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Bild Theodor Herrmann

8. Was der Vater erzählte, als es draußen
schlechtes Wetter war.

Hört ihr, wie der Sturm um die Mauern saust und die Äste und Zweige der Bäume im Garten schüttelt, so daß sie brechen und zur Erde fallen? Seht ihr, wie die Wolken am Himmel dahinjagen, dicke und schwere Regenwolken? Ach, wo ist unsere liebe, gute Sonne geblieben, die so manchen Tag vom blauen Himmel herunterschien? Versteckt hinter den Regenwolken, die den Himmel verdecken, oder wohl gar schon untergegangen, denn es fängt an zu dämmern.

Und als ihr aus der Schule kamt mit verwehten Haaren, kalten Fingern und nassen Stiefeln, da hieß es: Schnell die Schuhe ausgezogen! Den nassen Mantel aufgehängt! Und dann tratet ihr in die warme Stube und erwärmtet die verklammten Hände. Ja, in der Stube hier ists gemütlich. –

Es dämmert, es dunkelt, und bald kommt die Nacht. Kaum kann einer noch das Gesicht des andern erkennen. Es ist Zeit, die Lampe anzuzünden.

Da öffnet der Vater, der im Lehnstuhl am Ofen sitzt und schweigend seine Pfeife geraucht hat, die Ofentür, und siehe da: Das Feuer im Ofen kann nicht nur wärmen, es kann auch leuchten, hell fällt der Schein der glühenden Kohlen auf die Zimmerwand, so daß die Kinder sogar das Muster in der Tapete erkennen können. Seht nur, wie unsere alte, breite Kommode glänzt und glitzert, das sieht ja aus, als wäre sie vom Tischler frisch aufpoliert. Fritz sitzt auf der Erde und macht im hellen Feuerschein ein Schattenspiel: Ein niedliches Kaninchen hüpft an der Wand dahin und frißt und macht Männchen. Da läßt der Vater mit seinen Händen ein großes Krokodil auf das Kaninchen losspringen, und es beginnt eine Jagd an der Wand, das Kaninchen springt, und das Krokodil schnappt. Die Kinder lachen und jubeln, bis endlich das Krokodil das Kaninchen aufgefressen hat.

Nun kommt auch die Mutter ins Zimmer und fragt: »Soll ich auch die Lampe bringen?« »Oh nein! Oh nein!« rufen alle, »wir brauchen sie noch nicht.« Auf die Ofenplatte legt die Mutter Äpfel, die fangen bald an zu puffen und zu zischen und setzt sich auch mit in den Kreis um das Feuer.

Da sitzen nun alle, und es ist einen Augenblick ganz still im Zimmer und nichts zu hören als das Ticken der Uhr, das Knistern des Feuers und das Heulen des Windes da draußen. – »Bitte, Vater, eine Geschichte!« sagt Erna, und die andern drei Kinder stimmen ein: »Oh ja! oh ja! Eine Geschichte, Vater! Bitte, erzähl uns eine Geschichte!« – Der Vater im Lehnstuhl hat in die rote Ofenglut gestarrt und blickt nun verloren über die Köpfe seiner Kinder und dann wieder in das Feuer und sagt: »So wie ihr jetzt um mich herumsitzet dicht am Feuer und auf das Heulen des Windes hört und wie die Bratäpfel im Ofen schmoren, so hab auch ich, als ich so alt war wie ihr, oft zu Hause bei meinem Vater gesessen und ihn um eine Geschichte gebeten. Und euer Großvater hatte schon als Kind viel erlebt, und manches, was jetzt in euren Büchern steht aus der Franzosenzeit, hat er mit eignen Augen gesehen und eignen Ohren gehört. Und Großmutter, die dann mit ihrem Spinnrade dabeisaß, hat oft mit dem Kopf genickt und ab und an ein Wort dazwischen geworfen und sich gefreut, daß die schreckliche Zeit vorüber war. Ja, das waren die schönsten Stunden, die ich als Kind erlebt habe, die Stunden, in denen der Vater aus alten Zeiten, und wie es draußen in der Welt aussah, erzählte. Sonst bin ich auch nur einsam aufgewachsen, und ihr wißt ja schon, daß das Haus der Großeltern weitab von allen Menschen mitten in einer einsamen Heide lag. Und quer durch die Heide schlängelte sich ein breiter, sandiger Weg mit tief ausgefahrenen Wagenspuren. An dem Wege hat unser Haus gelegen, und dicht vor der Haustür hat eine dicke, weiße Birke gestanden, die das ganze Dach überragte und im Sommer den Weg beschattete. Und selten kam ich von Hause fort. Ich war ganz allein und hatte keine Spielgefährten. Nur in der Schule bekam ich fremde Kinder zu sehen. Und der Schulweg war lang und einsam, zwei Stunden brauchte ich und mußte ihn zum größten Teile allein machen. Nur im Winter, wenn der Schnee zu hoch lag oder der scharfe Ostwind zu eisig über die kahle Heide blies, brachte der Vater mich im Wagen oder Schlitten hin.

Aber so einsam es auch bei uns zu Hause war, langweilig war es nie. Unter der Birke saß ich und spielte auf der Handharmonika oder schnitzte mir ein Vogelbauer oder schälte Kartoffeln für die Mutter. In die Heide lief ich, um Vögel zu fangen, die Schafe zu hüten, dem Vater Essen hinauszubringen, um Holz oder Torf zu holen.

Aber das wurde alles anders, als ich konfirmiert war und in die Stadt sollte, um ein Geschäft zu lernen.

Es war ein trüber, nebliger Herbstmorgen, als euer Großvater den Ackerwagen aus unserer Scheune zog und zwei dicke Strohsäcke und meinen schweren Holzkoffer mit dem starken Vorhängeschloß darauf packte. Einen dicken Wollschal um den Hals gebunden, war ich aufgestiegen, und die Mutter stand in der Haustür und wischte sich mit der Schürze die Augen und winkte mit der Hand und rief einmal über das andere: ›Adieu! Adieu Johannes! Bleib brav und gut!‹ – Und ich saß gedrückt und traurig auf dem Strohsack und hatte gar keine Freude an der Reise.

Endlich war alles fertig, auch der Vater stieg auf. ›Adieu Johannes!‹ rief die Mutter mir nach, schwer lag der Nebel über der weiten Heide, und die Birke, meine liebe Birke, unter der ich so manches Mal gespielt hatte, bewegte ihre Zweige und schüttete eine Flut kleiner, trockener, gelber Blätter über mich. Ja, es war die Zeit des Blätterfalls, und der Vater rief: ›Hüh!‹ und der Gaul, unsere alte, gute Braune, die nie schlug oder biß oder durchging, zog langsam an, und der Wagen rumpelte und pumpelte durch den Nebel auf dem schlechten Wege dahin. Immer wieder drehte ich mich um, immer undeutlicher wurden Haus und Baum. Ach Gott! Jetzt ging es in die weite Welt hinaus! – Neben mir auf dem Strohsacke lag ein kleines, gelbes Blatt. Das war noch eins von den Blättern meiner Birke. Ich steckte es als Andenken an die Heimat in meine Brieftasche.

Nach fünf Stunden kamen wir in die Stadt. Die vielen Menschen! Die schönen Häuser! Meine neue Stelle! Meine viele Arbeit! Die Augen schmerzten mir vom vielen Sehen, das Herz tat mir weh vor Heimweh. Aber mein Lehrherr, der alte Kaufmann Müller, war streng und ließ mir keine Zeit zum Grübeln, und es war ein langer Tag, den ich hinter dem Tresen und im Packraum zubringen mußte. Aber des Abends, wenn ich zu Bett gehen sollte und in meine Kammer kam und sah in der Ecke den Koffer stehen, dann packte mich das Heimweh so stark, daß ich vor Schmerz und Kummer meinte vergehen zu müssen, und dann, wenn mich niemand sah, nahm ich die Brieftasche heraus und besah das kleine, gelbe Birkenblatt, das Andenken an die Heimat, und ich sah wieder das Elternhaus vor mir. Ich hörte den Wind in den Zweigen rauschen und sah den Vater mit der Mutter am Feuer sitzen. Ob sie an mich dachten? Ob sie von mir sprachen? – Ich saß auf meinem Koffer und hielt das Blatt in der Hand und sann und träumte von daheim, bis der Lichtstumpf herabgebrannt war und plötzlich verlöschte. Dann schreckte ich auf aus meinen Träumereien und verschloß im Dunkeln wieder den Koffer und ging zu Bett und vergrub meinen Kopf in die Kissen, bis ich endlich mit nassen Augen einschlief. – – –

Die Tage gingen hin und die Monate und die Jahre auch. Und dann hatte ich ausgelernt. Und eines Abends saß ich mit heißem Kopfe auf meiner Kammer und packte den Koffer und legte ein paar Geschenke für die Eltern hinein und hielt in meiner Hand das trockene Blatt von unserer Birke, und wieder kam die Erinnerung an die Heimat und machte mir das Herz heiß, und vor Ungeduld und Erwartung konnte ich nicht schlafen. Und am andern Morgen fuhr ich zurück und weinte und lachte vor Freude. – Die Mutter war runzliger und der Vater weißer geworden. Und ich mußte erzählen, wie es mir ergangen war, und zeigte der Mutter das Birkenblatt in meiner Brieftasche, und die Zweige unserer Birke sahen durchs Fenster und winkten und nickten, als freuten sie sich, daß ich ihr Geschenk so treu bewahrt. Acht Tage war ich im Elternhaus. Alle altbekannten Plätze suchte ich auf. Und dann kam wieder ein Abschied.

Noch weiter gings hinaus in die Welt: Über das große Wasser bis nach Amerika! Ach, das war eine andere Reise als damals in die Stadt. Und auf der langen Fahrt und während der ganzen Zeit im fernen Lande, war als Andenken an zu Hause das Birkenblatt bei mir. Als mich das Fieber schüttelte und ich wochenlang krank und verlassen war, hat es mich getröstet, über manche traurige Stunde hat es mir hinweggeholfen, und in mancher fröhlichen habe ich es hervorgeholt und mit frohem Herzen an daheim gedacht.

Und dann kam eines Tages ein Brief, ein Brief mit schwarzem Rande. Euer Großvater war gestorben, und Großmutter stand nun ganz allein. Und ich konnte nicht kommen, ich konnte nicht einmal meinem toten Vater das Geleite geben. Ich saß und hielt das kleine, trockne Birkenblatt in den Händen und weinte um den Gestorbenen und um die Mutter, die nun ganz einsam geworden war. – –

Und Jahre gingen hin, und endlich konnte ich zurück. Und wieder packte ich den Koffer und packte manches teure Andenken an Amerika mit hinein und gar manchen harten, sauerverdienten Taler und reiste zurück. Und an meinem Herzen in der Brieftasche reiste das trockne Birkenblatt mit zurück.

Und als ich ankam im Heimatshafen, wurde mir wieder ein Brief gebracht, und in dem Briefe stand viel Unglück: Das einsame Haus in der Heide war abgebrannt schon vor vielen Wochen, und meine alte gebrechliche Mutter hatte sich nicht vor den Flammen retten können. – – –

So rasch ich konnte, eilte ich hin. Ein Schutthaufen ragte, wo ich so manches Jahr gelebt hatte. Nun war alles kahl geworden. Auch meine Birke war nicht von den gierigen Flammen verschont geblieben. Ein verkohlter Stumpf war allein von ihr übrig geblieben. – Und weit weg auf dem einsamen Kirchhofe ruhten Vater und Mutter in der kühlen Erde.« – – – – – – – – –

Der Vater schwieg, und die Kinder schmiegten sich an ihn. Und dann nahm der Vater aus einer alten, unmodernen Ledertasche mit Perlenstickerei ein Stück Papier, worauf ein trocknes Blatt geklebt war, und zeigte es den Kindern im Schein des Feuers und sagte: »Seht, Kinder, das ist es.« Und die Kinder betrachteten es sinnend, und keins sprach ein Wort. – – –

Und dann brachte die Mutter die Lampe.

Bild Theodor Herrmann


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