Heinrich Schaumberger
Vater und Sohn
Heinrich Schaumberger

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Schwere Kämpfe.

Tag um Tag, Woche um Woche ging dahin, mit dem Frühling ward unmerklich Sommer – im Schreinershaus blieb es beim alten. Der Zank und Streit hatte wohl aufgehört, äußerlich herrschte Ruhe und Stille in der kleinen Familie, allein das war lange nicht der rechte, glückliche Friede. Das traurige, freudlose Wesen Johannes', der für nichts mehr Sinn zu haben schien als für seine Arbeit, machte endlich Annelies ernstliche Sorgen, selbst der Bergbauer blickte ihm kopfschüttelnd nach, zumal daheim Auguste ebenfalls das Köpfchen tiefer und tiefer sinken ließ. »Das muß anders werden!« sagte er eines Sonntags zur Annelies. »Wer weiß, was sich der Bursch in den Kopf gesetzt hat, und nun vergrämen sich die Kinder das Leben. Wie wär's, Annelies, wenn du Johannes die Güter gäbst, und wir ließen die beiden heiraten? – Ich meine, das würde sie bald auf andre Gedanken bringen.«

Annelies hatte selbst schon daran gedacht, sich zur Ruhe zu setzen, sie nahm daher den Vorschlag mit Freuden auf, und auch die Bäuerin sagte natürlich nicht – nein.

154 Anfänglich beachtete Johannes das geheimnisvolle Treiben der Mutter und des Bauern nicht weiter; wenn beide halbe Tage in der oberen Stube hinter Büchern und Papieren saßen oder zusammen nach Schottendorf ins Amt fuhren, war er der Meinung, das geschehe, um die Auseinandersetzung mit dem Vater zu beenden.

Erst als Mutter und Pate auffällig freundlich gegen ihn wurden, ihn oft mit ganz eignen Blicken ansahen, von nahen, wichtigen Veränderungen sprachen, ward er aufmerksam und begann zu ahnen, daß es sich um Entscheidung der eignen Zukunft handeln könne. Das machte ihm viel Herzklopfen, aber freudig war seine Erregung nicht; er sehnte sich nach Ruhe und Stille, hatte das Bedürfnis, erst mit sich selber ins klare zu kommen, Ordnung in und um sich zu schaffen, ehe er den wichtigsten Schritt des Lebens wagen durfte.

»Es wird ja nicht so eilig gehen,« tröstete er sich, »solche Sache werden die Mutter und der Pate gewiß nicht übers Knie brechen.«

Aber es ging doch gar eilig. Am Sonnabend, acht Tage vor Johanni begannen große Zurichtungen im Bergbauernhaus, es ward gescheuert von unten bis oben, Annelies half eifrig Kuchen und Krapfen backen, der Bergbauer ging zufrieden herum und erzählte den Nachbarn: »Morgen übernimmt Johannes die Güter und macht Freierei mit meiner Auguste!«

Johannes ahnte von alledem nichts; ohne die verwunderten Blicke seiner Gesellen zu beachten, die nicht begreifen konnten, daß ihr junger Meister nicht 155 merkte, was drüben vorging, arbeitete er rüstig, bis der Tag sich neigte. Nach dem Feierabend setzte er sich mit seiner Pfeife, wie er immer gern tat, unter den Nußbaum, blickte sinnend hinein in das verglühende Abendrot und horchte auf das Rauschen der Blätter droben in den Zweigen. Die Stille ringsum tat seinem Gemüte wohl; wie linder Balsam legte sich der Abendfriede in sein wundes Herz und löste die Spannung seines Wesens in milde Wehmut.

Kathrin, die mit ihrem Strickzeug auf dem Treppenaltan saß und Johannes heimlich beobachtete, empfand Mitleid mit dem stillen Jüngling, der auch im größten Kummer so gut und freundlich blieb; sie konnte es nicht übers Herz bringen, ihn noch länger seinem Leid zu überlassen. Trotz des Verbotes der Annelies ging sie sachte zu ihm und flüsterte: »Sei nimmer so leidmütig, Johannes, guck, das Glück kommt in Haufen über dich; morgen übergibt dir deine Mutter die Güter, und im Bauernhaus ist Freierei mit der Auguste.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, im Bewußtsein, eine gute Tat vollbracht zu haben, entfernte sich Kathrin eilig, sie wollte Johannes in seiner Freude nicht stören.

In seiner Freude! – Bleich, mit weit geöffneten, starren Augen sah Johannes der Alten nach; seine Lippen zuckten, und die silbernen Ketten seiner Pfeife klirrten; tief seufzend stützte er die Ellbogen auf die Knie, legte den Kopf in die Hände und saß lange, lange regungslos. Spät, als es stille im Haus wurde, ging er auf seine Kammer, noch lange hörte ihn 156 Kathrin auf und ab gehen, und als er sich endlich auf sein Lager warf, floh ihn der Schlaf, erst gegen Morgen fiel er in unruhigen Schlummer. Er träumte, sein Vater stände vor ihm, bleich, verfallen, harmvoll; mit traurigem Blick sagte er: »Siehst du? – Um dir Platz zu machen, mußte ich fort; mein Elend ist dein Glück!«

Dann wieder träumte ihm, er hätte die Güter übernommen, Auguste wäre sein Weib. Da öffnete sich die Tür, zornig trat der Vater herein und rief mit drohend erhobener Hand: »Warum hast du das getan? Fluch dir und deinem Haus! – Wer soll mich nun befreien?«

In Schweiß gebadet, erwachte Johannes; lange ehe der erste Schimmer des Morgenrots im Osten aufglühte, wandelte er einsam durch die schweigende Flur.

Kathrins Worte, die Aussichten, welche sie ihm für die Zukunft eröffneten, hatten einen heftigen Sturm in ihm angefacht; Pflichtgefühl und Leidenschaft rangen heiß in seiner Seele. Verlockend umgaukelten ihn heitere Bilder einer fröhlichen Zukunft, eines tatenvollen, reichen Lebens; es kostete ihn nur ein Wort, und all die süßen Träume künftigen Glückes waren erfüllt. –

Dagegen sprach eine ernste gewichtige Stimme in ihm, du darfst die Güter nicht nehmen, es ist nicht recht, es steht geschrieben, du sollst Vater und Mutter ehren!

Wie ein Maifrost fiel diese Mahnung des Gewissens auf seine Hoffnungen; denn weigerte er sich heute 157 die Güter zu übernehmen, so war, wie er den Bergbauer kannte, auch Auguste für ihn verloren. Ein tiefer Schmerz erfaßte den Jüngling, er konnte nicht fassen, wie er leben sollte ohne das Mädchen.

Ruhelos irrte er umher, oft rief er laut: »Ich kann nicht, ich kann Auguste nicht lassen« – aber auch sein Gewissen schwieg nicht, ernster und dringender mahnte es, du darfst die Güter doch nicht nehmen, es ist nicht recht!

»So muß es einen Mittelweg geben,« seufzte er mit brennender Stirn und glühenden Wangen, »ich ruhe nicht, ich muß ihn finden.«

Allein vergebens zermarterte er sein Hirn; die Lösung des Rätsels, sein Glück festzuhalten, ohne die Ruhe des Gewissens preiszugeben, wollte ihm nicht gelingen.

Müde vom Denken setzte er sich auf einen Stein am Weg, stützte den Kopf in die Hände und blickte traurig hinein in die lichtgrüne Welt, die ihm heute so öde und trostlos erschien. Schwer fiel ihm seine Verlassenheit aufs Herz; kein Freund stand ihm zur Seite, keine Menschenseele kümmerte sich um sein Wohl oder Wehe, selbst Auguste ahnte nichts von seiner Not, er konnte nicht zu ihr eilen, so nahe dem treuen Herzen mußte er allein den schweren Entschluß fassen, von dem seine und ihre Zukunft abhing.

Aufs neue begann er seine ruhelose Wanderung; achtlos stieg er den Kulm hinan und stand über dem Dorf, als drunten die Glocken zur Kirche läuteten. Die geputzten Kirchgänger, die fröhlich plaudernd von 158 allen Seiten dem Dorfe zueilten, vermehrten sein Gefühl der Verlassenheit. sie sahen so heiter, so zufrieden aus, gewiß waren sie glücklich, erfreuten sich ihres Lebens – nur ihm allein war solch schweres Geschick auferlegt. –»Aber warum bin ich nicht glücklich? – Wer hindert mich daran?« fragte er sich. »Niemand steht mir im Weg, als ich selber! – Bis heute habe ich das vierte Gebot befolgt in allen Stücken, dazu bin ich der Mutter so gut Treue schuldig als dem Vater, und zuletzt haben auch die Kindespflichten ihre Grenzen. – Wollte ich die Güter nicht nehmen, was nützte es dem Vater? – Und würde er mir's danken?«

Der Sturm in seiner Brust ward heftiger, als er sich erinnerte, daß jetzt Auguste festlich geschmückt der Kirche zuschritt; er mußte daran denken, wie sie gewiß hoffend voll bräutlicher Erwartung das Gotteshaus betrat, für ihn und sein Glück betete und nicht ahnte, wie er im Begriff stand, eine unüberwindliche Scheidewand zwischen sich und ihr aufzurichten. Laut und lauter rief es in ihm: »Du bist ein Narr, was quälst du dich vergeblich? – Du darfst, du kannst ja die Güter gar nicht ausschlagen! – Wer gibt dir das Recht, Auguste um ihre Hoffnungen zu betrügen? – Ist es nicht deine Schuldigkeit, an dich selber zu denken?« – Mehr und mehr neigte sich sein Entschluß dahin, wo Liebe und Glück winkten – aber in gleichem Maße ward auch seine Not größer. Ein bleiches, harmvolles Gesicht stand stets vor ihm, ein paar trübe Augen schienen traurig zu fragen. »Kannst du 159 mir das wirklich antun? Bin ich nicht dein Vater?« – Es war fast eine Empfindung körperlichen Schmerzes, die ihm die Worte auspreßte: »Ich kann nicht! – Und wenn Leben und Seligkeit davon abhingen – ich kann doch der Mutter und dem Paten nicht zu Willen sein!« Aber warum nicht – warum nicht? – – Lange irrte er durch Feld und Wald, ohne eine Antwort zu finden, ja, je mehr er sann, desto größer ward seine Verwirrung. Rat- und trostlos, müde und matt kehrte er nun endlich heim.

Annelies erschrak vor seinen ernsten Blicken und würde noch mehr erschrocken sein, hätte sie geahnt, was in ihm vorging, allein sie deutete sein gehobenes Wesen anders; heimlich lächelnd sagte sie zur Kathrin: »Er kann die Zeit nicht erwarten, die Ungeduld treibt ihn herum!« Kathrin dagegen schüttelte den Kopf und meinte: »Ich weiß nicht, wie ein Bräutigam sieht er mir nicht aus!«

Im Haus, unter den Menschen konnte es Johannes nicht aushalten, die engen Wände bedrückten, die forschenden Blicke ängsteten ihn, er sehnte sich nach Luft und Licht, nach Himmelblau und Saatengrün, nach Einsamkeit und Stille. Das Dunkel seiner Seele mußte er aufhellen, ein Entschluß mußte gefaßt werden; – nach kurzem Aufenthalt verließ er abermals das Haus. –

Als er aus dem schmalen, von Jelängerjelieber, Linden und Haselsträuchern überschatteten Fußweg trat, der durch Gras und Baumgärten hinaus in die Feldflur leitete, nahm der Sülzdorfer Schulbauer von seinem Schwager, dem Herrnbauern, Abschied.

160 Beim Anblick seines Lehrers – der Schulbauer war vor seiner Verheiratung Lehrer in Bergheim gewesen – flog ein Freudenstrahl über sein Gesicht; – konnte ihm jemand raten und helfen, so war es der Schulbauer.

Geduldig wartete Johannes, bis der Herrnbauer in den Hecken verschwunden war, dann trat er näher und sagte: »Kennt Ihr mich noch, Schulbauer? – Ach, waren das glückliche Zeiten, als ich zu Euch in die Schule ging. Seht, hundertmal lag mir die Frage auf den Lippen, habt Ihr den Schreinersjohannes noch lieb? – Aber Ihr waret immer so ernst, darum hatte ich das Herz gar nicht, Euch anzureden. Aber heute ist es eine glückliche Fügung, daß gerade Ihr mir in den Weg kommt. – Schulbauer, ich bin in großen Ängsten – helft und ratet mir!«

»Das ist brav, daß du mich nicht vergessen hast,« entgegnete der Bauer. »Ich dachte schon, dir müsse was Besonders begegnet sein – was ist's?«

So kurz als möglich berichtete der Jüngling, was heute noch geschehen solle, welche Zweifel und Ängste das Vorhaben seiner Mutter in ihm erweckte, und schloß: »Nun sagt, was muß ich tun? Darf ich oder darf ich nicht?«

»Armer Bursch, du dauerst mich – aber ich kann auch nicht anders sagen, als: tu' es nicht!«

»Also hatte ich recht! – Ja, ich dachte mir wohl, daß es so kommen würde! – Aber es ist Hartes, bedenkt, was für mich und Auguste auf dem Spiel steht. – Schulbauer – warum darf ich die Güter nicht nehmen?«

161 »Weil schweres Unrecht darauf liegt, und es nicht gut ist, auf solchen Grund einen neuen Hausstand aufzurichten. – Johannes, der Haß deiner Eltern ist noch unvermindert, eines möchte dem andern schaden auf jegliche Weise, darum sucht dich deine Mutter völlig mit dem Vater zu verfeinden; sie weiß, daß dies das Schlimmste ist, was sie ihm zufügen kann.«

»Ja, ja – und der einfache Weg dazu wäre, wenn ich in seinen Besitz träte. Dem Vater dürfte ich dann wohl nicht mehr vor die Augen kommen.«

»Aber auch deiner Mutter würdest du damit einen schlimmen Dienst erweisen. Merke: Du darfst dich nicht zum Werkzeug des Hasses hergeben, weder hier noch dort; du mußt frei zwischen den Eltern stehen, damit ihnen ein Weg zur Versöhnung offen bleibt!«

»Das ist der rechte Grund! – Ja, ja, das ist's, was mir so schwer auf dem Herzen lag. – Ich danke Euch, Ihr habt mir zurecht geholfen.«

»Johannes – es ist nicht leicht, was du unternimmst; aber halte aus, führe es durch.«

»Da bedarf es keines Zuredens! – Auguste ist freilich unglücklich und ich auch – aber mag's sein, ich kann nicht anders! – Und doch, was wird es nützen? – Ach, ich weiß, die Eltern werden sich niemals versöhnen – da ist alles vergeblich!«

»Rechttun ist nie vergeblich, es führt stets zum Ziel, wenn auch nicht nach unserm Sinn! Tue das Deine – der Ausgang ist nicht deine Sache!«

»Aber warum muß ich's so teuer bezahlen? Warum ist das Rechttun so schwer?«

162 Der Schulbauer sah ihm tief in die Augen, ergriff seine Hand und sagte nach kurzem Sinnen: »Johannes, du bist nicht der erste, der also fragt, du wirst auch nicht der letzte sein. Ich war auch in deiner Lage. Eine Antwort darauf habe ich nicht, aber merke: wer sich um eines inneren Grundes willen, der über das Herkömmliche und Gewöhnliche hinausliegt, mit der Welt in Widerspruch setzt, dem bleiben schmerzliche Kämpfe nicht erspart. Es will etwas heißen, für die eigne Überzeugung sich allein gegen die altgewohnten Ansichten der Nebenmenschen aufzulehnen, mit keinem andern Rückhalt, als den im eigenen Gewissen, keiner andern Bekräftigung, als der im eignen Bewußtsein, nur allein auf die eigene Kraft gestellt! Es ist stets ein gewagtes Beginnen, denn der Erfolg ist zweifelhaft, und ohne Opfer geht solcher Kampf nie ab! Aber das alte Wort: Gott legt dem Menschen nicht mehr auf, als er tragen kann, gilt auch hier, wenn ich es gleich in andrer Deutung fasse; – solchen Kampf kann niemand unternehmen, der nicht mit besonderen Kräften ausgerüstet ist. Darum hebe den Kopf auf und bedenke: für Recht und Wahrheit einstehen ist das Größte und Herrlichste, was einem Menschen beschieden sein kann.«

Johannes schritt stille neben dem Bauer dahin, der noch lange fortredete, ihm zeigte, wie alle großen Männer, alle Wohltäter der Menschheit einst klein und bescheiden begonnen, wie sie mit Zweifeln und Gewissensnöten zu kämpfen hatten, und wie sie oft ihr Werk – ohne seine Vollendung zu sehen – mit dem Leben bezahlten.

163 Johannes atmete tief; endlich sagte er leise: »Ich danke Euch! – Freilich verstehe ich nicht alles, was Ihr mir sagtet, Ihr müßt eben Geduld mit mir haben, aber ich will mir rechtschaffene Mühe geben, Euch nachzukommen. Habt Dank und glaubt, ich stehe fest! – Denkt auch nicht gering von mir wegen meines Kleinmuts. – Ach, ich habe Auguste allzu lieb!«

»Klage nur, Johannes, das macht das Herz leichter! – Bedenke aber, alle Hoffnung ist noch nicht verloren; ist das Mädchen das, wofür ich sie halte, dann wird sie beharren wie du, und ihr werdet noch glücklich sein.«

Johannes schüttelte traurig den Kopf. »Wohl,« fuhr der Schulbauer ernst fort, »mache dich immerhin auf das Schlimmste gefaßt, denn es werden schwere Zeiten für dich kommen, Tage, an denen du an dir selbst und der Welt irre wirst. Deine Mutter, der Bergbauer, vielleicht Auguste werden heftig auf dich einstürmen, und auch dem Urteil der Leute gegenüber wirst du einen schweren Stand haben! – Aber laß dich nicht werfen, Johannes, bleibe fest! Will dir die Welt zu eng werden, denke, du stehst nicht allein im Feuer, und – ich bin ja auch nicht weit!«

»Ist's Euer Ernst, Schulbauer?« fragte Johannes und hob den Kopf. »Wollt Ihr mein Freund sein?«

»Bin ich's denn nicht?« rief der Schulbauer und zog den Jüngling an seine Brust. »Schon als Knabe warst du mir ins Herz gewachsen, und heute bist du mein Bruder!« Sanft machte er sich dann von dem 164 Jüngling los. »Ich muß heim, Anna würde sonst schelten. Sei stark, Johannes, beharre! – Bald sehen wir uns wieder, leb' wohl!«

Johannes stieg den Königsbühel hinan, lehnte sich an den Feldbirnbaum, der weithin sichtbar den Hügel krönte, und blickte dem Schulbauer nach, bis er hinter den Erlen des Fehrenbachs verschwunden war. Aus tiefer Brust seufzte er: »Auguste, o Auguste! – Was wirst du von mir denken?« – Aber bald richtete er sich auf, seine Augen glänzten, denn in ihm sprach es: sie wird mir recht geben; sie wäre nicht Auguste, könnte sie es anders von mir verlangen. Sein Blick hastete sinnend am Sülzdorfer Schulbauernhaus, das schmuck zu ihm heraufglänzte, und leise sagte er: »Wer denkt heute daran, wie glücklich der alte Schulbauer in dem Haus lebte? – Aber seine Rechtschaffenheit und Güte ist noch in aller Mund. – Ja, das Glück ist wohl herrlich; aber wenn's genossen ist, nachher war's ein Traum, und nichts bleibt davon. Dagegen, was ein braver Mensch Gutes tut, das bleibt, und andre Menschen können sich daran stärken und aufrichten. Und kostet's auch mein Glück – ich halte aus; und versöhnen sich die Eltern nicht, was tut's? – Weiß ich doch, ich habe meine Schuldigkeit getan.« – –

Unter dem Hexenbaum, einer uralten Eberesche, die sich wie ein Tor über die Badergasse wölbte, traf der alte Türkenhenner, der vom Steinschrot herabkam, mit ihm zusammen und fragte: »Nu, wie ist's, darf man gratulieren?«

165 »Guten Tag, Henner,« entgegnete Johannes, dem eine hohe Röte ins Gesicht schoß. »Wüßte nicht wozu.«

»Bist ein wunderlicher Heiliger! 's ganze Dorf weiß, daß du heute die Güter übernimmst und die Auguste freist.«

»Soweit ist's noch lange nicht.«

»Na, da werde einer klug! – Deine Mutter hat mir's gestern selber gesagt,« entgegnete Henner kopfschüttelnd und betrachtete Johannes mißtrauisch, als sei es mit ihm nicht richtig. »Hab' mich freilich schon lange über dich gewundert, und jetzt wieder siehst aus, als läg' dir das Unglück der Welt auf dem Buckel. – Hm! – Na, jedem Tappen gefällt seine Kappen und jedem Narren seine Weis'! – Nichts für ungut.«

Johannes sah dem kleinen hüstelnden Manne lange nach. »Da kommt schon das Urteil der Leute,« sagte er vor sich hin. »'s ist nur gut, daß mich der Schulbauer darauf vorbereitet hat. Aber in einem hat der Henner doch recht, das jammerige Wesen taugt nichts, damit ist mir nicht geholfen, und den Leuten gibt's Ursach zum Geschwätz. Das sieht aus, als bettele ich um Mitleid, und das will ich nicht und brauch' ich nicht; jetzt will ich zeigen, daß ich ein Mann bin!«

Daheim trippelte unterdes Annelies ungeduldig umher; bald aus diesem, bald aus jenem Fenster schaute sie nach Johannes aus und ärgerte sich, daß er gar so wenig Begierde nach seinem Glück zeigte. 166 Den besten Sonntagsstaat hatte sie ihm zurechtgelegt und jedes Stäubchen davon entfernt, aber die blinkenden Knöpfe der Jacke und Weste erinnerten sie an die Worte der Kathrin: er sieht mir nicht aus wie ein Bräutigam! – Wo er nur stecken mochte? Recht verdrießlich sagte sie, als er endlich eintrat: »Ist mir eine schöne Art, am lieben Sonntag in der Welt herumzuflanieren; hättest ein Gebet aus dem Starkenbuch oder ein Kapitel aus der Bibel lesen können, daß der Herrgott seinen Segen gebe zu deinem Vorhaben. Aber iß jetzt und zieh dich an, drüben warten sie gewiß schon lange.«

»Mutter,« entgegnete Johannes, und es lag ein so eigentümlicher Klang in seiner Stimme, daß Annelies erstaunt aufsah, »es hat jeder seine besondere Art mit dem Herrgott umzugehen; ich denke, sein Segen wird mir nicht fehlen bei meinem Vorhaben, wenn ich nur auch Euren hätte.«

»Den hast du, Johannes, den hast du,« schluchzte Annelies versöhnt, und da sie sich mit der Schürze die Augen trocknete, konnte sie den traurigen Blick, das leise Kopfschütteln des Sohnes nicht bemerken. Johannes hätte gerne mehr gesagt, aber er wußte, es war doch vergeblich, darum schwieg er. Seufzend setzte er sich an den Tisch, legte die guten Kleider an und schritt dann an der Seite der Mutter, die ihn mit stolzen Blicken betrachtete, hinüber in das Bergbauernhaus. – –

Und Auguste? – Ahnte sie wirklich nichts von der Not ihres Freundes, von der Gefahr, die ihrer Liebe 167 und ihrem Glück drohte? – Ach, sie litt nicht weniger als Johannes, dieselben Zweifel ängsteten und peinigten sie, nur waren sie in ihrem Herzen noch früher wach. Flink wie immer ging sie am Sonnabend der Mutter und der Annelies zur Hand; aber kein Wort kam über ihre Lippen, kein Lächeln erheiterte ihr Gesicht. Selbst dem Bergbauern fiel zuletzt ihr freudloses, verhärmtes Wesen auf, und der Trost der Annelies, die meinte: »sie ist verstört vor lauter Glück; eine traurige Braut bedeutet eine fröhliche Ehefrau!« – wollte nicht recht verfangen. Die Bergbäuerin schwieg und beobachtete sorgenvoll ihr Kind; im richtigen Muttergefühl behielt sie ihre Gedanken jedoch für sich und beschloß, zuerst mit dem Mädchen selber zu reden.

Jörg ging heute früh zu Bett, bald verkündigte sein kräftiges Schnarchen im »Kafenetle«, daß er fest eingeschlafen war; darauf hatte die Bäuerin nur gewartet; leise, um die Dienstboten nicht zu wecken, stieg sie hinauf in die Kammer ihrer Tochter. In dem kleinen weißgetünchten Raum verbreitete der Mond, der hell herein schien und die Schatten der Monatsrosen, Nelken und Rosmarinstöcke vor dem offenen Fenster auf dem schneeweißen Fußboden abzeichnete, ein mildes Dämmerlicht, das gerade hinreichte, in der dunkelsten Ecke die heftig schluchzende Auguste zu erkennen. Sanft legte die Mutter ihre Arme um das zusammenschreckende Kind, hielt es still an ihrem Herzen, flüsterte ihm milde Worte zu und wartete 168 geduldig, bis es sich beruhigen und von selbst sein Herz öffnen werde. »Ach Mutter,« begann auch das Mädchen und schmiegte sich fester an sie, »wie gut Ihr seid! – Ich wäre vergangen, hätte ich allein bleiben müssen – Mutter, Mutter, ist das ein Elend.«

»Du bist mein lieb Kind,« sagte die Bäuerin, die ihr Erschrecken verbarg und dem Mädchen beschwichtigend die heißen Wangen streichelte, »du sollst deinen Kummer nicht allein tragen, deine Mutter hilft dir!«

»Habt tausend, tausend Dank! – Mutter, was wird das morgen werden? – Gebt acht, Johannes nimmt die Güter nicht, und dann sind wir unglücklich fürs ganze Leben, ich und er. Und wenn ich denke, er könnte die Güter nehmen, vielleicht meinetwegen – dann ist mir wieder, als wäre das ein grausames Unrecht, als müsse nun alle Sünde, die im Schreinershaus verübt worden ist, über mich und Johannes kommen, und meine Angst wird noch größer.«

»Du armes, armes Mädle! – das ist ja erschrecklich,« sagte die Bäuerin außer Fassung. »Glaubst du wirklich, es wäre unrecht, wenn Johannes die Güter übernähme?«

»Das weiß ich nicht, aber ich ahne, wenn er es tut, gibt's eitel Unglück.«

»Hast du schon mit Johannes geredet?«

»Ich wollte vorhin den Bruder nach ihm schicken, aber ich ließ es sein; ich müßte ihm ja doch sagen: tu's nicht – und das brächte ich nicht fertig.«

169 Der Bäuerin war selber das Weinen nahe; aber um des Mädchens willen, das trostlos in neues Schluchzen ausbrach, nahm sie sich zusammen und sagte. »Härm' dich nicht so sehr, Auguste! Sieh, Johannes ist ein braver Mensch, der wird sich die Sache wohl überlegen, und was er tut, soll recht sein. Nimmt er die Güter, so ist gewiß kein Unrecht dabei, und du kannst getrost ins Schreinershaus ziehen; nimmt er sie nicht, was ich beinahe selber glaube, so müssen wir uns eben drein fügen, später kann sich's ja immer noch machen. Dein Vater wird freilich lärmen, du lieber Gott! – Aber, Auguste, wie sich's auch schickt und was kommt – du bleibst mein herzig's lieb's Kind!«

Das Vertrauen auf die Tüchtigkeit des Geliebten beschwichtigte die Unruhe des Mädchens; die milden Liebesworte wandelten ihren Schmerz in linde Wehmut; – sprachlos schlang sie die Arme um den Hals der Mutter und drückte sie fest, fest an sich. »Nun ist's genug geflennt (geweint),« meinte die Bäuerin und machte sich sanft los. »Leg' dich nieder, bet' und schlaf, du bist ein braves Mädle, drum sollst du nicht so kleinmütig tun.« Sie half das Mädchen entkleiden, schüttelte die Kissen zurecht, und nachdem sie die Decke glatt gestrichen, beugte sie sich mit den Worten über das Bett: »Der Herr segne und behüte dich! So ist's recht, tu' die Augen zu und schlaf, der Schlaf ist der beste Tröster. Gib mir deine Hand, so, ich bleibe bei dir, bis du eingeschlafen bist.«

170 Mutterhand und Kindeshand hielten sich fest umschlungen, die Pulse, die zuerst heftig durcheinander pochten, regelten sich zu gleichförmigem Gang, und – war es die beruhigende Nähe der Mutter, oder strömte vom Mutterherzen heilende Kraft durch die verknüpften Hände ins wunde Kindesherz – das Mädchen seufzte einigemal tief und lispelte: »Mutter!« – Als sich jedoch die Bäuerin mit den Worten über sie beugte: »Schlafe, Kind Gottes, ich bin bei dir,« waren ihre Augen geschlossen, und ihr Atem ging ruhig. In tiefen Gedanken saß die Mutter am Bett; der Mond, der neugierige Geselle, rückte leise weiter; eben da die Bäuerin ihre Hand sanft aus der ihres Kindes löste, fiel sein Licht voll über das Antlitz der holden Schläferin, und eine Träne in ihren langen Wimpern glänzte wie ein Demant. Leise küßte die Mutter die Träne auf, schloß das Fenster und verließ das Gemach. –

Am Sonntag Morgen bereitete sich Auguste still zum Kirchgang; als sie beim zweiten Läuten in den Garten ging, um sich Jünkerleinsnelken, Jungfernblättchen und Ziegenbart, den die Bergheimer Gartum nennen, zu einem Kirchensträußchen zu pflücken, nickten ihr von dem Busch am Haus die ersten Rosen entgegen, die in der Nacht ihre duftenden Kelche geöffnet hatten. Weinend setzte sich das Mädchen auf das Bänkchen und verhüllte das Gesicht in der Schürze; – vor einem Jahr war ihr das höchste Glück des Lebens erblüht, das schon heute – nach so kurzer Zeit – zu Grabe getragen werden sollte. Allein der 171 Schmerz hatte heute nicht mehr die Gewalt über sie, wie gestern abend. Die Worte der Mutter: »Johannes ist ein braver Mensch, was er tut, soll recht sein« – wurden ihr eine Quelle des Trostes; fast etwas wie Stolz regte sich in ihr, von einem Jüngling geliebt zu sein, dem die Mutter selbst solches Zeugnis gab. Auch die Worte, die Johannes vor einem Jahr hier zu ihr gesprochen: »brav und treu bleibe ich, weil ich lebe,« kamen ihr ins Gedächtnis und richteten sie mächtig auf. »Brav und treu,« sagte sie sinnend und drückte eine Rose an ihre Brust, »was will ich mehr? Freilich wird Johannes eben darum die Güter nicht nehmen; aber muß ich mich nicht freuen, daß er einsieht, was recht und unrecht ist, und das Herz hat, seinen Willen durchzusetzen, wenn's ihm auch schwer wird? Und schwer wird's ihm, das spür' ich an mir selber. Ach – es wäre wohl herrlich, dürfte ich seine Braut sein – und das ist nun auf lange, lange vorbei, vielleicht auf immer; – aber er läßt ja doch nicht von mir, das ist mir gewiß, und wenn ich ihm auch Treue bewahre – vor Gott gelob' ich's, mich soll nichts irre machen – so gehören wir doch zusammen, wenn wir auch vor der Welt getrennt sind!« Ein Finkenhähnchen flatterte vor ihren Füßen auf dem Boden, bewegte das Köpfchen hin und her und sah ihr mit den schwarzen funkelnden Äuglein klug ins Gesicht, als wollte es sagen: ich verstehe dein Leid und möchte dich so gerne trösten, wenn ich nur könnte. Ein paarmal schien der Vogel näher kommen zu wollen, allein die natürliche Scheu behielt die 172 Oberhand, plötzlich flatterte er auf den Jelängerjelieberbusch in der Gartenecke und schmetterte seinen fröhlichen Schlag zu dem Mädchen nieder. Gerührt blickte Auguste dem zutraulichen Tierchen nach, und während sie seinem Gesang lauschte, flüsterte sie: »Du gut's Dingle, ach könntest du mich verstehen, du würdest nicht so lustig singen!«

»Was ist nur mit dem Mädle?« fragte der Bergbauer kopfschüttelnd, als Auguste, der die halboffene Rosenknospe am Busen so gut stand, sittig der Kirche zuschritt. »Gestern war sie schon niedergeschlagen, und heute gar sieht sie aus wie das bittre Leiden – was ist ihr nur?«

Die Bäuerin, der das Gespräch mit der Tochter gestern abend schwer auf der Seele lag, hätte gern ihrem Herzen Luft gemacht, allein sie wußte, dadurch wäre nur unnützer Streit entstanden, und den wollte sie wenigstens am Sonntagmorgen vermeiden; dazu mochte sie auch Johannes nicht vorgreifen, es war ja immerhin möglich, daß er die Güter doch nahm. Ausweichend sagte sie darum: »Laß sie – geh jetzt, Jörg, es wird bald auf zu läuten hören; bet', daß unser Herrgott alles zum besten lenkt, es ist ein wichtiger Tag heut'.«

Blendend lag der Sonnenschein auf der schneeweißen Tischplatte von Lindenholz und dem blank gescheuerten, mit knirschendem Sand bestreuten Fußboden; durch das offne Fenster wehte aus dem Garten süßer Rosenduft ins Zimmer, von der Kirche klang leiser Orgelton und Gesang herauf, und im 173 Jelängerjelieberbusch schmetterte noch immer der Fink. Der einsamen Bäuerin ward es weich ums Herz; sie nahm das Starkenbuch vom Schränkchen, heute jedoch genügten ihr die gedruckten Gebete nicht, mit feuchten Augen flüsterte sie: »Herr, wie du willst, so schick's mit uns; aber ist's möglich, so wende gnädig das Leid von meinem Kind!« 174

 


 


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