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Die Einzelmännchen

Es war einmal beim Christbaumschlagen.

Der Herr des Schlosses und Gutes, der Eigner all der unermeßlichen Waldungen, die Berg und Tal, so weit man sah, überdeckten, war ein frohherziger und hochherziger Mann. Er hatte das reiche ungepflegte Erbe lachend angetreten, und lachend ließ er anderen ihr Teil. Freilich in Reihe und Ordnung, nicht in Verwilderung. Zwei Reisigtage gab er den armen Leuten jede Woche. Und jedes Jahr gab er den Jungen der ersten Dorfschulklasse, den elf- bis vierzehnjährigen Jungen, einen Nachmittag im Dezember drei Stunden frei zum Christbaumschlagen. Möchten die dicken, dichten Bestände nur gelüftet werden! Der wilde, schöne Wald hatte sich selbst immer wieder angesät. Da wuchs Jungholz wie Gras. Die Leute waren arm. Und in den nahen Städten hatte die Christbaummode eben angefangen.

Damals spielte nämlich das Märchen.

Und Richard und Rainer und Heinz und Kurt und noch zwanzig andere waren heute hinausgezogen ins glitzernde, blendende, bläulich verdämmernde Weiß des schneebelasteten Bergwaldes hinein, die große Straße hin, dann die Schneise hinauf zur Höhe. Sie hatten ihre Aexte mit, ihre Taue, um die Bäume und Bäumlein zu Lasten zusammengebunden zu Tal zu schleifen. Der Platz da oben war ihnen diesmal angewiesen, das meilenweite Revier der Blaukopfkuppe, einer der weitschauendsten im alttiefen Waldgebirge.

Und nicht lange, da tönte ihr Rufen und Lachen und der Schlag ihrer scharfen Aexte schallend, widerhallend, nur vom spinnwebzarten, glasklaren Sang eines Wintervögleins – trotz allen Lärmens hörbar – begleitet, durch den kirchenstillen Wald.

Sie hielten sich alle zusammen, halfen einander, schlugen zu zweien gemeinsam ihre Bäume und Bäumchen, taten die geschlagenen in eins, schnürten große Packen, die je vier zu Tal zogen, brachten das Gemeinsame auf gemeinsamen Wagen, dran alle gemeinsam zogen oder schoben, auf den Christmarkt der Stadt, teilten den gemeinsamen Erlös – jeder gleichviel! – So war's schön! So war's immer gewesen seit den frohen Jahren des neuen Herrn.

Einer hatte sich's aber diesmal anders ersonnen. Den einen hatte es, seit er beim Schlagen mittun durfte, heimlich gewurmt, daß er, der der kräftigste und fleißigste war und dem's doppelt darauf ankam, zu verdienen, zehnfach so viel schaffte als die anderen, und daß es dann doch aufs Gemeinsame ging.

Der blonde Volkert war's, ein schlanker, starker, mächtig tüchtiger Junge. Dem saß eine Arbeitslust, ein Vorwärtswollen im Blut, wie keinem anderen. Er hatte eine zarte Mutter, viele Geschwister, keinen Vater mehr.

Es war sein Stolz und Glück, daß er der Mutter so viel verdienen half. Er war schon ein geschickter Handwerker, lernte und guckte sich dazu ab, was er konnte, tat keinen Handgriff ohne Besinnen, faßte jedes Ding am richtigen Ende mit rechter Kraft an und nützte jede Minute. Er sparte schon für die Kleinen, sorgte mit der Mutter zusammen, daß es die Kinder gut hatten und anderen nicht nachstanden.

Beim Christbaumschlagen hatte er in den letzten Jahren immer die Hälfte der gesamten Arbeit getan. Diesmal war er zum letzten Male dabei. Er war schon vierzehn. Und da war's ihm, als müßte er diesmal alle Kraft zusammennehmen, um den Geschwistern noch etwas zusammenzubringen. Mächtig hatte es ihn in der Erinnerung seit Wochen geärgert, wie die Jungen im vorigen Jahr gelacht und geschneeballt, getändelt und getrödelt hatten, wie die Stunden des Fleißes ihnen mindestens zur Hälfte Spiel und Fest gewesen, wieviel von ihnen versäumt worden war. Ihm war's auf jede Minute angekommen. Er hatte geschafft und geschafft. Und seine Kraft war auch überwiegend gewesen. Keine Axt flog so schnell und sicher ins Holz. Kein Junge schleppte so große Bäume und so schnell und so weit. Er meinte, mindestens die Hälfte des Ganzen habe er allein getan. Und in zwanzig gleiche Teile war dann der Erlös gegangen!

Nein, das sollte diesmal anders sein!

Volkert schlug heute allein und aus eigene Rechnung. Die anderen hatten ihn ausgelacht, als er sie zu schärferem Arbeiten angespornt. Da hatte es Streit gegeben, viel Püffe, Grollen und Drohen. Er hatte es durchblicken lassen: »Ohne mich könnt ihr doch nicht fertig werden! Werdet schon sehen!« Da hatten sie aber nur um so lustiger gelacht.

Und nun schlugen sie alle zusammen auf einer Holzhalde, und Volkert schlug für sich allein ganz auf einem anderen Fleck, so weit vom ersten, daß er vom Lachen und Rufen der Kameraden keinen Ton mehr hörte. Er jauchzte, daß er allein war. Er konnte schweigen und arbeiten, sich einmal ausarbeiten nach Herzenslust. Mit scharfem Blick musterte er den Wald, um die größten der vom Waldwart mit einem Axthieb bezeichneten Bäume zu erspähen. Er suchte und schlug, schlug und suchte. Drei Bäume, fünfzehn- bis zwanzigjährige Tannen und Fichten seiner eigenen Größe, die rechten Christbäume für Säle und Kirchen und die Häuser der Reichen, hatte er nun gefällt. Auf fünfzig wollte er's bringen. Was er heute nicht zu Tal brachte, wollte er morgen holen.

Da gab es aber einen Aufenthalt im rüstigen Schaffen.

Was war das?

Nein, so dumm! So dumm! – –

Blieb da im Knorz eines Tannenstammes plötzlich Volkerts Axt stecken! Stak und war nicht vom Fleck zu bewegen, stak, als wäre diese dumme Stammverdickung selbst von Eisen und hätte sich mit der eisernen Axt in eins verschmolzen! Vorsichtig, mit gesammelter Kraft, dann ärgerlich, wütend, unruhig versuchte der Junge, die Axt herauszuziehen. Das mußte er doch erzwingen!

Aber er erzwang es nicht! Die Axt war wie verzaubert. Er brachte Viertelstunden, nein schließlich Stunden zu mit nutzlosem Mühen. Der schneekalte Boden brannte ihm wie Feuer unter seinen Füßen. Er hatte ja keine Zeit zu verlieren! Der Nachmittag kam, die Dämmerung brach bald an.

Da setzte sich der große, stolze Volkert schließlich ganz kleinlaut, ganz gebrochen, schluchzend wie ein hilfloses Mädchen in die Nähe der Unheilstätte auf einen moosüberwachsenen Stein. Er gab sich ganz seinem Schmerze hin. Sollte er jetzt zu den anderen gehen, sollte er die bitten, seine Axt zu befreien, oder sollte er sie gar bitten, ihn wieder unter sich einzustellen, sollte er sich so demütigen? Nein, wenigstens noch einmal ein Zusammenraffen aller Kraft! – Einen letzten Versuch! Er riß sich auf aus seiner kläglichen Stellung, wollte aufspringen. –

Da blieb sein Blick am putzigsten und jämmerlichsten Anblick haften, den er je gehabt. Er guckte, guckte, groß, immer größer, glaubte seinen Augen nicht zu trauen.

Da vor ihm, auch auf einem Stein, nur auf einem viel kleineren, hockte ebenfalls eine nur puppenwinzige Gestalt, ein zittriges Greislein, im moosfahlen, verschabten Wams, mit flechtenfahlem, zerzaustem Bart und wirrem Schopf, das winzige, runzlige, zwerghaft verhutzelte Gesicht eitel Uebellaune, Verbitterung, Mißmut. Ja, Tränen um Tränen perlten aus den stecknadelgroßen eisblauen Augen, und unter Schluchzen hob sich ein rauhes, rostiges Sümmchen:

»Weil ich dich weinen seh', großer Mensch, muß ich auch weinen. Du hast recht, daß du weinst. Ach, elend, elend, langweilig, ekelhaft ist die Welt!« –

Volkert sprang mit federndem Sprunge auf, all sein Leid vergessend. Er reckte sich hoch und breit –

»Nun aber!« rief er wieder ganz frisch. – »So schlimm ist's doch wirklich nicht. Fehlt dir was, darf ich helfen, sage mir's. Wimmern und Weinen kann ich nicht leiden.«

Das Männchen flennte nur mit quietschendem Stimmchen: »Du weinst ja doch selber –!«

»Ja, ich! –«

Das war ja doch etwas ganz anderes! Volkert erzählte dem Kleinen in kurzen kräftigen Bubenworten, was ihm geschehen sei und wie wütend er sich eben geärgert habe. Und während er erzählte und das greise Männchen ihn so eigen ansah, blitzte ihm ein Gedanke auf. Eine Erinnerung an Großmuttermärchen, an gütiges, winziges Helfervolk, an Zwerg und Heimchen und Heinzelmännchen.

»Bist du etwa gar eins? Ein Heinzelmännchen?« rief er, seine Rede unterbrechend, lustdurchzuckt auf. – »Kannst du etwa helfen? Ihr könnt's ja und sollt ja Wunder vollbringen, ihr winziges Volk.«

Das Hutzelchen sah ihn trauervoll an, senkte dann den Blick, ließ das Köpfchen beschämt und schwermutvoll baumeln. Und das Weinen ging wieder los.

»Heinzelmännchen gibt's ja nicht mehr,« sagte sein Klimperstimmchen. »Wir sind nur noch ›Einzelmännchen‹ und heißen jetzt auch so. Hundert Jahre ist es jetzt gerade her« – –

Ein erneutes, piepsendes Schluchzen packte das Männchen. Und es erzählte, erzählte. Etwas Langes und Breites von Ehrgeiz und Neid und Groll, die unter dem Völkchen der Emsigen, Heiteren, Hilfreichen, Listigen einst ausgebrochen wäre. Ein paar hatten angefangen und sich überlegt, sie wollten Ehre und Lohn und Lob für ihr Tun allein haben. Sie täten mehr als die anderen, viel mehr. Unter den Hunderten, die des Müllers vollen Sack die Treppe herabschleppten, unter den Tausenden, die gemeinsam, unsichtbar der Witwe nachts das Korn schnitten, das Garn webten, das Hüttchen blank hielten, seien sie eigentlich die einzigen Fleißigen und Tüchtigen, sie seien die Hauptsache. Als einer und der andere so anfing, dachte jeder so. Jeder wollte allein einmal zeigen, wer er sei. Und da ging Lust und Liebe, Witz und Schabernack, Kraft und Kunst flöten.

Ja flöten! – Jedes Einzelmännchen hauste ganz allein, und allein konnte so ein Kleiner eben doch nichts! Das hatten sie kläglich eingesehen. Vertrauert, verkommen, fast ausgestorben war ihr heiteres Geschlecht.

»Im ganzen Umkreis wohne ich hier nur noch allein!« piepste der kleine heulende Wicht.

»Wenn wir Tausende wären wie früher und ein leiser Pfiff uns alle von fern und nah sofort zusammenbrächte, könnten wir dir die Axt im Nu herausziehen. – Ich kann's nicht! Ich kann's nicht!« Weinend und wimmernd wie ein krankes Vögelchen saß der kleine Mann.

Und wie ein Vögelchen, lautlos huschend, verflüchtigte er sich plötzlich im schneestiebenden Busch. – –

 

Volkert hat sich ein halbes Stündchen später mit einem lustigen, ehrlichen Lachen, einem freimütigen Reuegesicht wieder bei seinen Gefährten eingestellt. Sie möchten ihn nur wieder ausnehmen! Allein sei's halt doch nichts! Ein paar von ihnen liefen auf seine Bitte gleich mit ihm zurück, und sie brachten wirklich gemeinsam die Axt aus dem Stamme.

Er erzählte ihnen einmal, viel, viel später, die ganze Geschichte – denselben Tag noch nicht. Oder, ich glaube, er hat sie erst seinen Enkelkindern erzählt, als er ein Großvater war. Jedenfalls kennen sie die Leute in seinem Dorfe alle heutzutage, die traurige Geschichte von dem einsamen, machtlosen Einzelmännchen.


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