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Fünftes Buch
Die Söhne Mammons

Erstes Kapitel

Von Deutschen, Franzosen, Engländern und Südländerinnen. – Herr Kippling der Ältere stellt an den Autor eine zarte Frage und teilt ihm, »wunderlich zerstreut«, eine überraschende Neuigkeit mit.

Man hat häufig darüber geklagt, und nicht mit Unrecht, daß der Deutsche vermöge seines weltbürgerlichen Anbequemungstalentes nur allzugeneigt sei, in und ob der Fremde die Vorzüge seines Heimatlandes zu vergessen. Es möchte jedoch schwer zu bestreiten sein, daß auch unser Nationalgefühl während der letzten Jahrzehnte hinlänglich erstarkt sei, um das zerfahrene und verblasene »Ubi bene, ibi patria« entschieden nicht mehr als eine charakteristischdeutsche Maxime anzuerkennen. Der Kosmopolitismus hatte seine Berechtigung und seine Mission, gewiß. Er ja hat uns aus dem Sumpfe mittelalterlicher Spießbürgerei herausgerissen und auf die lichten Höhen einer Weltanschauung geführt, die man den Gebildeten der Nation erst dann wird verleiden können, wenn das leuchtende Dreigestirn Lessing-Goethe-Schiller vom Himmel der Kultur gefallen sein wird. Allein bittere Erfahrungen haben uns gelehrt, daß die anderen Völker wohl zur Zehrung von unseren verschwenderisch ausgeteilten Geistesschätzen, nicht aber zu Gegenleistungen bereit sind. Mit anderen Worten, wir mußten erkennen, daß die anderen keineswegs kosmopolitisch gesinnt seien und der nationale Egoismus der Fremden hat auch uns endlich fühlbar gemacht, daß wir für uns selbst zu sorgen haben.

Ja, es ist bedeutend klarer geworden in den deutschen Köpfen. Man vergleiche nur die Sprache, welche zur Zeit der Halleschen Jahrbücher von den Wortführern der vorgeschrittensten Partei geführt wurde, mit der, welche denkende Patrioten – es gibt nämlich bekanntlich auch nichtdenkende und zwar eine schwere Menge – heute führen. Damals wollte ein zwar ehrlicher und wohlmeinender, aber oft geradezu hirntoller Titanismus Weltpolitik, lauter Weltpolitik machen; heute begnügt man sich, eine deutsche Politik zu wollen, und ist herzlich froh, wenn man im nationalen Fache sein gutes Auskommen findet. Schon damit ist viel gewonnen. Wir haben doch angefangen uns zu fühlen, und haben mit der Einsicht, daß wir von unseren sämtlichen Nachbarn, jenseits des Rheins wie jenseits der Weichsel, jenseits der Alpen wie jenseits des Kanals, keinerlei Förderung, wohl aber jederlei Hinderung, offene oder versteckte Befehdung zu erfahren haben, zugleich auch den Entschluß gewonnen, durch eigene Kraft etwas zu werden. Das ist freilich nur der Anfang des Anfangs, aber doch ist es besser, einmal angefangen zu haben, als zu warten, bis der zum Weltgerichte blasende Engel in Deutschland herumläuft und uns zuruft:

»Ihr Deutschen, wollt ihr nicht aufstahn?
Die Ewigkeit geht eben an!«

Was mich betrifft, ich könnte nicht sagen, daß mir durch die Fremde das Vaterland verleidet worden wäre. Ich nahm, was ich von fremden Völkern sah, wie es eben war, ohne günstiges oder abgünstiges Vorurteil. Selbst die mir anerzogene Abneigung gegen die Franzosen, welche ich, wie die Engländer, auf einer später zu erwähnenden Reise kennen lernte, war in meinen reiferen Jahren nicht mehr nachhaltig genug, um mich dieses Volk mit den Augen eines Patrioten aus der Turnschule Jahns nur als »schnöde Franzen« ansehen zu lassen. Dessenungeachtet habe ich kein Hehl, daß persönliche Berührungen mir keineswegs Liebe einflößten, weder für die Franzosen noch für die Engländer. Ich halte sie für die gefährlichsten, weil mächtigsten Feinde Deutschlands, und persönlich ist mir die bornierte Eitelkeit jener, der bornierte Hochmut dieser im höchsten Grade zuwider.

In der Tat, als Satan, der »Affe Gottes«, die Eitelkeit schaffen wollte, ist ihm ein Franzos dazwischen gelaufen, und da hatte er nicht mehr nötig jene zu schaffen. Eitelkeit, komödiantische Eitelkeit ist das Grundmotiv der französischen Geschichte. In der offiziellen Sprache heißt dieses Motiv »Glorie«, ein kokett ausgestopftes und beflittertes Ding, nach der gerade herrschenden Tagesmode so oder so angezogen. Aus Eitelkeit ermorden die Franzosen ihre Könige, aus Eitelkeit machen sie ihre revolutionären Purzelbäume, und wenn diese mißlingen, so bleiben die Gaukler im Kote liegen und beten den ersten besten Götzen an, welcher, geschwind genug bei der Hand ist, ihnen den Fuß auf den Nacken zu setzen. Dann wird ihnen zuletzt wieder die Geschichte zu langweilig, und sie heben das alte Spiel von neuem an. Es hat in Frankreich nie eine Partei gegeben, weder Legitimisten noch Konstitutionelle noch Republikaner, welche gewußt hätte, was Gerechtigkeit und Humanität ist. Deutschland mag sich vor dieser französischen Nationaleitelkeit in acht nehmen, welche sich ohne Zweifel mit jedem, auch dem verworfensten Despoten verbünden würde, wenn dadurch der Zweck erreicht werden könnte, ein Opfer, wie etwa das linke Rheinufer, auf den Altar der Gloria Vulgivaga Parisiorum niederzulegen. Dies ist, wohlverstanden! im Jahre 1857 geschrieben und zuerst 1858 gedruckt worden. Seither haben die Ereignisse meine damaligen Äußerungen nur allzusehr gerechtfertigt, und hat das Jahr 1870 insbesondere bewiesen, was für ein elender Schwindel die sozialistischen Bruderschaftsphrasen der Franzosen waren. Und dennoch lieh sich – unglaublich aber wahr! – selbst noch nach Aufbruch eines Krieges, wobei es sich um Deutschlands Sein oder Nichtsein handelte, eine erkleckliche Anzahl von deutschen Gimpeln durch diesen abgestandenen Bruderschaftsphrasenleim abermals leimen, so sehr, daß sie zuungunsten ihres Vaterlandes und zugunsten des dasselbe »bis aufs Messer« bekriegenden Frankreichs ihre alten Gimpel- und Simpellieder herleierten. In den verräterischen Refrain: »Tut den lieben Franzosen doch ja nichts zuleide!« stimmten aber bekanntlich auch noch andere Vögel emsig mit ein: vaterlandslose Juden – ich meine unbeschnittene wie beschnittene – ferner Bursche, welche im preußischen Militär oder Zivil vergeblich an- und unterzukommen versucht oder in der kaiserlichen Schwindelbude in Paris, welcher »unsere Leut« Fould, Pereire und Komp. vorstanden, ein bißchen mitgeschwindelt oder beim Plon-Plon und anderen Bonaparteschen Prinzenschaften und Prinzeßlichkeiten antichambriert hatten. Note zur 2. Auflage v. J. 1871.

Wie bei den Franzosen die Eitelkeit, so entspringt bei den Engländern der Hochmut aus ihrer Ignoranz. Wie nach dem Glauben der Hindus ihre heilige Stadt Benares, so liegt nach dem Glauben John Bulls sein Land um 80 000 oder gar um 300 000 Stufen dem Himmel näher als die übrigen Teile des Erdbodens. Man würde aber irren, wollte man annehmen, solcher Glaube sei eben weiter nichts als die fixe Idee einer insularischen Bevölkerung. Es ist in diesem Wahnsinn Methode, kaufmännischer Kalkül. Da die Engländer die ganze Erde beschwindeln und ausbeuten, zugleich aber auch eine sehr fromme Nation sein wollen, so sind sie auf das sinnreiche Auskunftsmittel verfallen, alle übrigen Völker als untergeordnete Rassen, als Gojim im althebräischen Sinne anzusehen, die von Gottes und Rechts wegen der Beschwindelung und Ausbeutung durch das auserwählte Volk Englands preisgegeben seien. Ein grüngelber Faden von Heuchelei geht durch das ganze englische Wesen, von der kolossalen Heuchelei der englischen Verfassung an, unter deren Schutz etliche zwanzig Millionen Menschen daheim, etliche hundert Millionen in den Kolonien von etlichen tausend Familien ausgebeutet werden, bis herab zu der jämmerlichen Heuchelei, welche vorgibt, die beiden größten Dichter Englands, Shakespeare und Byron, seien mit der versauerten Prüderie einer einfältigen Pensionatsvorsteherin anzusehen. Wahrlich, wir Deutsche haben unsere großen Geister auch nicht auf Rosen gebettet, aber doch wäre bei uns im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr möglich gewesen, was in England in dieser Richtung geschah. Nie hat das stolze Albion einen freieren Geist, ein edleres Gemüt, ein liebevolleres Herz besessen, als der arme Shelley war. Und diesen Mann hat die grausame Gleisnerei seiner Landsleute aufs Brutalste angefeindet, im wörtlichen Sinne mit Faustschlägen mißhandelt, verdammt, geächtet, in den Tod gehetzt .... Ich bin überzeugt, das unerbittlichste Mißtrauen gegen die vor keiner Tücke zurückschreckende englische Selbstsucht wird mehr und mehr zum Katechismus eines Deutschen gehören müssen, welcher sein Vaterland liebt und nicht mehr jung genug ist, den Köder liberaler englischer Zeitungsphrasen zu verschlucken.

Italien und Spanien sind in ihrer dermaligen Verfassung nur Ruinen einer großen Vergangenheit, aber überall atmet auf diesen Ruinen der volle Hauch der Schönheit und Poesie. Beide Länder stehen in moderner Kultur gegen Deutschland unermeßlich weit zurück, aber wie ihr Unglück, so hat auch ihr schmerzliches Ringen nach Erneuung und Entwickelung etwas, was uns Deutsche sympathisch berührt. Auch wir find ja ewig Ringende und Strebende, keine in ihrem Hochmut eingemummten englischen, keine in ihre Eitelkeit eingemauerten französischen Satisfaits. Und etwas könnten wir von den Südländern lernen, die Anmut der Lebensführung, den Adel und die Würde der Persönlichkeit, auch in der äußeren Erscheinung. Weiß der Himmel, ich bin mit dem alten Walter von der Vogelweide völlig einverstanden, daß in deutschen Landen die besten Frauen daheim seien; aber als standhafter Bekenner der Religion der Schönheit muß ich doch sagen, daß die südländischen Schönen manches besitzen, um was die nordländischen durchschnittlich sie beneiden sollten. Die Französin weiß die Grazie zu affektieren, die Italienerin und Spanierin hat sie. Stundenlang hab' ich in Rom Zügen von Wallfahrerinnen zugeschaut, die aus der Campagna hereinkamen. Die nächste beste junge Bäuerin aus den Albanerbergen entfaltet in Gang, Haltung, Blick und Gebärde eine harmonische Schönheit, wie bei uns keine wirkliche oder Theaterkönigin.

Weiter behellige ich den geneigten Leser mit aus meinen Reiseerinnerungen resultierenden Einfällen nicht, sondern führe ihn lieber ins Arbeitskabinett des Obersts und Kantonsrat Gottlieb Kippling, wohin ich am Tage meiner Rückkehr von jenseits der Alpen zur Erstattung eines Generalberichts berufen worden war.

Nachdem ich mich meines Geschäftes entledigt hatte, sagte der Herr Oberst:

»Ich war schon zum voraus durch Ihre Briefe instand gesetzt, Ihnen meine völlige Zufriedenheit mit den Ergebnissen Ihrer Reise zu bezeugen, Herr Hellmuth. Namentlich hat Ihr umsichtiges und energisches Benehmen hinsichtlich des Falliments der Firma Torti in Barcelona unser Haus vor einem sehr bedeutenden Schlag bewahrt. Die Summe, welche ich vorhin in unseren Büchern Ihnen gutzuschreiben Herrn Bürger angewiesen habe, soll Sie überzeugen, daß Sie nicht umsonst für uns gearbeitet haben. Ich hoffe, auch in Frankreich und England, wohin Sie wohl schon nach einigen Wochen gehen sollten, um eine wichtige Kombination durch Ihre Anwesenheit zu fördern, wird Ihren Eifer das Glück begleiten .... Jetzt aber von etwas anderem. Wie stehen Sie mit meiner Tochter Julie, Herr Hellmuth?«

Natürlich überraschte mich diese Frage nicht übel. Ich wußte in der Tat nicht, was ich darauf antworten sollte, um so weniger, als ich Fräulein Kippling seit meiner Rückkehr noch nicht einmal gesehen, geschweige denn gesprochen hatte.

»Nun?« fragte Herr Kippling etwas ungeduldig, mich unter dem Rande seiner Brille hervor scharf fixierend.

»Sie sehen mich so verblüfft, Herr Oberst,« versetzte ich, »daß ich mich vergebens bemühe, den Sinn Ihrer Frage zu finden.«

»Wirklich? So will ich mich denn deutlicher ausdrücken, erwarte aber, daß Sie Offenheit mit Offenheit erwidern. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich meine Tochter liebe, vielleicht zu sehr, weil ich ihre Launen gewahren ließ, ohne beizeiten dagegen einzuschreiten. Jetzt, fürchte ich, ist es zu spät dazu, denn Julies hübscher Kopf ist zugleich ein Eisenkopf, das heißt, wenn es ihr gerade einfällt, einen solchen aufzusetzen. Nun, das ist schon so, wie es ist, und ein praktischer Mann weiß, daß man mit Bedauern und Wünschen nichts gegen Tatsachen ausrichtet. Genug davon ... Es muß zwischen Julie und Ihnen, unmittelbar vor meiner Tochter Abreise nach Baden-Baden, etwas vorgegangen sein, was einen bedeutenden, ich möchte sagen einen gewaltsamen Eindruck auf sie machte. Was war es?«

»Wenn Sie diese Frage in Fräulein Kipplings Gegenwart an mich richten wollen, werde ich sie vielleicht beantworten können, aber auch nur vielleicht.«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß ein Mann von Ehre nie ein angelobtes Schweigen bricht.«

»Und wenn ich Ihnen, als meinem Kommis, befehle, zu reden?«

»In diesem Falle werde ich auf die Ehre, Ihr Kommis zu sein, lieber verzichten als ein Tropf zu werden.«

»Überspanntheiten! Unpraktisches Zeug! Wenn ich Sie nun beim Wort nähme?«

»Versuchen Sie es!«

Der Herr Oberst schob seine Brille über die Stirn hinauf, als wollte er sich die Rarität von Menschen, welcher ihm, dem Kommandanten von Millionen, so zu kommen wagte, mit ganzem Gesichte betrachten. Ein unbeschreiblich höhnischer Ausdruck lag in seinen Augen, welche in diesem Moment ganz auffallend an die Hohnblicke seiner Tochter gemahnten. Aber Kommandanten von Millionen sind in der Regel keine Brauseköpfe, sondern Leute von Selbstbeherrschung. Die Brillengläser senkten sich langsam wieder in ihre frühere Stellung, und mit einem natürlichen oder erkünstelten Lachen sagte mein Herr Chef:

»Kommen Sie, wir wollen vernünftig sprechen und alle unpraktische Erhitzung vermeiden. Sagen Sie mir, war es Julie, welche Sie Schweigen geloben ließ?«

»Ich habe Schweigen gelobt. Das muß Ihnen genügen.«

»Es genügt, denn ich verstehe Sie, und so hatte ich denn nur zu sehr Grund, zu fürchten, meine Tochter habe sich kompromittiert.«

»Kompromittiert?«

»Nun ja, ich denke, Gottlieb Kipplings einzige Tochter kompromittiert sich, wenn sie sich zur Liebelei mit einem Kommis ihres Vaters herabläßt.«

Der Stolz hatte sich nie wilder in mir aufgebäumt, als er bei dieser Äußerung des Millionärs tat. Das Blut schoß mir ins Gesicht, und mein Blick mußte kein sanfter sein, denn der Herr Oberst machte unwillkürlich eine begütigende Gebärde.

»Mein Herr,« sagte ich mit so viel Ruhe, als ich aufbringen konnte, »wenn vorausgesetzt werden könnte, die einzige Tochter von Gottlieb Kippling hätte sich so weit kompromittiert, daß sie sich zu einem Kommis ihres Vaters herabließ, so entstünde noch die Frage, ob sich der Kommis seinerseits so weit kompromittiert hätte, von der fraglichen Herablassung Gebrauch zu machen.«

»Sie sind stolz, Herr, und Sie führen eine Sprache, wie sie Gottlieb Kippling nicht zu hören gewohnt ist. Aber es mag sein. Praktische Leute legen auf Formen nicht mehr Gewicht, als unumgänglich nötig ist. Das Wesentliche der Sache ist: Sie lieben Julie nicht?«

»Nein.«

»Gut. So, wie ich meine Tochter kenne, glaubte ich ihrem Benehmen gegen Sie abmerken zu können, daß zwischen ihr und Ihnen das phantastische Ding im Spiele sei, was junge Leute Liebe nennen. Wenn ich mich getäuscht habe, desto besser.«

»Herr Oberst, ich will nicht verbergen, daß es Stunden und Tage gab, wo ich glaubte, es müßte ein unermeßliches Glück sein, wenn Fräulein Kippling das von Ihnen so verächtlich bezeichnete Gefühl für mich hegte. Aber einerseits dämpfte das Bewußtsein meiner Stellung meine Wünsche, andererseits –«

»Andererseits?«

»Andererseits – da wir nun doch einmal in dieses zarte Thema eingetreten sind – andererseits mußte ich fürchten, daß, wenn es überhaupt möglich wäre, daß Fräulein Kippling das bezeichnete Gefühl für mich hegte, dasselbe noch viel zu flüchtiger Natur wäre, um darauf eine Zukunft zu bauen.«

»Sie schmeicheln meiner Tochter nicht eben sehr. Wenn Sie sich aber geirrt hätten?«

»Ich kann es nicht glauben. Fräulein Kippling ist eine zu geniale Natur –«

»Ja, das ist eben der Jammer! Was haben mich Julies Genialitäten nicht schon gekostet! Wieviel Ärger, wieviel Verdruß haben mir diese Genialitäten schon bereitet! Und doch kann man dem Kinde trotz alledem nicht böse sein. Jeder Mensch hat so seine Schwäche. Die Schwäche von Gottlieb Kippling heißt Julie .... Sehen Sie, Herr Hellmuth, ich danke Ihnen für Ihre in dieser Sache bewiesene Ehrenhaftigkeit – denn ich müßte nicht die Augen eines Vaters im Kopfe haben, wenn ich nicht wüßte, daß Julie Ihnen mitunter in einer Art und Weise entgegenkam, welche anderen jungen Männern Ihres Alters völlig den Kopf verdreht hätte – ja, ich danke Ihnen für Ihre Ehrenhaftigkeit dadurch, daß ich ganz offen sein will. Ich hatte in Beziehung auf meine Tochter gewisse Absichten, ganz verständige Absichten, die aber nun, fürchte ich, so oder so durchkreuzt werden sollen. Nun, es ist mir so vieles gelungen im Leben, daß ich mich resignieren muß, wenn mir einmal etwas, freilich etwas Wichtiges, mißlingt.«

Der Herr Oberst schwieg nachdenklich, er war zuletzt fast weich geworden.

Wunderliche Gedanken gingen mir durch den Kopf. Wäre ich nur gewiß, daß mich Julie wirklich liebte, dachte ich, in dieser Stunde könnte ich vielleicht einen glücklichen Sturm auf das Herz ihres Vaters machen. Und hatte sie denn nicht unter brennenden Küssen mir zugeflüstert, daß sie mein Weib werden wollte? Dieser Gedanke übergoß mein Herz mit Glut. Aber der schroffe Wechsel der Empfindungen, welcher meinem Verhältnis zu Julie seit seinem Entstehen eigen gewesen, blieb auch jetzt nicht aus und verschloß mir den Mund .... In späterer Zeit, als ich endlich über alle diese peinliche Unklarheit hinaus war, fand ich, daß nichts meinen Zustand, während ich in Julies Zauberkreis gefangen war, besser bezeichnete als jene Stelle am Eingang des zweiten Teils von Goethes ewigem Gedicht, wo der vom Schlafe erwachte Faust in die aufgehende Sonne schaut, um geblendet und »schmerzdurchdrungen« zurückzufahren und in die Worte auszubrechen:.

So ist es also, wenn ein sehnend Hoffen
Dem höchsten Wunsch sich traulich zugerungen,
Erfüllungspforten findet flügeloffen;
Nun aber bricht aus jenen ew'gen Gründen
Ein Flammenübermaß – wir stehn betroffen.
Des Lebens Fackeln wollten wir entzünden,
Ein Feuermeer umschlingt uns, welch ein Feuer!
Ist's Lieb'? Ist's Haß? Die glühend uns umwinden,
Mit Schmerz und Freuden wechselnd ungeheuer?«

Herr Kippling unterbrach sein und mein Sinnen plötzlich wieder mit der Frage:

»Kennen Sie vielleicht die Kinder des verstorbenen Freiherrn Bodo von Rothenfluh?«

»Bertolt und Isolde von Rothenfluh?« versetzte ich, über diese Frage nicht weniger verwundert, als ich es über die frühere meines Chefs gewesen war.

»Ja, den Freiherrn und das Freifräulein dieses Namens,« sagte er.

»Freilich. Ich bin ja mit ihnen aufgewachsen, wie man zu sagen pflegt.«

»Ach ja, ich vergaß, das heißt, ich erinnere mich, daß – hm, ich bin heute wunderlich zerstreut ... Natürlich kennen Sie die Geschwister Rothenfluh ... Meine Kinder haben in Baden-Baden die Bekanntschaft des Freiherrn gemacht, an der Spielbank, glaub' ich. Der junge Herr ist, wenn ich recht gehört habe, kürzlich zum Rittmeister in seinem Regiment avanciert, nachdem er sich auf einem Feldzug gegen die Kabylen oder andere Wilde in Algier, den er als Volontär unter den französischen Fahnen mitgemacht, durch tollkühne Bravour ausgezeichnet hatte. Im übrigen sei er ruiniert und sein Gut so völlig verschuldet, daß er sich kaum noch ein oder zwei Jahre werde halten können, wenn es gut gehe. Meine Kinder haben ihn nachher in der Residenz, wo sein Regiment garnisoniert, besucht und auf seine Einladung hin auch einen Ausflug mit ihm nach Rothenfluh gemacht, in dessen Nähe auf einer Art Bauernhof – sein Name ist mir entfallen – sie auch Fräulein von Rothenfluh kennen lernten. Julie ist entzückt von dieser schönen Einsiedlerin und – nun, es könnte sich aus diesen Bekanntschaften manches entwickeln. Theodor sagt, das Schloß Rothenfluh sei zur Anlage von industriellen Etablissements wundervoll gelegen. Herrliche Wasserkraft, Arbeitslöhne sehr billig, Holz überreichlich vorhanden. Außerdem, meinem Sohne wäre es in mehrfacher Beziehung gesund, wenn er eine Frau hätte, die er respektieren müßte ... Nun, wir werden ja sehen. Der Freiherr wird demnächst zum Gegenbesuch hierher kommen und vielleicht seine Schwester mitbringen. Wir wollen gelegentlich mehr von der Sache sprechen, denn ich glaube, daß Sie mir über dieses und jenes Auskunft und Nachweis geben können. Inzwischen ruhen Sie sich aus, treffen Sie beizeiten Ihre Vorbereitungen, zu jeder Stunde, wenn es nötig werden sollte, wieder abreisen zu können. Ja, und ... apropos, ich muß Sie bitten, morgen früh Punkt zehn Uhr hierher zu kommen. Bedarf Ihrer Dienste in einer Geschäftsangelegenheit, die recht gedeihlich zu werden verspricht .... Daß im übrigen meine Tochter von unserer Privatunterhaltung nichts erfahre, brauche ich einem Manne, der so schweigen kann wie Sie, nicht erst anzuempfehlen. Adieu für heute.«

Ich ging ganz betäubt hinweg. Die Geschwister Kippling hatten die Geschwister Rothenfluh kennen gelernt und daraus »könnte sich manches entwickeln«? War der Herr Oberst wirklich nur in der Zerstreuung so gesprächig gewesen oder, wenn nicht, was hatte er mit seinen vertraulichen Mitteilungen beabsichtigt?

Zweites Kapitel,

welches Bericht gibt, wie ein großer Spekulant in Kohlen und ein kleiner im höheren Blödsinn Geschäfte macht.

Die Klagen über den Unglauben unserer Tage sind kaum gerechtfertigt. Im Gegenteil, es dürfte sich unschwer beweisen lassen, daß zu keiner anderen Zeit neben der Glaubenslosigkeit eine so unerschrocken durch dick und dünn gehende Gläubigkeit vorhanden gewesen sei. Und sonderbarerweise manifestiert sich dieser entschlossene Glaubenseifer insbesondere auf einem Gebiete, das den Todfeind von jenem als legitimen Herrscher anerkennt, auf dem Gebiete des Einmaleins. Man hat den Materialisten vorwurfsvoll mit Mephisto zugerufen:

Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern;
Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht;
Was ihr nicht münzt, das, meint ihr, gelte nicht ...

aber das ist ein höchst ungerechter Vorwurf. Der Materialismus unserer Zeit klebt keineswegs sklavisch am Stoff – bewahre! Er operiert vielmehr oft, sehr oft mit dem puren, blanken Nichts, sofern man nämlich die Leichtgläubigkeit und blinde Gier der Menschen als ein Nichts bezeichnen will, und das Organ der Phantasie ist bei ihm nicht weniger entwickelt als bei einem Mönche zur Zeit der Kreuzzüge, nur nach einer anderen Seite hin. Seid still, ihr Herren Poeten! Eure Klagen über den Materialismus sind nur insofern begründet, als er euch Konkurrenz macht, bedrohliche Konkurrenz, und zwar, kaufmännisch zu sprechen, in eurem eigenen Hauptartikel. Ja, er konkurriert mit euch in der Erfindung, und jeder Tag liefert den Beweis, daß er euch darin weit überflügelt hat und den Markt vollständig beherrscht. Geht es noch eine Weile so fort, kann es nicht ausbleiben, daß die Firma Apoll und Komp. vor der Firma Mammon und Söhne völlig die Flagge streichen muß.

»Mein lieber Herr Hellmuth,« sagte der Herr Oberst zu mir, als ich mich am folgenden Morgen in seinem Kabinett eingefunden hatte, »die Spekulation, um welche es sich handelt, ist diese. Sie wissen, das Eisenbahnfieber hat auch bei uns zulande zu grassieren angefangen und dürfte binnen kurzem seinen Höhepunkt erreichen. Der Geschäftsmann muß solche Krisen benutzen: das ist sein Recht und seine Pflicht. Wir haben in letzter Zeit mit den Papieren der Eisenbahngesellschaften, die sich bei uns bildeten, schon recht hübsche Geschäfte gemacht. Die Operation ist sehr einfach. Man zeichnet gleich zu Anfang eine möglichst große Anzahl Aktien, und wenn der Kurs auf die möglichste Höhe hinaufgeschraubt ist, wenn das Publikum von nichts mehr träumt und redet als von der Eisenbahnherrlichkeit, schlägt man sie los. Indessen hat diese Seite der Eisenbahngeschäfte bereits den ersten Reiz der Neuheit verloren und demnach auch die Aussicht auf große Gewinnste. Ich bin daher auf eine neue Idee geraten, die mir Gelegenheit geben soll, einen großen Schlag zu tun .... Wie Sie wissen, haben infolge lebhaften Fabrikbetriebs bei uns die Holzpreise bereits eine ziemlich bedeutende Höhe erreicht. Durch den Betrieb der Eisenbahn müssen die Holzpreise sofort noch beträchtlich steigen. Dies berechnend, will ich eine Steinkohlenspekulation machen, die sehr lukrativ ausfallen muß; es kann gar nicht fehlen.«

»Man hat also endlich das Langgesuchte gefunden, ein Steinkohlenlager?«

»Das gerade nicht .... Warten Sie nur, Sie werden mich sogleich begreifen. Einheimische Kohlen fehlen uns, wir müssen sie schaffen oder wenigstens vorderhand eine Kohlenkompanie. Verstehen Sie?«

»Nicht ganz.«

»Aber das ist ja das Einfachste von der Welt. Alles hungert nach Steinkohlen, welche unserem Eisenbahnwesen sozusagen erst den rechten Bogen geben würden. Es muß also ein Steinkohlenlager schlechterdings entdeckt werden, und zwar jetzt entdeckt werden, wo, wie gesagt, das Eisenbahnfieber noch grassiert. Wir treffen also die passenden Maßregeln. Ein Professor der Naturwissenschaften, auf den ich mich verlassen kann, ist gewonnen. Wir bedürfen aber zunächst auch noch einer Feder, welche in den Zeitungen den gehörigen Lärm schlagen kann. Diese Feder sollen Sie führen.«

»Ich?«

»Freilich. Sie schreiben, ohne Kompliment, einen guten Stil, und bei dieser Gelegenheit dürfen Sie nicht nur, sondern müssen Sie sich Ihrem alten Hange, möglichst blumenreich und poetisch zu schreiben, mit allem Eifer hingeben.«

»Aber, Herr Oberst, wo ist denn das Kohlenlager?«

»Unpraktische Frage! Wo es ist? Denke, droben am Kärtschenstock oder auf der Sandalp oder sonstwo. Der Professor wird das schon besorgen. Wofür wären solche Leute sonst da? Er wird sagen, das Kohlenlager ist gefunden. Schon das wird großen Jubel in Israel erregen. Dann kommen Sie, Herr Hellmuth, und eröffnen in den beiden einflußreichsten hiesigen Zeitungen – für die Aufnahme Ihrer Artikel stehe ich – den Feldzug mit pikantem Geplänkel, das heißt mit mysteriösen Winken und Andeutungen. Ist dadurch die öffentliche Aufmerksamkeit erregt, so rücken Sie mit dem schweren Geschütze vor, das heißt mit Lokalbeschreibungen, die möglichst poetisch gewürzt sein sollen, und dann mit einer recht geschäftsmäßigen Auseinandersetzung der ungeheuren Wichtigkeit der Sache, wie dadurch dem Eisenbahnwesen, der Industrie, der Hauswirtschaft ein ganz neuer Aufschwung bevorstehe, und dergleichen mehr. Je mehr Sie die Einbildungskraft der Leute in Flammen setzen, je mehr großbrockige Redensarten von öffentlicher Wohlfahrt, Steigerung der Zivilisation und dergleichen unpraktischem Zeug mehr Sie ausgehen lassen, desto besser. Ich bürge Ihnen dafür, die Leute werden bald die ganze Welt für ein Steinkohlenlager ansehen. Ist es so weit, so entwerfen Sie ein wundervolles Programm, auf Grund dessen wir eine Kohlenkompanie bilden, zu deren nominellem Direktor ich den gewandten Burschen, den Ziegenmilch, ausersehen habe. Man wird sich um die Aktien reißen. Wir sichern uns natürlich unter eigenem und fremdem Namen die Masse derselben, um sie, während das Unternehmen recht en vogue ist, mit mächtigem Profit zu verkaufen.«

»Aber, Herr Oberst, entschuldigen Sie, das ist ja ein –«

»Geschäft, wollen Sie sagen? Allerdings, und zwar zweifelsohne ein höchst profitables.«

»Aber die Natur dieses Geschäftes –«

»Ah bah, der Geschäftsmann hat nicht nach der Natur eines Geschäftes zu fragen, sondern nur danach, ob es vorteilhaft oder unvorteilhaft sei. Mit Katechismusmoral macht man keine Geschäfte, mein lieber Herr Hellmuth.«

»Aber das Kohlenlager ist ja gar nicht vorhanden. Sie spekulieren also mit einem und auf ein Nichts und –«

»Aha!« unterbrach mich der Herr Oberst, indem er seine Brille aufhob und mich mit einem Blicke gutmütigen Spottes ansah, »sehe, daß Sie in dieser Geschäftsbranche ebensowenig bewandert sind wie Herr Bürger. Nun, ich muß sehen, daß ich ohne die beiden Herren mit dem Unternehmen fertig werde, und mit Theodor und Herrn Ziegenmilch mich behelfen.«

»Brr!« machte ich, als ich die Treppe hinabstieg, und schüttelte mich wie ein nasser Pudel. »Ich sehe schon, daß ich nicht dazu gemacht bin, die Menschheit anzukohlen.«

Nachmittags ging ich, Ziegenmilch und Komp. meinen Besuch zu machen und von dort aus die Blumenausstellung zu besuchen, auf welche mich Fräulein Kippling bei Tische aufmerksam gemacht hatte. Sie hatte sich mit ruhiger Freundlichkeit gegen mich benommen, aber meinen bescheidenen Versuch, sie über ihren Besuch in Rothenfluh sprechen zu machen, scheinbar gar nicht beachtet. Ihr dagegen war es besser gelungen, mich erzählen zu machen, und nachdem ich ihre Neugierde hinsichtlich Roms, Neapels und Genuas, Valencias und Granadas möglichst befriedigt hatte, sagte sie lächelnd: »Da sieht man doch einmal, daß auch ein Kaufmann mit einigem Nutzen erzählen kann.« Dann abspringend, warf sie in eigentümlichem Tone die Äußerung hin: »Da Sie, Herr Hellmuth, zu Rom im Kolosseum gestanden haben, können Sie mir vielleicht sagen, ob es wohl Lord Byron mit dem Fluche, welchen er laut des vierten Canto von Childe Harold an jener Stelle ausgesprochen hat, ernst gewesen sei.« – »Mit dem Fluche, Fräulein?« – »Nun ja, mein Herr; Sie erinnern sich doch? My curse shall be forgiveness!« ... Bevor ich erraten konnte, welchen Bezug ich dieser Bizarrerie geben sollte, mischte sich der Herr Oberst ins Gespräch und nahm daher dasselbe eine andere Wendung.

»Mein Fluch, er sei – Vergebung! ...« Ich grübelte über die Bedeutung nach, welche dieses Zitat aus der erhabensten Ausströmung der Byronschen Muse im Munde Julies möglicherweise haben könnte, als ich an einer Straßenecke fast Nase an Nase mit dem berühmten Redakteur der »Konservativen Hetzpeitsche« zusammenstieß, was daher rühren mochte, daß die genannte Person mit andächtig gen Himmel gerichtetem, ich aber mit nachdenklich zur Erde gesenktem Blick einherkam.

Von weitem hätte ich übrigens Herrn Rumpel gar nicht erkannt, denn statt des gentlemanliken Anzugs eines »höllisch flott« lebenden »Weltgenies« von Journalisten trug er einen langen, fast bis zu den Knöcheln hinabreichenden schwarzen Rock, eine hohe, steife weiße Halsbinde, auf schlicht an den Ohren niederhängenden Haaren einen sehr breitkrämpigen Quäkerhut und unter dem Arme ein großes Buch mit Goldschnitt und schwarzem Einband, welches sehr heilig aussah.

»Beim Zeus,« rief ich verwundert aus, »wie sehen Sie drein, bester Rumpel? Was soll die Maskerade am hellen Tage?«

»Maskerade? lieber Bruder in Jesu,« entgegnete der Angesprochene mit zuckersüßer Miene. »Bitte, behelligen Sie meine Ohren nicht mit solchen sündhaften Worten. Ich trage das Kleid der mir auferlegten Mission. Mögen die Spötter darüber spotten, ich lasse mich auslachen um Christi willen.«

»Nun, Herr Rumpel, bei allen Göttern! Wenn ich es nicht etwa mit einem Verrückten zu tun habe, so ist es hier, wie kaum jemals, am Platze, mit dem großen William zu sprechen:

Das ist die list'ge Ausstattung der Hölle,
Den frechsten Schall verkleidend einzuhüllen
In fromme Tracht.«

»Ich verzeihe Ihnen, lieber Bruder, wie es einem Christen geziemt. Sie waren ja abwesend, können also nicht wissen, daß die Gnade endlich in mir zum Durchbruch gekommen ist und das Licht hereinleuchtet in meine Finsternis.«

»Darauf kann ich nur abermals mit Shakespeare erwidern:

Gar viel erlebt man: mit der Andacht Mienen
Und frommem Wesen überzuckern wir
Den Teufel selbst.«

»Shakespeare? Unheiliger, sündhafter Skribent – anathema sit!«

Dies sagte der Schuft mit einer Gebärde und Stimme, daß ihn der ausgelernteste Konventikelmann hätte darum beneiden müssen. Dann ließ er seine Augen rasch umhersperbern und flüsterte mir mit seiner natürlichen Rumpelstimme zu: »Es ist hier eine zu belebte Passage. Könnte leicht eines meiner Schäfchen vorbeigehen. Kommen Sie mit mir nach dem alten Quai hinunter. Sind dort ungestörter, unbelauschter – wissen Sie?«

Ich folgte dem Vorangehenden an den Fluß hinüber, und sobald wir an einer abgelegenen Stelle des Quai angekommen waren, wandte er sich um und sagte lachend:

»Vor allem, werter alter Freund, sagen Sie mir eins: spiele ich meine Rolle leidlich?«

»Ei ja doch,« versetzte ich, »Sie stellen einen ganzen Mucker vor.«

»Häßliches Wort! Aber unter uns mag es hingehen. Wenn man nur seine Rolle leidlich ausfüllt, das ist die Hauptsache. ›Die ganze Welt ist Bühne‹ und so weiter – wissen Sie?«

»O ja, ich weiß, ich weiß und – wissen Sie? Alter Rumpel – ich weiß noch mehr:

Der Mensch
Spielt solchen Wahnsinn gaukelnd vor dem Himmel,
Daß Engel weinen.«

»Sie sind ein hartnäckiger Shakespeareaner, Sie! Ob Engel über mein Spiel weinen, lasse ich dahingestellt sein. Mögen sie es tun, wenn es ihnen Spaß macht. Leben und leben lassen – wissen Sie?«

»Ja. Wie lebt denn die ›Konservative Hetzpeitsche‹?«

»Hat ausgeknallt. Verschwunden, verdunstet, verduftet, weg! Die Wahlen von neulich haben dem konservativen Parteifaß den Boden ausgeschlagen. Ausgeronnen die ganze Brühe – wissen Sie?«

»Wie, alle Ihre weltgeniemäßigen Findungen?«

»Zum Teufel gegangen, hast nicht gesehen? War der große Haufe viel zu dumm, um so viel verschwenderisch vor ihm ausgeschüttetes Weltgenie verdauen zu können – wissen Sie? Lief das Volk in den liberalen Ochsenstall zurück. Sind die Liberalen jetzt wieder am Brett und ist mein hochgestellter Gönner dem Rufe nach einer germanischen Universität gefolgt, wo er jetzt den dummen Jungen meine weltwissenschaftliche Methode, alten Plunder zu balsamieren, vorbrosämelt. Schlug daher frischweg eine andere Karriere ein. Mundus vult decipi – wissen Sie? – ergo vivat der Humbug! Schwindelte mich im Handumdrehen aus dem politischen in den theologischen Schwindel hinüber. Ward eines schönen Morgens ein Bekehrter, ein Frommer erster Sorte. Führen für einen Mann von praktischem Genie heutzutage alle Wege nach Rom, das heißt in den Geldbeutel seiner lieben, einfältigen, belogen und betrogen sein wollenden Mitmenschen – wissen Sie? Leben in einer Zeit, wo die zehn alten Gebote auf zwei reduziert sind: – Erstens: Du sollst nie unter einer Million stehlen! Zweitens: Wenn du schlechterdings gegen jenes Gebot sündigen willst, so laß dich wenigstens nicht erwischen, denn nur die großen Diebe läßt man laufen.«

»Alles schon dagewesen.«

»Freilich, aber noch nie trat der Schwindel mit so festem Bewußtsein auf, ein sozialer Motor zu sein, wie jetzt. Goethes Mephisto würde heute nicht mehr den Kerl, ›der spekuliert‹, ein dummes Tier nennen – wissen Sie? Heutzutage spekulieren so ziemlich alle, immer der eine auf die Dummheit des anderen. Erinnern Sie sich noch der berühmten Leute, mit welchen wir mal bei Gottlieb Kippling zu Mittag speisten? Lauter Spekulanten, beim stygischen Jupiter! Spekulieren Gaukel, Schwarbel und Komp. auf die geistige Impotenz und den Ungeschmack der Zeit, spekuliert der Zarkle auf den Treubundsdusel, der Düngerling auf die gemeine Utilitätswut, der Schmirkli auf die totale Verblasenheit des protestantischen Kirchenwesens. Alle sind sie die Spekulanten, Scharlatane, Humbuger. Und ich, Cyrillus Chrysostomus Theophilus Rumpel, sollte mich besinnen, mitzuschwindeln in dem allgemeinen Schwindel und mein Netz in das Meer des Unsinns auszuwerfen? Quod non! Hat freilich seine Unannehmlichkeiten, in so einem Rock, so einer Halsbinde, so einem Hut und mit so himmelwärts gedrehten Augen über die Straße zu gehen, aber ich spreche mit dem Geizigen des alten Horaz:

Populus me sibilat, ad mihi plaudo
Ipse domi, simul ac numos contemplor in arca.
« Obzwar mich auszischen die Leute, so klatsche ich Beifall,
Doch zu Hause mir selbst, beguckend im Kasten die Gelder.

»Ihr Geschäft ist also einträglich, Herr Rumpel?«

»Das will ich meinen!« versetzte er. »Wird aber noch einträglicher werden, wenn eine große Spekulation, die ich vorhabe, einschlägt.«

»Aber was treiben Sie denn eigentlich?«

»Hohen, höheren und höchsten Blödsinn – wissen Sie? Habe mir zwei Kreise in hiesiger Stadt gebildet, sozusagen zwei Bergwerke der Dummheit, die ich behaglich ausbeute. Ist der eine ein ganz gewöhnlicher Pietistenkreis, welchen ich demnach auch mit dem ganz gewöhnlichen Handwerkszeug bearbeite. Füttere die Schäflein mit aus Swedenborgismus, Chiliasmus, Apokalypsismus und anderen dergleichen Ismen geschnittenem Häckerling, wobei dieselben so gedeihen, daß mir ein hübsches Quantum Wolle zufällt. Der andere Kreis verlangt anderes Futter. Besteht er nämlich hauptsächlich aus Weiblein und Mägdlein, welche den sogenannten gebildeten Ständen angehören – wissen Sie? Auch unsere poetische Frau Ziegenmilch gehört dazu, weil ihr Herr Gemahl für ihre ›immense‹ Gefühlsvölle – wissen Sie? – keinen Sinn hat. Gesegnet seien die Trefflichen, welche das Tischrücken, das Geisterklopfen und jenes mysteriöse Ding, das Od, erfunden haben! Sind das Artikel, welche einem Mann von praktischem Genie schönste Prozenterchen abwerfen – wissen Sie?«

»Ich verstehe; aber wie, wenn ich im Interesse der Wahrheit in hiesiger Stadt eine öffentliche Warnung vor Ihrem Geschäftsbetrieb ausgehen ließe?«

»Käme mir das ganz gelegen, mein lieber Herr. Würde mein Geschäft nur noch mehr in Schwung bringen.«

»Wirklich?«

»Versteht sich. Will die Welt betrogen, nicht aber enttäuscht und aufgeklärt sein – wissen Sie? Würde Ihnen kein Mensch für Ihre Bemühungen danken, und würde auch hier das Wort des sterbenden Talbot beim Schiller in Erfüllung gehen: ›Unsinn, du siegst!‹«

Der Schuft hat leider recht, dachte ich, als ich den Spekulanten im Artikel Blödsinn verlassen hatte. Ja, die Welt will die Lüge und ermuntert den Betrug. Der Erfolg ist alles und Unrecht ist nur das Mißlingen. Was ist am Ende der Unterschied zwischen Kippling und Rumpel? Nur das, daß jener mit seinen Spekulationen Hunderttausende, dieser Hunderte gewinnt. Der Schwindel, das heißt die Sucht, rasch und möglichst mühelos reich zu werden oder wenigstens zu scheinen, liegt in der Luft. Wir atmen das Gift mit jedem Odemzug ein. Wer dagegen predigt, ist nur ein Prediger in der Wüste. Kein Wunder daher, wenn auch die Redlichsten mehr und mehr darauf verzichten, Lunge und Atem umsonst zu verschwenden.

Drittes Kapitel

Eine erweckliche Geschichte. – Blumenausstellungen. – Ein Kompliment und ein Gegenkompliment. – Ein Augenblitz und eine Entdeckung. – Die Stanhopea. – Etwas Politik und eine Schulanekdote.

Herr Oskar Ziegenmilch war erfreut, »enorm« erfreut, mich wiederzusehen, aber auch pressiert, ganz enorm pressiert; denn, sagte er, der große Kippling habe ihm die Ehre, die ganz enorme Ehre angetan, ihn zu einer Besprechung einladen zu lassen, welche ein ganz enormes Geschäft zum Gegenstand habe.

Als er fort und ich mit Frau Lelia allein war, meinte sie seufzend, sie sei doch eine »immens« unglückliche Frau. Nie habe ihr Mann, immer in Geschäften steckend, Zeit für sie. Er habe ihr versprochen, sie heute in die Blumenausstellung zu führen. Da sei aber die Botschaft von Herrn Kippling gekommen, und so müsse sie auch auf dieses Vergnügen verzichten; »denn,« fügte sie hinzu, »in unseren jetzigen Verhältnissen ist es nicht schicklich, daß ich allein hingehe.«

Ich war natürlich höflich genug, die vornehmen Schicklichkeitsskrupel der ci-devant-Käsekrämerin dadurch zu bannen, daß ich ihr meine Begleitung antrug, und bald befanden wir uns mitsammen auf dem Wege.

Während wir den schönen oberen Quai hinauf und zur Seevorstadt, wo die Ausstellung statthatte, hinausgingen, machte ich einen Versuch, der Dame an meinem Arme eine diskrete Warnung hinsichtlich des Herrn Rumpel zugehen zu lassen. Frau Lelia wurde rot, verlegen, einsilbig, und ich merkte bald, daß Herr Rumpel, wenn nicht ihr Herz gewonnen, doch ihren Verstand, soweit einer vorhanden war, gänzlich bestrickt haben müsse. Sie wollte gar nicht mit der Sprache heraus, und ich konnte ihr auf allerlei Umwegen nur soviel abfragen, daß Herr Rumpel, wie sie sagte, ein immens erleuchteter und immens gefühlvoller Mann sei, der es verstehe, unglückliche, von ihren »im schnöden Materialismus versumpften« Männern vernachlässigte Frauen auf höhere Ziele hinzulenken, ihrem Leben einen höheren, einen immens höheren Inhalt zu geben. Ferner, daß Herr Rumpel offenbar ein vom Himmel Hochbegnadigter sein müsse, denn sie, Frau Ziegenmilch, habe es mit eigenen Augen gesehen, wie der erleuchtete und begnadigte Mann eine arme, vom Gliederweh befallene Dienstmagd durch einmaliges Gebet und Handauflegen völlig geheilt habe.

»Haben Sie,« fragte ich, »diese erweckliche Geschichte von der gesundgebeteten Magd Ihrem Vetter, Herrn Artur Puff, auch erzählt?«

»Ach nein,« versetzte sie. »Artur ist ein verstocktes Weltkind, mit dem man von höheren und heiligen Dingen gar nicht reden kann. Es ist mir daher ganz lieb, daß er nur noch selten zu uns kommt.«

»Armes, dickes, blindes Schäflein,« dachte ich. »Du wirst Wolle lassen müssen, aber was kann ich dafür. Du willst ja mit aller Gewalt dem gleißenden Wolf in den Rachen laufen.«

Die Blumenausstellungen sind auch eine jener Liebhabereien, welche unsere Zeit charakterisieren. Wir lieben überall nicht mehr das Einfache, sondern das Komplizierte, Gekünstelte, Massenhafte. Was in unseren Augen für schön gelten soll, muß kostspielig sein. Um Feste zu feiern, bedürfen wir ungeheurer Apparate, um uns zu freuen, des Tumults und Hallos. Ein simples Lied zu einfacher Klavierbegleitung einfach singen zu hören, wie langweilig! Aber eine Sängerin an halsbrechenden Rouladen sich braun und blau schreien zu sehen, während sie mit Ober- und Unterkörper konvulsivisch dazu wackelt – wie schön! Einen Strauß von Waldblumen pflücken gehen, welche verschollene Wertherei! Aber ein Billett zu einer Ausstellung zu lösen, wo die Eitelkeit von einem Dutzend Treibhausbesitzern in sinnverwirrender Zusammenstopfung der grellsten Blumenfarbenkontraste untereinander konkurriert, das gehört mit zur »Bildung«.

Die ersten Personen, auf welche wir in dem Blumensaal stießen, waren Fräulein Kippling und Herr Bürger, welche mitsammen gekommen zu sein schienen. Wenigstens standen sie beisammen, und das Fräulein hörte offenbar mit Vergnügen den satirischen Glossen zu, welche der gute Pessimist über das anwesende Publikum losließ, insbesondere über einen Trupp von Damen in der Nähe, welche sich erstaunliche Mühe gaben, die botanischen Namen auf den an die Pflanzen angehefteten Zetteln zu buchstabieren.

»Ja, studiert nur brav, meine Schönen,« hörte ich ihn im Herankommen sagen. »Die Botanik kommt eurem Bildungstrieb galant zu Hilfe. Früher, als man den Blumen noch ehrliche deutsche Namen gab, welche meistens zugleich eine symbolische Bedeutung hatten, mußte man wohl oder übel dabei sich etwas denken. Jede Blume hatte da ihren Sinn, drückte sozusagen eine Vorstellung, einen Gedanken, ein Gefühl aus. Rechne, über alle diese romantischen Blumenschnurren sind wir jetzt hinweg. Die ganze Blumenwelt ist unter die Schablone des botanischen Jargon gebracht, und so kann eine Blumenliebhaberin statt sich mit der Blumenpflege zu bemühen oder die Symbolik der Blumenschönheit verstehen zu lernen, sich einfach darauf beschränken, die Ausstellungskataloge auswendig zu wissen – 's ist kla–ar.«

»Hm, mein lieber Herr Bürger,« gab Fräulein Kippling zur Antwort, meine Begrüßung nur mit einem sehr vornehmen Kopfruck erwidernd und, die Lorgnette an die Augen hebend, meine Begleiterin in der impertinentesten hochmütigsten Weise musternd, »hm, wenn Sie, wie aus Ihrer Rede hervorzugehen scheint, die populären Blumen und Blumennamen von früher so gerne haben, so gehen Sie hier auch nicht leer aus. Die Ausstellung ist diesmal sehr bunt und vielseitig. Sehen sie nur da, geradeaus, das Prachtexemplar von einer gemeinen Butterblume.«

Der Stoß war zu offen, zu direkt, ich mochte sagen zu brutal geführt, als daß er sein Ziel hätte verfehlen können. Ich fühlte den Arm der armen Frau Ziegenmilch in dem meinigen zittern, und sie machte eine Bewegung, wegzugehen. Aber ich hielt sie fest, und empört über die einer unter meinem Schutze stehenden Dame ebenso grundlos als grausam angetane Beleidigung, sagte ich:

»Sie haben recht, Fräulein Kippling. Die Ausstellung ist sehr bunt und vielseitig, so bunt, daß sie leicht das Auge täuscht. Habe ich doch gerade vorhin aus der Ferne eine tropische Prachtblume wahrzunehmen geglaubt und beim Näherkommen bemerken müssen, daß es nur die Pflanze sei, welche in der populären Botanik von früher ›Stinkende Hochfahrt‹ hieß.«

»Lernt man im klassischen Italien und im romantischen Spanien so galant sein?« entgegnete die verzogene, launische, meisterlose Schöne, nicht mit Zorn, sondern nur mit Spott. Dann lachte sie unverhohlen, und ohne von der Anwesenheit der guten Frau Lelia weiter die geringste Notiz zu nehmen, setzte sie hinzu: »Ihr Witz, lieber Herr Hellmuth, wäre zu dickfäustig, falls Sie ihn nicht mit dem alten Sprichwort vom groben Klotz und groben Keil entschuldigen könnten. Sie sehen, ich bin gerecht und noch mehr als das, denn ich mache Ihnen zum Dank für Ihr wohlriechendes Kompliment die Freude, Sie erfahren zu lassen, daß Sie in den nächsten Tagen einen Jugendfreund und vielleicht auch eine Jugendfreundin in unserem Hause werden begrüßen können.«

Sie rauschte weg.

Frau Lelia flüsterte mit einem »immens gefühlvollen« Blick: »Ich danke Ihnen von ganzer Seele!« und schloß sich an eine vorübergehende Freundin an.

Ich wandte den Kopf und erhaschte einen seltsam funkelnden Blick Bürgers, welcher mit zusammengepreßten Lippen dem Fräulein nachsah.

Sie kehrte sich halb nach ihm zurück; einer jener lockenden Blicke, denen so schwer zu widerstehen war, entschimmerte ihrem Auge und ergoß die hohe Stirne meines Freundes mit Freudenhelle.

In diesem Moment bemerkte Bürger, daß ich ihn ansah, und seine Züge gewannen sogleich wieder ihren gewöhnlichen Ausdruck.

Aber es war zu spät! Ich hatte eine Entdeckung gemacht, auf deren Richtigkeit ich einen hohen Eid geschworen hätte – Bürger liebte Julie Kippling!

»Ja,« murmelte der Freund wie selbstvergessend, »sie ist eine Stanhopea, prächtig, berauschend, aber in Fäulnis wurzelnd.«

»Wer?« fragte ich neckend.

»Wer? Wer?« entgegnete er. »Rechne, wer sonst als die Stanhopea da? Wo habt Ihr denn Eure Nase, daß Ihr den Vanilleduft nicht riecht?«

Und er zeigte auf eine prachtvolle Orchis, welche nebenan die bizarr schön gestalteten Blätter ihres üppigen, rötlichgelben Blütenkelches entfaltete, einen wahrhaft berauschenden Duft ausströmend.

»Sie gehört eigentlich zum Geschlecht der Parasiten,« sagte Bürger dozierend, »wächst in den Urwäldern von Brasilien auf modernden Baumstämmen und wurzelt, wie Ihr auch hier bemerken könnt, in faulem Holze; ist aber doch herrlich anzusehen und duftet entzückend – 's ist kla–ar.«

»Ihr meint –«

»Ich meine, wir täten gescheiter, einen Spaziergang im Freien zu machen, als uns in diesem Chaos von Blumendünsten ein dummes Kopfweh zu holen. Wollt Ihr.«

Wir verließen die Ausstellung und schlenderten die Straße am Hafen hinauf. Natürlich war ich nicht unzart genug, auf die von mir gemachte Entdeckung weiter anzuspielen, und Bürger seinerseits war augenscheinlich darauf bedacht, den Eindruck, welchen sein Benehmen in einem unbewachten Augenblick auf mich gemacht haben könnte, zu verwischen.

Er zeigte auf einen vorübergehenden Herrn und sagte:

»Seht, das ist der große Balger, welcher unseren Philistern soviel Leibschneiden verursachte.«

»Der berühmte Demokratenchef und sozialistische Agitator?«

»Derselbe. Hat aber ausgedemokrätelt und ausagitiert. Rechne, ist der Mann sehr zahm geworden, seit die liberale Mittelmäßigkeit so pfiffig war, ihn zum Mitglied der Regierung zu wählen – 's ist kla–ar.«

»Aber das war ja nur zu billigen, und es gereicht, meine ich, einer herrschenden Partei zu nicht geringer Ehre, wenn sie einsichtsvoll genug ist, alle tüchtigen, sogar oppositionelle Kräfte für den öffentlichen Dienst, für das allgemeine Beste zu gewinnen.«

»Für das allgemeine Beste? Rechne, Ihr habt wunderliche Marotten. War die sozialistische Agitation in letzter Zeit, im Hinblick auf die Masse unserer Fabrikbevölkerung, den Besitzenden, wenn noch nicht gefährlich, so doch sehr unbequem geworden. Vereinigten sich daher Liberale und Konservative, der Schlange den Kopf abzuschneiden, das heißt den Balger zu einer unschädlichen Antiquität, zu einem Satisfait, will sagen zu einem Mitgliede der Regierung zu machen. Seid Ihr denn noch immer so idealistisch-republikanisch benebelt, um nicht zu sehen, daß die Politik auch bei uns, wie überall, nur ein gemeiner Sesselkrieg ist? Ote-toi de là, que je m'y mette! Das ist die ganze Schnurre – 's ist kla–ar.«

»Ewig Unzufriedener, der Ihr seid! Ich denke, wenn irgend ein Land Europas Ursache hat, mit seinen politischen Einrichtungen im ganzen und großen zufrieden zu sein, so ist es die Schweiz, welcher es durch ein Zusammentreffen glücklichster Umstände in der Verfallzeit des Mittelalters möglich gemacht wurde, aus der zerbröckelnden Hülse des deutschen Reiches als eine Genossenschaft von Freistaaten sich herauszuschälen und seither in stetigem Vorschritt die germanische Idee des Selfgovernment zu verwirklichen.«

»Selfgovernment? Nebel! Sag' Euch, das schweizerische Volk – versteht mich wohl, das Volk – gouverniert sich nicht mehr und nicht weniger selbst als das russische .... 's ist kla–ar.«

»Bah, bah, nur langsam, wenn's beliebt. Eine Demokratie oder, wenn Ihr wollt, ein Selfgovernment à la Jean Jacques wird für alle Ewigkeit eben nur ein Rousseauscher Traum bleiben. Was aber der demokratische Gedanke in verständig-praktischer Gestalt leisten kann, das leistete und leistet er hier bei Euch. Im Kreise Eurer Regierungen mag es menscheln und mitunter mehr als billig menscheln wie überall; es mag auch sein, daß bei Euch, wie ebenfalls überall, hinter patriotischen Phrasen und Mäntelchen vielfach nur die gemeine Habgier oder, wenn's hoch kommt, die gemeine Ehrsucht sich verbirgt; aber trotz alledem, was die meisten, weitaus die meisten der schweizerischen Regierungen in der Reformperiode von 1830 bis heute geleistet und geschaffen, ist so bedeutend, so einleuchtend rühmlich, daß man völlig blind oder völlig verstockt sein muß, um den Vorschritt auf allen Gebieten nicht zu sehen. Das Land bis zu den Hochgebirgen hinauf ist nur ein Garten, in Industrie und Handel nimmt die Schweiz eine der ersten Stellen ein, die öffentlichen Lasten sind nicht drückend, das Armenwesen ist fast überall human organisiert, für Wissenschaft und Kunst geschieht, was geschehen kann, und Ihr habt die beste, freigebigst ausgestattete Volksschule, die es überhaupt gibt.«

»Rechne, Ihr kommt mächtig in Ekstase, so, daß man Euch für einen jüngsten ›Enkel Winkelrieds‹ halten könnte. Ist aber vollends der letzte Trumpf, den Ihr ausgespielt habt, der Schultrumpf sozusagen, recht zum Lachen. Sag' Euch, wird 'ne Zeit kommen, wo man es bedeutend bereuen wird, dem großen Haufen von armen Teufeln das gelobte Land der Bildung, in welches derselbe ja doch nicht hineinkam, um sich behaglich niederzulassen, so von ferne gezeigt zu haben. Volksschule? Erinnere mich noch ganz gut der Zeit, wo dieses Wort auch zu den übrigen Stichwörtern meiner knabenhaften Begeisterung gehörte. Hab' Euch schon einmal davon gesagt. Ging aber meine Schulbegeisterung flöten, als ich sah, daß auch das Volksschulwesen eben nicht mehr und nicht weniger Windbeutelei sei als alles übrige, und – wartet mal – fällt mir da gerade noch eine gute Geschichte ein, die mit dazu beigetragen hat, mir den ganzen pädagogischen Zukunftsschwindel zu verleiden. War mal drüben im Bihltal in einem Bauerndorfe bei der feierlichen Jahresprüfung gegenwärtig. War nämlich Mitglied der Bezirksschulpflege und hörte mit einer ungeheuren Amtsmiene zu, wie der junge, für seinen Beruf ganz begeisterte Schulmeister die Buben und Meidli über die ganze Enzyklopädie der Wissenschaften examinierte. Endlich kam auch die Weltgeschichte dran und erzählten die Kinder von Cäsaren und Brutussen, daß es 'ne wahre Freude war. Auch im alten Griechenland waren sie daheim und wußten vom Zeus und Apollon und vom pythischen Orakel. Dann war da ein dicker, kurzer, rotbäckiger Junge, der während des ganzen Examens 'ne stupende Gelehrsamkeit entwickelt hatte. Fragte den der Lehrer: ›Du, Ruodi, kannst mir sagen, was ist ein pythisches Orakel?‹ Mein Ruodi, nicht faul, blies die Backen auf und schoß los: ›Ein pythisches Orakel ist ein rundes Loch; da setzt man sich drauf und gibt Sprüche von sich.‹«

»Die Schnurre ist gut, wenn auch vielleicht ein bißchen zynisch,« sagte ich lachend. »Aber was soll damit bewiesen werden? Wahrscheinlich, daß in die Volksschule viel unpassender Lehrstoff hineingeschleppt worden sei. Ich sehe aber nicht ein, was es am Ende schaden könnte, wenn auch die Bauernjungen eine Vorstellung von Orakeln bekämen, eine richtigere und ästhetischere freilich als die Eures Ruodi.«

»Ihr wollt also die Bauern zu Gelehrten machen? Na, Glück zu!«

»Keineswegs, aber wenn Ihr's erlaubt, zu Menschen. Der allgemeine Vorschritt der Bildung –«

»Mit Eurem ewigen Vorschritt! Ist 'ne alberne Illusion! Alles schon dagewesen – 's ist kla–ar. Nur die Formen der Dummheit wechseln, sie selbst war, ist und wird ewig dieselbe sein. Träumt und schwatzt nur vom Vorschritt, ihr guten Leute und schlechten Musikanten: der gescheite, der eminent gescheite Goethe hatte dennoch recht, den Phantasten seiner und aller Zeiten zuzurufen:

Es bleibt doch nach wie vor
Mit ihren hunderttausend Possen
Die Welt ein einz'ger großer Tor.«

Viertes Kapitel,

worin eine lange aus dieser Geschichte verschwunden gewesene Person wieder in dieselbe eintritt.

Einige Tage darauf, an einem Sonntagvormittag, als ich gerade mit meiner Privatkorrespondenz beschäftigt war, trat ein hoher, schlanker, junger Mann mit gebräunten Zügen, im eleganten Zivilanzug, das rote Bändchen der Ehrenlegion im Knopfloch, zu mir ins Zimmer und begrüßte mich mit einer Stimme, welche alle die teuersten Erinnerungen meiner Jugend in mir wachrief.

An der Stimme, an der Art, wie er unser heimisches: »Grüß Gott, Michel!« aussprach, erkannte ich Berthold von Rothenfluh.

Ich hatte ihn nicht mehr gesehen seit den Tagen, an deren einem wir mit unseren Schwestern und dem guten Fabian nach der Breunighalde gewandert waren. Die Jahre, unsere verschiedenen Stellungen im Leben, Unterschiede im Charakter und in der Lebensführung hatten uns getrennt, und es gab noch überdies einen Punkt, das Schicksal Hildegards, welcher geeignet war, diese Entfremdung bei mir zur Abneigung zu steigern. Aber dennoch, als er mich so herzlich ansprach, da war er nur wieder der Berthold, mit welchem zusammen ich alle die luftigen und tollen Streiche meiner Knabenzeit ausgeführt hatte. Alles andere war vergessen.

Berthold glich auffallend dem verstorbenen Freiherrn, in Zügen, Haltung und Manieren. Sogar die Eigenschaft, die Zipfel seines langen Schnurrbarts durch die Höhlung der linken Hand rollen zu lassen, hatte er mit Bodo von Rothenfluh gemein. Dieser war ein stattlicher Mann gewesen, Berthold war das auch. Freilich konnte man seinen hageren Zügen und eingesunkenen Schläfen unschwer anmerken, wie wild er seine Jugend verstürmt habe. Aber dennoch war seine Persönlichkeit keine verwüstete.

Ich mußte ihn unwillkürlich mit Herrn Theodor Kippling zusammenhalten und der Vergleich fiel sehr zu Gunsten Bertholds aus. Jener repräsentierte nur die gemeine Verderbnis der »goldenen Jugend« unserer Tage, dieser hatte in seiner ganzen Erscheinung noch immer etwas Nobles, Kühnes, fast Heldisches. Die Narbenspur, von einem Beduinensäbel zurückgelassen, stand seiner rechten Wange vortrefflich. Weniger ansprechend, falls man sie nicht als Ausdruck heftiger Leidenschaften oder finsteren Stolzes interessant finden wollte, war die tiefe dunkle Furche, welche zwischen seinen Brauen sich eingenistet hatte. In seinen tief in ihren Höhlen liegenden Augen war noch immer Feuer, aber es brannte unstet, düster, zwischen schwermütiger Ermattung und plötzlich wieder auflodernder Wildheit wechselnd. Im letzteren Falle wurde der Blick starr, stechend, unheimlich.

»Du siehst doch deinem Vater auf und eben ähnlich, Berthold,« sagte ich, als er vor mir stand, seine beiden Hände in den meinigen.

»Meinem Vater?« entgegnete er zögernd und gesenkten Auges. »Ja, die Leute sagen es. Aber er ruhe in Frieden! Nicht allen Söhnen wird es so gut, ohne Vorwurf ihrer Väter gedenken zu können. Ich – nun, das läßt sich nicht ändern. Sprechen wir von etwas anderem.«

Als wir auf dem Sofa beisammen saßen, sagte er:

»Ich danke dir für die Herzlichkeit, mit welcher du mich empfangen hast. Du durftest es, denn Hildegard hat mir verziehen, weißt du? Ich sah sie im letzten Herbst. O, sie ist gut und großmütig – ein Engel! Und sie ist glücklich, wenigstens ruhig und zufrieden. Der Vorwurf wenigstens wäre von mir genommen.«

Seine Redeweise hatte etwas Abspringendes, Fragmentarisches. Es klang darin etwas wie bittere Reue an, welcher doch wieder der Stolz keinen Raum gewähren wollte.

»Die schönsten Bande knüpft doch das Jugendleben,« fuhr er fort. »Tor, wer sie mutwillig zerreißt! Denn kein Gott knüpft die so zerrissenen wieder zusammen. Hildegard hat mir verziehen, aber nur aus Mitleid, ich weiß es. Wie wäre alles, alles anders und besser gekommen! Ich stünde jetzt als ein geachteter Mann in dem Erbe meiner Ahnen, Hildegard mir zur Seite, mit liebevoller Hand die Dämonen von mir scheuchend, vielleicht schon Kinder, meine Kinder, schön und gut wie ihre Mutter, auf dem Schoße wiegend – du, Michel, als Freund und Bruder mir verbunden durch doppelt schöne Bande, denn Isolde –«

»Isolde? Bringst du mir keinen Gruß von ihr?«

»Nein. Ich sah sie seit dem letzten Herbst, wo ich Herrn und Fräulein Kippling von Rothenfluh zu ihr nach Lindach führte, nicht wieder.«

»Aber was macht sie?«

»Sie liebt dich und haßt mich.«

»O, Berthold, was sagst du? Mich, den Kommis, mich sollte Isolde von Rothenfluh lieben?«

»Wie anders? Sie hat dich von Kindheit auf geliebt, und ein Wesen wie Isolde liebt nur einmal.«

»Sie hat es dir gesagt?«

»Gesagt? Keinem Lebenden oder Toten, denk' ich.«

»Aber wie sollte Isolde, das beste Herz auf Erden, dich, den einzigen Bruder, hassen? Unmöglich!«

»Und doch. Oder nimm statt des Wortes Haß das Wort Verachtung. Ja, Verachtung sprach aus den lakonischen Zeilen, womit sie mir neulich, als ich ihr angezeigt hatte, daß ich ruiniert sei, ihr Gütchen Lindach anbot.«

»Du erschreckst mich. Du bist ruiniert?«

»Ganz. Ich bin ein Bettler in Uniform.«

»Armer Berthold!«

»Es konnte nicht anders kommen. Ich hatte mich schon als Minderjähriger zu stark mit Wucherern eingelassen. Es ist alles dahin und vorbei.«

Dies sagte er mit verzweiflungsvoller Bitterkeit. Dann sah er eine Weile starr vor sich hin und fügte, wie völlig in seine peinlichen Gedanken verloren, hinzu:

»Alles dahin und vorbei, vergeudet, verlottert, verrast. Was hälfe mir auch Lindach. Es würde nur einen Tropfen ins Meer tragen heißen, auch wenn ich so gemein wäre, Isoldes Anerbieten anzunehmen. Das hieße zum Mord noch den Raub fügen.«

»Zum Mord? Berthold, du träumst!«

Er sah auf, blickte mich wild an und sagte mit einem hohlen Lachen:

»Nun ja doch, zum Mord, zum dummen, knabenhaft sinnlosen Mord alles Besten, was mir im Leben geboten war. Sieh mich nicht so verwundert an, Michel. Ich schwatze wohl töricht. Das kommt daher, daß ich schon lange, lange nicht mehr mein Herz eröffnet habe. Ich weiß, vor dir darf ich es.«

»Gewiß. Aber ermanne dich, mein guter Berthold. Noch kann alles wieder gut werden. Sieh mich an, ich war vor kurzem ebenfalls ein Bettler, denn ich besaß nur noch den letzten Patentaler von meiner seligen Mutter.«

»Aber du hast ihn nicht vertan, du! Du hast entbehrt und gearbeitet. Der Herr Oberst Kippling, dessen Gast ich seit gestern abend bin, hat mir gesagt, was du kannst.«

»Nun ja, ich suchte meinem Schicksale zu Leibe zu gehen wie ein Mann und bin dabei bisher leidlich gut gefahren. Aber auch du bist ja ein Mann, und das Band da auf deinem Rock, obgleich mir widerlich ist, daß es unter fremden Fahnen erfochten wurde, es bezeugt doch, daß du etwas kannst, wenn du willst.«

»Dieses Band? Der Lohn für die tolle Reitertat eines Moments, wo ich mir statt aller Orden der Welt nur eine gut gezielte Kugel vor die Brust wünschte. Aber genug der Elegien, die dich langweilen müssen ... Ich bin sonst nicht so weich, lieber Michel, aber als ich dich wiedersah, kamen mir alle die guten alten Stunden und Tage wieder zu Sinne, die guten alten Zeiten daheim. Daheim? Das Wort hat einen so seltsamen Klang. Deine teure gute Mutter sang uns, als wir noch Kinder waren, ein gutes altes Lied vom Daheim. Es klang so eigen, so süß. Mir ist, als liege eine Ewigkeit voll Finsternis zwischen damals und jetzt.«

Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Seine Brust atmete schwer. Ich meinte, es müßten schwere Tränen zwischen den Fingern hervorquellen, womit er seine Augen verhüllt hatte. Sie blieben trocken, aber es war ein herzzerreißender Schmerz in seiner Stimme, als er sagte:

»Mehrmals schon lag mein Finger an dem Drücker des selbstmörderischen Pistols und wurde doch immer wieder zurückgezogen. Es sollte nicht sein. Und doch bin ich kein Feigling, sondern nur ein Nachtwandler.«

»Ein Nachtwandler? Du bist krank und sprichst irre, armer Berthold.«

»Nein, nein, ich bin ganz gesund, wenigstens – bei Tage.«

Er stand auf, ging ein paarmal langsam durch das Zimmer, blieb dann vor mir stehen und sagte mit mehr Fassung:

»Ich lese Anteil in deinen Augen. Du bist noch der Alte. Sprechen wir vernünftig ... Weißt du, was die beiden Kipplinge aus Rothenfluh machen wollen?«

»Die beiden Kipplinge aus Rothenfluh? Nein.«

»Eine Fabrik.«

»Ha, jetzt geht mir ein Licht auf. Der Herr Oberst ließ einen Wink fallen –«

»Der Herr Oberst ist ein großer Spekulant, und sein Sohn ist es nicht minder. Ich bin dem jungen Spekulanten verpflichtet.«

»Du bist ihm verpflichtet?«

»Sehr.«

»Da nimm dich in acht!«

»Wenn es noch möglich ist. Ja, wenn es noch möglich ist, soll verhindert werden, daß die Halle meiner Väter vom Fabrikpöbel, vornehmem und geringem, entweiht werde ... nicht so fast um meinerwillen – ich möchte Rothenfluh am liebsten gar nicht mehr sehen – aber um Isoldes willen.«

»Mut, Mut, Berthold! Du hast dich noch nicht ganz selber verloren im wilden Wirbel des Lebens. Du hegst noch bessere Gefühle, denn du liebst deine edle Schwester. Laß uns von ihr reden. Wie lebt sie?«

»Sozusagen ganz einsiedlerisch. Sie hat persönlichen Verkehr nur mit Hildegard und brieflichen mit dem alten wunderlichen Großoheim, der für mich eine ganz mythische Person ist. Ich habe aber doch im Sinne, jetzt oder später das Felsenschloß des verschollenen Alten aufzusuchen. In dem Schreiben, in welchem mir Isolde Lindach anbot, sagte sie mir, sie habe in der Voraussicht, daß ich den Hof brauchen würde, den Großoheim um eine Zuflucht gebeten und dieselbe zugesagt erhalten. ... Doch entschuldige, daß ich jetzt von anderem rede. Was hältst du von Julie Kippling?«

»Sie ist ebenso bizarr als schön, ebenso launig als originell.«

»Eine bündige Charakteristik. Sie war in dich verliebt oder ist es noch?«

»Glaube doch das nicht!«

»Bah, meinst du, ich habe es mich umsonst so viel kosten lassen, die Weiber kennen zu lernen? An der Art, wie Julie Kippling von dir sprach, merkte ich, daß sie, wenn nicht eine große Leidenschaft, so doch eine heftige Laune für dich haben oder doch wenigstens gehabt haben müsse.«

»Nun denn, so sprich getrost im tempus praeteritum

»Auch in bezug auf dich?«

»Ja, obgleich ich nicht leugnen will, daß die Gegenwart des schönen Mädchens zu verführerisch ist, um mich oder irgend jemand kalt zu lassen.«

»Wohl; aber du, ein Mann, dessen Gefühle noch frisch und gut sind, bist also nicht überzeugt, daß dein Lebensglück Julie heiße?«

»Nein.«

»Das ist mir lieb, sehr lieb. Denn ich will Julie Kippling heiraten.«

»Mein lieber Berthold, wenn wir beide zum Scherzen aufgelegt wären, würde ich mit dem Dichter zu dir sagen: Du sprichst ein großes Wort gelassen aus.«

»Und doch bin ich keineswegs so ganz gelassen. Ich verhehle dir nicht, daß seit Jahren nichts, aber auch gar nichts einen solchen Eindruck auf mich gemacht hat wie dieses seltsame Mädchen.«

»Du liebst Julie?«

»Kaum. Kann ich überhaupt noch lieben? Mir ist, mit den anderen Idealen liege auch die Liebe weit hinter mir, in nebelgrauer Ferne. Aber es reizt mich, diese Julie, dieses verzogene Kind, diesen schönen Wildling, welcher mit dem Leben ein souveränes Spiel treibt, zu bändigen und zu zähmen. Du weißt nicht, wirst es nie erfahren, was es heißen will, wieder einen Reiz, irgend einen Reiz zu empfinden. Und dann ... Julie Kippling erbt eine Million ... mindestens ... Du siehst,« fügte er mit einem bitteren Lächeln hinzu, »auch der tollste Verschwender lernt zuletzt rechnen in einer Zeit, wo einem auf Schritt und Tritt in die Ohren geschrien wird, das Einmaleins sei Weisheit und Tugend und praktisch müsse man sein.«

Hier unterbrach der Eintritt Bürgers unser Gespräch. Ich stellte die beiden Herren einander vor, und die Unterhaltung ging auf gleichgültige Dinge über.

Fünftes Kapitel

Autor wird zur Rolle eines Freundes und Vertrauten berufen und erhält einen vorletzten Kuß.

Die nächsten Tage brachten nichts Ungewöhnliches; denn daß Herr Oskar Ziegenmilch jetzt täglich und stündlich in unserem Kontor aus und ein ging und mit den beiden Herren Kippling lange Konferenzen hatte, war ganz in der Ordnung. Es mußte ja die große Köhlerei für den Köhlerglauben des spekulierenden Publikums zuwege gemacht werden.

Herr Theodor, welcher täglich zur Stadt kam, verkehrte viel mit dem Rittmeister, Freiherrn Berthold von Rothenfluh, der übrigens den Ton der Vertraulichkeit, welchen der Sohn des Millionärs gegen ihn anschlug, offenbar nur duldete, nicht aber erwiderte. Ich sah in dem Bezeigen von Herrn Kippling dem Jüngeren vorderhand nur die bekannte Neigung des Geldprotzenpöbels, mit adeligen Bekanntschaften Parade zu machen, sollte aber später erfahren, daß hierbei weit ernstere Motive mitspielten.

Herr Kippling der Ältere behandelte seinen freiherrlichen Gast mit Zuvorkommenheit; aber ohne Zudringlichkeit. Er hatte, abgesehen von anderen Kalkulationen, in welchen Berthold eine Ziffer darstellte, vielleicht nichts dagegen, den schönen Kopf seiner Tochter mit einem Freiherrnkrönlein geschmückt zu sehen; aber er tat nicht dergleichen, als wäre so ein Krönlein eine Sache, um deren Erlangung man sich besondere Mühe zu geben brauchte.

Fräulein Kippling wollte dem Rittmeister gefallen, das war sicher, und sie war viel zu aufrichtig, oder wenn man will, viel zu übermütig, es verbergen zu wollen. Ihr Benehmen spielte in den brillantesten Farben; aber sie hatte es mit einem Spieler zu tun, der kein Neuling war und, wie er ja selbst geäußert, sich's nicht umsonst so viel hatte kosten lassen, die Frauen kennen zu lernen. War es Politik, war es eine aus der Gewohnheit, zu siegen, entsprungene lässige Sicherheit, genug, Berthold verhielt sich gegen das reizende Mädchen zurückhaltend. Er erschien zuweilen trübe, sogar finster, gewöhnlich aber vornehm sorglos. War ich zugegen, so unterhielt er sich fast ausschließlich mit mir, als wollte er recht deutlich zeigen, daß er vor den Besitzern von Millionen eben nicht mehr Respekt habe, als der Anstand und seine Stellung als Gast unumgänglich notwendig machte.

So war eine halbe Woche vergangen, als eines Tages, da wir vom Mittagstisch aufstanden, Fräulein Kippling ohne weitere Einleitung zu mir sagte:

»Herr Hellmuth, ich weiß, Sie haben ein Auge für Gemälde. Man hat mir eine Kopie der Riedelschen Sakuntala zum Kauf angeboten. Sie steht auf meinem Zimmer. Wollten Sie die Güte haben, mir Ihre Ansicht über das Bild zu sagen?«

»Zu Befehl, mein Fräulein.«

»Gut. Kommen Sie im Laufe des Nachmittags. Mein Mädchen wird Sie empfangen, und ich zeige Ihnen dann das Gemälde.«

Ich verbeugte mich. Herr Kippling der Ältere warf einen mißbilligenden Blick auf seine Tochter, die aber keine Notiz davon nahm. Herr Kippling der Jüngere kniff die Mundwinkel ein und schielte nach Berthold. Dieser sah gleichgültig drein und erinnerte Herrn Bürger an dessen Versprechen, ihm gelegentlich seine Waffensammlung vom ostindischen Archipel zu zeigen.

Auf dem Wege zum Kontor sagte Bürger zu mir:

»Rechne, Ihr seid noch nicht ganz ausgewischt auf der Herzenstafel von Donna Julia, mein Junge – 's ist kla–ar.«

»Bah, lieber Freund,« entgegnete ich, »Ihr und ich nehmen auf der besagten Tafel nur ganz bescheidene Ecken ein. In der Mitte prangt dermalen ein –«

»Von, überwölbt von einer Freiherrnkrone, ganz recht! Rechne, geht mich, wie Ihr wißt, die ganze Komödie nichts an.«

»Verzeiht, das weiß ich doch nicht so ganz.«

»Seid Ihr toll? Rechne, Ihr meint, weil Ihr selber närrisch, müßten es andere auch sein ... Wollte übrigens sagen, auch dieser freiherrliche Akt der Posse geht mich nur soweit an, als er höchst ergötzlich ist. Kann Euch das Auftreten dieses Eures Cäsars von Landsmann, welcher kam, sah und siegte, recht augenscheinlich beweisen, daß wir schweizerischen Republikaner keineswegs so demokratisch-unkultiviert sind, den Adel abschaffen zu wollen. Ist bei uns jeder Graf oder Baron, der unser Land mit seiner Gegenwart beglückt, eo ipso ein großes Tier. Titulieren sich daher die Gauner, welche unsere republikanische Einfalt ausbeuten wollen, immer Grafen oder Barone. Wissen, daß ihnen das Kredit verschafft, ganz ungeheuren, besonders bei unseren Republikanerinnen. Könnte Euch in dieser Richtung höchst amüsable unglaubliche und dennoch ganz wahre Geschichten erzählen. Habe aber jetzt keine Zeit dazu und ermahne Euch nur noch feierlichst, beim Anblick der fraglichen Sakuntala Euern Verstand besser zu Rate zu halten als weiland der strohherzige König Duschmanta.«

Einige Stunden darauf öffnete mir die Zofe Julies das Zimmer ihrer Herrin, und ich sah mich in demselben allein.

Ich beschreibe nicht die blendend luxuriöse Einrichtung dieses Gemaches, welches der launischen Schönen als »Arbeitszimmer« diente – als Arbeitszimmer, du lieber Gott! Alle diese Pracht, alle diese tausenderlei Spielereien des Reichtums und der Verschwendung bildeten ein chaotisches Durcheinander. Ich mußte unwillkürlich an die edle Harmonie, an die keusche Heimeligkeit des einfach möblierten Zimmers denken, welches Isolde auf dem Lindachhof bewohnte. Dort das Ganze ein Zeugnis von dem Walten einer maßvollen und durchgebildeten Weiblichkeit, hier lauter Wirrwarr, Unruhe, Widerspruch. Man sah den Möbeln, den Stickrahmen, den Blumentischen, den da und dort zerstreuten Prachtbänden von Büchern, der in einer Ecke stehenden Staffelei mit einer halbfertigen Farbenskizze – allem sah man an, daß die schöne Bewohnerin ohne irgend ein tieferes Interesse und nur, um der Langweile zu entfliehen, alles und jedes mit Hast ergriff, um es sofort mit Überdruß wieder beiseite zu stellen oder geradezu beiseite zu werfen. Hier, das konnte man deutlich fühlen, hauste ein verzogenes Kind des Glückes, welches von früh auf gewöhnt worden war, mühelos seine Wünsche, alle, alle, erfüllt zu sehen, welches niemals auch nur die entfernteste Ahnung davon erhalten, was es heißen wolle, »sein Brot mit Tränen zu essen«, und welches daher folgerichtig dazu kommen mußte, das Schicksal nur für eine Kaprice, das Leben nur für einen unterhaltenden Spaß anzusehen.

Am meisten fiel mir der Schmuck der seidenen Wände des Zimmers auf, welchen vier vortreffliche Kopien von Originalen der Dresdener Galerie ausmachten. Die Wahl dieser Bilder frappierte mich. Es waren Potiphars Weib von Cignani, die badende Susanna von Paul Veronese, das Urteil des Paris von Rubens und Danae von van Dyck – also lauter Kunstwerke höchsten Ranges, aber –

»Ich weiß, was Sie beim Anblick dieser Gemälde denken, lieber Freund,« unterbrach mich die Stimme von Fräulein Julie, die unbemerkt durch eine Seitentüre eingetreten war, in meinen Betrachtungen.

»Was denn, Fräulein?«

»Daß Sie nicht erwartet hätten, solche Bilder in dem Zimmer eines jungen Mädchens zu finden.«

»Aufrichtig zu sein, es war etwas dergleichen.«

»Ja, so sind die Männer. Sie glauben alle, das Schöne sei nur für sie allein da. Was die Frauen angeht, so haben sie für ihre alberne Prüderie wenigstens ihre durchschnittliche Unkultur als Entschuldigung anzuführen. Aber männliche Selbstsucht oder weibliche Heuchelei, sie sollen mir nicht verwehren, mein Auge an der Schönheit zu weiden, und wäre es auch, wie in diesen Gemälden, die Schönheit meines eigenen Geschlechts. Unsere Zeit haßt das Nackte, weil sie selbst soviel zu verhüllen hat, nichts Schönes, aber Häßliches.«

»Da haben Sie recht.«

»Sehen Sie, mein Bester, wir stimmen eigentlich doch in vielem zusammen und werden, glaub' ich, mit der Zeit, immer bessere Freunde werden .... Aber ich bemerke, daß Sie sich nach der Sakuntala umsehen. Ich habe das Bild bereits weggeschickt. Es war nur eine Sudelei, der Kopist hatte sich an dem schönen weißen Leib der Tochter Kalidasas schmählich versündigt, und dann ist ja die ganze Sakuntalageschichte nur ein Vorwand gewesen, Sie hierher zu bringen, damit ich Sie um eine Gefälligkeit bitten könnte.«

»Bitten? Das ist Überfluß.«

»Wie galant! Es scheint, wo bei Ihnen die Liebe aufhört, fängt die Galanterie an.«

»Julie!«

»So hätten Sie mich zu einer anderen Zeit anreden müssen, lieber Freund. Damals, als ... genug, jetzt ist es zu spät und es ist wohl am besten so, für Sie und für mich ... Aber vor allem zu meiner Bitte. Haben Sie von der Gesellschaft der Söhne Mammons reden hören?«

»Ei, meiner Treu, der begegnet man ja auf der Straße.«

»Allerdings, aber es gibt noch eine spezielle Gesellschaft dieses Namens in hiesiger Stadt.«

»Von dieser weiß ich nichts.«

»Hat Ihnen Herr Bürger nie davon gesagt?«

»Nein.«

»Nun, er wird der Posse überdrüssig sein, wie das in seinem Alter leicht erklärlich ist. Wenn man alt wird, kommt man zu Verstand, sagen die Leute.«

»Aber Herr Bürger ist ja noch gar nicht so alt –«

»Daß er mein Großvater sein könnte? Nein, aber doch alt genug, daß er mein Vater sein könnte, was aber meinen wirklichen Vater nicht abhielt, heimlich zu wünschen, ich möchte Bürgers Frau werden. Vielleicht wäre das auch das Klügste, was ich tun könnte. Einmal muß unsereins doch heiraten, und von euch allen liebt mich doch keiner so fest und brav wie der gute alte Junge, der sich einbildet, ein Mephisto zu sein und die beste Seele von der Welt ist. Aber es ist etwas Entsetzliches um die Langweile, nicht wahr? Und ich fürchte, bei Bürgers ehrenfester und solider Liebe müßte ich vor Langweile blödsinnig werden. Nein, nein, ich kann ihm nicht helfen. Warum ist er ein so fürchterlich tugendhafter Biedermann? Doch zum Text zurück! Die Söhne Mammons sind eine geschlossene, aus der Blüte – 'ne saubere Blüte, beim Himmel! – unserer Jeunesse d'orée bestehende Gesellschaft, die sich größerer Exklusivität wegen mit etwelchem mystischen Hokuspokus umgeben hat. Mein Bruder ist auch dabei und gegenwärtig, wie sie es in ihrem Jargon nennen, Oberpriester im Tempel Mammons, wie das Gesellschaftshaus heißt. Es steht drunten am Fluß, in einer einsamen Bucht, durch einen großen, dichtbebuschten Garten, der es umgibt, vor profanen Blicken gesichert. Nur Herren können Mitglieder der Gesellschaft sein, aber jeder Herr hat das Recht, Damen, soviele er will, in den Tempel Mammons einzuführen, wo reizende Feste gefeiert werden sollen. Heute ist Freitag. In der Nacht vom künftigen Montag auf den Dienstag wird so ein Fest statthaben, ein großes Maskenfest zum Schluß der Wintersaison. Ich habe die Laune, diesem Fest beizuwohnen, und Sie sollen mich hinführen.«

»Ich?«

»Sie!«

»Aber warum gehen Sie nicht Ihren Bruder an?«

»Meinen Bruder? Ist das ein Mensch, den ich um etwas angehen möchte? Wo denken Sie hin! Und dann, ich will unerkannt wieder von dort weggehen, wie ich maskiert hingehe – verstehen Sie?«

»Wohl, aber wie soll ich –«

»Hören Sie nur. Vor jeder Versammlung der Gesellschaft wird sämtlichen Mitgliedern ein Paßwort ausgeteilt, welches als Eintrittskarte dient. Jeder, der im Besitze dieses Paßwortes ist, gilt als eingeweiht. Herr Bürger wird Ihnen das lächerliche Geheimnis gerne mitteilen, wenn Sie ihn darum ersuchen: er hält ja große Stücke auf Sie.«

»Gut, wir wollen annehmen, Herr Bürger sei willfährig. Aber entschuldigen Sie, Fräulein, wenn ich die Befürchtung ausspreche, daß sorgliche Väter Ursache haben dürften, die Anwesenheit ihrer Töchter in einem Tempel, dessen Oberpriester Herr Theodor Kippling ist, nicht eben zu wünschen.«

»Ach, wie zart um meine Tugend besorgt! Beruhigen Sie sich, mein Bester. Das ist meine Sache.«

»Gewiß! Aber ließe sich nicht auch der Fall denken, daß Herr Gottlieb Kippling vor oder nach dem projektierten Abenteuer davon erführe und der Meinung wäre, es sei nicht die Sache seines Kommis, seine Tochter in den Tempel Mammons zu führen?«

»Aha, mein Herr, Sie sind um Ihre gute Stelle in meines Vaters Kontor bange?«

»Fräulein Kippling, Sie sind kein Mann. Sie dürfen mich also ungestraft beleidigen, obgleich Sie, gerade Sie wissen könnten, daß ich nicht gemein denke.«

»Sie haben recht, Hellmuth. Verzeihung! Ich sprach albern und, ach, ich fürchte hinterdrein, daß ich von Anfang an albern gegen Sie gehandelt habe. Es wäre vielleicht alles anders und besser gekommen. Hätten Sie nur gewußt, wie wild glücklich mir zumute war, als ich Sie an jenem Theaterabend plötzlich wiedersah, und hätte ich dann meinerseits nur gewußt, wieviel Trauriges Sie unmittelbar zuvor erlebt hatten. Ich würde ... doch was soll jetzt das alles? Genug, ich konnte Sie nie für gemein gesinnt halten, denn ich habe Sie geliebt.«

»Julie!«

»Nicht so, nicht diese Beschwörungstöne, mein Freund. Es ist vorbei, und wir wandeln den Weg von der Freundschaft zur Liebe in umgekehrter Richtung. Wollen Sie mein Freund sein?«

»Ich war es immer.«

»Sie sagen die Wahrheit, denn Liebe, solche Liebe, wie ich will, eine der Welt und des Lebens spottende, himmelan lodernde und höllentief brennende, ein seliges Paar mit jauchzenden Flammen verzehrende Glut – ach! ein solches Gefühl haben Sie nie für mich gehegt. Ich fühlte das wohl, selbst unter Ihren Küssen. Sie waren bereit, für mich in den Tod zu gehen, ich weiß es, ich erprobte es – und doch – seltsam! – besaß ich nur Ihre Augen. Ihr Herz besaß eine andere.«

»Eine andere?«

»Isolde von Rothenfluh ... Als ich in jener Nacht, wo ich eine tolle Laune fast mit dem Leben bezahlt hätte, durch Sie, mein Freund, in des Daseins süße Gewohnheit zurückgerufen wurde und in halb, ja ganz wahnsinnigem Entzücken an Ihrem Halse hing, da trat Isolde zwischen uns, denn sie, nicht ich lebte in Ihrem Herzen. Wenn ich es gewußt, hätte ich sie vielleicht daraus verdrängen können, so ich gewollt – Sie sehen, ich habe meiner Eitelkeit keinen Hehl – aber wie eitel, wie übermütig auch immer Julie Kippling sein mag, sie hält es für keine Schmach, um Isoldes willen verschmäht worden zu sein.«

»Sie haben Isolde kennen, schätzen, lieben gelernt, Isolde?«

»Ja. Sie ist so schön, so hochgesinnt, so hochgestimmt und doch so wahr, so einfach gut und lieb, daß man glauben möchte, sie müsse von Shakespeare oder Goethe gedichtet sein. Was für ein Sünder muß ihr Bruder sein, um von einer solchen Schwester mit scheuer Abneigung, fast mit Furcht angesehen zu werden!«

»Und Isolde sprach mit Ihnen von mir?«

»Ah, wie Ihr Auge leuchtet, lieber Freund, seit ich den Namen Isolde genannt! Ja, sie sprach mit mir von Ihnen, einfach-herzlich und klar, wie all ihr Wesen ist. Sie sprach mit mir von Michel Hellmuth, wie von einem Manne, dem sie durch einen von keinem Ohre, selbst von ihrem eigenen nicht, gehörten und dennoch heiligsten Schwur verbunden sei. Sie sagte das nicht, sie sagte überhaupt nichts von Liebe; aber den Mann, von welchem Isolde von Rothenfluh so spricht, wie sie von Ihnen sprach, muß sie lieben – es kann nicht anders sein.«

»Teure Julie, wie schön steht Ihnen diese neidlose Begeisterung!«

»Ja, sehen Sie – es ist recht sonderbar – Isolde hat es mir angetan. Ich glaube, daß ich in ihrer Nähe zum erstenmal in meinem Leben wirklich gut und liebenswürdig gewesen bin. Ich bin anders geartet als Isolde, ich kann nie so ein Wesen werden, in welchem, wie in ihr, die innigste Naturwahrheit mit dem lautersten Idealismus verschmilzt; meine Art und Weise, das Leben zu nehmen und zu behandeln, meine Wege müssen andere sein, aber dennoch hat es mir bis in das innerste Herz hinein wohlgetan, daß ich Isoldes Zuneigung gewann ... Man kann nicht unwahr sein ihr gegenüber. Ich habe ihr unsere ganze Geschichte erzählt, selbst das nächtliche Abenteuer auf dem See nicht ausgenommen; aber Sie brauchen deshalb nicht zu erschrecken, mein Freund, denn ich konnte ja Isolden mit voller Wahrheit sagen, daß Sie ihr nur auf Momente und nur mit den Augen oder allenfalls noch mit den Lippen, nie aber mit dem Herzen treulos gewesen.«

»Und was sagte sie dazu?«

»Sie war doch tief ergriffen, trotz all ihrer edlen Gefaßtheit. Aber dann fugte sie mit ihrem süßen Lächeln: ›Wenn ich Michel Hellmuth gewesen wäre, so würde ich auch mein Leben daran gesetzt haben, dich den Fluten zu entreißen und mich von dir zum Danke küssen zu lassen.‹«

»Gesegnet sei sie für solche Milde und Huld!«

»Ja, sie sei es! ... Sehen Sie, mein Freund, Isoldes Liebe ist so eine wie jene, von der im Hohenliede geschrieben steht, daß sie stärker sei als Tod und Hölle ... In jener Stunde habe ich Ihnen verziehen, Michel, und das bitterzornige Gefühl verschmähter Neigung wich dem Wunsche, dem Geliebten Isoldes von Rothenfluh wenigstens als Freundin nahezustehen!«

»Gesegnet seien auch Sie für solche Großmut!«

»Ja, warten Sie – ich glaube fast, ein Funke, wenn auch nur ein kleiner Funke von Isoldes Wahrhaftigkeit ist auf mich übergegangen – meine Resignation war nicht so ganz selbstsuchtslos, wie sie im ersten Augenblick erscheinen könnte ... Ihr Jugendfreund, der Freiherr von Rothenfluh, hatte einen bedeutenden Eindruck auf mich gemacht –«

»Und doch deuteten Sie vorhin an, daß Sie ihn für einen großen Sünder halten?«

»Was tut das? Ich frage nicht nach seiner Vergangenheit oder vielmehr, ich könnte ihn, so bizarr das auch klingen mag, gerade um dieser seiner Vergangenheit willen lieben ... So bin ich nun einmal, und Ihnen, dem Freunde, darf ich sagen, daß ich so bin ... Ich habe immer eine Schwäche für die Helden Byrons gehabt, vor denen die gespreizte Tugendlichkeit und die dumme Prüderie öffentlich ein Kreuz schlägt, während sie im geheimen dieselben doch sehr interessant findet. Sehen Sie, ich bin keine Heuchlerin, und wenn ich kokettiere, so tue ich es wenigstens mit Bewußtsein, nicht bloß aus Dummheit oder Gemeinheit, wie soviele andere ... Ja, ich habe eine Passion für diesen schönen Sünder, Ihren Jugendfreund. Möglich, daß die Passion sich zur Leidenschaft potenziert. Er erscheint mir wie der Giaur oder wie Lara und dann – der Freiherr von Rothenfluh kann mich mit Hilfe von meines Vaters Geld in eine gesellschaftliche Stellung bringen, die meiner Neigung für Lust, Glanz, Zerstreuung und Intrige entspricht ... Da haben Sie die ganze Beichte von Julie Kippling. Und nun – Herr von Rothenfluh wird durch meinen Bruder zu dem Maskenball der Söhne Mammons geführt werden, und so wissen Sie, warum auch ich dabei sein will. Wollen Sie mir zur Erfüllung meines Wunsches verhelfen?«

»Ich werde mein möglichstes tun.«

»Gut. Geben Sie mir morgen oder spätestens übermorgen nach Tisch einen Wink, wie weit Sie mit Herrn Bürger sind, der aber, wohlverstanden! nichts von meiner Absicht wissen soll. Über das Weitere werde ich Sie dann bei guter Zeit verständigen.«

»Ich werde Ihrer Befehle harren,« sagte ich und verbeugte mich zum Abschied.

Sie reichte mir aber die Hand, und als ich dieselbe einen Augenblick festhielt, neigte sie sich lächelnd zu mir, bot mir den rosigen Mund und sagte:

»Da nimm! ... So, das wäre der erste Freundschaftskuß gewesen und er soll überhaupt unser vorletzter Kuß sein. Den letzten geb' ich dir am Vorabend von deinem oder meinem Hochzeitstag.«

Sechstes Kapitel

Eine Nacht im Tempel Mammons. – Der Ballsaal. – Die Furlana. – Das Mahl. – Das Blütenlabyrinth. – Ein Schreckensschrei. – Lara der Zweite. – »Jetzt lieb' ich ihn.«

»Ihr werdet also morgen reisen?« sagte Herr Bürger zu mir, als wir am Montag abend das Kontor mitsammen verließen.

»In aller Frühe,« erwiderte ich. »Der Herr Oberst meint, ich könnte kaum schnell genug den Rhein hinunter und nach England hinüber kommen. Wenn ich meine Geschäfte in London und Liverpool abgemacht, gehe ich, wie Ihr wißt, nach Paris.«

»Nun, da rat' ich, verliebt Euch zum Trost in eine hübsche Grisette oder Lorette – 's ist alles eins. Hier ist's mit Euren Aussichten in der Liebe doch zu Ende. Man will Euch für 'ne Weile forthaben – 's ist kla–ar. Ihr seid unbequem. Und doch will, hör' ich, der abgewirtschaftete Freiherr morgen oder übermorgen ebenfalls abreisen. Freilich soll er bald wiederkommen, und dann wird Hochzeit oder wenigstens Verlobung sein. Fräulein Kippling wird ihre Rolle als Freifrau ganz prächtig spielen – verlaßt Euch drauf!«

»Ich zweifle nicht im geringsten daran, lieber Freund. Aber was geht denn diese ganze Geschichte uns beide an?«

»Rechne, da habt Ihr recht, wenigstens was mich betrifft. Könnte nicht sagen, was mich daran interessieren sollte, wenn nicht allenfalls der Umstand, daß vermöge dieses schönen Ehebundes zwischen Geburtsadel und Geldaristokratie die Goldfüchse von Gottlieb Kippling, die ich doch zu einem guten Teil sozusagen auch mit einfangen half, zu allen Teufeln gehen werden – 's ist kla–ar. Übrigens, was wollen wir heut' abend mitsammen anfangen? Rechne, wir stechen 'ne Flasche aus aufs Wohl der Dummheit, welche die Welt regiert.«

»Tut mir leid, daß ich Euch nicht Gesellschaft leisten kann, Ihr vergeßt, daß Ihr mich freundschaftlichst in den Stand setztet, den Mysterien der Söhne Mammons anzuwohnen.«

»Mysterien? Firlefanz! Alberne Masken – verrücktes Getanze – Schwitzen – spätes Souper, woran man sich den Magen verdirbt – schließlich wahrscheinlich 'ne dumme Verkältung. Ihr wollt also in allem Ernst die einfältige Schnurre mitmachen?«

»In allem Ernste.«

»Glück zu! Jugend hat nicht Tugend – alte Geschichte ... 's ist kla–ar. Rechne, will derweil im Aristophanes lesen gehn. Liegt 'ne Art von Beruhigung darin, von dem alten Grazienschlingel sich erzählen zu lassen, daß die Menschheit vor dreiundzwanzighundert Jahren gerade schon so lumpig gewesen wie heutzutage.« – – –

Die Musik schmetterte schon vom Ballsaale her, als ich, nach in dem Vestibül abgemachten Förmlichkeiten, meine Begleiterin nach der Damengarderobe führte. Nachdem sie sich dort der bergenden Hülle entledigt hatte und wieder herauskam, sah ich, daß sie das malerische Kostüm einer Sevillanischen Zingala trug. Und wie trug sie es! Mit einer künstlerischen Vollendung, die reizender war als alle die Pracht des reichen Juwelenschmuckes, von welchem diese »eine Million schwere« Zigeunerin funkelte. Eine fein gemalte Charaktermaske verhüllte ihre Züge vollständig, aber aus den Augenhöhlen der Maske blitzte ein wahrhaft andalusisches Feuer.

Ich hatte denn doch Ursache, mich daran zu erinnern, daß ich der Freund und nur der Freund von Julie Kippling sei, als sich das herrliche Geschöpf traulich an meinen Arm hing.

Das ganze von außen unansehnliche und wie vernachlässigt aussehende Haus strahlte in seinem Innern von blendender Beleuchtung, und seine ganze Einrichtung zeugte von raffinierter Üppigkeit. In der Tat, man sah auf Schritt und Tritt, daß hier »Söhne Mammons« ihre Feste feierten. Alles war reich, nicht ohne Geschmack, aber jeder höheren Weihe bar. Der Materialismus hatte dem Ganzen sein Gepräge aufgedrückt: die Kunst war hier zur Sklavin des sinnlichen Reizes entwürdigt.

Unser Weg führte durch eine Säulenhalle, in deren Mitte auf altarähnlichem Piedestal die vergoldete Bildsäule des Gottes stand. Mammon war dargestellt als ein nackter Jüngling von schwellender Gliederpracht, aber das üppige Lächeln seines Mundes war mehr ein faunisches Schmunzeln. In der Rechten hielt er ein umgekehrtes Füllhorn, aus welchem ein Goldregen zu strömen schien. In einer Schale zu den Füßen der Statue brannte duftendes Rauchwerk.

Wir gingen vorüber und betraten das weite, vom buntesten Maskengedränge volle Rund des Ballsaals, dessen Wände mit Fresken geschmückt waren, die üppigsten Szenen der griechischen Mythologie darstellend. In dem großen Gemälde, welches den Plafond einnahm und eine Gruppe von Satyrn und Nymphen schauen ließ, steigerte sich die Laszivität zu wahrhaft aretinischer Frechheit.

Ich fühlte unter meiner Halbmaske die Stirne vor Scham brennen und hätte mit Heines Rabbi von Bacharach zu meiner Begleiterin sagen mögen: »Schlage die Augen nieder, schöne Sara!«

Nein, es war unmögliche, daß Julie Kippling eine Ahnung davon gehabt hatte, wie es im Innern von Mammons Tempel aussah.

Ihr Arm zitterte in dem meinigen, und sie flüsterte mir zu:

»Mein Freund, hier ist es nicht geheuer. Die Gesellschaft muß eine sehr gemischte sein. Aber wir sind einmal da. Tanzen wir!«

Während wir zur Polka antraten, hörte ich eine schleppende Stimme, in welcher das Organ von Herrn Theodor Kippling nicht zu verkennen war, in meinem Rücken sagen:

»Sieh mal die prächtige Zigeunerin!«

Ich wandte den Kopf und erblickte einen Kosaken, der neben einem Tscherkessen stand, dessen hohe, schlanke Gestalt mir den Freiherrn von Rothenfluh verriet.

Nachdem wir einige Touren getanzt, intonierte die auf einer dicht vergitterten Galerie befindliche Musik eine fremdartige Tanzmelodie. Die Tänzerpaare standen ungewiß, und eins nach dem anderen zog sich an die Wände des Saales zurück, so daß in der Mitte ein großer freier Raum entstand.

»Das ist ja die Melodie der Furlana,« sagte Julie. »Kennen Sie diesen Tanz?«

»Ich sah ihn zu Venedig, würde aber eine sehr ungeschickte Figur dabei machen.«

»Was täte das? Versuchen wir's doch einmal.«

Sie ließ meinen Arm los und schwebte dahin. Ich zögerte, mich durch ungeschickte Sprünge lächerlich zu machen, hatte aber das nicht zu befürchten, denn ein anderer nahm statt meiner die Herausforderung der schönen Zingala an.

Der Tscherkesse glitt in den Kreis, und die Zigeunerin hatte einen würdigen Partner gefunden.

Man konnte nichts Graziöseres sehen, als die raschen Windungen des Paares – dieses Locken, Fliehen, Haschen, diese getanzte Koketterie.

Ich weiß nicht, welcher Berliner Phantast einmal von irgend einer Tänzerin gesagt hat, sie tanze Goethe; aber soviel ist sicher, hier wurde in reizender Weise eine venezianische Intrige getanzt.

Der Kosak stand in der Zuschauermenge hart neben mir.

»Est-il possible?« murmelte er unter seiner Maske. »Aber es kann nicht sein. Wie käme die hierher? Und doch –«

Plötzlich wandte er sich zu mir mit der Frage:

»Wo hast du diese Zigeunerin aufgelesen, edler Domino?«

»Im Zingaliquartier zu Sevilla,« erwiderte ich mit verstellter Stimme und kehrte mich ab.

Die Furlana war zu Ende, und ein tobendes Beifallsrufen brach los. Ich erblickte die Zigeunerin am Arme des Tscherkessen und konnte leicht merken, daß meine Rolle als cavaliere servente von Fräulein Kippling vorderhand zu Ende sei.

Der Ball nahm seinen Fortgang. Berthold und Julie tanzten unzertrennlich, und ich setzte meine Beine wie die anderen in Bewegung. Da mich aber die Manieren meiner Tänzerinnen allzudeutlich wahrnehmen ließen, daß die Gesellschaft in der Tat eine sehr gemischte sei, war ich der Sache schon lange überdrüssig geworden, als eine Trompetenfanfare das Signal zum Souper gab.

Die Flügeltüren eines zweiten Prachtsaals sprangen auf, und eine schwelgerisch zugerüstete Tafel lud die Gäste zu den Genüssen des Gaumens.

Der Kosak führte irgend eine mythologisch maskierte oder eigentlich mit Ausnahme ihrer Halbmaske vor dem Gesicht, demaskierte Schöne zu Tische, der Tscherkesse nahm neben der Zingala Platz, und so ordnete sich die zahlreiche Tafelrunde nach Lust und Laune.

Das Mahl war so üppig wie hier alles, und das sinnliche Raffinement erstreckte sich bis auf das Dienstpersonal. Denn nicht von Kellnern oder Lakaien wurden die Söhne Mammons bei Tische bedient, sondern von hübschen Mädchen in altgriechischer Tracht, so wie diese zur Zeit des Direktoriums in den Pariser Salons getragen worden war.

Diesem von blendenden Gasflammen überströmten farbenbunten Wirrwarr von Luxus und Frivolität verliehen die Halbmasken, welche mit fast alleiniger Ausnahme der Zigeunerin die Tischgenossen durchgehends trugen, einen gewissen poetischen Reiz. Man konnte sich unter diesem funkelnden Tafelgeschmeide, diesen Blumenkränzen, diesen perlenden Weinen, diesen Schenkinnen, unter all diesem Gewirr flüsternder und lachender Frauenstimmen zu einem Maskenfeste der alten Lagunenstadt zur Zeit ihrer üppigsten Nächte zurückversetzt glauben.

Als schon die Becher schneller kreisten und die Tischrede schon in nicht immer sehr seinen Neckereien, Witzen und Scherzen sich erging, erhob sich der Oberpriester des Tempels und brachte in Form frecher Travestie einer Gebetsformel dem Gott Mammon Huldigung und Libation dar. Die Musik blies Tusch, und sofort stimmte ein unsichtbarer Sängerchor jenen Hymnus des Materialismus an, welchen Emanuel Geibel – ach, in ganz andern Absicht – gedichtet hat:

Laßt andre beten, andre fasten!
Für unsre Stirn der Freude Kranz!
Uns führen hunderttausend Masten
Die Götter her: Genuß und Glanz.
Es schafft die Welt an allen Enden
Für unser Fest mit tausend Händen,
Die Wahl des Köstlichsten ist schwer:
Die Hügel zollen süße Weine,
Die Berge geben Gold und Steine
Und seine Perlen gibt das Meer.

Drum laßt uns keinen König neiden;
Für ihn die Macht, für uns die Lust!
Mag er in Waffenschmuck sich kleiden,
In Seiden weicher schläft die Brust.
Mag er um Schweiß sich Ruhm erkaufen;
Was frommt ihm, wenn die Zeit verlaufen,
Der Lorbeerkranz, der Throne Sturz?
Wir wollen, wo die Tafeln brechen,
Den ros'gen Augenblick verzechen;
Das Grab ist schwarz, das Leben kurz.

Und schafft Musik zum reichen Tische!
Sie flute halbgehört dahin,
Und wie ein kühlend Grab erfrische
Verhallend sie den heißen Sinn.
Wie lieblich ist's, ihr nachzuträumen,
Wenn in den bildervollen Räumen
Sich Kerzenglanz und Mondlicht mischt,
Und wenn dazu in schäum'gen Strahlen
In weite rotkristallne Schalen
Aufperlend der Champagner zischt!

Und laßt's an Mädchen, laßt's an losen
Schenkinnen uns gebrechen nie;
Sie sind des Freudengartens Rosen,
Sie sind des Festes Poesie.
Zwei dunkle, wollustfeuchte Augen,
Zwei frische Kirschenlippen taugen
Mehr als ein schwer Gespräch zur Lust;
Die Schönheit bleibt des Lebens Giebel
Und schöner als die schwarze Bibel
Ist einer Dirne weiße Brust.

Das Lied verhallte. Vom Tanzsaal herein lockte die schmeichelnde Weise eines Wiener Walzers, und die Tafelrunde brach tumultuarisch auf, um sich wieder in den Tanz zu stürzen, welcher immer entschiedener die Miene annahm, jene Grenzlinie zu überschreiten, wo der Ball aufhört und die Orgie beginnt.

Von dem Säulengange aus, welcher um den Saal herlief, sah ich noch eine Weile dem Getümmel zu und suchte mit den Augen in dem wilden Gewoge vergebens die Gestalten des Tscherkessen und der Zingala. Ich wäre gern weggegangen; allein ich hatte ja mit Fräulein Kippling verabredet, sie zu einer bestimmten Zeit an der Türe der Garderobe zu treffen, um sie nach Hause zu bringen, und die Stunde war noch nicht da.

Müde des Lärms, trat ich aus dem Säulengange rückwärts in eine Art Wintergarten, der in labyrinthischen Windungen weit in die Ferne zu streben schien. Ich schritt in die grünen Gänge hinein. Da plätscherten Springbrunnen, da entfalteten exotische Pflanzen ihre Prachtblütendolden, da gab es versteckte Lauben, verschwiegene Moosbänke und lauschige Grotten. Ein gedämpftes, magisches Licht dämmerte über diesem üppigen Blütenlabyrinth, und die Töne der Musik drüben hatten hier ihre Grellheit verloren. Es war still und einsam in dem grünen Asyl. Nur da und dort flatterte eine leichte Mädchengestalt oder huschte ein zärtliches Pärchen an mir vorüber.

Ich setzte mich auf eine Moosbank, blies den Rauch meiner Zigarre vor mich hin und überließ mich den Betrachtungen, welche das Fest in mir rege gemacht hatte.

Da, mit einmal, unterbrach ein furchtbarer Schrei von seitwärts her meine Träumerei – ein Schrei, wie von einem Manne in höchster Todesnot ausgestoßen.

Ich sprang auf und wandte mich der Richtung zu, woher der Schrei erschollen – da sah ich Julie auf mich zueilen, die Maske in der Hand, totenblaß, die Augen wie vor Entsetzen weit geöffnet.

»Zu Hilfe, Michel!« preßte sie hervor. »Zu Hilfe! Er ist rasend!«

Sie ergriff meine Hand und riß mich mit sich fort. Aber wir hatten kaum einige Schritte gemacht, als dicht vor uns abermals der furchtbare Schrei erscholl.

Er kam aus dem Munde Bertholds, welcher den gewundenen Weg durch das Buschwerk daherschritt oder vielmehr daherwankte, taumelte.

Sein Blick war schrecklich.

Maske und Tscherkessenhelm waren ihm entfallen, und wirr hingen ihm die Haare um die eingesunkenen Schläfe – nein, sie hingen nicht, sie starrten hinaus und hinauf und auch der lange Schnurrbart war aufwärts gesträubt. Aschfahl das Gesicht, Schaum vor dem Munde, der Blick der blutunterlaufenen Augen gläsern, grausenhaft stier ins Leere gerichtet, die Brauen so krampfhaft wild zusammengezogen, daß die schwarze Furche zwischen denselben bis ans Ende der Stirne hinaufreichte. Die linke Hand krampfhaft in die Falten des Panzerhemdes seiner Charaktermaske verkrallt, hielt er in der rechten seinen entblößten Krummsäbel und focht damit wütend in der Luft herum, wie gegen einen unsichtbaren Feind.

Er ließ den schrecklichen Schrei nicht wieder hören, aber stoßweise kamen die Worte aus seinem Munde:

»Hinweg! Hinweg! ... Oder gestehe mir endlich einmal ... Hier ist meine Brust ... Dein Gewehr ... Leg an! ... Ha, du fliehst ...«

»Wie kam das?« raunte ich der Zigeunerin zu.

»Weiß ich es?« versetzte sie. »Es kam wie der Blitz, plötzlich und entsetzlich .... Aber um des Himmels willen, fassen Sie den Unglücklichen! Man kommt.«

Der arme Nachtwandler – dies von Berthold bei unserem neulichen Wiedersehen hingeworfene Wort schien das Rätsel zu lösen – war nur noch einige Schritte von uns entfernt. Ich unterlief ihn, wand ihm die Waffe ans der Hand und faßte ihn fest um den Leib.

Seine ganze Gestalt erzitterte und brach dann in meinen Armen zusammen.

Eine Menge Masken stürzten herbei, an ihrer Spitze der Kosak.

Die Zingala war verschwunden.

»Was gibt es denn da?« fragte Herr Theodor Kippling.

»Einen Kranken,« entgegnete ich.

»Nein, ich bin schon wieder gesund,« sagte Berthold, indem er sich straff an mir aufrichtete.

Er strich sich mit der Hand über die Augen, und das Blut kehrte in sein Gesicht zurück.

»Ein dummer Schwindel oder Krampf, wie er mich zuweilen anwandelt,« murmelte er ... »Haben sie Dank, mein Herr,« fügte er dann hinzu, mich flüchtig grüßend, da ihn meine Maske hinderte, mich zu erkennen, und schritt hinweg.

Herr Kippling folgte ihm, und ich ging, die Zingala aufzusuchen.

Sie harrte, mit wieder vorgesteckter Maske, in dem Säulengange meiner.

»Er hat sich völlig erholt,« sagte ich.

»Ich weiß es,« versetzte sie. »Ich sah ihn wieder in den Saal kommen. Aber was mich betrifft, so habe ich an den Festen der Söhne Mammons ein für allemal genug und will heim.«

Während wir in dem von mir bestellten Wagen an dem Flusse hinauf, dann durch die ganze Länge der Stadt fuhren, blieb Julie stumm. Auch als wir den Wagen verlassen hatten und durch ein Seitenpförtchen, wozu sie den Schlüssel bei sich trug, in den Kipplingschen Garten schlüpften, ging sie schweigend neben mir her, bis wir uns an der Ecke des großen Gewächshauses trennten. Da reichte sie mir die Hand und sagte leise:

»Es war ein schreckliches Abenteuer. So Furchtbares habe ich nie erlebt. So muß Lara ausgesehen haben, wenn ihn zu Mitternacht das geheimnisvolle Entsetzen faßte .... Was es sein mag? Ein finsteres Geheimnis vielleicht, ein Unglück jedenfalls .... Ich glaube, jetzt lieb' ich ihn! ... Sie, Hellmuth, Sie sind kein Lara, aber ein treuer Freund sind Sie .... Gute Nacht! Auf fröhliches Wiedersehen!«


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