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Viertes Buch
Die Rotte der Zukunft

Erstes Kapitel

Von Sonntagsmorgenglocken und Sonntagsgefühlen; ferner von einer alten Schlange und einer berühmten Frage, die aber, wie Autor fürchtet, nicht zur Befriedigung des Lesers gelöst wird.

Leider hatte ich keine Gelegenheit, die Richtigkeit des alten Volksglaubens zu erproben, welchem zufolge die Träume der ersten, an einem neuen Aufenthaltsorte verbrachten Nacht vorbedeutend sind. Das Träumen war überhaupt nicht meine Sache; ich war viel zu gesund dazu, und so schlief ich denn auch die erste Nacht unter Herrn Kipplings Dache ganz vortrefflich, sogar einen rechten Sonntagsschlaf, das heißt, ziemlich weit in den Morgen hinein.

Endlich weckte mich feierlicher Glockenklang. Ich blickte aus dem Alkoven, wo mein Bett stand, durch die offenstehende Türe in das Zimmer hinaus und sah die Sonnenstrahlen durch die halbgeschlossenen grünen Jalousien hereinspielen.

Komfortabel logiert für einen Kommis, enorm komfortabel, wie Ziegenmilch und Komp. sagen würden. Der Herr Oberst und Kantonsrat scheint in der Tat gegen seine Leute kein Knicker zu sein ... Nun, Michel Hellmuth, du kannst, wenn du billig sein willst, mit dem Gange, welchen deine Angelegenheiten bisher nahmen, ganz zufrieden sein ... Ich denke, ich darf mit einiger Genugtuung an Isolde melden, daß der Anfang, durch meine eigene Kraft etwas zu werden, gemacht sei. Durch eigene Kraft? ... Hm, wenn ich ehrlich sein will, muß ich doch sagen, daß eigentlich Fräulein Julie ... Aber wer ist nur Fräulein Julie? Werde ich sie wiedersehen? Es ist doch recht wunderlich, daß das Bild dieses seltsamen Kindes ... ei, hat sich was mit dem Kind! ... Ist 'ne richtige Dame geworden, der wilde Pensionatvogel von damals ... Aber warum drängt sich immer dieses Bild zwischen meine teure Jugendgespielin und mich? O, Schwachheit, ich sage, dein Name ist – Mann!

Während dieses Monologs hatte ich mich angezogen, und da ich die Beklemmung, welche mich anwandelte, der stockigen Zimmerluft zuschrieb, öffnete ich ein Fenster und stieß den Laden auf.

Eine prachtvolle Szene lag vor mir entrollt.

Glatt und glänzend wie eine ungeheure Silbertafel, widerspiegelte der vor meinen Blicken ausgebreitete See die wolkenlose Himmelsbläue des Sonntagsmorgens. Es war Mai, und so weit das Auge die beiden Ufer hinaufreichte, zog sich ob den erst leise grünenden Rebenhügeln eine ununterbrochene Kette blütenschwerer Obstbäume hin. Ein Zug walddunkler Voralpen bildete den Hintergrund des herrlichen Landschaftsbildes, aber hoch über das Wälderdunkel dieser Berge ragten aus silbernem Morgenduft die Hochalpen mit schimmerndem Firnschnee in den klaren Äther empor. Ein Ton und Duft wie aus dem Sonntagslied von Uhlands Schäfer lag auf der ganzen Szene, und die heilige Stille derselben wurde nicht gestört, nein, gleichsam nur noch feierlich stiller gemacht durch das Geläute der Glocken, welche von den Kirchtürmen der Stadt und der zahlreichen Dörfer an den Seegestaden ihre Klangwogen in die Lüfte gossen.

Ich sog mit der balsamischen Frische der Morgenluft zugleich auch die gehobene Sonntagsstimmung ein, welche über der schönen Landschaft schwebte. Mir ward still, fromm, andächtig zumute. Die verworrenen Gedanken und Wünsche, die mich vorhin gequält hatten, verstummten mir in der Brust, welche friedvoll aufatmete in dem allgemeinen Sonntagsfrieden. Ich gedachte der Sonntagsmorgen, wo ich als Kind mit meiner geliebten Mutter zur Kirche gegangen; ich gedachte der sonntäglichen Bergwanderungen an der Seite meines teuren Vaters; ich gedachte auch Isoldes, mit inniger und doch nicht schmerzlicher Sehnsucht. Jetzt, in diesem geweihten Augenblicke, stand nichts Fremdes, nichts Störendes zwischen ihr und mir. Ich dachte an alles Schöne, Gute, Freudige, was ich erlebt, und mein Herz, der Last selbstsüchtiger Strebungen und Sorgen entbunden, schwoll von Andacht und Dankgefühl. Wie vormals in den besten Stunden der Jugend, fühlte ich mich wieder als ein Glied in der unendlichen Kette alles Daseins, alles Lebens, und, ein unwillkürliches Gebet, drängten sich mir Herders Worte auf die Lippen:

…... Du gehörst nicht dir!
Dem großen guten All gehörst du.
Du hast von ihm empfangen und empfängst,
Du mußt ihm geben, nicht das Deine nur,
Dich selbst, dich selbst; denn sieh, du liegst, ein Kind,
Ein ewig Kind, an dieser Mutterbrust
Und hangst an ihrem Herzen ....

Ich weiß, weiß nur allzugut, wie selten die Skepsis einer alternden Gesellschaft solche Stimmungen aufkommen läßt. Aber dennoch – wehe dem, welchen sie, auch in reiferen Jahren noch, nie wieder anwandeln! So ein Sonntagsgefühl ist ein Stab, an welchem man leicht und frei emporklimmt aus den dumpfen Niederungen des Werktaglebens in die Ätherhöhen, wo den Menschen das alte, urewige Sphärenlied von einem verlorenen und wieder zu gewinnenden Paradiese umklingt, das Sphärenlied von einem goldenen – ach, nicht im Sinne der Gegenwart goldenen – Zeitalter, welchem die Weltgeschichte durch Entwickelungsphasen von Jahrtausenden hindurch entgegenreifen soll. Wird es geschehen? Oder ist das Lied ein immer wiederkehrendes Eiapopeia, ein monotoner Ammengesang, womit der Himmel die Erde und ihre Kinder einlullt, um sie ihre Schmerzen des Lebens, die Mühsal der Wirklichkeit vergessen zu machen? Brächte die Weltgeschichte wirklich auch nach Jahrtausenden nichts hervor, was nicht vor Jahrtausenden schon dagewesen, und sollte auch in fernster Zukunft noch ein Koheleth des Zweifels, wie vordem der salomonische tat, mit verzweifelndem Achselzucken sprechen müssen: »Nichts Neues unter der Sonne« und: »Alles ist eitel?«

Ach, die alte Schlange, welche dem tiefsinnigen biblischen Mythus zufolge schon im Schatten von Edens Bäumen die Kindheit der Menschheit vergiftet, ihr naives Glück zerstört hat, – der fragende, zweifelnde, bangende, über die Schranken der sichtbaren Welt rastlos hinausstürmende Gedanke des Menschen, der Gedanke, welcher mit einem ewigen: »Was dann?« auf den bleichen Lippen in eine Zukunft hineinbohrt, deren Dunkel die Leuchte der religiösen Tradition, wie die Fackel der Wissenschaft nur noch dunkler erscheinen lassen, nur »sichtbar finster« wie die Finsternis in Miltons Hölle – – ja, die alte Schlange, sie ringelte sich draußen auf dem lachenden Seespiegel, sie ringelte sich durch das Grün der Matten und durch den Blütenschnee der Bäume: sie ringelte sich auch drinnen in meiner Brust – die Weihestunde war vorbei.

So sind wir modernen Menschen nun einmal. Wir können kaum für Augenblicke unsere Zunge des bittern Nachgeschmackes der Frucht vom Baume der Erkenntnis ledig machen. Wir sind alle geborene Skeptiker oder wenigstens ist der Zweifel das lastende Angebinde, womit eine Bildung, die über Abc und Katechismus hinausgeht, uns beschenkt. Kein gebildeter Mensch des neunzehnten Jahrhunderts, sei er Mann oder Frau, ist noch ein wahrhaft naiv Gläubiger. Er kann es nicht sein, es ist eine Pure Unmöglichkeit. Er wird auch nicht sagen, daß er ein solcher sei, es müßte denn sein, daß er, ungleich Wolfgang dem Großen, nicht das Herz hätte, der »Heuchelei dürftige Maske« zu verschmähen.

Aber nicht nur das. Wir Menschen des neunzehnten Jahrhunderts haben, nach dem Vorgang und Beispiel genialer Stimmführer desselben, auch noch die Sucht, die Unart, uns jede reine und hohe Stimmung mephistophelisch zu vergällen. Jeder von uns ist so ein Stück von Zerrissenheitspoet, wenn er auch keine Verse macht und keine machen kann. Unser Enthusiasmus hat kaum das Haupt erhoben, so schlägt ihm die Ironie schon in den Nacken. Jeder Seelenlaut, jedes erhabene Gefühl wird von einem Kapriccio skeptischen Witzes zu Tode gestichelt; jedes Byronisch leidenschaftliche Pathos läuft in einen Heinesch kynischen Lachtriller aus.

O, wir sind Realisten, wir. Uns ist Werther nur noch ein dummer Junge und Faust ein alberner Professor, der es nicht zum Hofrat brachte, und Nathan ein seichter Schwätzer und Posa ein kläglicher Possenreißer. Von allem schönen Glauben, von allen hohen Hoffnungen ist uns nur noch unser kleines, armseliges Ich geblieben, und weil dieses gar zu armselig klein ist, schieben wir ihm als Piedestal einen Geldsack unter, räuchern und singen ihm und lügen uns selbst und anderen vor, es sei doch etwas Großes und Herrliches um den bis zur höchsten Potenz hinaufgeschraubten Individualismus, der mit frecher Schamlosigkeit sein: »Jeder für sich und der Klügste, Gewissenloseste über alle!« ausschreit. Was sollte uns Ewiges kümmern, uns, die wir alle Hände voll mit Zeitlichem zu tun haben? Was die Menschheit? Mag sie selbst für sich sorgen, wir sorgen für uns. Laßt die Ideale, die Schwärmereien, die Illusionen den Toren von armen Teufeln, die nicht klug genug sind, am Bankett des Lebens einen Platz oder ein Plätzchen zu erobern; wir unsererseits sind mit den Realitäten zufrieden. Und auch den Himmel, die ganze poetische Herrlichkeit des Jenseits, lassen wir den Phantasten. Mögen sie sich zum voraus daran erquicken, während wir so bescheiden sind, nur die kurze Strecke bis zum Grabe existieren und genießen zu wollen, und so großmütig, doch auch einigermaßen der Menschheit zu dienen, indem wir nichts dagegen haben, daß unser Kadaver auf die Anatomie oder in eine Ammoniakfabrik gebracht werde. Wenn nur eins nicht wäre, dieses fatale: »Was dann?« Wir haben es zwar für bloßen Nebel erklärt, aber gerade so zudringlich-feuchtkalt wie Herbstnebel richtet sich überall auf Wegen und Stegen das verhaßte Fragwort vor uns auf. O, eine Prämie, eine ungeheure Prämie, den ganzen Ertrag von ein-, zwei-, dreijährigem Papiermarktsschwindel als Prämie dem Chemiker, der uns eine Säure präpariert, welche zersetzt, zerfrißt, in nichts auflöst für immer dieses abscheuliche: »Was dann?«

»Rechne, Ihr haltet Euch in Ermangelung eines Pfarrers selber die Sonntagspredigt,« sagte Herrn Bürgers Stimme hinter mir, und als ich mich, halb verlegen, so in meinem nicht sehr kaufmännischen Monolog überrascht worden zu sein, zu ihm wandte, fuhr er fort: »Müßt sehr vertieft gewesen sein – 's ist kla–ar. Hörtet mein Anklopfen nicht. Trat daher ungerufen herein und hörte Euch mit Vergnügen predigen. Gut für den Sonntag, ganz gut, taugt aber nichts für die Werktage – bitt' um Entschuldigung.«

»Ich meinerseits habe um Entschuldigung zu bitten, Herr Bürger. Denn ich wollte Euch als meinem Nachbar eine Staatsvisite machen, da ....«

»Da hat Euch der Weltschmerz beim Ohr genommen? 's ist kla–ar. Begreife, daß Ihr dann und wann solche Anwandlungen habt, seid gerade noch jung genug dazu.«

Ich hatte keine Zeit, mich über das sarkastische Lächeln zu ärgern, welches die Mundwinkel meines Vorgesetzten umspielte. Denn über eine Stuhllehne sich beugend, nahm Herr Bürger plötzlich Haltung, Gebärde und Ton irgend eines ordentlichen Professors der Philosophie an und sagte mit pedantischer Gravität:

»Wir verschreiten jetzt dazu, meine Herren, mit tunlichster Bündigkeit die berühmte Frage: ›Was dann?‹ zu beantworten. Merken Sie wohl auf! Daß das Menschenleben eine Tragikomödie, gilt so ziemlich allgemein für ausgemacht. Etliche, etliche viele, sehr viele – man nennt sie Materialisten – sind der Ansicht, die Tragikomik sei aus, ganz aus, sobald der Vorhang, den man in der Vulgarsprache Sargdeckel heißt, gefallen. Andere – man nennt sie Idealisten – leben des Glaubens, das besagte Drama sei keineswegs ein in sich abgeschlossenes, vollendetes Kunstwerk, sondern habe noch eine Umdichtung zu erfahren, welche auf einem höheren Theater zur Darstellung käme, sei es als erhabenes Trauerspiel, sei es wenigstens als heiteres Lustspiel. Wer von beiden hat recht? Da wir bis zur definitiven Entscheidung der Frage nur dreißig bis fünfzig oder in Ausnahmefällen siebzig bis achtzig Jahre lang Geduld zu haben brauchen, so meine ich, das Klügste und Einfachste sei, wir warten es ruhig ab und« – hier nahm Herr Bürger seinen natürlichen Ton wieder an – »gehen vorderhand frühstücken.«

Ich lachte und folgte dem wunderlichen Manne nach seinem Zimmer, wo uns Herr Egli, der Kassierer, erwartete, welchem mich Herr Bürger in aller Form vorstellte.

Zweites Kapitel

Ein Frühstück bei Herrn Bürger. – Deutsche und Schweizer. – Herr Egli, der »Krakeeler«. – Wie Herr Bürger vom polnischen Schwindel kuriert wurde. – Ein Fabrikler und das schöne Gritli. – Lutherischer Text zu einer Sonntagspredigt.

Man konnte es der Art und Weise, wie Herr Bürger logiert und eingerichtet war, leicht anmerken, daß er im Hause Kippling einen großen Stand hatte. Das Gemach, in welches er Herrn Egli und mich zum Frühstück geladen, war sein Empfangszimmer, das auf das mannigfaltigste mit den Schätzen und Kuriositäten ausgeschmückt war, welche Herr Bürger aus dem Orient und aus Amerika mit heimgebracht hatte. Es sah aus wie ein Museum, aber wie ein mit außerordentlichem Geschmack geordnetes Museum, das mit einer gewissen wilden Fremdartigkeit die raffinierteste Bequemlichkeit verband. Zur Rechten sah man durch eine halboffenstehende Türe in ein Bibliothekzimmer hinein, dessen zierlich gearbeitete Mahagonischränke mehrere tausende prächtig gebundener Bücher enthielten. Die Zwischenräume waren mit den Büsten großer Dichter und Denker ausgefüllt. Hier erinnerte nichts, aber auch gar nichts an den Kaufmann, es müßte denn eine Kolossalbüste Fouriers gewesen sein, welche auf einem altarartigen Sockel gerade der Türe gegenüber die Hauptwand schmückte. Der Prophet des utilitarischen Evangeliums der Assoziation war ja auch Buchhalter gewesen. Zur Linken ließ eine zurückgeschlagene Gardine von schwerer meergrüner Seide in ein wahrhaft sybaritischem Luxus ausgestattetes Schlafkabinett blicken. Der ganzen Wohnung sah man an, daß es die eines gebildeten Lebemannes war, welcher die Welt nimmt, wie sie ist, und sich scheinbar um weiter nichts sorgt, als sich in dieser wirklichen Welt möglichst bequem einzurichten.

Auch an jenem Morgen, wie Herr Bürger dasaß oder vielmehr dalag, in seinem Persischen Schlafrock auf dem schwellenden Diwan, seinen duftenden Mokka schlürfend und aus dem Bernsteinknopf seines Tschibuks den duftenden Rauch der Tabaksstaude von Latakia blasend, trug seine ganze Erscheinung den angedeuteten Charakter. Daß er tiefer Gefühle, treuester Anhänglichkeit, ja sogar, er, der sich als einen ausgeprägten Egoisten und Blasierten zu geben liebte, einer mächtigen Leidenschaft fähig, daß er einer jener seltenen Menschen sei, die viel sorgfältiger ihre großen Eigenschaften als ihre kleinen, viel ängstlicher ihre Tugenden als ihre Fehler zu verstecken suchen, erfuhr ich erst später.

Für jetzt konnte ich bloß bemerken, daß er sich gegen mich liebenswürdig benahm; aber diese Liebenswürdigkeit, verglichen mit der Gemessenheit, die er bei unserem ersten Zusammentreffen im Hause Kippling, gezeigt hatte, war so, daß ich hoffen durfte, er könnte mein Freund werden. Und er wurde es, in kürzerer Zeit, als ich erwarten konnte. Zu seinen mancherlei Eigenheiten gehörte auch die, daß er nicht selten im Lichte eines entschiedenen Pessimisten und Menschenfeindes zu erscheinen liebte. Bei einer passenden Gelegenheit ging ich ihm in der Folge dieser Laune wegen stark zu Leibe und sagte ihm, er täusche mit dieser Maske am allerwenigsten mich, mit dem er sich ja viel schneller und fester befreundet habe, als von einem Menschenfeind billig zu erwarten gewesen wäre.

»Eure Logik hinkt, mein Guter,« gab er zur Antwort, »hinkt sehr – 's ist kla–ar. Ich verabscheue das Menschengesindel, und wenn ich mit Euch eine Ausnahme mache, Euch sozusagen liebte, so beweist das nur, daß ich Euch nicht zum Gesindel rechne. Und wißt Ihr, warum? Weil Ihr nicht zu dem gemeinen, schweinischen Haufen gehört, auf dem mit Fug und Recht jeder herumtrampelt, der Witz oder Macht genug dazu hat. Ihr seid ein anständiger Mensch, Ihr; denn Ihr habt kleine Hände und kleine Füße – 's ist kla–ar.« – »Welche tolle Marotte!« rief ich aus, aber Herr Bürger blieb dabei und hielt mir höchst ernsthaft eine von boshaftem Witz sprudelnde Vorlesung über die angegebenen Kennzeichen dessen, was er – Notabene, er selbst hatte eine sehr schöne Hand und einen zierlichen Fuß – die »noblere Rasse« oder die »Menschheit im engeren Sinne« nannte.

Herr Bürger war Schweizer von Geburt, und er war einer der wenigen, sehr wenigen von allen Schweizern, die ich zu kennen das Glück hatte, deren Augen kosmopolitisch zu blicken verstanden. Ich habe sonst unter den Schweizern viele, sehr viele treffliche Männer gekannt, Ehrenmänner im besten Sinne des Wortes. Aber zwischen ihrer spezifisch schweizerischen Anschauung und unserer deutschen, welche »die Sache der Menschheit als die eigene betrachtet« und betrachtet wissen will, gibt es kein rechtes Verständnis. Es mag sein, daß die Schweizer in ihrer Art recht haben, ganz recht, wenn sie sich, aller weltbürgerlichen Politik entschieden abhold, rein praktisch geschäftsmäßig darauf beschränken, ohne alle prinzipielle Skrupel für ihr eigenes Beste und nur für dieses zu sorgen. Am Ende bedingt schon die geographische Lage ihres Landes und dessen politisch soziale Einrichtung diese Praxis. Außerdem können sie uns mit Grund darauf verweisen, daß wir es mit unseren idealen Anschauungen, mit unserer weltweiten Sympathie und weltbürgerlichen Zerfahrenheit eben nur zur politischen Nullität gebracht hatten und lange Zeit hindurch nicht einmal etwas vorstellten, während wir doch alles sein konnten, sobald wir unsere nationalen Tugenden zur politischen Aktion tatkräftig zusammenfaßten. Aber so berechtigt an und für sich die etwas engherzig praktische Denkweise der Schweizer sein mag, so liegt in ihr etwas, was einen widerwärtig berührt, auch wenn man keineswegs die lächerlich törichte, in der Bitterkeit des Exils in Flüchtlingsköpfen zur fixen Idee ausgebildete Ansicht teilt, die Schweiz sei solidarisch verpflichtet, nicht nur mit allen demokratischen Regungen und Strebungen in Europa zu sympathisieren, sondern dieselben auch tatsächlich zu unterstützen ... Herr Hans Bürger war, wie gesagt, ausnahmsweise ein kosmopolitischer Schweizer, und seine Vorurteilslosigkeit ging so weit, daß er sich nicht selten die galligsten Ausfälle auf sein Heimatland erlaubte. Er hatte in seinen frühesten Mannesjahren unter den Liberalen eine Rolle gespielt, sich aber längst von seiner Partei zurückgezogen, wenn diese, welche im Verlaufe der Zeit ihre Ansichten bekanntlich bedeutend modifizierte, überhaupt noch existierte. Liberale und Konservative erachtete er gleichermaßen; er nannte jene Hasen mit acht Füßen und diese Esel mit vier Ohren; aber in seinem Herzen glühte heimlich ein roter Haß gegen alle Despotie, gegen allen Knechtssinn, und nicht immer gelang es ihm, diesen Haß dadurch zu verbergen, daß er von dem gedanken- und urteilslosen, feigen und feilen Haufen, wie er das Volk schalt, in solchen und noch viel herberen Ausdrücken sprach, wie nur der wildeste Aristokrat sie im Munde führen mag.

Über Herrn Egli, den Kassierer, habe ich nur wenig zu sagen, da er in keiner Weise in meine Geschichte eingreift. Er war ein stiller Mann schon bei seinen Lebzeiten, und er befolgte streng das evangelische Gebot: »Eure Rede sei ja, ja, oder nein, nein.« Von außerordentlicher Gutmütigkeit und im Benehmen sehr artig, besaß er eine Schweigsamkeit, welche ihm auf dem Kontor und in den Magazinen das Beiwort »der Krakeeler« eingetragen hatte. Ich habe in der Tat nie einen beharrlicher schweigsamen Menschen gesehen. Dabei aber war er keineswegs ungesellig und fehlte nie bei den sonntäglichen Ausflügen, welche die Herren, das heißt die Diener der Firma Gottlieb Kippling nicht selten mitsammen machten. Da saß er dann, »der Kassierer gewordene Genius des Schweigens«, wie ihn Herr Kambli, der große »Warenprober« der Firma, emphatisch titulierte, und lächelte gutmütig, aber leise, leise zu den Späßen, die im Kreise umgingen, und war, wie Herr Kambli sich ausdrückte, still in sich hinein vergnügt wie ein Maikäfer. Wenn dann der Gute einen ganzen langen Nachmittag oder Abend hindurch keine Silbe gesprochen hatte, so rief ihm Herr Kambli, der Witzbold der Firma, wohl plötzlich über den Tisch hinüber zu: »Herr Egli, verführen Sie doch um's Himmels willen keinen so kaibischen Lärm!« und der »Krakeeler« lächelte still dazu. Das mysteriöse Wort »kaibisch« spielt, beiläufig bemerkt, dortzulande in der Umgangssprache eine große Rolle. Es wird im allerschlimmsten und im allerbesten Sinne gebraucht. In letzterer Richtung führe ich nur als Beispiel an, daß der mehrerwähnte Herr Kambli, wenn wir von unseren sonntäglichen »Suiten« heimkehrten, beim Gutenachtwünschen regelmäßig zu sagen pflegte: »Heute hat sich die Firma Gottlieb Kippling doch wieder kaibisch lustig gemacht!«

Zu unserem Frühstück zurückzukehren, so erinnere ich mich noch recht deutlich, daß mir bei dieser Gelegenheit Herr Bürger in leichter Gesprächsform sehr dankenswerte Wünsche und Nachweise in betreff der Obliegenheiten gab, welche ich kommenden Tages übernehmen sollte. Weniger deutlich ist mir erinnerlich, wie dann die Rede auf die politischen Zustände des Landes und von diesen auf die europäischen kam, welche Herr Bürger vom pessimistischen Standpunkt aus beleuchtete. Ich habe von den bezüglichen Äußerungen meines Freundes nur zwei im Gedächtnis behalten, eine über Deutschland und eine andere über Polen. Herr Bürger war natürlich nicht im Falle, den bornierten Haß vieler seiner Landsleute gegen die »Dütschländer« oder »Dütschmichel« zu teilen; denn er kannte Deutschland. Damals warf er unter anderen die Äußerung hin: »Ist mir schon oft aufgefallen, daß das lateinische Wort germanus der Deutsche und der Bruder bedeutet. Mein guter Vater würde sich über diesen Satz gewaltig skandalisiert und Herrn Bürger bewiesen haben, daß das lateinische Wort germanus (Bruder) mit dem urdeutschen German (Speermann) weder in der Bedeutung noch in der sprachlichen Herleitung irgend etwas gemein habe. Liegt sozusagen etwas Providentielles darin. Ist ja der Deutsche der Bruder von aller Welt, aber nicht umgekehrt. Und doch muß Gegenseitigkeit stattfinden, wenn man gute Geschäfte miteinander machen soll. Das hat die Firma Deutschland von jeher übersehen, und darum machte sie in dem Engrosgeschäft der Politik häufig so schlechte Geschäfte – 's ist kla–ar.« ... Über Polen sagte er: »Die polnische Frage spukt wie ein Gespenst noch immer in Europa herum. Ist aber ein albernes Gespenst, an das im Grunde niemand mehr glaubt. Liederlicher Adel und schweinische Leibeigene, das ist Polen. Was wollen Sie mit solchem Stoff anfangen? Wo ich je drei Polen beisammen sah, waren vier Grafen darunter: Krapülinski und Waschlapski, Schubiakski und Eselinski – wißt Ihr? – Pack! Erinnere mich, als ich noch ein dummer Mensch war und mich für allerhand Nonsens, zum Beispiel auch für das Volksschulwesen erhitzte, da wohnt' ich mal auf dem Lande einer feierlichen Schulprüfung bei. Hielt dabei der Pfarrer, als Präsident der Gemeindeschulpflege, eine recht erbauliche Rede, und stellte sich dann noch ein anderer Schulpfleger in Positur, um auch eine zu halten. Müßt aber wissen, damals stand gerade die Polakerei in tollster Blüte, und war auch der Herr Schulpfleger von der grassierenden Seuche ergriffen. Fing an mit großartigen Gesten und sprach also: ›Ihr Kinder, das erste ist Gott. Das andere ist ... das andere und ... noch ist Polen nicht verloren!‹ War das die ganze Rede, habe aber nie eine wirksamere gehört, denn sie kurierte mich radikal von dem polnischen Schwindel, 's ist kla–ar.«

Nach dem Frühstück machte Herr Bürger mit mir einen Gang durch die ausgedehnten Gartenanlagen, und unser Schlenderweg führte uns zuletzt zu dem eisernen Gitter hinunter, welches das privatliche Terrain des Hauses Kippling von dem geschäftlichen trennte. Hier war es heute still und einsamlich. Ich bemerkte jenseits des Gitters nur einen schon ältlichen Mann in ärmlicher Kleidung, dessen mageres, rot und bläulich betupftes Gesicht den Schnapsbruder verriet. Neben ihm hielt sich scheu und ängstlich in einem armseligsaubern Sonntagsanzug ein Mädchen von etwa zwölf Jahren. Das Kind fiel mir in dieser Gegend, wo die Mädchen und Frauen der arbeitenden Klassen keineswegs durch Schönheit sich auszeichnen, doppelt auf, um seiner wirklich ganz ungewöhnlich schönen Züge und des schwermütigen Ausdrucks seiner großen dunklen Augen willen.

Als der Mann mit dem Schnapsgesicht Herrn Bürger wahrgenommen hatte, zog er demütig seine Mütze, und der sonst stiere, wilde Blick seiner rotumränderten Augen nahm einen widerwärtig kriechenden Ausdruck an.

»Was wollt Ihr hier?« fragte ihn Herr Bürger barsch.

»Ich wollte den Herrn Oberst noch einmal schön bitten –«

»Nichts da,« unterbrach ihn mein Begleitet, »Ihr ewiger Trunkenbold! Ihr seid mit Schimpf und Schande aus der Spinnerei weggejagt worden, und damit geschah Euch nur recht. Hätte schon früher geschehen sollen – 's ist kla–ar.«

»Aber hochgeachteter Herr Bürger, bedenken Sie doch, was soll ich denn anfangen? Und auch mein Gritli Landesübliches Diminutiv von Margareta. da? Das Kind hat ja keine Mutter mehr und ist noch viel zu jung, um einen Dienst bei einer Herrschaft zu finden. Es muß doch in die Fabrik gehen und ich auch, wenn wir nicht verhungern sollen.«

»Das hättet Ihr früher bedenken und Euch danach achten müssen.«

»Aber der junge Herr hat mir doch gestern versprochen –«

»Der junge Herr?« fragte Herr Bürger, seine Falkenaugen mit einem seltsamen Ausdruck auf das kleine Mädchen heftend. »Geht mich nichts an. Fort mit Euch!«

Das Kind wandte bei dieser barschen Abweisung seine in Tränen schwimmenden Augen dem Kontorhause zu, als suchte es dort Hilfe.

Ich folgte der Richtung seiner Blicke und bemerkte für einen flüchtigen Moment hinter den Fensterscheiben von Herrn Kipplings Arbeitszimmer das Gesicht oder vielmehr nur die achteckigen Brillengläser meines Herrn Chefs. Ob Herr Bürger dieselben ebenfalls wahrgenommen, weiß ich nicht, aber ich sah, daß seine Mundwinkel sarkastisch sich verzogen. Zugleich stieß er ein kurzes, fast pfeifendes »Ah!« aus und wandte sich ab.

In diesem Augenblick kam der alte Kontordiener, welcher mich bei Herrn Kippling eingeführt hatte, aus dem Hause und sagte dem Fabrikarbeiter, der Herr Oberst bewillige ihm eine Audienz.

Der Mann nahm das Kind an die Hand, und auf das Kontor zugehend, kehrte er sich noch einmal um und schoß einen Blick boshaften Triumphes auf Herrn Bürger, welcher aber bereits von dem Gitter zurückgetreten war und so diese Manifestation nicht wahrnahm.

Ich folgte ihm und fragte:

»Wer war der Mann?«

»Ein liederliches Subjekt, ein Branntweinlump erster Sorte, ein Halunk, wo ihn die Haut berührt, mit einem Wort, der Fabrikler Zündt.«

Nachdem Herr Bürger dann eine Weile schweigend neben mir hergegangen, brach er plötzlich in helles Lachen aus.

»Was kommt Euch so lustig vor?«

»Was mir so lustig vorkommt? Rechne, die Geschichte von vorhin, mein Bester. Man ist doch ein großer Narr, wenn man sich's beikommen läßt, den Engel spielen zu wollen. Der Teufel gewinnt ja doch immer das Spiel – 's ist kla–ar.«

»Verstehe Euch nicht.«

»Schad't nichts. Aber ich will Euch was sagen. Auf den Fall hin, daß Ihr am nächsten Sonntag aufgelegt wäret, Euch wieder eine Selbstpredigt zu halten, will ich Euch einen kapitalen Text dazu geben.«

»Laßt hören.«

Es ist ein guter Text vom alten Dr. Martin Luther, und er lautet: ›Die Welt, Bauer, Bürger, Adel sind doch des Teufels, außer daß Gott ihrer Wenige in einen Fingerreif fasset; der andere Haufen bleibt wohl Kieselsteine, wie sie sind, damit der Teufel ein Pflaster machet und darauf zur Hölle rennet‹ – Guten Morgen, Herr Hellmuth.«

Drittes Kapitel

Eine Stunde musikalischer Träumerei im Gartensaal. – Erscheinung des genius loci. – Julies Park. – Leidenschaft und Passionen. – Die dritte Überraschung unter Herrn Kipplings Dach. – Schwester und Bruder. – Herr Kippling junior.

Als mich Herr Bürger verlassen hatte, ging ich nach dem Pavillon zurück, in der Absicht, in mein Zimmer hinaufzusteigen und einen recht guten Brief an Isolde zu schreiben. Aber es stand in den Sternen oder sonstwo geschrieben, daß ich heute nicht dazu kommen sollte.

Indem ich nämlich an dem Portikus des Pavillons vorüberging, bemerkte ich zufällig, daß die auf die Vorhalle herausgehende Flügeltüre des schönen Saales, welcher das Erdgeschoß einnahm, offen stand. Geschah es nun aus Neugierde oder geschah es »in Gedanken« – das Seltsame, was in der soeben von mir mit angesehenen Begegnung Bürgers mit dem Fabrikarbeiter lag, gab mir zu denken – genug, ich stieg die Stufen hinan und trat in den hallenden Saal. Hallend nenne ich ihn, weil das Geräusch meiner Tritte auf dem spiegelglatten, zierliche Arabesken formierenden Parkett in der halbbogenförmigen Wölbung des Plafonds widerhallte. Ein geschickter und üppiger Pinsel hatte Decke und Wände des großen, eirunden Gemaches mit orientalischen Landschaften und Lebensbildern geschmückt, unter welchen letzteren mir zwei Gruppen, tanzende und badende Hindumädchen, durch ihre kecke Behandlung auffielen. Dem Eingang gegenüber öffneten sich drei große, bis auf den Boden herabreichende Bogenfenster auf eine Veranda, von welcher aus eine breite Treppenflucht an den See hinabführte. Am Fuße der Treppe schaukelten sich zwei kleine, äußerst zierlich gebaute und bemalte Barken auf dem Wasser wie in einem Hafen. Denn der See bildete hier eine kleine Einbuchtung.

Die schweren dunkelroten Seidengardinen, welche die Fenster großenteils verhüllten, ließen in dem Saal nur eine anmutig heimelige Dämmerhelle aufkommen. An den beiden Enden des Raumes standen in Nischen breite orientalische Diwane von Rosasammet, mit Tigerfellen davor, und in der Mitte auf einem großen türkischen Teppich ein kostbarer Flügel. Der Deckel war zurückgeschlagen, und auf dem Notenhalter befand sich ein offenes Musikheft. Zur Seite lagen ein Paar Damenhandschuhe und ein kleiner Sonnenschirm von weißem Atlas auf dem Instrument, als wäre die Eigentümerin soeben von dem prachtvoll gestickten Taburett aufgestanden, welches vor dem Flügel stand.

Als ich das erwähnte Zubehör einer Damentoilette gewahrte, wollte ich mich zurückziehen. Aber ein weiterer Blick überzeugte mich, daß weder eine Dame noch sonst jemand außer mir in dem Saale sich befand, und so unterließ ich den Rückzug. Die Wahrheit zu sagen, das Instrument lockte mich. Es war lange her, seit ich keine Klaviatur mehr berührt hatte, und nachdem ich mein Bedenken, ob ich wohl keine Indiskretion beginge, mit der Tatsache meines Alleinseins beschwichtigt hatte, setzte ich mich vor den Flügel.

Das aufgeschlagene Musikheft wies eines jener heutzutage gang und gäben Salonstücke, deren Leere sich hinter Seilgaukelei versteckt. Unsere ihrem innersten Wesen nach musikalisch unproduktive Zeit schafft, nein, macht eine Masse solcher Dinger, in welchen eine auf die Folter gespannte Technik statt des Schönen nur Verkünsteltes oder geradezu Fratzenhaftes liefert. Ich versuchte einige der verzweifelten Läufe zu spielen, fand aber, daß dazu meine Finger lange nicht lang und gelenkig genug wären. So holte ich denn aus meinem Gedächtnis einige jener guten alten Themata von Gluck und Mozart hervor, welche die Lieblingsstücke meiner geliebten Mutter gewesen waren, und spielte sie durch. Darunter war besonders eins, das die Mutter vor allen anderen gern gespielt hatte. Ich erinnerte mich einer glücklichen Stunde, wo sie dabei von Isolde auf der Harfe begleitet worden war, und mich in die seelenvollen Klänge versenkend, sah ich wieder das teure Mädchen vor mir, wie es in der ganzen Anspruchslosigkeit seiner angeborenen Grazie hinter der Harfe saß, das schöne Antlitz etwas vorgebeugt und mit den seinen weißen Fingern die Saiten meisternd.

So in der Vergangenheit schwelgend, vergaß ich Ort und Stunde und fuhr daher erschrocken aus meiner musikalischen Träumerei auf, als ein Händeklatschen hinter mir ertönte.

Aufspringend wandte ich mich um und wäre fast an Fräulein Julie angeprallt, die nur ein paar Schritte hinter mir stand, reizend, ach, wie reizend! in ihrer eleganten Morgentoilette, ihr schalkhaftes Lächeln auf den Lippen und noch immer mit den zierlichen Händen klatschend.

In meiner Bestürzung über diese plötzliche Wiedererscheinung vergaß ich ganz, daß ich vor allen Dingen meine Anwesenheit an diesem Orte entschuldigen müßte, und sagte ziemlich dämisch:

»Mein Gott, mein Fräulein, wie kommen Sie –«

»Wie ich hierher komme?« unterbrach sie mich lachend. »Das ist lustig! Herr Bürger würde sagen: ›Rechne, daß ich in mein Musikzimmer kommen darf, auch wenn dasselbe von einem fremden Eroberer okkupiert sein sollte – 's ist klar.‹«

Trotz meiner Verlegenheit konnte ich mich doch kaum enthalten, hellauf zu lachen über die Geschicklichkeit, womit die Schöne Ton und Sprechweise Bürgers nachahmte.

»In Ihr Musikzimmer, Fräulein?«

»Nun ja, sofern meines Vaters Tochter den Gartensaal ihres Vaters den ihrigen nennen darf. Aber bitte, mein schöner Herr, machen Sie doch keine so schrecklich großen Augen, als wollten Sie mich damit verschlingen.«

»Mein Fräulein, ich bitte tausendmal um Entschuldigung. – Sie wären?«

»Julie Kippling, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Julie Kippling?«

»Ebendieselbe. Sie werden doch nicht so ungalant sein, an meiner Existenz zu zweifeln? Oder doch? ... Nun, da muß ich Ihnen zum Willkomm schon meine Hand geben, damit Sie sich von meiner Wirklichkeit überzeugen können.«

Und sie gab mir wirklich die allerliebste, weiche, feuchtwarme Hand, welche – war es so, oder bildete ich mir es bloß ein? – den schüchternen Druck der meinigen erwiderte.

Ihre Hand zurückziehend, sagte sie:

»Eigentlich, Herr Hellmuth, sollten wir einander erst kennen, wenn Sie mir, was heute vor Tische geschehen wird, durch meinen Vater vorgestellt sein werden. Ich hoffe auch, in Parenthese gesagt, Sie werden bei diesem bevorstehenden feierlichen Aktus eine möglichst zeremoniöse Miene annehmen und, wenn ich bitten darf, noch ein bißchen hölzerner dastehen als vorhin. Da wir uns aber doch schon früher in einer Gegend, wo es Gießbäche und perfide lose Steine gibt, einander vorgestellt haben –«

»Ach, woran erinnern Sie mich, mein Fräulein!«

»An Tage, die recht schön waren, aber – vergangen sind. Zwar noch lange nicht ganz zahm, noch lange nicht, Gott sei Dank! bin ich doch nicht mehr pensionärisch wild, und es müßte mich einer durch ganz andere Fährlichkeiten führen, als die einer Wanderung vom Gießbach bis zu der Wengernalp sind, bevor er seinen Führersold ausgezahlt erhielte.«

Sie sah mich bei diesen Worten streng, fast böse an, und ihre sonst so verführerisch geöffneten Lippen waren hochmütig geschlossen, ja fast gekniffen.

Erkältet trat ich einen Schritt zurück und versetzte:

»Mein Fräulein, ich kenne meine Stellung in diesem Hause. Die Tochter desselben hat von dem Kommis ihres Vaters nicht zu befürchten, daß er sie auch nur durch einen Blick, geschweige durch ein Wort an eine Zeit erinnern werde, wo sie noch bloß Julie und er noch kein Kommis war.«

Während ich sprach, war ihre Miene schon wieder eine andere geworden, und mit dem Lächeln, das, wie sie wohl wußte, ein unwiderstehlich verführerisches war, sagte sie:

»Wenn ich König Philipp wäre und Sie der Marquis Posa, so würde ich sagen: ›Stolz lieb' ich den Spanier!‹ Aber ich bin nur ein passabel hübsches und nicht gerade einfältiges Mädchen, welches von seiner leider zu frühe verstorbenen Mutter nicht erzogen und, wie die Leute meinen, von seinem Vater verzogen wurde. Sie brauchen daher gar nicht so sauer zu sehen. Ich wollte Ihnen nur zeigen, daß ich auch weiß, was Anstand und Konvenienz ist. Zudem sind Sie nicht in mich verliebt, nicht wahr?«

»Nein!« versetzte ich erbittert, denn ich fühlte, daß ich von vornherein alles aufbieten müßte, um nicht ein Spielzeug dieses Mädchens zu werden.

Sie lachte, und während dieses Lachens spielte der unheimliche Eidechsenzug um ihre Mundwinkel, und ihre in unbeschreiblich koketter Weise durch die halbgesenkten Lider verschleierten Augen sprühten Feuer auf mich.

Schon im nächsten Moment war aber wieder alles anders an ihr. Die Grübchen der reizendsten Schelmerei erschienen abermals auf ihren Wangen, und im Tone zwanglosester, unbefangenster Munterkeit bemerkte sie:

»Sie hätten mir das auch ein bißchen höflicher sagen können und nicht so bärenmäßig grimmig. Aber wenn ich nun meinerseits in Sie verliebt wäre, schöner Herr, wie dann? Besinnen Sie sich auf eine passende Antwort und, bitte, verraten Sie mich inzwischen nicht an den sehr gestrengen und hochachtbaren Herrn Bürger. Er könnte eifersüchtig werden, der gute alte Knabe; denn Sie müssen wissen, er ist in mich verliebt, ganz ungeheuer verliebt. Das ist eine Tatsache, zugleich aber auch ein Geheimnis, das Herr Bürger vor anderen und auch vor sich selber wie ein Drache hütet. Ich teile es Ihnen mit, damit Sie wissen, was Sie davon zu halten haben, wenn Herr Bürger gegen mich loszieht.«

»Wie könnte er sich einfallen lassen, gegen Sie loszuziehen, Fräulein? Er muß Sie ja liebenswürdig finden wie alle –«

»Männer, wollen Sie sagen? Sie haben mir vom Anfang unserer Bekanntschaft an noch nie so etwas Triviales gesagt, mein lieber Herr Hellmuth. Sie sehen, ich habe ein gutes Gedächtnis und bin aufrichtig, so aufrichtig, daß mich so ziemlich die gesamte Damenwelt hiesiger Stadt gründlich haßt. Die Männer freilich sind, wie Sie sagten, mit Ausnahme von Ew. Hochwohlgeboren, sämtlich in mich verliebt, und ich wäre manchmal versucht, darüber recht eitel zu werden, könnte ich nur des fatalen Umstandes vergessen, daß mein Vater ein Millionär ist. Schade, daß heutzutage die Goethe nicht mehr gedeihen Wollen. Wären Sie z. B. ein Goethe, so könnten Sie als Seitenstück zu ›Lilis Park‹ einen ›Julies Park‹ dichten. An Stoff würde es Ihnen wahrlich nicht fehlen: meine Menagerie ist ganz vortrefflich assortiert. Wissen Sie? ...

Welch ein Geräusch, welch ein Gegacker,
Wenn sie sich in die Türe stellt
Und in der Hand das Futterkörbchen hält!
Welch ein Gequiek, welch ein Gequacker!
O, wie sie hüpfen, laufen, trappeln,
Mit abgestumpften Flügeln zappeln,
Die armen Prinzen allzumal
In nie gelöschter Liebesqual ...

Denn, mein Herr Hellmuth, die Tiere in Julies Park sind lauter Prinzen, Prinzen aus Genieland nämlich, und Sie werden heute bei Tische Gelegenheit haben, etliche Haupttiere kennen zu lernen, als da sind – wenn mir die Einladungsliste gegenwärtig ist – erstens der Herr Doktor Gaukel, ein europäischer, was sag' ich? ein Weltvirtuos, welcher die Gräfinnen und Herzoginnen, die ihn geliebt, zu Dutzenden an den Fingern herzählen kann und dem eine deutsche Fakultät den Doktorhut aufgesetzt hat, wahrscheinlich als Fallhut, auf den unglücklichen Fall hin, daß er einmal in einer seiner Verzückungen vom Klavierstuhl fallen sollte; zweitens Herr Schwarbel, ein musikalischer Heiland und Zukunftstyrann, von dem die Musiker sagen, er sei ein großer Schriftsteller, und die Schriftsteller, er sei ein großer Musiker; drittens Herr Professor Zarkle aus Schmierfeld, Vorsteher eines Spittels für invalide Köter, die früher kritisch gebellt haben; viertens Herr Schmirkli, Diakonus oder, wie wir sagen, Helfer bei Sankt Damian dahier, ein Stück hölzernen Eisens, will sagen ein liberaler Theolog, der einfältig tut wie die Tauben, aber klug ist wie 'ne Schlange und gewiß Tag für Tag bei Franken und Rappen berechnet, wieviel ich als Frau Helferin ihm zubringen könnte.«

So plauderte Fräulein Julie, mit lässiger Anmut sich auf dem Diwan wiegend und mit der Spitze eines mir noch von alters her in guter Erinnerung gebliebenen allerliebst schmalen Füßchens das Tigerfell zerwühlend. Ich stand vor ihr und hörte mit Vergnügen ihren Sarkasmen zu und sah ihr mit nicht geringerem Vergnügen in die tiefschwarzen, von Laune und Bosheit funkelnden Augen.

»Fünftens,« fuhr sie fort, »der große Professor Düngerling, Erfinder der berühmten Lehre, daß der Kreislauf des Lebens vom Kot ausgehe und zum Kot zurückkehre. Die alte Bibel wußte das auch schon, nur sagte sie anständigerweise Staub statt Kot. Sechstens der ›pyramidalische‹ Redakteur der ›Konservativen Hetzpeitsche‹ –«

»Was? Cyrillus Chrysostomus Theophilus Rumpel – auch der?«

»Freilich. Kennen Sie ihn?«

»Ja.«

»Ein ganz gemeiner Schuft, sonst aber ein unterhaltendes Tier, das wenigstens mit einigem Humor zu lügen versteht. Doch genug jetzt vom Tierreich! Es hat mich angenehm überrascht, Herr Hellmuth, daß Sie Musik treiben. Ich tue es auch, das heißt zuweilen, so nach Lust und Laune, wie eben, sagen die Leute, Julie Kippling alles zu treiben pflegt. Vorigen Sommer trieb ich das Reiten mit Leidenschaft und hätte dabei ums Haar den Hals gebrochen. Diesen Sommer über denke ich das Schwimmen zu kultivieren. Was für eine noble Passion dann an die Reihe kommen mag, wollen wir dahingestellt sein lassen. Übrigens, Herr Hellmuth, was halten Sie von Passionen?«

»Die Leidenschaft, mein Fräulein –« »Die Leidenschaft? Bah, mein Herr, es gibt dermalen keine Leidenschaft mehr, es gibt nur noch Passionen, und das ist bequem, denn damit kann man jährlich oder monatlich oder wöchentlich wechseln wie mit Toilettemoden. Was halten Ew. Hochwohlgeboren von der Passion der Liebe?«

Sie ließ mir wieder keine Zeit, die Frage zu beantworten, sondern mit einer komischen Modulation ihres biegsamen Organs, dessen Ausdruck so veränderlich war wie der ihrer Züge, deklamierte sie:

»Die Gräfin spricht wehmütig:
›Die Lieb' ist eine Passion!‹
Und präsentieret gütig
Die Tasse dem Herrn Baron.«

Und mich mutwillig anlachend, setzte sie hinzu:

»Sie spielten vorhin so schwermütig elegische Variationen. Das Thema hieß wohl Frau Ziegenmilch, nicht?«

»Nein. Es war ein gutes altes Thema, welches meine teure Mutter oft und gern gespielt hat.«

Fräulein Julie fixierte mich scharf und sagte dann in possenhaftem Ton:

»Ihre Mutter, Herr Hellmuth, muß eine schöne Frau sein.«

»Sie war schön und gut, ein Herz ohne Falsch. Sie ist tot.«

»Sie haben Ihre Mutter sehr geliebt, Herr Hellmuth?«

»Ich liebe sie noch.«

»Über Tod und Grab hinaus?«

»Immer!«

Fräulein Julie senkte die Augen, eine Wolke flog über ihre Stirne hin, und nach einer nachdenklichen Pause sagte sie:

»Es muß schön sein, eine Mutter zu haben – so ein Herz, dem man ganz, o, so ganz vertrauen kann.«

In dieser Äußerung und der Art, wie sie getan wurde, lag so viel Gefühl, lag etwas wie innige Sehnsucht und verhaltene Klage, daß ich mich verleiten ließ, zu erwidern:

»Es gibt solche Herzen, mein Fräulein.«

Ich bereute es auf der Stelle, denn als Fräulein Julie wieder zu mir aufblickte, guckte ein Teufelchen des Spottes aus ihrem Auge.

»Meinen Sie?« entgegnete sie. »Schlägt am Ende ein Herz von der fraglichen Sorte in der Brust eines gewissen Herrn Michel Hellmuth? Nun, Zeit bringt nicht nur Rosen, sondern sie prüft und probt auch die Herzen. Inzwischen bitte ich Sie, das Instrument dort als zu Ihrer Verfügung gestellt anzusehen. Sie werden mir wohl erlauben, auch dann und wann hierher zu kommen, und dann machen wir, falls es Ihnen beliebt, Musik mitsammen. Ich denke, es macht sich zweisam nicht schlechter Musik als eine Bergfahrt. Nur hüten Sie sich dabei, auf den Tasten auszugleiten, wie ich damals auf den Steinen ... Doch sehen Sie, mein Herr, da kommt mein Bruder Theodor. Ich will Sie mit ihm bekannt machen.«

Tadellos angezogen, von dem hohen Hutzylinder bis hinab zu den Glanzstiefeln, ein dünnes Röhrchen mit goldenem Knopf in der Rechten, in der Linken eine brennende Zigarre, die Lorgnette regelrecht nach der Mode in den Winkel des rechten Auges gekniffen, kam ein junger Mann durch den Saal geschlendert, von dem man hätte sagen können, was Heine irgendwo von einem Minister Louis Philipps sagte, er sähe aus wie ein Schulknabe durch ein Vergrößerungsglas betrachtet. Aber es mußten allerlei Schulen gewesen sein, durch welche Herr Theodor Kippling gegangen, bedenkliche mitunter, denn sein der Form nach unreifes Knabengesicht hatte einen unverkennbaren Ausdruck von Überreife, fast von Greisenhaftigkeit, und wenn man diesen Ausdruck mit den entnervt schmächtigen Umrissen seines Unterkörpers und der vorgebeugten Haltung des schmalschulterigen Oberkörpers, endlich mit dem näselnden Organ und der schleppenden Redeweise des jungen Mannes zusammenhielt, gewann man ein keineswegs anziehendes Bild.

Man konnte sich keinen größeren Kontrast denken als den zwischen dem einzigen Sohne des Hauses Kippling und der einzigen Tochter desselben. Sie strahlend von Gesundheit, Schönheit, Mutwillen und Übermut; er im ersten Mannesalter schon hinfällig, verwüstet, in den dunkel umränderten, tief in ihren Hohlen liegenden Augen einen glasigen Blick, der feig und frech zugleich war. Dumm und gemein sah indessen Herr Kippling der Jüngere nicht aus. Es lag neben deutlich ausgeprägter Sinnlichkeit auch Schlauheit in seinen Zügen, und zwar eine Schlauheit, die sich ohne Zwang das Aussehen von Kordialität zu geben vermochte, und was sein Gebaren betrifft, so bewies dasselbe, daß er in der Schule des Lebens wenigstens das savoir vivre gelernt, seit der Zeit, wo ich im Heidelberger Schloßgarten die erste Bekanntschaft mit ihm gemacht hatte.

Ja, lieber Leser, das war nun schon die dritte Überraschung, die ich im Hause Kippling erfuhr. Der Sohn meines Chefs war dieselbe Person, welche damals in Heidelberg vor den Folgen einer knabenhaften Flegelei so schmählich Reißaus genommen hatte. Man kann sich also leicht denken, daß mir nicht sehr gemütlich zumute war, als seine Schwester mir den jungen Herrn vorstellte. Ihm war oder wurde vielmehr ebenfalls ungemütlich, denn die Nennung meines Namens hatte ihn ganz gleichgültig gelassen, und wahrscheinlich verhinderte ihn sein Augenglas, mich genau zu sehen. Wenigstens erkannte er mich sogleich, als bei der kleinen Verbeugung, die er mir machte, die Lorgnette seinem Augenwinkel entfiel. Ich merkte das an seinem hastigen Zurücktreten und an dem zwischen Schrecken und Wut schwankenden Blick, den er auf mich schoß.

»Dieser Mensch wird mein Feind sein,« dachte ich.

»Die Herren kennen sich bereits?« fragte Fräulein Julie, welcher die Bewegung des Bruders nicht entgangen war.

Ich schwieg, aber Herr Theodor Kippling erwiderte mit augenblicklich wiedergewonnener Fassung:

»Nein, aber Herr Hellmuth hat eine frappante, eine wirklich frappante Ähnlichkeit mit jemand, welchem ich schon begegnet sein muß, ich weiß nur im Augenblick nicht, wann oder wo.«

»Hm,« sagte Julie, die, wie ich schon jetzt merkte, ihren Bruder sehr souverän behandelte, »hm, mir schien, als wolltest du vor Herrn Hellmuth davonlaufen.«

»O,« gab Herr Kippling spitz zurück, »ich bin zwar nicht so heroisch organisiert wie meine Amazone von Schwester, allein ich stimme doch ganz mit ihr in der Ansicht überein, daß unser neuer Herr Korrespondent keineswegs zum Davonlaufen aussieht.«

»Keinen deiner Kaffeehausspäße, wenn's beliebt!« sagte Julie hoch herab.

»Späße, ma chère soeur? Behüte Gott! Es kann niemand besser wissen, daß mit dir nicht zu spaßen ist, als dein gehorsamer Diener und Bruder.«

So sprechend ging er auf mich zu, bot mir die Hand und sagte mit kordialem Ton, soweit nämlich sein Ton überhaupt ein solcher sein konnte:

»Mein lieber Herr Hellmuth, ich habe soeben von meinem Vater und von Herrn Bürger, welcher Ihre Qualitäten höchlich rühmte, erfahren, daß Sie gestern in unser Kontor eingetreten sind. Erlauben Sie, daß ich Sie auch meinerseits willkommen heiße, wie, sehe ich, meine liebe Schwester ihrerseits schon getan. Wahrscheinlich hatte sie früher schon die Ehre, Ihre werte Bekanntschaft zu machen«

»Wie albern!« entgegnete statt meiner Fräulein Julie. »Dein Hokuspokus, den Spieß umzudrehen, ist doch gar zu plump. Ihr beide habt euch schon früher gesehen, ich bleibe dabei, und weil ihr euch einbildet, mir etwas weismachen zu können, so entziehe ich euch sofort das Glück meiner Gegenwart.«

Und halb im Ernst, halb im Scherz grüßte sie mich mit der majestätischen Handbewegung einer Königin und tanzte graziös hinweg.

Herr Kippling sah ihr nach, lachte laut, als sie in der Türe verschwunden war, klatschte sich mit seinem Stöckchen die dürftige Wade, hielt dann den Knopf desselben, eine in Gold ziselierte freche Zote, an die Nase und sagte in seinen gedehnten Nasallauten:

»Was doch die Weiber für einen verteufelt scharfen Blick haben! Hab' ich mich denn wirklich so – nun ja, so einfältig benommen, Herr Hellmuth, als ich vorhin Ihr wertes Gesicht plötzlich wieder erblickte?«

»Nicht daß ich wüßte, Herr Kippling. Gewiß sah ich ebenso frappiert aus wie Sie.«

»Ja, das Zusammentreffen war auch frappant, wennschon nicht in dem Grade, wie bei einer gewissen früheren Gelegenheit. Aber lassen Sie sich vor allem sagen, daß meine Schwester eine Zauberin ist, die es den Männern im Handumdrehen antut, wenn sie will. Ich selber, wenn ich nicht das Glück oder, wenn Sie wollen, das Unglück hätte, ihr Bruder zu sein, würde mich schon hundertmal in sie verliebt haben. Solche urbiblische oder urpatriarchalische Verhältnisse sind aber jetzt nicht mehr comme il faut, und daher kann ich Sie recht uninteressiert warnen: nehmen Sie sich vor Julie in acht oder sie wird Ihnen höllisch mitspielen. Aus dieser vertraulichen Warnung können Sie entnehmen, daß ich ein unmenschlich guter Kerl bin, und so hoff' ich, Sie werden nichts dagegen haben, wenn ich vorschlage, alte dumme Studentenschnurren vergessen sein zu lassen. Sie sind inzwischen Geschäftsmann geworden, ich bin es auch, und Geschäftsleute sehen Champagnerexzesse und ihre Folgen aus einem anderen Gesichtspunkte an als Studenten. Jener Exzeß hat mir übrigens mehr Geld gekostet als irgend ein anderer, Schmerzensgeld. Denn der ci-devant-Senior, welcher so dumm war, seine Visage statt der meinigen Ihrem Säbel hinzuhalten, und welcher jetzt als armer Teufel von Arzt ohne Patienten in einem der Seedörfer lebt, pumpte und pumpt mich bei jeder Gelegenheit an, was ich großmütig geschehen lasse .... Summa Summarum, nichts hindert uns, recht gute Freunde zu werden, um so mehr, da wir nicht allzu häufige Gelegenheit haben, uns zu sehen. Wenn ich nämlich nicht auf Reisen bin, so verbringe ich dermalen in der Regel die ganze Woche droben im Bihltal in unserem Etablissement, welches die Leute aus Artigkeit gegen uns Kipplingsruhe tituliert haben, obgleich es dort nichts weniger als ruhig hergeht .... So, jetzt hätt' ich mein Sprüchlein gesprochen und mache Ihnen den Vorschlag, ins Billardzimmer hinüber zu gehen, denn mich verlangt vor Tisch nach einem Glase Absynth, um meinen Magen aufzusteifen, der höllisch herunter ist.«

Viertes Kapitel

Ein Galadiner, an welchem nicht nur mehrere Berühmtheiten, sondern auch eine Fürstlichkeit teilnehmen. – Tischreden. – Eine Umarmung und eine Explosion. – Die Rotte der Zukunft und wie Herr Bürger sie charakterisiert. – Treulos wie Wind und Welle.

Zu den nicht kleinsten Leiden des menschlichen Lebens gehört auch, in einem Kreise, mit dessen sämtlichen Mitgliedern man auf gleichem Niveau der Bildung steht, wenn nicht gar eine Stufe höher, zu der demütigenden Rolle eines Untergebenen, eines Dieners sozusagen verurteilt zu sein. Es bedarf entweder einer sehr gemeinen oder aber einer sehr philosophischen Gesinnung, um eine derartige Demütigung nicht zu fühlen oder aber dieselbe mit Gleichmut, vielleicht gar mit Humor zu ertragen.

Der vertraute Umgang meiner Familie mit der freiherrlichen hatte mich von Kindheit auf zu sehr daran gewöhnt, die sozialen Schranken zwischen den einzelnen Gesellschaftsklassen zu übersehen. Kein Wunder, daß sie mir, als ich sie später doch sehen mußte, sehr albern und abgeschmackt vorkamen. Nur mühsam habe ich gelernt, anzuerkennen, daß in Wahrheit jeder Mensch, welcher durch was immer von dem großen Haufen unterschieden ist, sofort eine Schranke um sich her zu ziehen trachtet. Jetzt nehme ich diese Tatsache wie andere Tatsachen, die, ob auch noch so »brutal«, nicht wegzudisputieren sind, weil untrennbar mit der menschlichen Natur verbunden.

Ich war noch nicht auf jenem tatsächlichen Standpunkt angelangt an jenem Sonntag, als ich aus dem Billardzimmer, allwo ich mit einem Menschen, der vorzeiten eine Maulschelle ruhig eingesteckt, eine Partie gespielt hatte, weil ich der Kommis seines Vaters war, in den Speisesaal des Herrn Gottlieb Kippling hinüberging.

Das Haus meines Chefs hatte alle die luxuriöse Pracht entfaltet, um welcher willen die Galadiners eines Mannes berühmt waren, der wohl wußte, daß um Geld alles zu haben sei, Menschen und Sachen.

Die Anzahl der Gäste war nicht zu groß, aber es befanden sich Berühmtheiten darunter, Berühmtheiten des Staates, der Börse, der Wissenschaft und Kunst, sogar eine europäische, Herr Gaukel mit seinen langen Haaren, von denen er so manches hatte opfern müssen, um damit die Busennadeln und Ringe seiner Anbeterinnen zu schmücken. Er trug seinen Jupiterskopf – einer seiner Schmeichler hatte ihm nämlich eingeredet, daß er einen solchen besitze – mit absolutem Selbstbewußtsein und schob die Unterlippe verachtungsvoll vor, daß er akkurat aussah, als wollte er sich in die lange Nase beißen. Ihm zur Seite nahm seine Freundin, die Fürstin von Altenkasten, die Huldigungen der Gesellschaft entgegen. Herr Gaukel reiste nämlich nie ohne die Begleitung einer Gräfin oder Fürstin. Herr Schwarbel, Mitchef der berühmten Lobassekuranzanstalt Gaukel, Schwarbel und Komp., sah, wie mir schien, etwas scheel zu der Aufmerksamkeit, welche Fräulein Julie seinem erlauchten Mitzukunftsheros widmete. Vielleicht war es aber auch nur eine geniale Zerstreuung und komponierte der Meister in Gedanken gerade an einer seiner Riesensymphonien. Herr Professor Düngerling, ein harmlos aussehender Blondkopf, bemühte sich angelegentlich, der Fürstin von Altenlasten zu beweisen, daß nicht nur die Kunst, sondern auch die Wissenschaft Glanzhandschuhe zu tragen und sich angenehm zu machen wisse, wo eine Fürstlichkeit im Spiele sei. Herr Professor Zarkle sah aus wie ein alter Mops, der sich langweilt und die Menschen haßt, weil er ihnen nicht mehr an die Beine fahren kann. Herr Diakonus Schmirkli, welcher aufs täuschendste einem Schuhmacher, aber einem mißlungenen, glich, hörte mit Ungeduld dem Herrn Cyrillus Chrysostomus Theophilus Rumpel zu und ärgerte sich augenscheinlich, daß es einen Menschen auf der Welt gäbe, der ein noch größeres Maul hatte als er selbst.

Auch Damen waren da, von welchen ich aber nur zu sagen weiß, daß sie leidlich gute Toilette gemacht hatten. Fräulein Julie war ganz unbestritten die Königin des Kreises, aber sie spielte auch die Königin und hatte mich deutlich genug ihre Rolle fühlen lassen, als ihr Vater, bevor die Gäste kamen, mich ihr vorstellte.

Der Herr Oberst hatte sich dabei nicht nur nicht allzu zurückhaltend, sondern im Gegenteil wieder mit einem Anflug von Güte benommen.

»Ich empfehle dir Herrn Hellmuth als einen jungen Mann von Bildung, Julie,« hatte er zu seiner Tochter gesagt. »Ich hoffe, du wirst dazu beitragen, daß er in unserem Hause sich heimisch fühlen lerne.«

Fräulein Julie blickte mit eisiger Kälte auf mich, wie man auf einen Gegenstand blickt, welchem man diese Ehre überhaupt nur widerfahren läßt, well man ihn zum erstenmal sieht, und mit dem Tone impertinenter Abweisung sagte sie kurz:

»Ich werde mich freuen, wenn Herr Helmuth in unserem Hause die Erfahrung macht, daß es sich mit uns dummen Schweizern, wie die Herren Deutschländer uns zu nennen Pflegen, doch auch einigermaßen leben lasse.«

Damit wandte sie sich hinweg, und der Herr Oberst sagte zur Entschuldigung der Unart seiner Tochter:

»Sie müssen es mit den Worten Juliens nicht so genau nehmen, Herr Hellmuth. Sie ist ein launisches, ein sehr launisches Kind. Ihre Mutter starb viel zu früh, und die Väter können mit der Kindererziehung, insbesondere mit der Töchtererziehung nicht zuwege kommen. Julie tyrannisiert uns ein wenig, mich selbst, ihren Bruder, alle .... Aber,« fügte er hinzu, den Kopf etwas in den Nacken zurückbeugend, um so bequemer unter der Einfassung seiner Brille hervor seiner Tochter zusehen zu können, welche mit anmutiger Zuvorkommenheit soeben den mit seiner fürstlichen Freundin eintretenden Herrn Gaukel empfing, »Sie werden zugeben, daß es nicht gerade Schwäche ist, wenn man einem solchen Kinde manches, vieles sogar nachsieht.«

Ich verbeugte mich schweigend, was der Herr Oberst als eine Zustimmung nehmen durfte; denn in der Tat, obgleich innerlichst erbost über das, was ich den herzlosen Hochmut oder die herzlose Heuchelei der Tochter des Millionärs nannte, mußte ich mir doch gestehen, daß sie prächtig war.

Während Wirte und Gäste sich bekomplimentierten, schlenderte Herr Kippling junior, welcher an dieser Zeremonie keinen Anteil nahm, an der Ecke vorüber, wo ich stand und sagte gähnend:

»Wie ennuyant! Wollte, das Essen begänne endlich, bevor der Absynth wieder seine Wirkung verliert.«

Herr Schmirkli, dem es ungeheuer eilte, der Tochter des Hauses seine Huldigungen zu Füßen zu legen, machte sich endlich mittels einer kühnen Schwenkung von Herrn Rumpel los, und dieser kam auf mich zu, begrüßte mich mit einer Gönnermiene und sagte:

»Wünsche Ihnen von Herzen Glück zu Ihrem Eintritt in dieses Haus, alter Freund. Ist das ein Boden, worauf ein kluger Mann gedeihen kann, wissen Sie? – Beiläufig, kennen Sie den Herrn Schmirkli dort? Ein fürchterlicher Schwätzer! Schwatzt einem Löcher durch den Leib, ganz wie der Kerl in der neunten Satire des Horatius, wissen Sie? Ja, und was ich sagen wollte, soll Sie schön grüßen Von Frau Lelia. Eine gute Seele, das Frauchen, etwas korpulent, aufgeblasen sozusagen von gefühlvollen Seufzern, aber im übrigen eine Rose ohne Dornen. Nicht wie die Zentifolie dort, die, wie Sie bemerken, den großen Herrn Schwarbel auf den großen Herrn Gaukel ungeheuer eifersüchtig macht ... eine kapitale Schönheit, wiegt eine Million, aber stachelig wie ein Kaktus, wissen Sie? Rat' Ihnen, kommen Sie dieser Pflanze nicht zu nahe .... Wollen Sie, daß ich Sie mit Zarkle bekanntmache? Großer Mann ... weiß auch, daß die Welt betrogen sein will, und betrügt sie daher mit Kritik, da er nichts anderes aufzuwenden hat. Will mich zum Mitarbeiter haben, zum Mitarbeiter in dem großen Feldzug gegen die Revoluzer, Antichristen und Atheisten. Wünscht, daß ich in das von ihm organisierte kritische Nachtwächterkorps eintrete, bietet enormes Honorar, wie Herr Ziegenmilch sagen würde. Habe aber keine Lust zu dem Ding, will demnächst, wenn's mit der ›Konservativen Hetzpeitsche‹ nicht mehr gehen sollte, ein eigenes Geschäft etablieren, wissen Sie? Erinnerte mich dieser Tage, daß ich mal ein Theologe gewesen. Will in Frömmigkeit machen. Guter Markt jetztund wieder für diesen Artikel. Sehe jeder, wie er's treibe, sag' ich mit Goethe. Warum nicht mitschwindeln in dem allgemeinen Schwindel? Es lebe der Humbug!«

Ich war nicht in der Laune, dem Bummler zu antworten, und so ließ ich ihn schwatzen, bis der Herr vom Hause die Fürstin und Herr Gaukel Fräulein Julie zu Tische führte.

Mein Platz war der unterste an der Tafel, und da der schweigsame Herr Egli mein Nachbar, so hatte ich vollauf Zeit, mich darüber zu ärgern. Freilich, wenn ich hätte billig sein wollen, müßte ich es ganz in der Ordnung gefunden haben, daß ich zu unterst saß; ja, ich müßte es sogar als eine nicht gewöhnliche Rücksichtnahme anerkannt haben, daß Herr Kippling seinen Kommis überhaupt zu seinem Galadiner zuließ. Ich war aber nicht billig und sogar kleinlich genug, mich insbesondere darüber zu ärgern, daß ein Mensch wie Rumpel so weit über mir saß.

Man saß bereits, als Herr Bürger eintrat, für welchen ein Platz unweit dem des Hausherrn reserviert war. Er nahm denselben mit einer sehr kurzen und steifen Verbeugung gegen die Gesellschaft ein, und ich bemerkte, daß seine Laune auch nicht die beste sein mußte, denn er sprach das ganze Essen über kein Wort.

Oben an der Tafel ging es fehl lebhaft und geistreich zu. Wenigstens ließ mich die Anwesenheit so vieler großer Geister das letztere vermuten. Abbekommen konnte ich indessen von der Geistreichigkeit nicht viel, da ich zu entfernt saß. Nur dann und wann drang der Schall eines dort oben gewechselten französischen Bonmots – Frau von Altenkasten sprach nur Französisch, und ihre Nachbarschaft tat es ihr nach, um doch auch vornehm zu sein – zu mir herunter, und ich konnte daraus entnehmen, daß, wie sich in Gegenwart der Zukunftsfirma Gaukel, Schwarbel und Komp. von selbst verstand, vom Kunstwerk der Zukunft die Rede war.

Gegen das Ende der Tafel, als der Wirt die Gesundheit der Frau Fürstin, Herr Gaukel die Gesundheit der Tochter des Hauses und Herr Schmirkli die Gesundheit des Herrn Oberst ausgebracht und der Champagner die Unterhaltung zwangloser gemacht hatte, erhob sich eine kleine Kontroverse zwischen Herrn Kippling und Herrn Düngerling.

»Ich kann mir Ihre Doktrin schon gefallen lassen, mein lieber Herr Professor, denn sie ist im ganzen genommen praktisch,« hörte ich den Herrn Oberst sagen. »Aber was mir daran nicht gefällt, was mir unpraktisch, im höchsten Grade unpraktisch vorkommt, ist die populäre Lehrmethode Ihrer Meinungsgenossen. Die Regierungen sowohl als überhaupt alle verständigen Leute sind in unserer Zeit der Meinung, daß die Wissenschaft und insbesondere die Naturwissenschaft popularisieren nur dem revolutionären Unsinn und der Anarchie Vorschub leisten heißt. Die Köpfe der Menschen oder die Begriffe darin sind ohnehin schon verwirrt genug durch den Freiheits- und Gleichheitsschwindel, welcher aus dem vorigen Jahrhundert in das unserige herüberkam. Dem großen Haufen die Wirklichkeit der Dinge zur klaren Anschauung bringen, ihn, mit einem Worte, denkend machen wollen, heißt ihn nur unzufrieden und folglich unglücklich machen. Die arbeitenden Klassen brauchen nicht zu denken, denn das tun schon andere für sie. Das Volk braucht nicht zu wissen, sondern nur zu glauben. Wo der Unglaube einmal in die Massen fährt, da hat der Respekt, der Gehorsam, die Ordnung ein Ende. Das Volk muß Religion haben.«

»Ganz recht, Herr Oberst,« stimmte Herr Schmirkli eifrigst bei. »Ganz abgesehen von der praktischen Wahrheit, daß es den höchsten Grad von politischer Verkehrtheit verriete, dem Volke den Trost seiner religiösen Überzeugungen nehmen zu wollen, ist auch unter einem höheren Gesichtspunkte das neueste Vorgehen der materialistischen Schule verwerflich. Alle ideellen Triebe der Menge fassen sich ihr in der religiösen Formel zusammen –«

»Das hat, entschuldigen Sie, Herr Helfer,« unterbrach Herr Rumpel mit lärmender Unverschämtheit den Sprecher, »das hat vor Ihnen schon der fromme Poet Zacharias Werner gewußt, als er sagte:

Was dir der Glaube an dein Ideal,
Das ist dem Volk sein Heiland und sein Fetisch.«

Herr Düngerling würdigte weder den Redakteur der »Konservativen Hetzpeitsche« noch den Helfer von Sankt Damian einer Antwort, sondern adressierte seine Worte an den Millionär.

»Ich widerspreche Ihnen gar nicht, mein teurer Herr Oberst,« sagte er. »Im Gegenteil, ich gehe noch weiter als Sie und behaupte nicht nur: Das Volk muß Religion haben, sondern auch: Wir alle müssen Religion haben. Es kommt nur darauf an, was man unter Religion versteht. Die Theologen sagen: Religion ist der Glaube an den absoluten Geist. Wir anderen sagen: Religion ist der Glaube an den absoluten Stoff, und schon die Gegenwart gibt uns recht, denn wer glaubt noch an den Geist? Freilich nur der Gebildete, vorausgesetzt, daß er praktisch genug sei, sein Dasein bequem und schön zu gestalten, kann mit Resignation wissen, daß des Lebens Kreislauf im Stofflichen anhebt und endigt. Für die Masse bedarf die Stoffreligion einer exotischeren Gestaltung, einer Kultform, welche das Knochengerüste der strengen Wahrheit mit dem blühenden Fleisch der Fiktion bekleidet. Das Dogma des Materialismus, welches wir verkünden, muß sich eine Mythologie schaffen –«

»Vortrefflich, eminent!« fiel Herr Rumpel ein. »Die Religion des Stoffes bietet den Poeten und Künstlern der Zukunft vollauf Stoff zu kolossal schönen Erfindungen, Das wird ein Kultus werden, der sich gewaschen hat, und ich sehe schon die Zeit kommen, wo die Leute beten werden: Heiliger Phosphor oder heilige Kohlensäure, bitt' für uns!«

»Die Sache hat aber doch nicht bloß eine scherzhafte Seite,« nahm Herr Schmirkli mit breitspuriger Wichtigkeit das Wort und hielt dann eine lange Predigt, in welcher er als echter Schleiermacherianer die widerhaarigsten Dinge kunstreich vermittelte. Der Schluß seines Votums spielte ins Mystische, indem er eine Hochzeit zwischen der Theologie und dem Materialismus aufs Tapet brachte und das wunderliche Paar mittels Novalisscher Phrasen sofort kopulierte.

Der große Schwarbel hatte inzwischen seinen Genius ebenfalls auf den Gesprächsgegenstand konzentriert und beglückte uns mit einer Offenbarung desselben. Er sprach von der Kunst im allgemeinen und von allen möglichen Künsten im speziellen. Er sprach mit Wärme und Energie, und ich hatte es zu beklagen, daß ich in die Mysterien der Zukunftskunst so gar nicht eingeweiht war, denn ich verstand von der ganzen Rede des berühmten Mannes so blutwenig, daß ich, und würde es mein Leben gegolten haben, nicht hätte sagen können, ob höchste Wahrheit oder tiefster Blödsinn ihr Inhalt gewesen. Und doch hatte ich vorzeiten nicht nur den Hegel studiert, sondern sogar den Oberkonfusionsrat Germaniens, den alten Hamann, gelesen und wenigstens einigermaßen verstanden.

Zu meinem Troste saßen auch die anderen, nämlich die, welche sich nicht das Ansehen tiefsinnigen und tiefinnigen Verständnisses geben wollten oder konnten, ganz dumm da, als ob der Redestrom des großen Mannes in ihren Köpfen nur jenes aus dem Faust berühmte Mühlrad in Bewegung gesetzt hätte. Herr Kippling senior runzelte die Stirne und zog die Mundwinkel nieder. Herr Kippling junior gähnte hinter der vorgehaltenen Serviette. Herr Bürger heftete seine großen runden Augen auf den Redner, als ob er jeden Augenblick erwartete, derselbe werde plötzlich einen Purzelbaum über den Tisch hin schlagen oder sonst etwas Desperates, Ungeheuerliches unternehmen.

Als der große Mann endlich zu Ende war, lief ein verlegenes Flüstern um die Tafel, welches aber Herr Gaukel nicht aufkommen ließ. Er erhob sich nämlich, schüttelte die ambrosischen Locken, blickte Jupitersblicke und hub an:

»Ja, mein edler, mein trefflicher, mein großer Freund, in Ihrem Haupte steht das Kunstwerk der Zukunft in vollendeter Schönheit da. Die Bosheit elender Neider wird nur der Axtschlag des Vulkanus sein, welcher die fertige Pallas entspringen läßt. Schwingen Sie, ja schwingen Sie den mächtigen Zauberstab, der in Ihre Hand gelegt ist. Schon höre ich die Symphonien der Zukunft, auf deren Fittichen Ihr Name von Pol zu Pol getragen wird. Mich aber lassen Sie den Ruhm vorwegnehmen, der erste gewesen zu sein, der Ihren Genius erkannt und zu Ihnen gesprochen hat: Arm in Arm mit dir, fordere ich Mozart und Beethoven in die Schranken!«

Sprach's mit Emphase und beugte sich zu dem Freunde hinüber, ihn gerührt zu umarmen.

Aber leider wurde diese Umarmung recht häßlich gestört.

Fräulein Julie saß zwischen den beiden Zukunftsheroen. Ich sah, daß ihre reizenden Hände wie spielend eine vielleicht nur zufällig vor ihr stehende Champagnerflasche schüttelten und an dem schon halbgelösten Pfropfen herumzupften.

Plötzlich in dem feierlichen Moment, wo die beiden großen Freunde sich umarmten, ging höchst störsam der Schuß los. Der Schaumstrahl sprang in die Höhe und überströmte sehr respektwidrig die Gesichter der berühmten Männer, welche natürlich jach auseinanderfuhren.

Das war denn doch mehr, als Fleisch und Blut ertragen konnten, ohne in Lachen auszubersten. Herr Bürger intonierte ganz pietätlos mit seinem durchschlagenden Baß ein Gelächter, das unaufhaltsam um die Tafel ging. Herr Kippling der Jüngere wieherte. Sogar Herr Egli lachte, und zwar nicht ganz leise.

Zu der drastischen Komik der Szene kam noch die feinere, daß Fräulein Julie mit der unbefangensten Unschuldsmiene der Welt um die beiden Unglücklichen sich bemühte, indem sie, mit ihrem Spitzentuch hantierend, dieselben förmlich wie zwei kleine Kinder behandelte, welche sich Gesicht und Kleider besudelt haben und nun nicht wissen, ob sie darüber lachen oder weinen sollen. Es war ganz allerliebst komisch anzusehen.

Der Herr Oberst hätte seine achteckigen Brillengläser weiter über die Augen herabziehen müssen, wenn man ihm nicht anmerken sollte, wie sehr ihn die reizende Bosheit seines Töchterleins innerlich ergötzte, obgleich er zuerst wieder die Fassung gewann, welche seine Eigenschaft als Wirt ihm vorschrieb. Er rückte seinen Stuhl, bot der Frau Fürstin den Arm und lud die Gesellschaft ein, draußen in der hohen kühlen Loggia, auf welche sich die Türfenster des Speisesaales öffneten, den Kaffee zu nehmen.

In der luftigen, mit Marmor ausgelegten, mit Fresken geschmückten Säulenhalle, vor welcher das zauberhaft schöne Seepanorama sich ausbreitete, gruppierte man sich nach freier Wahl, und so fand ich mich mit Herrn Bürger in einer entfernten Ecke allein, von wo aus wir, durch ein Oleandergebüsch gedeckt, die Gesellschaft im Auge hatten, ohne uns weiter um dieselbe kümmern zu müssen.

Die Frau Fürstin von Altenkasten tat den Herren den Gefallen, dem Kaffee die rechte Würze zu verleihen, indem sie sich von ihrem berühmten Freunde eine Zigarre präsentieren ließ und dieselbe mit großem Genuß zu rauchen begann. Die einheimischen Damen, in der Emanzipationspraxis noch nicht auf der Zigarrenstufe angelangt, rümpften über die Manifestation modernster Weiblichkeit ein wenig die Näschen und Nasen, aber die Herren waren natürlich galant genug, das große Beispiel Ihrer Durchlaucht pflichtschuldigst nachzuahmen.

»Euer Humor trägt kein Sonntagskleid, Herr Bürger,« sagte ich zu meinem schweigsamen Nachbar.

»Doch, mein Werter,« versetzte er. Rechne, daß ich mich schon lange nicht so amüsierte – 's ist kla–ar. Müßte ein wunderlicher Kauz sein, der nicht guter Laune wäre, wenn er eine so auserlesene Raritätensammlung von Menschenkindern vor sich hat. Ernsthafte Leute, hübsche Damen, Narren, Scharlatane, Gauner, was will man mehr? Denke, man kann die Rotte der Zukunft nicht bald hübscher beisammen haben – 's ist kla–ar.«

»Die Rotte der Zukunft?«

»Sagte so. Müßt blind sein, wenn Ihr nicht seht, daß alle die berühmten Leute da, die Herren Gaukel und Schwarbel, Zarkle, Düngerling und Schmirkli, sogar der Erzschelm, der Rumpel, fest überzeugt sind, die Lumpen zu sein, aus welchen das Papier der Zukunft gemacht wird.«

»Ein wunderliches Bild!«

»Ein passendes in unserem papiernen Zeitalter. Und in allem Ernste: alle diese Menschen bilden wirklich die Rotte der Zukunft. Diskreditieren nämlich die Gegenwart so, daß alle verständigen Menschen wünschen und deshalb auch glauben, daß eine bessere Zukunft komme – 's ist kla–ar. Seht Euch mal die beiden Berühmtheiten aus der Plateniden-Dynastie an. Schwatzen mit solcher Zuversicht von der großen Tat in Tönen, die sie tun wollen, daß Leute bereits die Sphärenmusik der Zukunft klingen hören. Der Herr Professor Zarkle dort demonstriert schon durch seine Existenz, daß unter dem Professorenhaarbeutel ganz gemeines Ungeziefer gedeihe, und zerstört durch sein und seiner Gesinnungsgenossen albernes Gebaren unter euch Deutschen allerhand Köhlerglauben. Herr Düngerling und die übrigen Apostel des materialistischen Evangeliums sind, ohne es zu wissen, die untertänigsten Handlanger bei der großen Nivellierungsarbeit, welche der Industrialismus vollbringt, um mit dem Mittelalter gänzlich aufzuräumen. Weiterhin Herr Schmirkli, der zu der Heineschen Sorte von Theologen gehört, welche heimlich Wein, viel Wein trinken und öffentlich Wasser, viel Wasser predigen – zeigt er nicht durch seine Allerweltsvermittelungstheologie kärglich die geistige Impotenz einer Gesellschaft auf, welche sich so kärglich abmüht, aus alten Flicken ein neues Kleid zusammenzusetzen? Beweist er nicht gerade dadurch die drängende Notwendigkeit, dieses Kleid aus neuem Zeuge zu schneiden?«

»Und Herr Rumpel?«

»Bah, das ist nur eine Schmeißfliege, welche durch ihr unverschämtes Gesumme verrät, wieviel Aas in der Gegenwart herumliegt.«

»Aber – rechnet Ihr Herrn Kippling, unseren Chef, auch zur Rotte der Zukunft?«

»Und wie! Er ist ein wirklicher Philosoph unserer Tage, denn er ist ein Philosoph des Geldes. Die Formel dieser Philosophie lautet nicht wie die der kartesianischen: Der Mensch denkt, also ist er, sondern: Der Mensch ist, nämlich etwas, so er hat, nämlich Geld.«

»Und diese Formel soll auch ein Baustein der Zukunft sein?«

»Rechne kein Baustein, aber das Fundament. Das Geld, der große Despot, nachdem er alle bisherigen Lebensmächte höhnisch lachend unter seine Füße getreten, alle Ideale mit seinem souveränen Zepter zu Boden geschlagen, wird eine so ungeheure Leere in den Gemütern erzeugen, daß sich die Menschheit, will sie nicht aufhören zu existieren, zuletzt vor sich selbst entsetzen muß. Aus diesem Entsetzen wird, ohne Zweifel unter schrecklicheren Kämpfen und Nöten als die Weltgeschichte je gesehen, eine neue Gesellschaft entspringen, eine Zukunft, wo die Menschen wieder glauben, hoffen und lieben.«

»Verzeihung, Herr Bürger, daß ich so einfältig war, Euch für einen Pessimisten zu halten.«

»Ach was! Die Menschen werden in Zukunft wieder glauben und hoffen und lieben aus Langeweile, aus purer Langeweile; aber auch dumm sein werden sie wie zuvor, denn die Dummheit ist das Bleibendste auf Erden – 's ist kla–ar.«

»Sagt mir doch,« fuhr ich fort, auf Herrn Kippling junior weisend, der unfern von uns an der Balustrade lehnte und, so oft er die Zigarre aus dem Munde nahm, mächtig in das schöne Land hinausgähnte, »gehört auch der zur Rotte der Zukunft?«

»Der? Nein. Rechne, der ist fertig. Ein Lump jeder Zoll!«

»Aus dem kein Zukunftspapier zu machen ist?«

»Nein.«

»Was denn?«

Herr Bürger sah mich durchdringend, fast mißtrauisch an. Da ich aber seinen Blick unbefangen aushielt, beugte er sich zu mir herüber und sagte flüsternd, aber nachdrücklich:

»Eine Züchtlingsjacke.«

Ich schrak zurück. Herr Bürger lachte und sagte:

»Natürlich nur ein dummer Einfall von mir. Habe mitunter so dumme Einfälle – 's ist kla–ar.«

Hier kam Fräulein Julie, ihre Tasse in der Hand, anmutig von einer Gruppe zur anderen wandernd, auf uns zu und sagte scherzend:

»Ah, da sind ja die beiden Kartäuser, welche bei Tische mit unserem vortrefflichen Herrn Egli im Gelübde des Schweigens gewetteifert haben.«

»Rechne, mein Fräulein, sind Herr Hellmuth und ich zu Prosaische Leute, um an genialem Geschwätze teilnehmen zu können,« entgegnete Herr Bürger kurz, fast rauh, wie er denn diesen Ton der Tochter seines Chefs gegenüber fast immer anzunehmen Pflegte.

Was mich betrifft, mir lag die übervornehme Kälte, womit mich Fräulein Julie empfangen, als der Herr Oberst mich ihr vorgestellt hatte, noch schwer in den Gliedern, und fühlte ich mich daher nicht aufgelegt, freundlicher zu tun als mein Nachbar.

»Herr Bürger hat wieder einmal seinen rosenfarbenen Tag, wie ich sehe,« fuhr das Fräulein fort und wandte sich zu mir mit der Frage: »Aber warum haben denn auch Sie, Herr Hellmuth, zu dem Gegacker und Geschnatter, welches wir anzuhören hatten, keinen Beitrag geliefert?«

»Mein Fräulein, ich habe ja nicht die Ehre, zur Menagerie zu gehören.«

Fräulein Julie hätte nicht Fräulein Julie sein müssen, wenn sie bei dieser deutlichen Anspielung auf eine ihrer Äußerungen im Gartensaale verlegen oder gar rot geworden wäre. Sie lächelte bloß und sagte:

»Wie unartig! Und doch hätte ich ein galanteres Bezeigen von seiten der beiden Herren verdient, welchen speziell zu Liebe ich, weil ich sah, wie sie sich langweilten, bei Tische einen so hübschen Knalleffekt in Szene setzte. Da sieht man wieder recht deutlich, daß Undank der Welt Lohn ist. Was aber die Menagerie angeht, so soll mich weder Undank noch sonst etwas hindern, zu wissen, daß wenigstens einer der stolzen Herren« – hier sah sie Herrn Bürger so schalkhaft zärtlich an, daß mich etwas wie Eifersucht anwandelte – »in derselben installiert ist, und zwar in der Abteilung der Bären. Sehen Sie, meine Herrschaften« – dies sprach sie im täuschend nachgeahmten Tone eines Menageriewärters – »hier ist zu sehen der graue amerikanische Bär, the grizzle bear aus dem Felsengebirge, ein sehr wildes und furchtbares Tier, übrigens ein wohlkonserviertes Exemplar. Obwohl schon lange gefangen, ist er doch keineswegs völlig gezähmt, geht aber als echter Republikaner auf den Ruf Citoyen.«

Damit verließ sie uns und wir hörten sie sogleich drüben der Frau Fürstin von Altenkasten über das heroische Rauchen derselben eine brillante Lobrede halten, welche die Zuhörer nach Belieben für eine solche oder auch für eine Satire nehmen konnten.

»Ein wunderbares Geschöpf!« sagte ich.

Herr Bürger sah mich spöttisch an und versetzte:

»Rechne, Euch gelüstet nach einem Käfig in der besagten Menagerie – 's ist kla–ar.«

Dann legte er sich in seinen Stuhl zurück, verschränkte die Arme, zog die Brauen finster zusammen und murmelte:

»Falsch wie Aprilsonne! Treulos wie Wind und Welle!«

Fünftes Kapitel

Besuch in der Residenz einer Königin. – »Ist der Lauf der Fabrikwelt so«. – Eine Erinnerung an Dante. – Von einem mutterlosen Kinde, welches seinen Vater nicht kannte.

Der Strom, welcher die Stadt durchfließt, nimmt unterhalb derselben die Bihl auf, einen Fluß, der aus einer längs des linken Seeufers sich hinziehenden Voralpenkette hervorbricht, nach Art solcher Bergwasser ein reiches Geschiebe und Gerolle mit sich führend und zuzeiten, wenn es im Gebirge gewittert hat, mit wildem Brausen trübe Fluten über sein steiniges Bett hinausschleudernd. Doch nur droben in den Hochtälern, der Heimat ihrer idyllischen Jugend, sind der Bergtochter solche extravagante Launen noch gestattet. Denn weiter abwärts hat die große Kulturmissionärin, als welche man die Industrie immerhin wird gelten lassen müssen, den Unband gebändigt und seine Kraft der Philosophie des Geldes dienstbar gemacht.

Der letztere Ausdruck gehört Herrn Bürger an, in dessen Gesellschaft ich am letzten Tage meiner ersten im Kipplingschen Kontor verbrachten Arbeitswoche das Bihltal besuchte. Bei der Schönheit des Morgens hatten wir vorgezogen, unseren Ausflug zu Fuß zu machen, und waren etwa eine Stunde lang auf der Höhe der Nebengelände am See hingewandelt, um uns dann rechter Hand ins Tal hinabzuwenden. Die Straße – kein Land Europas hat ein so reiches, bis in die kleinsten Weiler ausgezweigtes und so sorgfältig unterhaltenes Straßennetz wie die regenerierten Kantone der Schweiz besitzen, von welcher Lakaien schreiben und Dummköpfe glauben, daß sie das Land der Unordnung und Anarchie sei – die Straße lief durch einen schönen Buchenwald hin, durch dessen grüne Gründe der Fluß rauschte, während Amseln, Drosseln und Finken um die Wette schlugen.

»Das ist doch ein ander Ding, als auf dem Schreibbock vor dem Pult zu hocken,« sagte ich wohlgelaunt. »Mir ist ganz idyllisch, jugendlich törichtleicht, ich möchte sagen Eichendorffisch zumute.«

»Rechne, es wird bald anders kommen,« entgegnete mein Begleiter. »Wird nicht lange dauern, die Eichendorffsche Morgenlyrik – 's ist kla–ar. Wartet nur, bis wir um die Biegung der Straße dort herum sind, wo sich der Wald lichtet. Wird bald ein ganz anderer Singsang anheben als der da, welcher übrigens, genau angehört, doch auch nur eine dudeldummlige Wiederableierung einer alten langweiligen Leier ist.«

»Barbar!«

»Ei was! Rechne, ist mir die sogenannte Naturschwärmerei zuwider ... alle die stereotypen Os und Ahs zu einem gefühlseligen Brei gekocht, Müßiggänger damit aufzupäppeln. Was ist auch an dem ganzen Zeug, an der Natur und ihrer Schönheit? Etwas mehr oder etwas weniger Gras und Laub, etwas mehr oder etwas weniger Steine und Berge, etwas mehr oder etwas weniger Wasser, Wald, Schnee und Eis – das ist die ganze Geschichte. Nicht der Mühe wert, sich darüber zu erhitzen – 's ist kla–ar. Ja, wie gesagt, ist mir das Quinkelieren von der Natur zuwider und hat mich der Lessing immer sehr gefreut, daß er mal so einem Naturkerl, der ihm während des Spazierengehens seine grasgrünen Frühlingsgefühle vorleierte, trocken sagte, er, der Lessing, wollte, 's würde statt immer und ewig grün mal rot frühlingen .... Im übrigen, wenn Ihr vorhabt, in diesem Sommer 'ne Bergtour zu machen, rat' ich Euch, steigt von der Pfäfferser Schlucht ins Kalfäusertal hinauf, welches sich zwischen dem Monteluna und dem Kalanda öffnet und den Sardonagletscher, aus welchem die Tamina kommt, zum Schluß hat. Prachtvolle Wildnis! Grassieren dort noch nicht die sechseckigen Engländer. Hasse sie. Das niederträchtigste Heuchlerpack, welches die Erde trägt – herzenshart, hochmütig, borniert, innerlichst kalt für alles, was über Maschinen, Baumwollenballen, Steinkohlen und Pfundnoten hinausgeht. Habe gesehen, wie sie in Ost- und Westindien wirtschaften, diese Praktiker, welche die Woche über die ganze Menschheit betrügen und Sonntags dem Herrgott was vorlügen. Schnödes Volk! Verleidet einem anständigen Menschen sogar Dinge, wie der Vierwaldstätter See und das Berner Oberland sind – 's ist kla–ar.«

Das war nun wieder recht Hannsbürgerlich gesprochen, denn die Rede barg unter allerhand krausen und maßlosen Wendungen doch nur den regen Naturfilm, welcher den guten Pessimisten heimlich beseelte. Ich konnte ihm das nicht mehr beweisen, denn wir hatten inzwischen den Waldsaum erreicht, und Kipplingsruhe lag vor uns.

In der Tat, das war eine übel angebrachte Artigkeit, diesem Etablissement oder vielmehr diesem gewaltigen Komplex, von Etablissements den erwähnten Namen zu geben. Ein dumpfes Brausen, dessen monotone Intensivität die Nerven seltsam affizierte, kündigte schon von ferne eine Residenz der Königin Industrie an. Beim Näherkommen unterschied das Ohr in diesem Gebrause und Gedröhne die verschiedenartigsten Einzeltöne, vom stoßweisen Gepufte der Dampfmaschine bis hinauf zum grellen Hammerschlag auf klirrende Metallplatten.

Aus kleinen Anfängen war das Etablissement zu einem Umfang angewachsen, daß es den Raum einer kleinen Stadt bedeckte. Der Fluß, gedämmt und kanalisiert, reichte, obgleich die Triebkraft seiner Strömung durch Anwendung von Turbinen verstärkt war, nicht aus, die sämtlichen Werke in Bewegung zu setzen, und man hatte der Wasserkraft die Dampfkraft zugesellen müssen. Es war da eine Spinnerei, eine Weberei, eine Eisengießerei und eine Maschinenbauwerkstätte, alles in großartigen Dimensionen angelegt, ohne eine Spur von Symmetrie, geschweige von architektonischer Schönheit, aber zweckmäßig, praktisch, geschickt ineinander greifend. Ein halb Dutzend riesenhafter Schlote überragte die zerstreuten Gebäulichkeiten und schickte Rauchmassen in die Höhe, welche bei stiller Luft wie heute, als eine blaugraue Wolkendecke über dem Ganzen hingen – der Baldachin über dem Throne der Königin Industrie.

Als wir den Kanal da, wo dessen Wasser wieder in das Flußbett einmündete, mittels einer Bohlenbrücke überschritten hatten, lenkte mein Begleiter unsere Schritte auf ein kleines, hübsches Wohnhaus zu, welches durch eine Gartenanlage von den Fabrikgebäuden und ihren Hofräumen getrennt war. Auf der Freitreppe dieses Hauses begrüßte uns mit fast übertriebener Höflichkeit eine Frau von mittleren Jahren, deren Hauskleid Anspruch auf Eleganz machte und deren Züge eine deutliche Erinnerung an frühere Schönheit bewahrt hatten. Schade, daß jetzt in ihren von starken schwarzen Brauen und Wimpern beschatteten großen hellbraunen Augen etwas wie Falschheit lauerte.

»Frau Regel,« Landesübliche Abkürzung für Regula. sagte Herr Bürger kurz und von der Höflichkeit der Wirtschafterin – denn diese Stelle bekleidete die Angesprochene – weiter keine Notiz nehmend »der Herr da und ich werden, wenn wir die Runde durch das Etablissement gemacht, mit Herrn Kippling zu Mittag speisen. Sorgt dafür, daß die Forellen frisch und nicht zu weich gesotten seien. Ist der junge Herr auf?«

»Nein, Herr Bürger. Er hat noch nicht einmal nach seiner Schokolade geschellt und –«

»Schon gut. Benachrichtigt ihn, wenn er herunterkommt, von meinem Hiersein, und daß ich ihn auf dem Bureau zu sprechen wünsche.«

Frau Regel verbeugte sich tief vor meinem Begleiter, der offenbar auch hier außen, wie in der Stadt im Kipplingschen Geschäft eine sehr wichtige Person war, und wir gingen durch den Garten nach den Fabrikgebäuden hinab.

»Rechne,« brummte Herr Bürger im Gehen, »wenn Herr Kippling senior in jungen Jahren so lange in den Tag hinein geschlafen hätte, wie Herr Kippling junior tut, so stünde jetzt hier wohl kein Etablissement, wo sich zweitausend oder mehr arme Teufel für das Gedeihen des Kipplingschen Hauses abmühen. Übrigens stellt der junge Mensch, als Kaufmann angesehen, schon seinen Mann. Hat sich aus einem Taugenichts von Studenten überraschend schnell in einen geriebenen Geschäftsmann verwandelt. Versteht das Geldmachen aus dem Fundament. Möchte wissen, wie's ihm angeflogen. Muß Instinkt sein, angeborener Kipplingscher Instinkt – 's ist kla–ar. Hält Ordnung hier außen, eiserne Ordnung, obgleich er den halben Tag im Bette zubringt. Fürchten ihn unsere Arbeiter wie den höllischen Satan. Ist ein wahrer Typus der jeunesse d'orée unserer Zeit. Hat das Kapital des Herzens, falls er ein solches jemals besessen, schon vor dem zwanzigsten, ja, vor dem achtzehnten Jahre verlumpt, rein verlumpt; kennt daher weder Skrupel noch Zweifel mehr, greift resolut zu, wird ein großes Licht im Tempel Mammonis werden, wenn ihn unterwegs nicht mal die Lichtschere, genannt Gesetz, zufällig ausputzt – 's ist kla–ar.«

»Ihr meint?«

»Meine, wollen zuerst die Gießerei und die Maschinenwerkstätten besichtigen, so's Euch beliebt. Will nur zuvor geschwind den Leuten da einige Befehle geben.«

Die in Rede stehenden Leute waren mehrere Aufseher, welche Herrn Bürger unterwürfig begrüßten. Ich bemerkte überhaupt eine gewisse scheue Unterwürfigkeit in dem Gebaren sämtlicher Angestellten und Arbeiter, etwas Verstecktes, Gedrücktes, etwas geradezu Sklavenhaftes. Jeder Blick, jedes Wort, jede Gebärde der Leute gab sozusagen einen deutlichen Kommentar zu der Mitteilung meines Begleiters ab, daß Herr Kippling der Jüngere hier außen eine »eiserne Ordnung« halte. Ich fing an zu begreifen, daß ein großer Fabrikherr ein souveränerer Souverän sei als mancher kleine Fürst.

Nachdem Herr Bürger, das Notizenbuch in der Hand, seine Fragen gestellt und seine Befehle gegeben hatte, gingen wir über die lärmenden Hofe und vertieften uns in die berußten, von tausend grellen Klängen widerhallenden Regionen der Eisenindustrie.

»Wie gefällt Euch dieser Singsang?« fragte Herr Bürger.

»Aufrichtig gestanden, ganz unverhältnismäßig weniger als der vorhin im Walde draußen vernommene,« versetzte ich. »Bitt' Euch um Entschuldigung wegen so einer ungeschäftsmaßigen Reminiszenz, aber mir kommen unwillkürlich die Verse Dantes zu Sinne:

Verschiedne Laute, Worte, gräßlich dröhnend,
Handschläge, Klänge heiseren Geschrei's,
Wie Wut aufkreischend und wie Schmerz erstöhnend,

Dies alles wogte tosend stets, als sei's
Im Wirbel Sand, durch Lüfte, die zu schwärzen
Es keiner Nacht bedarf, im ew'gen Kreis.«

Indessen muß gesagt werden, daß ich bald Schlimmeres sehen sollte als diese dröhnenden Essen, wo weißglühende Metallströme aus dem stöhnenden Kupolofen in die Gußformen rannen, rote Metallklumpen unter den Schlägen der Dampfhämmer Funken sprühten, mächtige Metallzylinder glatt gedreht, große Eisenplatten gewalzt und gehobelt wurden, wo man dort den eisernen Körper eines Dampfers, hier die komplizierte Maschinerie einer Lokomotive zusammensetzen sah. Es war wenigstens etwas Mannhaftes in dem tosenden Treiben.

Anders gestaltete sich die Szene, als wir in die Region der Baumwolle hinübergingen und den Prozeß dieser Industrie vom ersten bis zum letzten Stadium mit ansahen. Schon der entsetzliche Dunst in diesen Sälen und Korridoren mußte das Herz zusammenschnüren. Und diese weißen Sklaven, entnervt durch den beständigen Aufenthalt in einer Dampfbadatmosphäre, versumpft durch das ewige Einerlei einer maschinenmäßigen Arbeit; diese armen Kinder mit den gelben oder bleichgrauen Gesichtern, verdammt, tagüber eine unerbittliche Maschine zu bedienen und dann abends vielleicht noch einen Weg von einer Stunde oder sogar von zwei zurückzulegen, um ihr ärmliches Lager zu erreichen; diese bleichen, hektischen Frauen, von morgens sechs Uhr bis abends sieben Uhr an die Maschine gebannt und daneben noch mit dem Fluche beladen, ein skrofulöses Geschlecht fortpflanzen zu müssen – o, wahrlich, groß ist Königin Industrie und ihrer Herrlichkeit ist kein Ende!

In einem der Spinnsäle zwischen zwei Reihen von Spinnstühlen hingehend, bemerkte ich an einem derselben den rotnasigen Zündt, dessen verfallene Gestalt um so unerquicklich deutlicher auffiel, als er nur Hemd und Beinkleider anhatte. Als wir an ihm vorüberschritten, wandte er, seinen Spinnstuhl zurückrollen lassend, den Kopf um und warf meinem Begleiter wieder so einen boshaft frechen Blick zu wie am vergangenen Sonntag. Herr Bürger würdigte ihn aber keines Gegenblickes.

Nachdem mich in der Gluthitze des Schlichtesaals fast eine Ohnmacht angewandelt hatte, betraten wir den großen Webesaal, wo an fünfhundert Stühle »neuester Konstruktion« in Tätigkeit waren, mit rasender Geschwindigkeit ihre Schifflein hinüber und herüber schießend und ein furchtbares Getöse verursachend, das mit seiner schrecklichen Monotonie das Trommelfell zu zerreißen drohte und die Seele betäubte.

Mitten in diesem Katarakt von Maschinenlärm gewahrte ich das junge Mädchen, das Gritli, welches einen der Webstühle zu bedienen hatte. Das schöne Kind hielt seine großen, dunklen, schwermütigen Augen ängstlich auf die Maschine gerichtet und schaute nicht auf, als wir vorübergingen. Es drängte mich, still zu stehen und der armen jungen Sklavin ein freundliches Wort zu sagen, aber man hätte mit der Stimme einer Kanone sprechen müssen, um hier verstanden zu werden.

Als wir den Saal verlassen hatten und den Gang zur Türe des Webergebäudes hinabgingen, sagte Herr Bürger:

»Rechne, das Gritli Zündt ist Euch aufgefallen. Ihr findet das Kind schön und interessant?«

Ich nickte bejahend.

»Andere Leute finden es auch, mein Lieber. Kenne das. Weiß, wie's kommen wird. Noch ein paar Jährchen, wenn's gut geht, und die Blume wird gepflückt, zerpflückt und in den Kot getreten werden. Ist der Lauf der Fabrikwelt so – 's ist kla–ar. Aber was seht Ihr mich denn so erschrocken an? Unschuldige Seele, die Ihr seid! Kennt Ihr das Los junger Fabrikschönheiten nicht? Habt doch wohl auch schon von einem großen Industriellen reden hören, der seine kleinen Privatvergnügen recht sinnreich mit der Geschäftspraxis zu verbinden wußte. Hörte von Leuten, die es wissen können und müssen, daß der fragliche Spinnerkönig selbst seine Schäferstunden lukrativ zu machen versteht, indem er den zu besagten Stunden gepreßten jungen Arbeiterinnen die vertändelte Zeit am Fabriklohn abzog.«

»Sagt, daß Ihr lügt, um Himmels willen!«

»Rechne, seid der erste, der zu sagen wagt, Hanns Bürger lügt. Will's Euch aber hingehen lassen, weil ich sehe, daß Ihr angegriffen seid – 's ist kla–ar.«

Ach ja, ich war angegriffen. Der Staub, der Dunst, der üble Geruch, das fürchterliche Getöse da drinnen, die verkümmerten Maschinensklaven und -sklavinnen, endlich die schreckliche Andeutung Bürgers – das alles machte mir das Herz brennen und den Kopf schwindeln.

Ich habe meine Eindrücke hier wiedergegeben, wie sie damals waren. Selbstverständlich konnte es aber im Verlaufe der Zeit nicht ausbleiben, daß ich dazu kam, neben der Schattenseite des Industrialismus auch die Lichtseite zu sehen. Der Industrialismus ist trotz alledem der gewaltigste Hebel der modernen Kultur, er wird den absoluten Staat wie die absolute Kirche aus ihren Angeln heben. Der unaufhaltsam vorschreitende Fuß dieses eisernen Riesen, in dessen Brust als Herz eine Dampfmaschine Pocht, tritt Thron und Altar zu Boden und stampft, wie den mittelalterlichen Feudalismus, so auch den »ewigen« Fels Petri nieder. Allerdings arbeitet er zunächst dafür, an die Stelle der zwei alten privilegierten Stände einen dritten, die Bourgeoisie, zu setzen; allein der dritte Stand muß unbedingt den vierten zu sich heran-, zu sich heraufziehen, weil beide durch die stärksten Bande miteinander verknüpft sind, durch die Arbeit und durch das Interesse. Ohne Arbeit kein Kapital, ohne Kapital keine Arbeit. Die Arbeiter mögen wohl darauf achten, daß unter den Aufhetzern, welche den Krieg gegen das Kapital predigen, die giftigsten Feinde aller humanen Zivilisation, die Pfaffen, mit in erster Linie stehen. Diese Aufhetzerei ist übrigens bekanntlich in unseren Tagen ein förmliches Gewerbe geworden, von welchem eine Bande von Tagedieben und Nichtsnutzen – verbuhlte alte und junge Vetteln von Gräfinnen und »Bürgerinnen« befinden sich auch darunter – lebt, und zwar wohllebt. Diese schlecht maskierten »Apostel des Evangeliums der Arbeit« säen und ernten nicht, und dennoch werden sie ernährt, sehr bequem und reichlich ernährt durch die gutmütige Dummheit der armen Arbeiter, welchen sie ihren sozialistischen und kommunistischen Blödsinn vorschwindeln. Ein Hauptagitations- und Beschwindlungsmittel, womit die Schufte hantieren, ist die gemeinste Volksschmeichelei, auf die niedrigsten Instinkte und verwerflichsten Triebe der bildungs- und urteilslosen Menge berechnet. Wäre das Volk weise, so müßte es in diesen seinen Schmeichlern seine schlimmsten Feinde erkennen und hassen. Das Kennzeichen des wirklichen Volksfreundes ist, daß er allzeit ebenso sehr für die Rechte des Volkes eintritt und einsteht, als er dem Volke seine Pflichten klarzumachen und einzuschärfen sucht. Ware das Pflichtbewußtsein in den Kreisen der Arbeiter und insbesondere auch der Fabrikarbeiter so klar und lebendig, wie es leider vielfach nicht ist, so würden sie wissen, daß Spiel, Trunk und andere Liederlichkeit nicht die Mittel sind, die Lage eines Menschen zu verbessern, und daß überhaupt vor allem die eigene Kraft eingesetzt werden muß, so ein Mensch vorwärts kommen will. Kein Opfer soll der Gesellschaft zu groß sein, um dem Arbeiter von Kindheit auf die volle Gelegenheit zu bieten, sich zu unterrichten. Stiftet gute Schulen aller Art und übt, wo es nötig, einen unerbittlichen Schulzwang; aber den Massenschmeichlern, den Volksbeschwindlern, den sozialistischen Lugpropheten, den utopistischen Lugpoeten schlagt bei jeder Gelegenheit auf die schamlosen Mäuler, daß ihnen die Zähne wackeln.

Als wir wieder draußen auf dem Hofe standen und ich wirre Blicke auf die zahllosen Fenster der Arbeitsbastille um mich her warf, sagte Herr Bürger:

»Rechne, Ihr denkt wieder an den alten Dante, und meint, die Pforte dort sollte billig die Aufschrift tragen, welche der große Florentiner über dem Tor zum Inferno angebracht sah:

Ich führe dich zur Stadt der Qualerkornen,
Ich führe dich zum unbegrenzten Leid,
Ich führe dich zum Volke der Verlornen.

»Ja,« rief ich erschüttert aus, »Ihr habt recht. Das ist die Hölle!«

»Bah,« sagte Herr Kippling, welcher zu uns getreten war und meinen Ausruf mit angehört hatte. »Bah,« sagte er in seiner widerwärtig gezogenen Redeweise, »man gewöhnt sich an alles, nur nicht ans Gehenktwerden.«

Ich hatte den Menschen dafür zu Boden schlagen mögen wie damals im Heidelberger Schloßgarten und verzeihe mir noch heute kaum, daß ich es nicht tat.

Da die beiden Herren ein Geschäft, welches mich nicht interessierte, abzumachen hatten, begaben sie sich auf das Bureau, und ich ging nach dem Garten, um bessere Luft einzuatmen. Gerade gab die Glocke das Zeichen zur mittäglichen Feierstunde, und die Höfe wimmelten von Arbeitern und Arbeiterinnen, welche ihr Mittagsbrot zu verzehren gingen.

Von schmerzlichen Gedanken bewegt, hatte ich einige Gänge durch den Garten gemacht und war am äußersten Ende desselben angekommen, als ich jenseits des eisernen Staketenzaunes, der hier an den Fluß hinablief, das schöne Gritli gewahrte. Das Kind saß ganz allein unter einem Baum auf dem Rasen, beschäftigt, einige kalte Kartoffeln zu schälen, welche nebst einem nicht sehr großen Stück Brot sein Mittagsmahl ausmachten.

Da ich hinter den Fliederstauden heraufkam, bemerkte mich das Mädchen nicht sogleich, und so konnte ich sehen, wie es, während es langsam seine kärgliche Kost genoß, sehnsüchtig nach den blühenden Blumenbeeten hereinblickte, als wünschte es auch nur einmal in diesem Paradiese zu wandeln, welches natürlich für das »Fabriklervolk« ein absolut verbotenes war.

Schon bei unserer ersten Begegnung hatte das Kind meine Teilnahme erregt. Schon damals, wie auch jetzt wieder, erinnerten mich seine Züge, noch weit mehr aber seine Augen, trotz ihres melancholischen Ausdrucks, an ein Wesen, welches freilich die seinigen nicht zum Melancholischblicken gebrauchte – an Julie Kippling. Das konnte freilich nur eine Phantasie sein, aber doch, fürchte ich, mochte diese Phantasie dazu beitragen, daß ich das Kind so gütig anredete, wie ich tat.

Anfangs war die Kleine scheu und gab nur kurze und befangene Antworten. Nach und nach aber brachte ich sie zum Plaudern, besonders als ich die rechte Saite anschlug, indem ich sie nach ihrer Mutter fragte.

Die Mutter sei tot, seit mehreren Jahren an der Auszehrung gestorben, erfuhr ich, und seither ...

»Seither?« fragte ich, als das Kind innehielt, um seine Tränen abzuwischen.

»Seither hab' ich niemand mehr,« sagte die Kleine langsam und mit einer Innigkeit des Tones, die mich tief ergriff.

»Aber du hast ja deinen Vater.«

»Den Zündt?« fragte sie mit einem halb furchtsamen, halb verachtungsvollen Blick.

»Freilich. Ist er nicht gut mit dir?«

»Doch, wenn er nicht trunken ist.«

»Und er trinkt oft?«

»Ja. Dann ist er wild.«

Ich erriet leicht, was alles in dem Worte »wild« sich zusammenfaßte: Roheit, brutale Mißhandlung, Hunger, Entbehrung aller Art, das ganze Elend eines mutterlosen Fabrikkindes.

Die arme schöne Kleine, mochte in meinen Blicken etwas anderes lesen, als sie ausdrücken wollten, oder auch sagte ihr jener seine Instinkt für das Rechte und Schickliche, welcher bei Kindern, besonders bei Mädchen vom Alter des Gritli, oft die Erfahrung ersetzt, daß mir die Art und Weise, wie sie sich über den Vater ausgelassen, befremdend sein müsse. Genug, nachdem sie mich eine Weile schüchtern forschend angesehen, senkte sie die Augen und sagte leise:

»Die Leute sagen, und wenn der Zündt wild ist, sagt er es selber, daß er gar nicht mein Vater sei.«

»Wer denn?«

»Ich weiß es nicht.«

Hier ertönte vorn im Garten die Stimme Bürgers:

»Wo zum Teufel, Hellmuth, steckt Ihr denn? Rechne, die Suppe wird kalt und die Forellen werden zu weich –'s ist kla–ar.«

»Ich komme,« rief ich zurück, zog die Börse, reichte dem Gritli ein Stück Geld durch das Gitter, und sagte: »Schaff dir dafür ein Kleidchen an, Kind, und hörst du, wenn du mal in Not bist und glaubst, ich könnte dir helfen, so komm nur ungeniert, zu mir. Ich heiße Michel Hellmuth und arbeite auf dem Kontor des Herrn Oberst in der Stadt. Gib mir die Hand darauf, daß du es nicht vergessen willst.«

Die Kleine sah mich ungläubig, fast erschrocken an. Es mochte lange her sein, seit so ein freundliches Wort zu ihr gesprochen worden war. Zögernd legte sie ihre kleine Hand in die meinige, aber als ich sie drückte, rollte ein heißer Tränentropfen aus ihrem Auge über meine Finger.

Eine Minute darauf saß ich dem über mein langes Ausbleiben brummenden Bürger bei Tische gegenüber. Herr Kippling, welcher sich gegen den ersten Buchhalter und Prokuraträger seines Vaters sehr dienstbeflissen benahm, tat in Verbindung mit der Frau Regel alles Mögliche, den Brummenden zufrieden zu stellen. Den Forellen, welche gerade die richtige Mitte zwischen zu weich und zu hart hielten, gelang dies endlich, worauf Herr Bürger mit einem Seitenblick auf mich eine humoristische Diatribe gegen die »jugendlichtörichte Schwärmerei des Naturkneipens« losließ. Ich meinerseits speiste mit schlechtem Appetit, denn immer mußte ich beim Anblick der uns aufgetischten Leckerbissen des Brotstückes und der kalten Kartoffeln denken, welche zusammen für einen langen Sommertag die Nahrung des Gritli ausmachten, des armen schönen Kindes, das keine Mutter hatte und nicht wußte, wer sein Vater war.

Sechstes Kapitel,

worin ein Buchhalter und Prokuraträger ohne Erfolg den getreuen Eckart spielt, weiterhin eine knabenhafte Anwandelung und ein Rettungssprung vorkommt, ferner sehr viel, vielleicht zuviel geküßt und endlich ein feierlicher Schwur geleistet wird.

Ich hatte Ursache, mit meiner Stellung im Hause Kippling zufrieden zu sein. Arbeit gab es zwar vollauf, aber wenn der Herr Oberst von seinen Kontoristen viel forderte, so war er auch nicht karg gegen sie. Zu mir schien er eine Art von Zuneigung gefaßt zu haben, und ich wurde nach einiger Zeit mitunter in das Allerheiligste der Firma Kippling zugelassen, daß heißt zu den Beratungen, welche Herr Kippling senior, Herr Kippling junior und Herr Bürger in betreff neuer Unternehmungen und Kombinationen hielten. Ich gewann dadurch außerordentlich belehrende Einblicke in die erdumspannende Maschinerie des Handels, aber zugleich auch die trostlose Überzeugung, daß es allerdings in dieser Sphäre, gerade wie in der Sphäre der Politik, keine Moral gebe. Zum Glück für die Menschheit gibt es aber in dieser wie in jener Sphäre wenigstens eine Nemesis, wenn sie auch nicht immer erscheint, wo und wann man sie herbeiwünscht.

Herr Kippling der Jüngere behandelte mich, wenn er zur Stadt kam, ebenfalls artig, mit einer Art lässiger Zuvorkommenheit. Doch blieben unsere Beziehungen nur sehr äußerliche. Was Fräulein Julie anging, so gab es Augenblicke, sogar Stunden, wo ich mir, ohne gerade ein Geck zu sein, hätte einbilden können, die Möglichkeit eines wärmeren Gefühls für mich, welche in ihrer damals im Gartensaale keckfrivol hingeworfenen Frage gelegen hatte, sei mehr als bloße Möglichkeit, und dann gab ich mich widerstandlos dem berückenden Zauber hin, welchen das verzogene Kind des Glückes auf mich übte. Allein die launische Schöne sorgte redlich dafür, daß der Traum immer wieder schnell und jach zerfloß, indem sie in ihrem Benehmen gegen mich gütige, ja fast zärtliche Annäherung mit beleidigendem Hochmut und schonungslosem Spott wechseln ließ, obgleich ich hinlänglich auf meiner Hut war, ihr keine Gelegenheit zu begründeter Demütigung zu geben.

Sie freilich machte sich nichts daraus, Gelegenheiten, mich zu verletzen, vom Zaune zu brechen, und so hatte sie es eines Tages beim Mittagstisch wieder so arg getrieben, daß ich nachher auf dem Wege zum Kontor höchlich erbittert zu Herrn Bürger sagte:

»Meiner Treu, ich bin es müde, die Zielscheibe dieses boshaften Geschöpfes zu sein.«

»Hm,« meinte er wohlgelaunt, »rechne, die heutigen Witze des Fräuleins waren recht passabel.«

»Ei was, Ihr hattet gut lachen! Sie hat Euch ja, während sie mich verhöhnte, mit zärtlichen Blicken förmlich überschüttet.«

»So? Ihr seid am Ende gar eifersüchtig auf mich, mein Junge? Rechne, wäre das der Superlativ des Unsinns – 's ist kla–ar.«

»Eifersüchtig? Da müßt' ich doch vorher einfältig genug sein, mir einzubilden, ich sei verliebt. Das fehlte noch!«

»Nur nicht so spitzig! Sehe gar nicht ein, warum ein junger Mann von Euren Qualitäten nicht in das schöne Mädchen verliebt sein könnte – 's ist kla–ar.«

»Klar ist nur, daß ich durchaus nicht zum Scherzen aufgelegt bin.«

»Wirklich? Desto besser. Haben heute einen Kuriertag und gibt es, rechne ich, viel zu tun für Euch.«

Das gab es in der Tat, und zwar bis tief in den Abend hinein, so daß ich Gelegenheit genug hatte, ob meiner Pflicht meinen Ärger zu vergessen.

Es war ein heißer Julitag gewesen, und ich dürstete nach einem Bad im See, als ich endlich mit meiner Arbeit zu Rande gekommen.

Ich verließ als der Letzte das Kontor und ging durch den dämmernden Garten zum See hinauf. Es war still auf meinem Wege. Die fallende Silbersäule des großen Springbrunnens plätscherte geschwätzig im dunkelnden Grün, und stoßweise trug die laue Abendluft das dumpfe Getöse des Straßenlebens von der Stadt herüber.

Als ich aus meinem Zimmer im Pavillon zu der kleinen Einbuchtung hinunterging, wo die Barken angekettet waren, traf ich auf Herrn Bürger, welcher seine Zigarre rauchend auf einer der Stufen der Freitreppe saß und auf den dunkelnden See hinaussah.

Beim Geräusche meiner Schritte wandte er den Kopf, schickte mir einen seiner durchdringenden Blicke zu und fragte kurz:

»Wohin?«

»Auf das und in das Wasser, wenn's Euch beliebt. Kommt mit, falls Ihr schwimmen könnt.«

»Schwimmen? Rechne, ist das Schwimmen jetzt sehr Mode unter den jungen Leuten ... Apropos, Ihr kennt doch das alte Tannhäuserlied?«

»Das Tannhäuserlied? Was soll's damit? Ich hört' es in meiner Jugend singen,« versetzte ich, die Kette der Barke loshakend.

»Aber Ihr habt es vergessen, samt der Moral, die darin steckt – 's ist kla–ar.«

»Ihr gebt mir wieder einmal Rätsel auf, lieber Freund.«

»Ach nein, aber ich bin heut abend so musikalisch gestimmt, daß ich nicht umhin kann, Euch aus dem guten alten Lied etliche Strophen vorzusingen. Paßt auf! Wie Ihr wißt, hatte der edle Tannhäuser mit Frau Venus eine recht hübsche Zeit vertändelt, als er eines schönen Tages plötzlich das kriegte, was wir auf der Universität moralischen Katzenjammer nannten. Es wurde ihm ungemütlich schwül im Venusberg, wollte von dannen ziehen, der arme Mann, worauf ihn Frau Venus also ansang:

›Herr Tannhäuser, nicht sprecht also,
Ihr seid wohl nicht bei Sinnen;
Nun laßt uns in die Kammer gehn,
Zu spielen der heimlichen Minnen.‹

Der Ritter aber setzte seinen Kopf auf und legte diesen ungalanten Protest ein:

›Eure Minne ist mir worden leid:
Ich hab' in meinem Sinne,
O, Venus, edle Jungfrau zart,
Ihr seid eine Teufelinne.‹

Hat ihm aber nicht viel geholfen, dem armen Kerl. Es zog ihn doch wieder zum Venusberg zurück. Der getreue Eckart stellte sich ihm vergebens in den Weg. Ja, die Eckartsrolle gehört zu den undankbarsten Rollen auf dem theatro mundi. Meint Ihr nicht auch?«

»Ich meine, Euer Humor macht heut abend wieder seltsame Sprünge,« gab ich zur Antwort und trat in das Boot.

»Ah, rechne, das Tannhäuserlied gefällt Euch nicht – 's ist kla–ar. Wartet, will Euch ein anderes singen:

Die schönen Nixen im Schleiergewand
Entsteigen der Meerestiefe.
Sie nahen sich leise dem jungen Fant ...

aber sehe schon, Ihr wollt mit aller Gewalt ins Wasser, obgleich dasselbe, wie die Juden sagen, keine Balken hat. Denkt daran, wie es dem unvorsichtigen Burschen erging, dem Goetheschen Fischer:

Halb zog sie ihn, halb sank er hin
Und ward nicht mehr gesehen ...

Im übrigen, geht meinethalb ins Wasser oder zu den Nixen oder zum Teufel!«

»Einstweilen nur ins Wasser, mit Eurer gütigen Erlaubnis,« entgegnete ich lachend und stieß vom Ufer.

Ein paar Ruderschläge brachten mich aus dem Bereiche von Herrn Bürgers Stimme. Mein Boot glitt über das Wasser der kleinen, vom Kipplingschen Garten eingefaßten Bucht und dann in den See hinaus. Dort zur Rechten, wo der Garten in einer noch einen Büchsenschuß weit in den See vorspringenden Landzunge endigte, breitete eine alte Trauerweide ihr Astgehänge über ein zierliches Badehäuschen aus, welches die Grenzmarke der ganzen Besitzung bildete. Beim Vorüberfahren bemerkte ich, daß an den Stufen, welche aus dem Badehäuschen auf der Seeseite ins Wasser herabführten, eine Barke angelegt war. Aber da die Hausbewohner öfter hierher kamen, um zu baden, achtete ich weiter nicht darauf, sondern trieb mein kleines Fahrzeug vorüber und weiter in die spiegelglatte Wasserfläche hinein.

Nachdem ich mich draußen entkleidet und, um mein Boot herschwimmend mich eine Viertelstunde lang und drüber tüchtig in dem erquicklichen Element getummelt hatte, schwang ich mich wieder in das Fahrzeug, kleidete mich an und griff zu den Rudern, um noch eine Weile auf dem See herumzuflanieren, zwecklos die leichte Barke da und dorthin treibend.

Die Szene war gar so schön, denn der über den Alpenkuppen aufgehende Mond übergoß den See und seine Ufer mit magischem Licht.

Plötzlich kreuzte ein schwarzer Schatten den Silberspiegel, auf welchem ich herumschärmte.

Es war ein Dampfer, welcher, den See herabkommend, unfern von mir daherzog und mit seinen Radschaufeln die ruhige Flut zu blitzendem Funkengestäube aufwühlte.

Eine knabenhafte Lust erfaßte mich. Ich trieb mit hastigen Ruderschlägen mein Boot dem brausenden Schiff entgegen, um mich auf der wogenden Wasserfurche zu wiegen, welche der Dampfer hinter sich herzog.

Dazu kam ich freilich schon zu spät, denn das Schiff fuhr mit voller Kraft dahin und ließ mich weit hinter sich. Aber indem ich die sich wieder glättende Furche kreuzte, sah ich kaum ein paar Armlängen von mir entfernt einen schimmernden Nacken der Flut enttauchen, dann eine Hand wie krampfhaft in die Luft greifen, ein wilder Angstschrei, schon halb erstickt, schlug an mein Ohr, und dann verschwand alles.

»Da hat sich ein Schwimmer zu weit heraus gewagt,« sagte ich, und während ich es sagte, warf ich Rock und Schuhe von mir und stürzte mich in das Wasser.

Es war dabei kein großer Aufwand von Heroismus im Spiele, denn ich war ein guter Schwimmer, dem es auch bald gelang, den Untersinkenden mit einem kräftigen Griff am Schöpfe zu fassen und nach oben zu reißen.

Der Augenblick, wo ich meine ganze Kraft und Selbstbeherrschung nötig hatte, kam erst jetzt.

Denn als ich, mich halben Leibes aus dem Wasser hebend, mit dem linken Arm meine leblose Beute umfaßte, bemerkte ich, daß ich keinen Schwimmer, sondern eine Schwimmerin aufgefischt, die schönste Nixe, die sich je in den Fluten getummelt.

Das Mondlicht fiel auf das reizende Antlitz der Bewußtlosen, das an meiner Schulter lehnte, fiel auf Arme von vollendeter Schönheit, fiel auf den Schnee des Nackens, von welchem im Ringen mit dem Tode die Hülle des Badegewandes sich abgestreift hatte.

Ich stieß einen Schrei der Überraschung, des Schreckens, des Frohlockens aus, denn ich hielt Julie Kippling in meinem Arme.

Sie fest umklammernd, nur von dem einen Gedanken durchpulst, sie zu retten oder mit ihr in das feuchte Grab zu sinken, strich ich mit der Rechten aus, erreichte mein Boot, hob, das Wasser tretend, mit beiden Armen die kostbare Last in das Fahrzeug, schwang mich nach, kniete zu ihr nieder, strich ihr die Fülle der aufgelösten, wassertriefenden Locken aus dem Gesicht, richtete sie in meinen Armen auf und bedeckte ihre geschlossenen Augen, ihre bleichen Wangen und Lippen mit Küssen.

Ich wollte sie ins Leben zurückküssen. Sie konnte nicht sterben! Es durfte nicht sein!

Endlich, endlich, nach einigen Sekunden tödlicher Angst zuckte es in diesen herrlichen Gliedern. Ein Zittern und Beben lief darüber hin, der Busen hob sich hoch, ein schwerer Seufzer, ein tiefes Ausatmen brach aus ihrem Munde, und halb bewußtlos blickten die weit sich öffnenden Augen um sich, voll Entsetzen, ja voll Wahnsinn.

»Komm zu dir, komm zu dir, Julie! Ich bin bei dir!« rief ich ihr zu und preßte sie fest an meine Brust, sinnlos, trunken, selbstvergessen.

Sie stemmte, schwach abwehrend, ihre Hände an meine Schultern und sah mich an mit ihren schwarzen Augen.

Es war ein zugleich berauschender und drohender Blick. Scham, Zorn, Liebe, Entzücken – das alles lag darin.

»Du hast mich gerettet? Du, Michel? Du hast mich so gesehen?« stammelte sie und schmiegte sich an mich.

Und dann einem leidenschaftlichen Impulse folgend, umklammerte sie meinen Nacken, und ihre Lippen preßten sich fest auf die meinen.

»Du hast mich gerettet, du, du!« sagte sie wieder und lachte und weinte zugleich und überschüttete mich mit Feuerküssen.

Ihre Zärtlichkeit hatte etwas Unheimliches, Konvulsivisches, Dämonisches, etwas, das mich, obgleich mir das Blut in den Adern kochte, wie geheimes Entsetzen anfaßte und mir meine Besinnung wiedergab.

»Michel,« flüsterte sie, »du hast mich dem Tode abgekämpft ... Du bist ein Mann! Ich will dein Weib sein ... morgen schon, wenn du willst.«

Warum ich zauderte, auch nur einen Augenblick zauderte, hastig nach dem glänzenden Preise zu greifen, um den schon soviele vergeblich gerungen und soviele noch vergeblich rangen, warum mich in der verführerischsten aller Situationen plötzlich wieder jenes dunkle Gefühl beschlich, das zu dem leidenschaftlichen Wohlgefallen, welches Julies Schönheit mir einflößte, die Kehrseite bildete, warum ich das entscheidende »ich will!« nicht sprach – ich wußte es nicht und weiß es wahrhaftig bis zur Stunde noch nicht.

Freilich, in der nächstfolgenden Zeit kamen Stunden und Tage, wo ich meine Unentschlossenheit bitter bereute und mich das schalt, als was ich dem geneigten Leser in der eben geschilderten Lage zweifelsohne erscheinen werde – einen albernen Träumer und Toren.

»Fräulein,« sagte ich zögernd.

Sie schnellte auf und von mir zurück, wie von einer Springfeder gehoben.

»Fräulein?« entgegnete sie bitter fragend.

Weiter sagte sie nichts, sondern blieb nur eine Sekunde vor mir stehen, das Badegewand züchtig über die Brust zusammenhaltend und mich mit einem Blicke schneidenden Hohnes fixierend.

Wären mythologische Bilder nicht allzusehr Rokoko, würde ich sagen, die Bacchantin sei mit einem Schlage zur Meduse geworden.

Ich fühlte, daß ich mein Glück verpaßt hatte.

»Haben Sie die Güte, mein Herr Retter, mich zu dem Badehäuschen zu rudern. Mich friert.«

Indem sie dieses mit eisiger Kälte sagte, wandte sie sich nach dem Spiegel des Bootes, wo sie mit gegen mich gewendetem Rücken niederkauerte.

Ich brachte die Barke in Gang, nahm dann meinen Rock, trat leise hinter die in sich Zusammengeschmiegte und deckte ihr denselben über den Rücken und Nacken. Sie ließ es sich schweigend gefallen, und da ich mein Ruder angestrengt handhabte, waren wir nach einer Fahrt von wenigen Minuten bei dem Badehäuschen angelangt.

Sie flog wie ein Vogel die Treppe hinauf, aber bevor sie in der Tür verschwand, warf sie noch in befehlendem Ton das Wort zurück:

»Warten Sie hier einen Augenblick!«

Ich wartete gehorsam und hatte in der Tat nicht lange zu warten. Die Türe öffnete sich wieder, und Fräulein Julie erschien in Mantel und Schal oben an der kleinen Treppe.

Der Mond stand noch immer am Himmel, und so konnte ich das Gesicht des jungen Mädchens sehen. Es war ernst, aber nicht gerade unfreundlich.

»Meine Schwimmpassion hat ein dummes Ende genommen,« sagte sie. »Das Wasser ist falsch wie die Menschen, und der Krampf gehört zu den vielen perfiden Einrichtungen in dieser zweckmäßig eingerichteten Welt. Ich werde mich daher morgen nach einer anderen Passion umsehen. Doch das geht Sie nichts an, mein lieber Herr Hellmuth .... Haben Sie mir nicht einmal gesagt, das Andenken Ihrer Mutter sei Ihnen heilig?«

»Sehr!«

»Wohl. Wenn Sie ein Mann von Ehre sind, so schwören Sie mir jetzt, hier auf der Stelle, beim Andenken Ihrer Mutter, daß nie ein Laut – hören Sie? – nie auch nur ein Laut über Ihre Lippen gehen werde, welcher verraten könnte, wo und wie Sie heute Julie Kippling gefunden, dem Tode entrissen, geküßt und – verachtet haben.«

»Verachtet? Um Himmels willen, Fräulein –«

»Genug, genug!« unterbrach sie mich mit gebieterischer Gebärde. »Schwören Sie!«

»Es bedarf des Schwures nicht.«

»Schwören Sie! Ich will es!«

»Wohlan, ich schwöre es!«

»Beim Andenken Ihrer Mutter?«

»Beim Andenken meiner Mutter!«

»Gut. Ich weiß nun, Ihre Lippen werden versiegelt sein, bis ich das Siegel löse; wenn nicht für immer ... Sie sehen, mein Herr, daß ich Sie achte, und das soll mein Dank sein für Ihre Hilfeleistung ... Jetzt aber machen Sie, daß Sie heim und aus den nassen Kleidern kommen. Sonst werden Sie, fürcht' ich, Ihr Abenteuer mit einem schnöden Schnupfen bezahlen. Gute Nacht!«

Am folgenden Tage erschien Fräulein Julie nicht beim Mittagstisch, und Herr Kippling teilte uns mit, seine Tochter habe in Begleitung ihres Bruders vor einer Stunde eine Vergnügungsreise nach Deutschland angetreten.

Eine Woche darauf trat auch ich eine Reise an, nicht nordwärts, aber südwärts, nach Italien und Spanien, keine Vergnügungsreise, aber eine Geschäftsreise, von welcher ich erst zurückkehrte, als der inzwischen eingetretene Winter wieder dem Frühling zu weichen begann.

Ende des ersten Bandes.


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