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Bild Theodor Herrmann

1. Mit Schlitten am Deich.

Kennt ihr den Deich, der sich stundenlang am Flusse dahinzieht? Kennt ihr die Werder, die saftigen, grünen Viehweiden, auf denen den ganzen Sommer hindurch Tag und Nacht die Rinder grasen? – Ach, wer das alles nicht kennt, der weiß auch nicht, wie herrlich man am Deiche und auf einem Werder spielen kann.

An schönen, warmen Sommertagen liefen wir oft barfuß ins Wasser und suchten uns platte, runde Kieselsteine, um sie in den Fluß zu schnellen, oder wir ließen Schiffe aus Zigarrenkisten schwimmen, richtige Segelschiffe mit zwei Masten, die auf den Wellen schaukelten und die der Wind mitunter ganz über den breiten Strom führte oder gar mitnahm in die See und noch weiter, vielleicht bis nach Amerika.

Das schönste Vergnügen aber hatten wir im Winter, wenn es tüchtig geschneit hatte. Dann zogen alle mit Schlitten nach dem Deiche und sausten jauchzend um die Wette die schrägen Seiten hinab, mitunter bis dicht an das Wasser. Dann wurden spiegelglatte Glitschen gemacht, so lang, daß man kaum das Ende sehen konnte, und auf den überschwemmten Wiesen war die schönste Schlittschuhbahn, die man sich nur denken konnte.

Schon drei Nächte lang hatte es stark gefroren, das Eis mußte fest genug sein. Dazu war seit heute morgen Schnee gefallen. Den ganzen Tag lang waren die kleinen weißen Wintervögel ohne Aufhören vom Himmel herabgeflattert. Als wir am Nachmittage aus der Schule kamen, wurden wir unterwegs weiß wie Schneemänner.

Ich ließ mir kaum Zeit zum Kaffeetrinken. Mit dem Butterbrote in der Hand lief ich hinaus, um am Deiche dem Schlittenfahren zuzusehen.

Alle Jungens hatten Schlitten, nur ich nicht, vielleicht daß ich zu Weihnachten einen bekam? – – –

Es hatte zu schneien aufgehört. Auf dem überschwemmten Werder war eine Bahn gefegt. Ich konnte vom Deich aus das Jubeln und Lachen der Läufer und das Schrammen und Klingen der Eisen auf dem harten Eise hören.

Ein Schlitten, mit einem Schimmel bespannt, klingelte vorüber. Ach, wie sah das schön aus: das weiße Pferd, der weiße Schnee, die weißen Pelze und die rotlackierten Sitze. Wenn ich doch auch so in Pelze eingehüllt dahinjagen könnte! Ja, das mußte schön sein, aber noch lieber hätte ich einen kleinen Handschlitten gehabt wie die andern. Einmal hatte ich mir selbst einen aus einer Kiste zurecht gezimmert, aber er war gleich wieder zerbrochen.

Mit den Händen in den Hosentaschen stand ich frierend da und mußte zusehen, wie die andern Jungens vergnügt den Deich hinabrutschten. Alle stellten sich in einer Reihe auf, einer kommandierte, und dann flogen alle Schlitten den Abhang hinunter bis weit auf das Eis. Wer sich mit dem Fuße den kräftigsten Stoß gegeben hatte, wer zuerst unten ankam, wer am weitesten über das Eis flog, der hatte gewonnen. – Ach, wenn ich doch auch mitspielen könnte! Aber ich hatte ja keinen Schlitten! Alles könnte der Weihnachtsmann behalten, wenn er mir doch nur einen Schlitten bringen wollte!

Da kamen zwei Jungens den Deich herauf. Lässig zogen sie ihre Schlitten hinter sich her. Die wußten wohl gar nicht, wie schön es ist, wenn man Schlittenfahren kann. »Ich geh da hinten hin und glitsche,« sagte der eine zum andern. Ich kannte sie alle beide nicht. »Oh, ich gehe mit!« rief der andere, »ich habe auch keine Lust mehr, immer wieder den Deich hinaufzuklettern. Aber wo lassen wir unsere Schlitten?« – »Soll ich sie euch bewahren?« fragte ich schnell und trat auf die beiden zu. »Ja,« sagte der eine, »das kannst du tun, mußt aber fein aufpassen, daß keiner wegkommt!« Oh, das wollte ich wohl! Schüchtern fragte ich, ob ich auch mal auf einem ein bißchen fahren dürfte. Prüfend sahen mich beide an. »Ja,« sagte dann der andere, »aber wenn du einen verlierst, oder wenn einer gestohlen wird, dann –« Er machte eine Faust und lief mit seinem Kameraden davon.

Oh nein! ich wollte schon gut achtgeben! Den einen band ich an den Baum, ganz fest, daß ihn niemand losbinden konnte. Dann legte ich mich der Länge nach auf den anderen, stieß tüchtig mit dem Fuße ab, und – erst langsam, dann immer schneller und schneller flog er die glatte Bahn hinab. Er schien gar nicht halten zu wollen. Bis weit auf das Eis hinaus rutschte er und nahm einen ganz anderen Weg als die übrigen.

Plötzlich gab es einen Ruck, ich bekam einen Stoß, und lachend flog ich in den dicksten Schnee, wie sah ich aus! Es war nur gut, daß Mutter mich jetzt nicht sehen konnte. Aber es hatte doch Spaß gemacht. Schnell wieder den Deich hinauf. – Aber was war das? – Da fehlte ja vorn am Schlitten eine der eisernen Spitzen! Erschrocken suchte ich herum. Richtig, da lag das handgroße Stück Eisen im Schnee dicht bei dem Steine, an welchen der Schlitten geprallt war. –

Was nun? – Oh weh, das war eine böse Geschichte! – Den Schlitten stehen lassen und davon laufen? Nein, das wäre schuftig gewesen! Wenigstens mußte ich ihn dahin bringen, wo ich ihn erhalten hatte.

Da stand ich nun auf dem Deiche und hielt die abgestoßene Ecke in der Hand und überlegte, was ich beginnen sollte. – Da fiel mir auf einmal etwas ein. Sicher wußte der Vater Rat. So rasch es ging, zog ich den Schlitten nach Hause und erzählte, was geschehen war, ohne zu verraten, daß das Eisenstück durch meine Schuld abgestoßen war. »Ja, mein Junge! Das ist leider Gußeisen, das kann nicht geschmiedet werden. Damit ist nichts zu machen,« sagte der Vater kopfschüttelnd.

Nun war ich ganz ratlos und stand lange Zeit vor unserm Hause und probierte immer wieder, wie es gesessen hatte, und überlegte, auf welche Weise das abgebrochene Stück wieder zu befestigen wäre. Aber wenn selbst der Vater keinen Rat wußte. – –

Es blieb mir doch nichts anderes übrig, als den Schlitten wieder an seinen Platz zu bringen. Als ich ankam, wo ich ihn erhalten hatte, rief jemand: »Kurt! Kurt! komm hier her! Dein Schlitten ist wieder da!« In vollem Laufe kam eine ganze Schar von Knaben auf mich zu, und der, dem der Schlitten gehörte, fragte böse: »Wo bist du gewesen?« – »Ich, ich, war in meinem – Hause,« stotterte ich. –

»Son Dieb!« rief er mir zu. »Fragt, ob er auf unsere Schlitten achten soll, und dann bindet er den einen an einen Baum und kümmert sich nicht drum und fährt mit dem andern nach Hause, um ihn zu behalten. – Das sollst du büßen!«

Sich zur Erde bückend machte er einen Schneeball, und ehe ich wußte, was geschah, und ehe ich sprechen konnte, flogen von allen Seiten wohlgezielte Bälle auf mich zu, gegen die ich mich nicht wehren konnte.

Ich stolperte, ließ das Stück Eisen fallen und lief davon, plötzlich spürte ich einen scharfen Schmerz am Hinterkopf. Blitze zuckten durch die Luft, in meinen Ohren rauschte und donnerte es, die Stimmen wurden leiser und immer leiser – und dann sank ich in den Schnee und wußte von nichts mehr. – – –

* * *

Bunte Blumen in der Bettdecke, bunte Blumen auf der Fensterbank. Und vor dem Bette steht der Vater, der lacht über das ganze Gesicht und streicht mir das Haar aus der Stirn, und die Mutter tritt in die Kammer, und der Vater winkt ihr mit der Hand, und beide stehen am Bett und nicken mir zu, und die Mutter weint. – –

Ja, träume ich denn das alles oder ist es wirklich so? – Ein Wagen rollt und hält draußen, die Haustürglocke klingelt. Der Vater geht hinaus und kommt mit einem Herrn herein, der eine goldne Brille trägt und lacht und mir die Hand gibt und sagt: »Endlich!« – – –

Jetzt merke ich erst, daß ich eine Binde um den Kopf trage, die nun von dem Arzte abgenommen wird. Es schmerzt stark, Haare werden abgeschnitten. Der Doktor räuspert sich und sagt: »Es wird besser.« – Ach, ich bin so müde geworden, ich liege und schlafe ein.

Und nach vierzehn Tagen kann der Verband fortbleiben, und der Arzt klebt ein Pflaster auf die Wunde, und ich darf auf dem Sofa sitzen und ein wenig in der Stube herumgehen. –

Und nach acht Tagen ist Weihnachten! Der heilige Abend ist da, und der Vater trägt mich auf dem Arme in die gute Stube. Da brennt der Baum, da glitzert alles, die Augen tun mir weh davon – und unterm Baum? – Da steht ein Schlitten, ein prachtvoller Schlitten mit Eisen so glatt wie Schlittschuhe. – »Ein Schlitten! Ein Schlitten!« juble ich und besehe ihn von allen Seiten und nehme ihn auf die Arme und wäre am liebsten mit ihm hinaus gelaufen.

Aber draußen ist Tauwetter, und ich muß warten. Und endlich! Endlich gibts neuen Schnee, und ich darf hinaus an den Deich und fahre hinunter, immer wieder und immer wieder und juble und lache. Und als ich nach Hause komme, habe ich rote Backen, und die Mutter freut sich darüber, und ich bin glücklich und weiß nichts mehr von Krankheit, aber – die Narbe habe ich noch heute.

Bild Theodor Herrmann


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