von deinem Versprechen.«

Mir war, als spränge eine Kette, die mir schon lange die Brust umschnürt hatte, klirrend entzwei, und unwillkürlich streifte mein Blick zu Isolde hinüber. Die Mutter bemerkte es und sagte, ihre Erschöpfung noch einen Augenblick bewältigend:

»Kinder, gebt mir eure Hände.«

Wir taten es.

»Ihr seid mitsammen aufgewachsen,« sagte sie schwach und bemühte sich, Isoldes Hand in die meinige zu legen ... »Ihr seid früher wie Bruder und Schwester gewesen ... und jetzt ... o, ihr habt einander lieb ... ich weiß es ... O, Kinder ...«

Sie sank zurück und geisterhaft flüsternd, schon wie aus einer andern Welt, zitterten noch die Worte über ihre Lippen:

»Segen über euch!«

Sie war eingeschlummert.

Unter der mütterlichen Hand ruhte die Hand Isoldes in der meinigen. Sie wagte es nicht, aus Scheu, die Schlummernde zu stören, ihre Hand wegzuziehen, und ich, ich hätte es nicht um eine Welt getan.

Der Morgen kam, und mit ihm trat der Tod in das Haus.

Das Bewußtsein der Kranken kehrte nur noch dann und wann für Augenblicke zurück. In einem solchen lichten Moment segnete sie Hildegard und sagte zu meinem Vater: »Liebster Fritz, der Siegfried soll nicht geistlich werden; aber brav und gut soll er werden, so gut und brav wie sein Vater.«

Ein letzter Blick der Liebe fiel bei diesen Worten auf ihren Gatten. Dann zog sich das Leben mehr und mehr aus den Augen der Kranken zurück, und ihre Vorstellungen verwirrten sich. In traumhaften Phantasien, durchwoben vielleicht von Erinnerungen an glückliche Stunden, erging sich der scheidende Geist.

Ganz zuletzt kamen noch in gebrochenen Lauten die Worte von ihren bebenden Lippen: »Du hast recht, Fritz ... verzeih mir ... ganz recht ... es war ... es war ... eine Linde.«

So starb sie in unsern Armen, das Haupt an die Brust des Vaters gelehnt.

»Michel,« sagte am Abend der Freiherr zu mir, welcher gekommen war, die Pflegemutter seiner Kinder noch einmal zu sehen, »Michel, sieh dir dieses Gesicht an. Wie ruhig und heiter es ist! ... Sie ist jetzt bei meiner seligen Elisabeth ... Wollte, ich wäre auch dort.«

Und der gute Mann trocknete sich die Augen und atmete schwer.

Ich bemerkte, daß er in den letzten Jahren sehr gealtert war. Sein Schnurrbart war schneeweiß, und tiefe Falten lagen auf seiner Stirn.

Wir beide befanden uns allein im Totenzimmer. Der alte Herr war sehr weich. Nachdem er eine Weile mit verschränkten Armen auf und ab gegangen, blieb er vor mir stehen und sagte:

»Michel, ich bedaure dich, glaub mir. Ich fühle, daß du ein schweres Leid zu tragen hast. Deine Mutter ... na, Gott habe sie selig, sie verdiente es. Du hast viel verloren, armer Junge, und wir alle mit dir ... Du warst früher eine wilde Range, und geistlich siehst du gerade auch jetzt noch nicht aus, aber es freut mich, Michel, ich sag dir's frei und offen, es freut mich, daß deine Mutter doch bis zuletzt an dir Freude haben konnte. Es wird nicht allen Müttern so gut, auch nicht allen Vätern ... Zwar mein Mädchen, o, die ist gut und wacker. Kann auch nicht viel dawider sagen, daß sie den jungen Zackstein nicht nehmen mochte. Hätte ihn selber nicht nehmen mögen, sobald ich ihn gesehen. Aber der Berthold ... hm ... nichts davon heute ... Hast du nicht bemerkt, daß Soldchen bleich und traurig ist? Sag dir, das kommt nicht allein von der neulichen Krankheit her. Auch nicht vom Tode deiner Mutter allein, nein, nein. Sie ist schon lange so ... sie grämt sich, weil sie weiß, daß ich mich gräme. Sie ist ein gutes Kind ... Ja, was wollt' ich noch sagen? Richtig. Wenn Tage kommen sollten, wo Isolde eines Freundes, eines treuen Freundes bedürfte, so wirst du nicht vergessen, daß du wie ein Bruder mit ihr aufgewachsen – nicht wahr?«

»O, nie, nie!« sagte ich, meine Hand in die dargebotene des Freiherrn legend.

Am folgenden Tage schmückten Hildegard und Isolde, welche diesen letzten Liebesdienst keinen andern Händen überlassen wollten, die tote Mutter und legten sie in den Sarg, Da lag sie nun still und weiß in den Blumen, womit ihre letzte enge Behausung über und über angefüllt war. Ihr Mund schien wie befriedigt zu lächeln; sie hatte im Leben die Blumen so sehr geliebt.

Der Vater saß zu Häupten des Sarges. Er hatte die erstarrte Hand der Mutter in der seinigen und hielt, ganz verloren in seinen Kummer, leise Zwiesprach mit der geliebten Toten, als horte sie ihn noch.

»Ich kann's nicht glauben,« sagte er, »es ist zu schmerzlich! Liebe Gertrud, widersprich mir doch nur noch ein einzig Mal, bitte, tu es nur noch einmal, hörst du? ... Aber deine Hand ist so kalt ... O, das hättest du mir nicht zuleide tun sollen, das nicht. Es war nicht recht, daß du vor mir gegangen, nein, es war nicht recht. Ich dachte mir, es müßte so süß sein, wenn deine Finger mir die Augen zudrückten. Aber nun bist du gegangen ... es war nicht recht, o, es war nicht gut getan.«

Isolde berührte sanft die Schulter des Trauernden.

Er schaute auf und sah verstört um sich.

»Sie sind noch nicht allein,« sagte das schöne bleiche Mädchen und zeigte auf Hildegard und mich – »Ihre Kinder sind da.«

Er öffnete uns seine Arme, und gemeinsam strömten unsere Tränen.

Als der dritte Morgen gekommen war, bestatteten wir die Mutter zur Seite der Großmutter.

Sechstes Kapitel

Auf der Heidelberger Schloßterrasse. – Berserkerzorn. – Herr Hans Bürger. – Ein Geschäft auf der »Hirschgasse.« – Villeggiatur im Winter. – Dreimonatliches »Duell mit einer Wanze.« – Briefe von Hause. – Mann und Weib. – Ein letzter Kuß.

Seither war ein Jahr und drüber vergangen.

Ich stand mit meinem geliebten Fabian, welcher demnächst in das Priesterseminar treten sollte, auf der Terrasse des Heidelberger Schlosses und schaute hinab ins schöne Neckartal, auf welches der Herbst seinen ganzen Farbenkasten ausgeschüttet hatte.

Seitdem ich von dem frischen Grab der Mutter hinweg nach der Universität zurückgekehrt war, hatte ich an dem burschikosen Treiben nur noch so gelegentlich teilgenommen. Die Mysterien, welche im S. C. (Senioren-Convent) oder im C. C. (Corps-Convent) betrieben wurden, konnten mir kein Interesse mehr abgewinnen. Allerdings war ich noch nicht alt genug, mir selbst und anderen offen zu sagen, daß diese Kindereien nicht einmal als erhabene qualifiziert werden könnten; aber ich mochte sie doch nicht mehr mitmachen, und zwar aus dem ganz einfachen Grunde, weil sie mich langweilten. Außerdem mangelte es mir an Zeit dazu, denn ich hatte meinem Vater versprochen, in der Juristerei, zu welcher ich von der Theologie umsattelte, mich fleißig umzutun. Ich hatte auch Wort gehalten, obgleich ich nicht ochste, wie der ganz bezeichnende Ausdruck für das rein mechanische Studium lautet, dem sich zu meiner Zeit die Durchschnittszahl der Hochschüler vom sechsten oder siebenten Semester an widmete, um »durchs Examen zu kommen« – sondern wirklich arbeitete. Ich kann freilich nicht sagen, daß mich das »Corqus juris« mehr angemutet hätte, als früher die Kirchenväter getan, und in unmutigen Stunden nannte ich das römische Recht ein Monstrum, welches der byzantinische Schakal mit der alten Wölfin Roma gezeugt hätte. Dagegen hatte ich mich mit Liebe dem Studium unserer vaterländischen Rechtsquellen zugewandt, wodurch ich eine klarere Einsicht in die Entwickelung der geschichtlichen Verhältnisse überhaupt gewann. Aber rechte Befriedigung gewährte mir alle die Bücherweisheit nicht. Es war ein Drang in mir, in das wirkliche Leben tätig einzugreifen. Wie? Das war mir freilich vorderhand noch ganz unklar. Nur das fing ich allmählich zu begreifen an, daß es mit der Realisierung enthusiastischer Weltverbesserungspläne doch nicht so ganz schnell und leicht gehen dürfte, wie ich mir früher eingebildet hatte. Wenn auch leider die Geschichte sonst den Menschen nicht viel lehrt, das wenigstens macht sie ihm begreiflich. »O, Wie schön ist es hier!« sagte der Fabian.

»Prächtig; aber, lieber Junge, der Mensch lebt nicht allein von schönen An- und Aussichten, weißt du? Und demnach, wenn du nichts dagegen hast, wollen wir nach der Restauration hinübergehen, um eine Flasche Markgräfler auszustechen.«

Wir taten so, denn wenn man eine Ferienreise in die Neckar-, Main- und Rheingegenden unternommen hat, wie der Fabian und ich getan, so will man doch wohl neben den schönen Gegenden auch einigermaßen die Weine kennen, welche dort wachsen.

Gingen also hinüber und setzten uns in dem bei so früher Abendzeit noch ziemlich gästeleeren Garten abseits unter einen Baum. An einem Tische unfern von dem unserigen saß ein elegant gekleideter Mann von mittleren Jahren, der in eine englische Zeitung von ungeheurem Umfang vertieft war und dazwischen von Zeit zu Zeit aus dem vor ihm stehenden Römer nippte. Wir nahmen weiter keine Notiz von ihm.

Leider aber wurde von uns selbst Notiz genommen, und zwar seitens zweier Studenten, die rotweiße Korpsmützen auf den Köpfen, Arm in Arm und in geräuschvollem Gespräch durch den Garten daherkamen und an unserem Tische Platz nahmen. Sie waren in unverkennbarer Weinlaune, besonders der jüngere, eine schmächtige, zierliche Figur mit einem hübschen, aber verwüsteten Gesicht. Der andere war ein abgewetterter Bursch, mit einem tüchtigen »Schmiß« quer über die Nase.

Der jüngere rief mit einer dünnen Falsettstimme nach Champagner und schlug, als die Flasche kam, renommistisch den Hals derselben ab, so daß die Hälfte des Schaumweins über den Tisch hinströmte und mir den Rock benetzte. Während der ältere dies höflich entschuldigte, schrie der jüngere nach einer zweiten Flasche und stürzte mehrere Kelche rasch hintereinander hinab. Dann stemmte er die Ellbogen auf den Tisch und starrte dem Fabian, der ihm gegenüber saß, unverschämt ins Gesicht.

Nachdem dies eine Weile gedauert, fragte er ihn:

»Wer sind Sie denn eigentlich, mein Junge?«

Fabian, obgleich eine sanfte und schüchterne Natur, entgegnete doch in etwas gereiztem Ton:

»Das dürfte Sie wenig interessieren, mein Herr.«

»Doch, doch,« versetzte jener. »Sie scheinen mir zur Gattung Kümmeltürke, Spezies Theologe zu gehören, und da ich gerade mit dem Studium dieser Gattung und dieses Spezies beschäftigt bin, so werden Sie mir gütigst nähere Auskunft über dero werte Person geben.«

»Mein Herr,« sagte Fabian, indem ihm das Blut ins Gesicht schoß, »wenn Sie sehen, daß ich ein Theologe bin, so sollten Sie auch wissen, daß ich nicht im Falle sei, für eine so rohe Beleidigung Genugtuung zu fordern.«

»Tant pis pour vous,« erwiderte der Mensch mit höhnischem Lachen, »oder, da Sie wahrscheinlich nicht Französisch verstehen – ein unzivilisiertes Pack, diese Schwarzkittel – ja, um so schlimmer für Sie –«

Mein Blut kochte. Ohne ein Wort zu sagen, streckte ich meinen Arm aus und schlug den Beleidiger meines Freundes zu Boden.

Er kollerte unter den Tisch, aber das war mir nicht genug. Denn Plötzlich von einem jener wilden Zornanfälle ergriffen, die mich in meiner Jugend zuweilen heimsuchten, sprang ich auf, raffte ein Messer vom Tische und stürzte mich auf den halbohnmächtig Daliegenden, ohne Fabians Schreckensruf zu beachten.

Aber bevor ich den Gegenstand meiner Wut erreicht hatte, wurde ich aufgehalten. Ein unwiderstehlich starker Arm wand mir das Messer aus der Hand, und eine fremde Stimme sagte nachdrücklich in tiefem Baß:

»Wenn Sie einen Wehrlosen schlechterdings noch weiter züchtigen wollen, so nehmen Sie wenigstens nur einen Stock oder ein Stuhlbein dazu. Besser so – 's ist kla–ar.«

Ich schaute auf und in ein Gesicht, welches mir imponierte. Dieses Gesicht – ungewöhnlich schmale, aber auch ungewöhnlich hohe Stirn, unter sehr langen und buschigen schwarzen Brauen große graue Augen, deren Blick wie »Feuer im Eise« war, sehr schmale, scharf gebogene Nase, kleiner Mund mit energisch geschnittenen Lippen und dezidiertem Kinn – dieses Gesicht hatte etwas ganz merkwürdig Vogelartiges, etwas frappant Adlermäßiges. Es gehörte dem Fremden mit der englischen Zeitung.

»Mein Herr –,« wollte ich auffahren, aber im nämlichen Augenblicke überkam mich tiefe Scham über mein berserkerwütiges Gebaren, welches mich ums Haar über einen schon Besiegten hätte herfallen lassen, und mich fassend, sagte ich nur: »Mein Herr, Sie haben recht.«

»Gewiß,« erwiderte er. »Der betrunkene Junge da war kaum einen Faustschlag, geschweige einen Messerstoß wert, 's ist kla–ar.«

Damit ging er an seinen Platz zurück, nahm einen Schluck aus dem Römer und langte wieder nach seiner Zeitung.

Ich folgte ihm und sagte: »Darf ich wissen, mein Herr, wem ich für die passende und von mir dankbar anerkannte Dazwischenkunft verbunden bin?«

»Ich heiße Hans Bürger. Und Sie.«

»Michel Hellmuth.«

»Ah,« sagte er mit trockenem, kaustischem Lachen, »Michel und Hans ... waldursprüngliche Namen ... passen zusammen – 's ist kla–ar.«

Dieses breit betonte »'s ist kla–ar,« welches der Mann seinen Äußerungen anzufügen liebte, bildete zu seinem knappen, kurzangebundenen Wesen einen komischen Kontrast.

Inzwischen hatte der dumme Junge, welcher die widerwärtige Szene herbeigeführt, sich wieder aufgerafft und verhandelte mit seinem Kameraden, der eifrig auf ihn hineinsprach und dann zu uns herüberkam.

»Mein Herr,« redete er mich an.

»Was beliebt?«

»Ich bin Senior vom hiesigen Korps der Schweizer.«

»So?«

»Sie sind Student?«

»Zu dienen.«

»Sie geben Satisfaktion?«

»Natürlich.«

»Sie haben meinen Freund und Korpsbruder dort tuschiert.«

»Recht fühlbar, hoff ich.«

»Er verlangt Satisfaktion und ist der Beleidigte.«

»Weiter!«

»Morgen früh um acht Uhr, auf der Hirschgasse, krumme Säbel, zwölf Gänge.«

»Gut.«

»Du wirft doch nicht, Michel?« fiel Fabian ein. »Und vollends um meinerwillen.«

»Ich werde, Fabiane carissime, aber nicht um deiner, sondern um meinetwillen.«

Der Senior, ein braver Bursch, wie sich später zeigte, sagte noch höflich:

»Ich werde das Nötige besorgen. Aber, mein Herr, wer wird Ihnen sekundieren? Sie sind fremd hier. Wünschen Sie es, so beschaff' ich Ihnen einen Sekundanten.«

»Nicht nötig,« mischte sich Herr Bürger hinter seiner Zeitung hervor in das leise geführte Gespräch. »Wenn der geforderte Herr nichts dagegen hat, werde ich ihm mit Vergnügen sekundieren, obgleich es lange her ist, seit ich mit Schläger und Säbel hantierte. Kenne aber die Hirschgasse noch ganz gut. Schöner Ort zu dergleichen Amüsements – 's ist kla–ar.«

Und zu mir gewandt, setzte er noch hinzu: »Ohne Umstände ... Tue Ihnen den kleinen Gefallen gerne. Kann mich zu gleicher Zeit bei dieser Gelegenheit alter Zeiten erinnern ... Muß aber jetzt ein Geschäft in der Stadt besorgen gehen. Auf Wiedersehen also, Herr Hellmuth. Holen Sie mich morgen um halb acht Uhr in meinem Gasthaus ab. Logiere im Prinz Karl, Nr. 9, eine Treppe hoch rechter Hand.«

Fabian ließ es sich am andern Morgen nicht ausreden, mich zu begleiten, und machte ein so trübselig ernstes Gesicht, daß mich ordentlich Mitleid anwandelte. »Ei,« sagte ich zu ihm, »so setz' doch keine solche Leichenbittermiene auf. Es ist im entferntesten kein Grund dazu, und du beleidigst mich geradezu, wenn du in einem Zusammentreffen mit einem solchen Gegner Gefahr für mich siehst.« Herr Bürger erwartete uns, und bald befanden wir uns an Ort und Stelle. Wir trafen ein Dutzend und mehr Studenten, meist Schweizer, und der Herr Senior trat uns artig grüßend entgegen. Ich bemerkte aber, daß seine Miene verlegen war, und erriet bald den Grund, denn die angesetzte Zeit war vorüber, und mein Gegner erschien noch immer nicht. Endlich kam ein Student eilends herein und flüsterte mit dem Senior, welcher einen lauten Fluch ausstieß und dann auf mich zukam.

»Mein Herr,« sagte er, »ich bedaure tief, sagen zu müssen, daß unser Korps einen Infamen in seinen Reihen zählte. Ihr Gegner ist heute vor Tagesanbruch mit Extrapost in alle Weite. Ich will's nur gerade heraussagen, statt Brimborien zu machen.«

Der Fabian lachte bei dieser Nachricht sozusagen mit dem ganzen Gesicht. Herr Bürger zog seine Handschuhe an und bemerkte:

»Da sind wir also um eine Stunde zu früh aufgestanden – 's ist kla–ar.«

Wir wollten gehen, allein der Senior hielt uns auf.

»Einen Augenblick Geduld, meine Herren,« sagte er. »Sie begreifen, daß diese Geschichte für unser ganzes Korps eine höchst fatale sein muß, eine garstige Schwulität, Sie könnte einen Schein von Unehre auf uns werfen, und das soll sie nicht, wenn ich's verhindern kann. Die Forderung ist einmal ergangen, die Waffen sind zur Stelle, und wenn Sie nichts dagegen haben, mein Herr, so will ich selber die Verpflichtung übernehmen, welche der – doch genug, der ehrlose Kerl soll gar nicht genannt werden. Ziehen Sie es aber vor, mit einem andern meiner hier anwesenden Korpsbrüder loszugehen, so wird sich jeder derselben ein Vergnügen daraus machen.«

»Mein Herr Senior,« entgegnete ich, »indem ich ganz Ihre Ansicht von der Sache teile, wird es mir eine wahre Ehre sein, mit einem so honorigen Burschen, wie Sie sind, ein paar Gänge zu machen.«

Der Fabian lachte nicht mehr, und Herr Bürger zog seine Handschuhe wieder aus.

Man verlor weiter lein Wort. Der Paukapparat wurde in Ordnung gebracht, das: »Auf die Mensur!« ward gesprochen, und wir traten mit unseren Sekundanten an. Ich bemerkte, daß Herr Bürger zu seiner Zeit viel dabei gewesen sein mußte, denn er benahm sich ganz kommentmäßig, mit vollendeter Nettigkeit sogar.

»Los!«

Man hat oft die Bemerkung gemacht und kann sie, namentlich auf der studentischen Mensur, die so oft um weniger als nichts beschritten wird, wahrscheinlich noch jetzt täglich machen, daß das Zusammenschlagen von kaltem Stahl eine gewisse Wildheit in den Menschen entzündet. Es ist, als ob der eigentümliche Ton, welchen das Kreuzen der Klingen verursacht, die Bestie im Menschen wachriefe. Ich erfuhr das wieder bei dem im Grunde ganz törichten Duell, welches ich da eingegangen.

Der Senior, ein kräftiger, untersetzter junger Mann zeigte mir sogleich, daß er ein gewandter Schläger sei. Ich nahm mich daher zusammen und bemühte mich ihm zu beweisen, daß wir auf unserer Universität daheim auch wüßten, was Schlagen sei. Meine Hochquart und meine Tiefterz galten dort als »fein«, und ich ließ mir angelegen sein, den Ruf dieser Feinheit auch jetzt aufrecht zu erhalten. Mein Widerpart half mir dazu, denn das Gefühl, die Korpsehre retten zu müssen, ließ ihn etwas zu hitzig darauf ausgehen, mich »auszuschmieren«. Das Ende vom Liede war, daß ich das Glück oder Unglück hatte, dem Senior mit der Spitze meines Säbels die linke Wange in Form eines stumpfen Winkels etwas tiefer zu zerreißen, als eben nötig gewesen wäre.

Der Paukarzt machte ein ziemlich bedenkliches Gesicht zu der Wunde, doch behielt der Verwundete Fassung genug, mir für die Bezeigung meines herzlichen Bedauerns höflichen Dank zu zollen.

Dann gingen wir. Der Fabian, welcher zum erstenmal einer solchen Szene beigewohnt hatte, war ganz bleich. Herr Bürger steckte sich gleichmütig eine Zigarre an.

Ich verweile nicht länger bei dieser dummen Geschichte, deren Dummheit mir freilich erst recht, mit Herrn Bürger zu sprechen, »kla-ar« geworden, als ich kurze Zeit nach meiner Rückkehr zur heimischen Universität aufs Amt zitiert wurde. Der schlechte Heidelberger »Witz« war, ich weiß nicht wie, »herausgekommen«, die Duellgesetze wurden damals viel strenger gehandhabt als gegenwärtig, wo die Umkehr zum »ritterlichen« Mittelalter ja so heftig von oben herab kultiviert wird – eine Reklamation vom dortigen Universitätsgericht war eingelangt und nach etwelchen, wie ich glauben muß, sehr schlecht ausgefallenen Versuchen, dem Gerichte gegenüber meinen Beruf zum Advokaten zu dokumentieren, wurde mir die Verbindlichkeit aufgelegt, mitten im Winter eine dreimonatliche Villeggiatur auf einer Festung zu machen, welche, wenn auch nicht gerade als solche, in deutschen Landen eines bedeutenden Rufes genießt. Ich vermute, zu diesem etwas strengen Urteil habe der Umstand mitgewirkt, daß ich als Burschenschafter signalisiert und gerade zur selben Zeit denunziert war, bei einem Kommers einen Toast auf das deutsche Vaterland ausgebracht zu haben. Das deutsche Vaterland war nämlich damals verboten und Deutschland überhaupt nur als »geographischer Begriff« erlaubt.

Im übrigen, loyaler Leser, sei ganz ruhig. Du sollst nicht genötigt sein, rebellische Reflexionen: »Aus dem Gefängnis« mitanzuhören. Ich reflektierte allerdings während jener drei Monate viel, und es mögen meine Gedanken nicht gerade immer die loyalste Färbung gehabt haben; ja, ich würde, falls das nicht zu anmaßlich klänge, mit Entlehnung eines Heineschen Ausdrucks sagen können, mein Kopf fei damals ein zwitscherndes – oder vielmehr ein brummendes – Vogelnest von konfiszierlichen Büchern gewesen. Nichts davon, sondern nur das: wenn ein aus der Festung sitzender Mensch, abgesehen von allen übrigen Unzukömmlichkeiten dieser Lage, drei Monate lang allnächtlich mit jener zweckwidrigsten aller Kreaturen, genannt Wanze, sich duellieren muß, so ist es kein Wunder, wenn ihm die berühmte Lehre von der Zweckmäßigkeit der Welt als blauester Dunst erscheint. Eine niederträchtige Situation!

Nun, sie ging am Ende auch zu Ende, aber eine Woche zuvor erhielt ich Briefe von Hause, die mich höchlich aufregten und beunruhigten.

Die Briefe meines Vaters waren sonst von einer starken humoristischen Ader durchzogen, welche freilich seit der Mutter Hingang sehr brüchig geworden war. Aber so ganz verschwunden wie in diesem letzten Briefe, war sie noch nie gewesen. Es sprach aus dem ganzen Schreiben eine gewisse Müdigkeit, die mich sehr besorgt machte. Der Vater schrieb unter anderem:

»Der Tod ist wieder bei uns eingekehrt. Er hat meinen besten Freund, den Freiherrn mit fortgenommen. Vielleicht zu seinem Glück, denn die tolle Verschwendung seines Sohnes hatte ihm großen Kummer gemacht. Der junge Herr hat es gar zu arg getrieben, und ich sehe nicht ab, wie das ein gutes Ende nehmen soll ... Berthold war gekommen, um die Weihnachtsfeiertage hier zuzubringen, aber nur auf den ausdrücklichen Befehl seines Vaters. Wir beide, der Freiherr und ich – auch die arme Isolde war zugegen – hatten eine schreckliche Szene mit ihm. Ist es denn möglich, daß soviel Liebe, wie sie dem Berthold von Kindheit auf erwiesen worden, solche Früchte tragen kann? Der Schmerz des Vaters und die Tränen der Schwester scheinen aber doch auf den jungen Mann Eindruck gemacht zu haben. Er bezeigte Reue und war dann recht liebenswürdig, wie er ja sein kann, wenn er will ... Ein paar Tage darauf hat sich auf der Jagd das Gewehr des Freiherrn zufällig entladen, wahrscheinlich nach eben beendigter Ladung. Die Kugel zerschmetterte dem unglücklichen Manne die Stirne. Sein Sohn war in der Nähe und konnte den letzten Seufzer seines Vaters empfangen ... Bertholds Schmerz grenzte an Raserei. Isolde war wie versteinert und ist auch jetzt noch so. Sie gleicht oft ganz einer Statue, und ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll ... Berthold ist majorenn, er hat die Erbschaft übernommen, aber ich fürchte, ach, ich fürchte sehr, manches gute Stück der Herrschaft Rothenfluh lag bereits zuvor in Form von Wechseln in den Pulten von Wucherern. Wenn in diesen trüben Dingen überhaupt von einem Glück die Rede sein kann, so ist es ein Glück, daß wenigstens Isoldes Zukunft – in dem Sinne nämlich, in welchem die Menschen von einer Zukunft zu sprechen pflegen – so ziemlich gesichert ist. Der Freiherr hat kurz vor seinem schrecklichen Ausgang eine rechtsgültige Verfügung getroffen, kraft welcher das schöne Hofgut Lindach, in der Nähe vom Kloster Gnadenbrunn, weißt Du? seiner Tochter als Eigentum zusteht, worüber sie allein verfügen kann. Und da wir gerade bei der Vermögensfrage sind, so sag' ich Dir, lieber Michel, wie ich Dir schon bei einer früheren Gelegenheit andeutete: Du wirst nach meinem Tode nicht viel vorfinden. Mache Dich beizeiten darauf gefaßt, liebes Kind. Du weißt, wo meine Hand für die Bedürftigen verschlossen war, ist die Hand von einer, die nicht mehr lebt, doppelt offen gewesen – auch dafür sei ihr Andenken gesegnet! – und dann, nun, ich war in der Bereicherungskunst nie sehr stark, und als ich es einmal zu sein wähnte und mein Erspartes dabei wagte, wurde mir meine Stümperei recht fühlbar bewiesen. Doch warum von Dingen reden, die man nicht ungeschehen machen kann. Etwas ist zwar wohl noch vorhanden, aber – ich weiß, Du wirst dagegen nichts einzuwenden haben – das gehört Deiner Schwester. Sie ist ein Mädchen, Du aber bist ein Mann, der sich hoffentlich mit eigener Kraft wird durchs Leben helfen können. – Hildegard, ach, ist auch nicht mehr das ewigheitere Geschöpf von früher, obgleich sie sich so äußerst anstrengt, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Das arme Kind! Ich fühle wohl, wie es ihr zumute ist. Ich fürchte, ihr Herz hat einen unheilbaren Schlag erlitten, und zwar von der Hand eines Unwürdigen. Ich mag nicht weiter davon sprechen, aber es beunruhigt mich, daß Deine Schwester sich einer mystisch-religiösen Richtung zuneigt, die am Ende gar in schwärmerische Klostergedanken ausläuft. Hildegard geht öfter, als mir lieb ist, nach Gnadenbrunn hinauf. Die Schwester Berta, welche jetzt Mutter Superiorin geworden ist und deren Liebling Hildegard ja immer war, bestärkt sie wohl in diesen klösterlichen Phantasien – leider, denn Du weißt, was ich vom Klosterleben halte. Daneben kann ich dem Mädchen freilich nicht zürnen. Kranke Herzen haben religiöse Bedürfnisse, von welchen man in gesunden und glücklichen Tagen keine Ahnung hat. Das Christentum aber ist die Religion des Unglücks, es hat sich ja recht eigentlich an die ›Mühseligen‹ und ›Beladenen‹ gewendet. Ich las gestern wieder einmal jenes erhabene Wort beim Evangelisten Lukas: ›Der Geist des Herrn ist bei mir und er hat mich gesandt, zu verkündigen die frohe Botschaft den Armen, aufzurichten die zertretenen Herzen, zu predigen den Gefangenen‹ – da dachte ich auch Deiner, armer Junge! – ›daß sie los sein sollen, und den Blinden, daß sie sehen, und den Unterdrückten, daß sie frei und ledig sein sollen.‹ Es hat mich tief bewegt ... Gestern haben wir auch den guten alten Hairle, den Benefiziaten, begraben. Er ist sozusagen mitten in der Götter- und Heldenwelt Homers entschlafen, denn er wurde des Morgens tot gefunden, über eine Folioausgabe der Ilias hingebeugt. So geht ein Freund nach dem andern von mir, und da ist es denn kein Wunder, wenn einem zuweilen Todesgedanken anwandeln. Aber Du mußt Dir das nicht sehr zu Herzen nehmen, lieber Michel ...«

Wie hätte ich aber anders gekonnt? Um so mehr, als Hildegard ihrerseits schrieb:

»Ich sorge mich um den Vater. Er ist sehr gealtert, und ich kann oft kaum die Tränen zurückhalten, wenn ich sehe, wie er, mir zu Liebe, sich Mühe gibt, heiter auszusehen und zu scherzen wie vorzeiten. Lange schon schmeckt ihm weder Speise noch Trank mehr. Oft brütet er stundenlang vor sich hin, und dann wieder geht er ruhelos im Hause umher, als suchte er etwas. Ach, ich weiß wohl, was er sucht: die Mutter. Er ist nie mehr, aber auch gar nie mehr froh geworden, seitdem sie uns verlassen hat ... Isolde ist lieb und gut – wie könnte sie jemals anders sein? – aber still, o, recht tiefstill. Sie scheint gesund, sie weint nicht, sie klagt nicht, aber mir ist oft, es müsse ein geheimer, unendlicher Schmerz, ein furchtbares Weh auf dieses edle Herz drücken. Sie hat sich jetzt, seit ihres Vaters plötzlichem Tod, fast noch inniger an uns angeschlossen, aber trotzdem glaube ich oft zu fühlen, daß etwas Fremdes, Unerklärliches zwischen uns sei; es ist, als trage Isolde ein tiefschmerzliches Geheimnis mit sich herum ... Du hast mir in Deinem Briefe recht brüderlich herzlich zugesprochen, was vergangen sei, vergangen sein zu lassen. Die Welt, sagtest Du, sei trotz alledem so reich an Glück, daß wohl auch für mich noch ein hübsches Stückchen davon abfallen werde. Die Welt! So wenig ich auch davon gesehen habe, es war doch genug, mich nicht nach mehr verlangen zu machen. Das Glück! Ich weiß, Du liebst die Dichter, und darum will ich Dir mit einem englischen antworten:

Ein Jahr ist's her, da war ich glücklich! Nein,
Nicht glücklich, nur von dieser Wonne rings
Umfangen, die ich nicht erreichen, nicht
Erfassen konnte. Doch so war das Glück
Ja stets. Es ist des Geistes schönes »Morgen«,
Das niemals kommt ...

Aber glaube mir, was man so unglücklich nennt, das bin ich darum doch nicht. Wir alle haben ja unsere Last zu tragen. Ich beuge mich in Demut unter der mir auferlegten. Was könnten auch wir Frauen anders tun? O, Bruder, ich habe verstehen gelernt, welchen Trost unsere geliebte, unsere fromme Mutter aus jener ewigen Liebe schöpfte, welche prüft, aber nie lügt, aus jener Hoffnung, welche nie verwelkt. Unter dem Saum von Gottes Mantel ist Raum für alle seine Kinder. Da berg' ich mich. Du aber eile zu uns, sobald Du los bist.«

»Arme Hildegard,« sprach ich bei mir, »das ›Morgen‹ des Glückes ist freilich für dich nicht gekommen. Die Liebeständelei idyllischer Jugendtage, du hast sie ernst genommen, während sie einem anderen eben nur Tändelei war. Armes Schwesterherz, das jetzt für Gott schlägt, weil sein inniger Schlag von dem Geliebten nicht verstanden oder mißachtet wurde, ich will dich nicht verspotten, nicht einmal in Gedanken. Aber es ist doch so die Art der Frauen: wenn die irdische Liebe sie getäuscht hat, werfen sie sich der himmlischen in die Arme. Wir Männer sind nicht zart genug organisiert, um unsere Empfindungen, unsere Wünsche so sublimieren zu können. Wir dürfen auch das Leben nicht bloß ertragen, wir müssen es bestehen, mit ihm ringen, es gestalten. Kein rechter Mann kann in der blassen Resignation, welche am Ende der wahre Himmel des Weibes ist, sein Genüge finden. Er hat nicht einmal Zeit, einem Jugendgefühl lange oder gar ausschließlich nachzuhängen. Es ist dafür gesorgt, daß so abnorme Erscheinungen, wie der Werther eine ist, nicht sehr häufig wiederkehren.«

Acht Tage später eilte ich in grimmiger Januarkälte der Heimat zu. Allein wie sehr ich eilte, ein grausamer Herzschlag kam mir doch zuvor. Wohl konnte ich noch die teuren Vaterlippen küssen, die so viele tausend und wieder tausend gütige Worte zu mir gesprochen hatten, aber es waren die Lippen eines Toten.


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