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Bild Theodor Herrmann

Nachwort.

Nun bin ich fertig mit meinen Geschichten und brauche nur noch einmal die Feder ins Tintenfaß zu tauchen, um noch das letzte Wort, das Wort »Ende« zu schreiben. Aber nein, ich will noch ein ganz kleines Weilchen dies Wort aufsparen und für dich zum Schluß das Schönste und Beste aufschreiben, was ich weiß. Ich will dir verraten, wie ich zu diesen Geschichten gekommen bin, und dir auch sagen, wie du es anfangen mußt, um selber solche merkwürdige und wunderbare Geschichten zu erleben. – Und das wird das Allermerkwürdigste und Wunderbarste in dem ganzen Buche sein.

Wenn du jetzt bei mir wärest und wir zwei könnten miteinander einen Spaziergang machen, so wollte ich dich wohl zu all den Orten führen, wo meine Geschichten passiert sind. Ich kenne sie ganz genau, die Stelle am Deiche, wo ich mit dem Schlitten umkippte. Ob der Stein aber noch daliegt, das weiß ich nicht, ich will aber einmal nachsehen, wenn ich daran vorbeikomme. Ganz nahe bei meinem Hause ist die Chaussee, wo von einem Baume das trockene Eichenblatt hernieder auf die Torfstücke fiel, und ich habe es selber fallen sehen und bin mit dem Torfwagen zurückgegangen, und in meiner Stube haben die Kinder mit dem Blatte gespielt, und in meinem eigenen Ofen ist es verbrannt. Ich kann dir noch heute die Insel im Stadtgraben zeigen, worauf das verzauberte Schloß steht. Genau wie auf dem Bilde siehts aus, und die dicken, fetten Ratten hausen noch heute gerade wie damals in den nassen Uferlöchern. Das uralte Haus ist jetzt leider abgebrochen, und eine Fabrik mit tausend verstaubten Fensterscheiben, einem himmelhohen, qualmenden Schornsteine und einer Dampfpfeife, die morgens und abends tutet, daß man sich die Ohren zuhalten muß, ist dort aufgebaut.

Aber alle andern Plätze aus diesen Geschichten sind noch heute zu sehen. – – –

Ja, Geschichten lesen ist schön, zuweilen sogar wunderschön, und es gibt nur eins auf der ganzen Welt, was noch schöner ist, und das ist – Geschichten erleben. Und die Geschichten in diesem Buche habe ich erlebt und freue mich noch heute darüber.

Da denkst du nun gewiß: Ja, der hats gut gehabt! Wenn ich in Bremen wohnte und könnte am Stadtgraben spielen oder auf dem Deiche oder an einem anderen Orte, dann würde ich auch leicht solche Geschichten erleben können, aber ich habe hier keine schönen Spielplätze und kenne keine merkwürdigen alten Häuser und Inseln, und darum passieren mir auch solche Geschichten nicht.

Aber ob du wohl recht hättest, wenn du so dächtest?

Sieh, vor einigen Wochen war ich verreist. Ein paar Tage wohnte ich in einem Hotel in einer fremden Stadt, die ich damals zuerst sah. Mein Zimmerfenster lag gerade der Straße zu. Den ganzen Tag hätte ich am Fenster stehen und auf die Straße gucken mögen. Nach beiden Seiten strömten die Menschen hin und her, und mitten auf der Fahrstraße stand ein Magen, der war mit Kirschen in großen Weidenkörben beladen. Fünf oder sechs Frauen standen drum herum und probierten und handelten und kauften. Ein kleines Mädchen war auch dabei. Es streckte die Arme nach dem Manne, dem die Kirschen gehörten. Der gab ihm eine große Papiertüte voll. Das Mädchen lachte, und seine Augen glänzten. Aber, ich glaube, vor lauter Freude hielt sie die Tüte nicht fest. Diese fiel unter den wagen. Das Mädchen bückte sich, und – in demselben Augenblick zog das Pferd an, und – – oh, was für eine gräßliche Geschichte war das, die ich in der fremden Stadt erlebte, als ich nur für einen Augenblick zum Fenster hinaussah! Die Frauen schrien auf. Das Mädchen wurde in ein Haus getragen. Ein Schutzmann schrieb den Kirschenhändler auf. Wo war die Mutter? was sagte der Vater, als er am Abend vom Geschäft nach Hause kam? Ist das niedliche Mädchen ins Krankenhaus gekommen? – – –

Auf der andern Seite der Straße war ein Schlächterläden. Das kam und ging in einem fort. Ein kleiner Junge trat in den Laden. Er stellte einen Korb auf den Tresen. Im Korbe lag ein Zettel, worauf wohl geschrieben stand, was er holen sollte, und Geld war auch da. Die Schlachterfrau war sehr freundlich zu dem Kleinen. Sie streichelte ihm die Backen und legte ihm ein kleines, ganz weiches Stück Fleisch in den Korb. Er ging fort. – Wer sollte das Fleisch essen? Warum holte er solch kleines Stück? warum solch zartes? War jemand krank zu Hause? Mußte der Doktor kommen? –

Das war ja schon wieder eine Geschichte! Die zweite, die ich in einem kurzen Augenblicke am Fenster erlebte. – Nein, ganz hatte ich sie ja nicht erlebt, aber ich brauchte nur alle Fragen zu beantworten und eine lange Geschichte war fertig. Und diese lange Geschichte erfuhr ich in einer ganz fremden Stadt, wo ich zum erstenmal in meinem Leben war!

Im nächsten Augenblick sah ich einen Arbeiter Vorbeigehen, der hatte sein Arbeitszeug an. Aber es war doch noch lange nicht Feierabend. Warum ging er denn schon so früh nach Hause? Warum eilte er so? Da trat ein Mädchen an ihn heran. Es hatte rote Backen und schwitzte vom schnellen Gehen. Es lachte und erzählte dem Arbeiter etwas. Ja, das war sicher seine Tochter. Sie sah ihm auch ähnlich, was mochte sie ihm erzählt haben? Sicher etwas Fröhliches. War Besuch gekommen? hatte der Storch ein Brüderlein gebracht? hatte der Postbote Geld ausgezahlt?

Denke dir die Antworten aus, und du kannst eine neue Geschichte erzählen.

Aber was war denn da im Nachbarhause? Eine Droschke hielt, ein Mann stieg aus. Der hatte einen breitrandigen Strohhut auf dem Kopfe und besah das ganze Haus von oben bis unten, und als er den Kopf gehoben hatte, sah ich in ein sonnverbranntes Gesicht und in zwei große fragende Augen. Da erklang nebenan eine Hausglocke. Eine junge Frau flog auf den Mann zu. Sie lachte und weinte zu gleicher Zeit, und dann traten sie beide schnell ins Haus, denn die Leute wären sonst stehen geblieben. Der Droschkenkutscher trug einen großen Koffer hinterher. Wer war der sonnverbrannte Mann? Woher kam er? War er in einem fremden Lande gewesen? Was hatte er alles erlebt?

Da hatte mir die fremde Stadt schon wieder eine Geschichte erzählt.

Ein Betrunkener taumelte dahin. Ein blasses Mädchen ging neben ihm. Voll Angst sah sie den Mann an. War das ihr Vater? Warum mochte er so viel getrunken haben? Wie sah es zu Hause aus? Warum war das Kind so ängstlich?

Oh, wieder eine Geschichte! Welch schreckliche Geschichte noch dazu! Aber ich hatte keine Zeit, sie zu Ende zu denken. Musik! Die Soldaten kamen! Gerade unter meinem Fenster zogen sie vorbei. Die Helme blitzten, die Trommeln wirbelten, und die Fahne flatterte. Wie alt und häßlich sah die aus! Ja, wenn die erzählen könnte! Jedes Loch und jeder Fetzen hat seine Geschichte. Es sind lauter Geschichten von Krieg und Pulverdampf und Sieg und Tod.

In der Ferne klingelte die Feuerwehr, wohin mochte die gerufen sein? Wie war dies Feuer ausgekommen? Und dann fuhr ein Krankenwagen vorbei, ein Hund heulte, ein Radfahrer kam geradelt, der hatte ein dickes Blumenbukett an die Lenkstange gebunden usw. usw.

Jeden Augenblick ein neues Bild. Und jedes Bild kann dir eine lange Geschichte erzählen, wenn du dir nur die Mühe machst, alle seine Rätselfragen zu lösen.

Und solche Bilder kannst du allüberall erleben. Stelle dich irgendwo mit geschlossenen Augen auf die Straße, in einen Garten oder in einer Stube hin, öffne nur für eine kurze Sekunde deinen Blick, und du hast den Anfang einer langen Geschichte gesehen.

Tausend Geschichten sind überall um dich herum, ob du in Buxtehude oder auf dem Blocksberge bist, auf dem Lande, auf dem Wasser oder im Ballon hoch oben in der Luft. Geschichten leben überall, wo Menschen leben oder Dinge sind. Du mußt nur Augen dafür haben!

Und nun geh hin auf die Straße oder in die Schule oder in den Garten und laß dir von deinen eigenen Augen Geschichten erzählen. Die werden dann schöner sein als alle Geschichten, die in Büchern stehen. – – –

Und das war das wunderbare und Merkwürdige, was ich dir noch erzählen wollte, und nun ich es getan habe, schreibe ich getrost das Wort

Bild Theodor Herrmann


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