Heinrich Schaumberger
Vater und Sohn
Heinrich Schaumberger

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Ein Erwachen.

Weit, weit draußen am äußersten Ende des Dorfes, dicht neben den Erlen, unter deren Zweigen die Wertha hinmurmelte, halbversteckt von den sparrigen, dicht belaubten Ästen eines uralten Apfelbaumes, lag das Häuschen, das Frieder seit drei Jahren bewohnte. Eben breiteten sich die Schatten des Wachtberges darüber hin; ein leichter Nebel, vom Fluß und dem Wiesental emporquellend, hüllte es halb in seinen weißen Mantel, als Johannes raschen Schrittes näher kam. Eine ihm selbst unerklärliche Bangigkeit lag ihm auf der Brust; das Haus und die Umgebung kam ihm so verlassen und öde vor; trotz des kühlen Abends stieg kein Rauch aus dem Schlot, und die sperrangelweit offen stehende Haustür, auf deren Schwelle ein weinendes Kind saß, gähnte ihm unheimlich entgegen. Hastig eilte er herbei, drückte das Kind, das ihm die Ärmchen entgegenstreckte, an seine Brust und fragte: »Was ist dir, Line? – Warum bist du nicht beim Vater?«

»Ich Hunger hab',« schluchzte die Kleine an seinem Hals. »Mutter fort, Vater krank – gib Brot!«

204 »Gerechter Gott, was bedeutet das?« seufzte Johannes. Als er aber in die Stube trat, erschrak er so heftig, daß er die kleine Line fast hätte aus den Armen gleiten lassen. Auf einem elenden Lager, das kaum den Namen eines Bettes verdiente, lag sein Vater, entstellt, verfallen, fast unkenntlich; die mageren Hände hielt er auf der Brust gefaltet, mit zuckenden Lippen murmelte er: »Das Gericht kommt, der Herr ist ausgezogen, mich heimzusuchen, mir zu vergelten nach meiner Missetat. – – Das Kind – o, das Kind!«

Johannes eilte an das Bett und rief angstvoll: »Vater, Vater – was ist geschehen?«

Hastig richtete sich der Kranke empor; mit großen Augen starrte er dem Sohn ins Gesicht und, als traue er seinem Blick nicht, tastete er ihm mit der heißen Hand über das Gesicht. Matt sank er endlich in die Kissen zurück, und Tränen rollten über seine eingefallenen Wangen bei den leisen Worten: »Bist du's, Johannes? – Bist du's wirklich? – Ich glaubte nicht, daß du noch kommen würdest, ich meinte, du hättest mich auch verlassen.«

»Wie konntet Ihr das denken? – Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht! – Was ist vorgegangen? – Wo ist die Bärbel?«

»Fort ist sie,« ächzte der Kranke. »Fort mit allem, was mir noch übriggeblieben war!«

»Unmöglich! – –«

»Sieh dich um! – Was sie mir gelassen – du hast es auf dem Arm! – Sie muß schon länger 205 mit dem Gedanken umgegangen sein und sich darauf vorbereitet haben; heute nacht, wie sie merken mochte, daß ich sie nicht hindern konnte, ist sie auf und davon.«

»Und das erfahre ich erst jetzt?«

»Ach, Johannes, den langen, langen Tag war ich mit dem Kind allein – keine Seele hat nach uns geguckt. Ich wollte Line ins Dorf schicken, aber die Bärbel hat ihr verboten, vom Haus wegzugehen; Gott weiß, womit sie das Kind bedroht haben mag, ich bracht' es nicht über die Schwelle. Meine einzige Hoffnung warst du; – der Schneidersheiner hatte mir gestern versprochen, er wolle dich zu mir bestellen – aber wie Stunde auf Stunde verging, und auch du ausbliebst – da bin ich fast verzweifelt.«

»Schrecklich! – Und zu mir kam der Schneider erst vor einer Stunde! – Den ganzen Tag waret Ihr allein und hattet weder zu essen noch zu trinken?«

Leise schüttelte der Kranke den Kopf und flüsterte: »Das Kind wimmert vor Hunger – ich ertrage es auch nicht länger; – sieh zu, ob du nicht etwas findest; – wenn nur die Ziege gemolken wäre!«

»Ich schaffe Rat, habt nur ein wenig Geduld,« entgegnete Johannes und begann, da ihn Line nicht verlassen wollte, mit dem Kind auf dem Arm nach Lebensmitteln zu suchen. Aber das Haus war vollständig ausgeleert, nicht einmal eine Brotrinde konnte er auftreiben. Zuletzt war er froh, als er noch einen brauchbaren Topf fand, konnte er doch wenigstens versuchen, die Ziege zu melken. Das war freilich ein schwer Stück Arbeit, allein zuletzt gelang es ihm 206 doch, und hoch erfreut teilte er die Labung zwischen Vater und Kind. »Ich danke dir,« flüsterte Frieder, nachdem er sich erquickt hatte. »Aber jetzt spür' ich erst, wie krank ich bin! – Was soll aus dem Wurm werden, wenn es mit mir zu Ende ginge?«

»Macht Euch darüber keine Sorgen,« entgegnete Johannes freundlich und half dem Vater zu einer bequemeren Lage. »So gefährlich steht es noch nicht mit Euch, und im schlimmsten Fall – da habt Ihr meine Hand – im schlimmsten Fall sorg' ich für Line. – Weinet doch nicht, Vater, das versteht sich doch ganz von selbst, daß ich das tue; seid ruhig und macht Euch nicht kränker. – Komm, Line, du bleibst jetzt beim Vater, ich muß einmal ins Dorf und sehen, daß ich Hilfe auftreibe.«

»Verlaß mich nicht, Johannes; bleib', ich – ich habe viel mit dir zu reden.«

»Nur auf einen Augenblick laßt mich, ich bin gleich wieder da. Macht Euch keine Gedanken – es wird für alles Rat werden.«

Leise schloß Johannes die Tür und eilte ins Dorf; unterwegs konnte er nicht anders, er mußte dankend zum Himmel aufblicken, daß ihm Kraft geworden zum Beharren; – was hätte werden sollen, wenn er jetzt nicht mehr frei war, nicht helfen durfte? – Bei seinem Eintritt ins Schulbauernhaus drückte die Bäuerin, eine schöne, schlanke Frau, den Säugling, der auf ihrem Schoß strampelte, erschrocken an sich und rief: »Ums Himmels willen, Johannes, wie siehst du aus?«

207 Auch der Bauer sagte betroffen: »Was ist dir begegnet? Wo kommst du her?«

»Vom Vater,« entgegnete Johannes und drückte ihm die Hand. »Ist das ein Elend!«

»So rede doch, mir wird ganz ängstlich,« sagte die Bäuerin. »Johannes – ist am Ende gar die Bärbel fort?«

»Ihr habt es erraten – nur lange nicht alles. Die Bärbel ist fort mit allem, was nicht niet- und nagelfest war; der Vater liegt auf den Tod danieder, und den ganzen langen Tag war niemand um ihn, als das Kind, die Line.«

»Daß sich Gott erbarm,« rief die Bäuerin, die eifrig damit beschäftigt war, den Säugling in ein Kissen zu wickeln, und dem Mädchen befahl, Milch, Butter und Brot in einen Henkelkorb zu packen.

»Ja,« fuhr Johannes seufzend fort, »und beide hatten nicht einen Mundbissen zu essen, nicht einen Tropfen Wasser im Haus. Den ärgsten Hunger habe ich mit Milch gestillt; – was soll aber nun werden, wer wird das Kind versorgen?«

»Siehst du nicht, was meine Anna vorhat?« lächelte der Bauer und gab dem Säugling, der vom Arm der Mutter mit hellen Augen um sich blickte, einen Kuß. »Beim ersten Wort von dir wußt' ich, daß sie das Kind zu sich nehmen würde.«

»Ach, Fritz, habe Dank,« sagte die Bäuerin mit herzlichem Händedruck. »Ja, Johannes, wenn dir's recht ist, soll Line bei uns gut aufgehoben sein.«

208 »Wär's möglich?« rief Johannes bewegt. »Ist's Euer Ernst?«

»Meine Anna hat das Herz auf dem rechten Fleck,« entgegnete der Bauer mit einem Blick innigster Liebe auf Weib und Kind. »Geh jetzt, Anna, du wirst draußen im Schreinershäusle nötig sein. – – Und was fehlt deinem Vater?«

»Wie kann ich das sagen?« erwiderte Johannes, der mit feuchtem Auge der Bäuerin nachsah. »Er ist recht krank! – Möchtest du nicht deinen Knecht mit den Pferden nach Schottendorf schicken und den Doktor holen lassen?«

»Von den Knechten ist keiner daheim; – komm, schirr' die Pferde mit ein, ich fahr' selber. Treff' ich den Doktor daheim, bin ich in einer Stunde mit ihm zurück.«

Die Pferde schüttelten freilich verdrießlich die Köpfe, als sie noch so spät ins Geschirr mußten, aber das half nichts, nach kaum zehn Minuten saß der Schulfritz auf dem Bauernwagen, gab Johannes die Hand mit den Worten: »Halte den Kopf oben, nun wird es besser!« – Dann knallte er mit der Peitsche, und das Gefährt rollte aus dem Hof. Das ist Hilfe, dachte Johannes auf dem Weg zum Vater. Es geschieht, als ob es sich von selbst verstände und gar nicht anders sein könnte. – Ist es doch ein Glück, mit solchen Menschen befreundet zu sein.

Beim Vater merkte man, daß eine Frauenhand im Haus gewaltet; das Bett des Kranken war geordnet, Stube und Kammer zusammengeräumt, und 209 auf dem Fußboden, von Kissen umbaut, saß der strampelnde Säugling, um den sich Line eifrig bemühte. Eben trat die Bäuerin aus der Küche in die Stube und sagte: »Es ist gut, daß du kommst! – Da, leg' deinem Vater den Überschlag auf die Seite, wo er Stechen hat, und laß ihn nicht gleich wegtun, wenn es auch brennt. Mein Fritz ist doch zum Doktor?« Als Johannes nickte, fuhr sie fort: »Die Bärbel ist ein Unflat! Sogar die Wäsche deines Vaters hat sie mitgenommen! – Sei nur still, will schon machen, daß er an nichts Mangel leidet. Derweil ich die Kinder heimbringe, besorge mir den Überschlag gut – bin gleich wieder da.«

Sie hielt Wort; zugleich mit dem Arzt, den der Schulbauer zum Glück daheim angetroffen, trat sie in das Stübchen. Nachdem der Arzt den Kranken untersucht, klopfte er ihr lächelnd auf die Schulter mit den Worten: »Ich sage ja immer, Sie sind ein halber Doktor!« Auf Johannes' Frage, wie es um den Vater stehe, zuckte er die Achseln, gab einige Verhaltungsmaßregeln, versprach Arznei zu senden und morgen wiederzukommen; damit entfernte er sich.

Johannes preßte die Stirne an die Fensterscheiben und lauschte dem verhallenden Rollen des Wagens – im Herzen ward es ihm unsäglich weh; sollte der Vater unversöhnt sterben – sterben, ehe er ihm seine Liebe recht beweisen konnte?

Eine weiche Hand legte sich auf seine Schulter, die Schulbäuerin sagte herzlich: »Komm, Johannes, 210 laß das Sinnen, es nützt nichts und macht dich nur leidmütiger.«

»Ihr habt wohl recht! – Aber es wäre doch hart, wenn mit dem Vater was passieren sollte.«

»Freilich wäre es traurig, aber immer eine Fügung von unserm Herrgott; an dir liegt's gewiß nicht, wenn deine Eltern in Unfrieden die Welt verlassen müßten.«

»Das ist's auch nicht allein, was mich drückt!«

»Komm, setze dich zu mir, es redet sich besser als im Stehen. Ich verstehe dich gar wohl; dich drückt die Liebe, du härmst dich, daß du deinem Vater noch so wenig Guttat hast erzeigen können. – Aber vergiß nicht, selbst wenn deinem Vater was Menschliches begegnen sollte, hast du Line – an dem Kind kannst du viel tun!«

»Ihr wißt immer zu trösten und aufzurichten,« entgegnete Johannes nach einer Pause. »Was habe ich Euch und dem Schulbauer schon zu verdanken!«

»Geh, so darfst du nicht reden, was wir dir tun können, hast du lange reichlich vergolten. Du weißt nicht, wie mein Fritz an dir hängt, was er für Stücke auf dich hält, und mir ist es ein rechtschaffener Trost, daß er an dir endlich einen aufrichtigen Freund und Menschen gefunden hat, der ihn versteht. Ich gebe mir zwar Mühe, ihm nachzukommen und in seinem Sinn zu schaffen, aber, lieber Gott, ich bin eben doch nur eine Frau, und was über den Haushalt hinausliegt, dafür geht mir das Verständnis doch ab. – Gelt, Johannes, du hältst aus bei meinem Fritz? – 211 Ach, er meint es mit allen Menschen so gut, möchte allen so gerne von Grund aus helfen – und das wird ihm oft so übel ausgelegt und so schlecht gedankt!«

Johannes konnte ihr nur die Hand drücken, denn Frieder erwachte, und die Bäuerin eilte mit einer Erfrischung zu ihm; freudig machte sie Johannes darauf aufmerksam, daß der kalte Schweiß auf der Stirn des Kranken verschwunden sei, und rühmte das als gutes Zeichen.

Eben trat der Schulbauer ein, brachte Arznei und berichtete, der Arzt habe gesagt, wenn der Schlaf ruhiger werde und der Kranke in sanften Schweiß komme, sei die Gefahr vorüber. Sein Weib schloß er herzlich in seine Arme und sagte. »So geh nun heim! Du bedarfst der Ruhe, und der Bub hat auch schon nach dir verlangt. Die Line schläft sanft und süß; mir ist ganz wunderlich geworden, wie ich die Kindergesichter im Schlaf betrachtete.«

Anna hüllte sich in ihr Tuch und schlüpfte aus dem Zimmer; Johannes sagte leise zum Bauer, der ihr nachsah: »Ist das eine Frau! Fritz – du bist ein glücklicher Mann!«

»Ja, ich bin glücklich! – Danke Gott, Johannes, deine Auguste wird meiner Anna nicht nachstehen, und ein braves Weib ist die Krone des Lebens.«

»Ach, Fritz – an Auguste darf ich noch nicht denken.«

»Ja, es wird noch manchen Kampf kosten, ehe Ihr zum Ziel kommt, aber ich ahne, das Eis ist gebrochen.«

212 »Meinst du? – Aber was reden wir davon? Ist's nicht Sünde, an künftiges Glück zu denken, während der Vater am Tode liegt?«

»Warum? – Auf alle Fälle gibt es jetzt große Veränderungen, und wir dürfen wohl überlegen, was zu tun ist. Ich meine, die Krankheit deines Vaters, noch mehr die Schlechtigkeit der Bärbel wird einen tiefen Eindruck auf ihn machen, und ich glaube, er wird selber den Weg der Versöhnung suchen. Wie steht es mit deiner Mutter?«

»Was soll ich sagen? – So ist sie nimmer, wie früher, heute hieß sie mich selber zum Vater gehen.«

»Ei, sieh! – Das ist doch ein Anfang.«

»Vielleicht; – ich fürchte aber, sie sagte es nur im ersten Schreck, als sie hörte, der Vater sei krank. Sie ist wohl stiller geworden und auch sanfter – aber das mag von ihrer Schwäche kommen, gegen den Vater hat sie ihren Starrsinn noch nicht gebrochen.«

»'s ist traurig, recht traurig! – Da hilft nun nichts, wenn dein Vater umkehrt, wie ich bestimmt hoffe, mußt du ein ernstliches Wort mit deiner Mutter reden.«

»Ich? – Und jetzt, wo sie kränkelt?«

»Eben darum! Wenn sie nicht einmal Krankheit milder stimmt, dann bleibt nichts andres übrig; – so kann es nicht länger bleiben, du und Auguste würdet zugrunde gehen.«

»Fritz – ich getraue mir's nicht. Wäre es nicht besser, wenn es ein andrer täte – vielleicht du?«

»Nein, nein, das darf kein Fremder! Mit der rechten Sanftmut und Lindigkeit kannst nur du reden.«

213 »Daß Gott erbarm! – Das sind Aussichten! Möchte nur wissen, wo es endlich hinaus will.«

»Vergebliche Sorgen,« lächelte der Schulbauer und drückte dem Freunde die Hand. »Jedes Wässerle findet seinen Weg und kommt an seinen Ort – sollte nicht auch dein Geschick endlich einen fröhlichen Ausgang gewinnen?«

Noch lange redeten die Freunde von der Zukunft; allmählich wurden ihre Herzen leichter und die Geister freier; – zwei edle Menschen können auf die Dauer nicht in Trübsinn und Zagen befangen bleiben. Dazu nahm auch die Krankheit Frieders eine tröstliche Wendung; nach Mitternacht ward sein Schlaf ruhiger, der Atem regelmäßig, und an Stelle der trockenen Hitze trat ein milder Schweiß. Stunde auf Stunde ging dahin, die Freunde merkten es kaum; schon verkündete ein heller Streifen am östlichen Himmel den herannahenden Morgen, da rief der Kranke mit matter, aber vernehmlicher Stimme: »Johannes!« Mit hellen Augen blickte er den Männern, die an sein Bett traten, entgegen und fragte: »Wo ist Line?«

»Gut aufgehoben, Frieder, beruhigt Euch,« sagte der Schulbauer. »Sie ist bei uns und wird gut gehalten wie unser eigen Kind.«

»Womit habe ich so viel Liebe verdient?« seufzte der Kranke, dem das Wasser in die Augen kam. »Jetzt seh' ich, was ich für ein schlechter Mensch bin.«

»Nicht doch, Frieder, das liegt hinter Euch, damit dürft Ihr Euch nicht quälen; macht, daß Ihr gesund werdet, dann ist's gut.«

214 »Ihr glaubt selber nicht an Euren Trost. – Nein, was ich getan, ist nicht wieder gut zu machen.«

»Wißt, ich will Euch gleich geradeweg meine Meinung sagen, es ist vielleicht das Beste. Was geschehen ist, ist geschehen, daran ist nichts zu ändern; – aber deswegen braucht Ihr den Mut nicht zu verlieren. Ihr habt der Welt ein groß Ärgernis bereitet, habt göttliche und menschliche Ordnung zerstört – und wenn Euer Beispiel Nachahmer fände, denkt, wohin das führen müßte. Um das zu verhindern und um der Gerechtigkeit, ohne die einmal die Welt nicht bestehen kann, genug zu tun, müßt Ihr selbst die Ordnung und das Gesetz wieder herstellen, indem Ihr freiwillig Euer Unrecht anerkennt und merken laßt, wie herzlich leid es Euch darum ist.«

Frieder hatte mit tiefer Bewegung zugehört; als der Schulbauer nicht gleich weiterredete, sagte er: »Fahret fort! – Eure Worte sind scharf, aber sie tun gut.«

»Davon, wie Ihr Euch mit dem Herrgott abzufinden habt, rede ich nicht, das ist Herzenssache, und Ihr werdet da den rechten Weg selber am besten finden. Ich rede nur von dem, was Ihr der Welt und den Menschen schuldig seid – vor allen Dingen müßt Ihr bei der Annelies Verzeihung suchen.«

»Ich verstehe Euch, so ungefähr waren auch meine Gedanken. Allein – Annelies wird mir nie, niemals verzeihen – und – ich selber kann es ihr nicht verübeln.«

215 »So seid Ihr auf dem rechten Weg,« sagte der Bauer herzlich und drückte seine Hand. »Bleibt nur dabei und hoffet, es wird sich bald machen.«

»Aber wenn sie es auch tut,« begann Frieder nach einer Pause, »die Leute vergessen doch nie, was geschehen ist; ich kann keinem Menschen mehr aufrichtig ins Gesicht sehen.«

»Ja, mit Hochmut und Stolz muß es freilich bei Euch vorbei sein; was Ihr waret, werdet Ihr nie wieder. – Nehmt mir es nicht übel – der alte Schreinersfried war auch gar nichts wert, trotz seines Ansehens. Wenn Ihr umkehrt, brav und rechtschaffen bleibt, dürft Ihr Eure Augen frei erheben, und wer Euch kränken wollte, hätte es mit mir zu tun.«

»Ich dank' Euch, dank' Euch von Herzen,« flüsterte Frieder, der Johannes' und des Schulbauern Hand ergriffen hatte und beide näher an sich zog. »Das ist ein gutes Wort, Bauer, das will ich festhalten, und es soll mich aufrichten, wenn wieder Kleinmut über mich kommen will. Ich will umkehren, ernstlich – und jetzt gleich will ich den Anfang machen. Kommt, setzt euch zu mir, ich will erzählen, wie es mir ergangen ist, was mich ins Unglück führte und zur Erkenntnis brachte!«

»Ihr solltet's nicht tun, jetzt nicht, Ihr macht Euch am Ende wieder kränker,« sagte der Schulbauer bedenklich. Allein Frieder ließ sich nicht abweisen. »Jetzt gerade ist die rechte Zeit,« sagte er; »holt euch Stühle und hört mich an; das Reden macht mir das Herz leichter, und das ist die beste Arznei.«

216 »Wie Ihr wollt,« entgegnete der Bauer. »Aber das sage ich Euch vorher, für schlecht habe ich Euch nie gehalten, ich wußte, es müsse ein schweres Geschick auf Euch liegen. Erzählt – vertrauen dürft Ihr mir.«

Johannes, der tief bewegt Zeuge dieser Unterredung war, drückte dem Bauer dankbar die Hand, und Frieder begann seine Erzählung, berichtete einfach, wie er um sein Glück gebracht wurde, und wie er darauf Schritt für Schritt ins Verderben geriet. »Ach, Johannes,« fuhr er fort, »hätte ich dich damals erkannt, wie ich dich jetzt kenne, vielleicht wäre es nicht so weit gekommen. Aber seitdem du Auguste vor mir verleugnetest und heimlich Stunden in Schottendorf nahmst, war mein Vertrauen gänzlich zerstört.«

»Verzeiht, Vater!« rief Johannes, »ich habe die Heimlichkeiten selbst schon bitter bereut, allein mit Auguste ward ich erst am Abend danach eins.«

»So hat mich die Bärbel auch darin betrogen! – Es mußte eben alles zusammenkommen, mich gänzlich zu verderben. – So höret weiter. Nachdem ich mein Haus verlassen hatte, führte ich, um mich zu übertäuben, mit der Bärbel ein wildes Leben; erst nach zwei Jahren, als mein Geld zu Ende ging, begann mein Elend. Damals gingen mir die Augen auf über meine Schande; ich wollte Bärbel heiraten, auch um des Kindes willen. – Allein sie lachte mir ins Gesicht; sie denke gar nicht daran, sich für das ganze Leben an mich zu binden; jetzt stehe ihr die ganze Welt offen. Das war ein harter Schlag. 217 Wußte ich gleich lange, daß sie falsch gegen mich war – solche Hartherzigkeit hatte ich ihr doch nicht zugetraut; ach, ich sollte ihr wahres Wesen bald noch besser erkennen. Wie sie mich behandelte, davon will ich nicht reden, hatte ich es doch nicht besser verdient; als sie aber auch an dem unschuldigen Kind ihren Unwillen auszulassen begann, als sie es quälte und plagte, da übermannte mich der Zorn; mit dem Zollstock schrieb ich ihr eine derbe Lehre auf den Rücken – aber was half's? – Liebe konnte ich ihr doch nicht einprügeln. Aus der Armut ward bittere Not! – Ich war alt, und mit der Arbeit wollte es nicht mehr gehen, Bärbel verliederlichte den Haushalt – und so sah ich mit Schrecken den Tag kommen, da ich Line würde betteln schicken müssen! – Deine Gaben, Johannes, waren Hilfe vom Himmel; was ohne dich aus uns geworden wäre, daran darf ich nicht denken. Und dennoch war ich damals so verbittert; ein solcher Trotz gegen die ganze Welt und dich insbesondere hatte sich in mir eingefressen, daß ich dir deine Wohltaten nicht dankte. Erst als du mir Weihnachten die Geschenke für Line aufnötigtest, da trafst du mich ins Herz.«

»Bis dahin hatte ich, wenn sich ja einmal mein Gewissen regen wollte, mich damit getröstet, ich sei ein guter Sohn gewesen, um des Vaters willen ins Elend gegangen; meinte ich doch, das sei noch nie vorgekommen und werde auch so bald nicht wieder geschehen. Ja, in meiner Verblendung redete ich mir ein, der Herrgott selber stehe darum in meiner Schuld 218 und dürfe mir meine Sünden nicht anrechnen. Deine Liebe und Treue öffneten mir jetzt die Augen! Ich hatte nicht glauben wollen, daß du meinetwegen die Güter und Auguste ausgeschlagen habest, jetzt konnte ich nicht mehr daran zweifeln, ich mußte mir gestehen, du hattest mehr getan und mehr verloren als ich. Und dennoch kam kein hartes Wort gegen mich über deine Lippen; deine Freundlichkeit ward nicht geringer, ja du erbarmtest dich des armen Wesens, das hundert andere an deiner Stelle bis in den Tod gehaßt haben würden. – Und ich? – Ich hatte zum Vater gesagt, ich bin Euer Sohn nicht mehr! – Ach, Johannes, da ging mir auf, wie ich gar nicht mehr aus Liebe zum Vater gehandelt, wie mich Schrecken und Furcht vor seinen Drohungen dazu getrieben hatten – wie die Hast, mit der ich mich dem Hofhannes in die Hände lieferte, im Grunde doch nur dem Hochmut, der Liebe zum Reichtum in mir entsprang. Wäre ich damals oder später aufrichtig gegen mich gewesen, hätte ich mir das selber eingestanden, so hätte noch alles gut werden können; statt dessen war ich unehrlich gegen mich und andere und kam immer tiefer hinein in Selbstbetrug; weil ich mir selbst nicht traute, mißtraute ich auch andern Menschen, fühlte mich einsam und verlassen – bis ich zuletzt der Bärbel in die Hände fiel. Was noch in mir vorging damals, kann ich nicht sagen – als elender, erschlagener Mann kehrte ich heim.«

»Armer Mensch,« sagte der Schulbauer leise. »Und doch beharrtet Ihr im alten Wesen?«

219 »Es war eben noch viel Trotz in mir, die Krankheit und die Schlechtigkeit der Bärbel mußte dazu kommen, um ihn gänzlich zu brechen. Als ich gestern den langen, langen Tag so mutterseelen allein lag, da hat der Herrgott in mir aufgeräumt. All das Unglück, das ich angerichtet, hat sich wie ein Berg auf meine Brust gelegt; die Angst, ich könnte unversöhnt sterben, brachte mich fast von Gedanken. Johannes, ich weiß, du trägst mir das Leid, das ich dir angetan, nicht nach, und für deine Treue wird dich Gott segnen!– Du hast viel an mir getan, tue auch noch das letzte und hilf mir zur Aussöhnung mit deiner Mutter. Ich weiß es wird schwer halten, aber, wenn du willst, du kannst sie zum Nachgeben bringen. – Johannes tu's!«

»Verlaßt Euch darauf, es geschieht,« sagte der Schulbauer, während Johannes dem Vater die Hand drückte. »Frieder, Ihr seid rechtschaffen umgekehrt, Ihr habt das Herz, das Kind beim rechten Namen zu nennen; daraus erkenne ich, daß es Euch Ernst ist mit einem neuen Lebenswandel; – drum habe ich Respekt vor Euch!«

»Das tut wohl gut,« entgegnete Frieder mit einem Seufzer, »allein das Lob verdiene ich nicht; mein Johannes hat mir zurecht geholfen.«

»Vater,« rief Johannes; doch der Schulbauer fiel ihm ins Wort, »brav, daß Ihr auch das anerkennt! – Nun laßt es genug sein, macht Ernst aus Euren Worten und seid still davon. – Habt ihr auch schon an Eure Zukunft gedacht? – Was soll werden, wenn Ihr gesund seid?«

220 »Zuerst Aussöhnung mit Annelies, das andre wird sich finden!«

»Gewiß, aber wir dürfen die Hände nicht in den Schoß legen. Was meinst du, Johannes?«

»Was du fragst! – Der Vater zieht wieder zu uns ins Schreinershaus.«

Der Schulbauer schüttelte nachdenklich den Kopf, Frieder aber ergriff die Hand des Sohnes und sagte: »Johannes, höre mich gelassen an. In das Schreinershaus zurück kann ich nicht; der Zwiespalt zwischen mir und der Mutter war zu groß, als daß wir wieder zusammen leben könnten. Ich würde niemals in dem Haus eingewohnen; von Line kann ich mich nicht trennen, und deine Mutter vermöchte den Anblick des Kindes auf die Länge nicht zu ertragen. Schulbauer, redet – habe ich nicht recht?«

»Diesmal gewiß; nein, Johannes, es ist auch meine Meinung, bei Lebzeiten der Annelies kann er nicht zurück.«

»Aber was soll dann werden?« rief Johannes ängstlich. »Einen eignen Haushalt aufzurichten ist der Vater zu alt – und vor allen Dingen, was soll aus der Line werden?«

»Ich habe mit meiner Anna darüber geredet und sie ist eines Sinnes mit mir. In unserm Haus steht manche Kammer leer, in der Frieder sein Bett aufschlagen kann, und ob an unserm Tisch ein Mann mehr oder weniger ißt, darauf kommt es auch nicht an. Wollt Ihr zu uns ziehen, Frieder, seid Ihr von Herzen willkommen. – Die Line lassen wir ohnedies 221 nicht wieder von uns. Es paßt sich auch gerad' gut, daß mein alter Schafstall leer steht, den könnt Ihr Euch zur Werkstatt einrichten. – Wie ist's – wollt Ihr? – Gut, gut, abgemacht,« fuhr er fort, als Vater und Sohn sein Hände zerdrücken und in Dankesworte ausbrechen wollten. »Tut mir jetzt den Gefallen und macht nicht solch Aufhebens von einer Sache, die sich ganz von selber versteht. – Still, still doch – was ist Großes dabei? – Du, Johannes, würdest an meiner Stelle nicht anders gehandelt haben – darum kein Wort mehr.«

»Ja, das sage ich auch,« rief die Bäuerin, die unbemerkt eingetreten war. »Sind das Gespräche für einen Kranken? – O, ihr Männer, daß ihr doch nie Geduld haben könnt!«

»Schilt nicht, Anna,« lächelte der Bauer. »Allem Ansehen nach ist Frieder außer Gefahr, und was wir redeten, wird ihm gut tun. Die Hauptkrankheit lag im Gemüt, dort tat Hilfe not, und ich denke, sie ist ihm zuteil geworden. Freue dich, Anna, er will sich mit Annelies versöhnen.«

»Ist's möglich? – O, Gott sei Lob und Preis! – Und wie ging das so schnell?«

»Schnell ging's nun wohl nicht, es hat lange genug in ihm gearbeitet, dafür ist aber auch die Umkehr gründlich! Anna, sage ihm ein gutes Wort, er verdient es; sage ihm, daß du ihn freundlich aufnehmen wirst, wenn er zu uns zieht.«

»Gott gebe Euch seinen besten Segen, Frieder, und willkommen seid Ihr mir, von Herzen willkommen. 222 Ach, wie gern hätte ich Euch so lange schon ein gutes Wort gesagt, wie oft tat mir das Herz weh, wenn ich Euch so gebeugt herumgehen sah. – Frieder, weinet nicht, es ist ja nicht seit gestern und heute, daß wir Anteil an Euch nehmen – wie lange schon hätten wir Euch gerne zurecht geholfen! – Und jetzt gehört Ihr zu uns; macht, daß Ihr bald gesund werdet, damit ich im eignen Haus besser für Euch sorgen kann. – 's ist gut, Johannes,« lächelte sie, als ihr der Jüngling die Hand drückte, »geh' jetzt, und auch du, Fritz, mußt heim, Frieder braucht Ruhe, und solange ihr hier bleibt, kommt er doch nicht dazu. Habe keine Sorge um den Vater; so oft ich kann, sehe ich selbst nach ihm, sonst habe ich unsere alte Annedorl zu seiner Wärterin bestellt. Auf den Abend kannst du wieder herüberkommen, früher ist's nicht nötig – und jetzt, marsch fort, ich leide euch nicht länger.«

Dabei blieb sie auch, duldete nicht einmal einen langen Abschied, und als Johannes noch immer reden wollte, stellte sie sich zwischen ihn und den Vater und schob ihn aus der Tür.

»Ich wußte gar nicht, daß deine Anna so streng sein könne,« meinte er unterwegs und der Bauer lachte: »Ja, so geht's in der Ehe, auch der festeste Mann hat nur einen halben Willen. – Johannes, nun mache ein Ende, rede gleich heute mit deiner Mutter!«

»Das ist eine schwere Aufgabe.«

»Hilft nichts! Weiß sie es, wie der Hofhannes mit deinem Vater umging?«

223 »Glaube nicht!«

»Desto besser! Erzähle ihr's, es kann nicht ohne Eindruck bleiben. – Das und die Krankheit, die Not Frieders muß ihren starren Sinn brechen.«

Johannes schüttelte zwar noch immer zweifelnd den Kopf, doch sagte er nichts; nach herzlichem Händedruck trennten sich die Männer, und Johannes schritt durch den taufrischen, sonnenglänzenden Morgen Bergheim zu. Welche Veränderung zwischen gestern und heute! Wohl war noch nicht alles Zagen aus seiner Seele gewichen, gar manches Dunkel war ja noch aufzuhellen, mancher Abgrund auszufüllen – aber doch war er nicht ängstlich, eine fröhliche Zuversicht regte sich ahnend in seinem Gemüt, und als eine Lerche aus dem Saatfeld jubelnd in die Lüfte stieg, erwachte in ihm die alte Sangeslust, leise stimmte er an: »Wach auf, mein Herz, und singe!« 224

 


 


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