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Annele

Ein kleines armes Mädchen hatte keine Eltern; sie mußte von Tür zu Tür betteln gehen, wenn sie Hunger hatte. Und nachts schlief sie auf hartem Stroh in einer Dachkammer bei fremden Leuten. Brachte sie aber kein Geld heim, das sie sich tagsüber erbettelt hatte, so bekam sie noch Schläge und böse Worte. Nun traf sich's aber einst im harten Winter, daß niemand dem armen Annele einen Pfennig geben wollte, so daß der Abend kam und ihr Täschchen noch leer war. Dazu hatte sie Hunger und war müde und vor Kälte erstarrt. Aber nach Hause wagte sie sich noch nicht; sie ging immer weiter von Haus zu Haus, allein die Leute guckten nicht einmal gern zum Fenster hinaus, wenn Annele anpochte, weil ihnen der Schnee auf die Nase fiel.

So kam das Kind bis an die letzten Häuser der Stadt; sie konnte schon die weiten, blinkenden Schneefelder sehen, die vor dem Tore lagen, und darüber hing der Schneehimmel bleigrau herab. Schwarze Vögel hüpften und flogen umher, ganz draußen stand noch ein hohes, graues Haus, dahin wollte Annele gehen. Sie lief nun mit den kleinen starren Füßen auf dem beschneiten Wege fort, aber es war auch gar so kalt; dazu kam der Wind über die weißen Felder geflogen und wedelte das dünne Röckchen und das kleine Halstuch des Kindes hoch empor. Da stand gleich am Weg ein Stein, und weil Annele gar so müde war, so setzte sie sich mit dem Rücken gegen den Wind und wollte ein Weilchen ruhen. Es saß sich auch ganz gut dort, denn bald fühlte Annele die Kälte gar nicht mehr, sie hungerte auch gar nicht und wurde so müde, so müde. Die Flocken schüttelten einander so lustig in der Luft herum und sahen aus wie weiße Federchen, die die Engel droben aus ihrem Bettchen schütteln.

Was müssen doch die Engel für weiße, weiche Bettchen haben, dachte das Kind, wenn sie so viel Federn übrig haben.

Da kam auf einmal eine lange Frau des Weges hergegangen, die hatte ein graues Gewand an, das fiel faltig und weit über ihre ganze Gestalt. Nur über ihren Kopf hatte sie einen hellblauen Schleier geworfen. Als sie bei Annele vorbeikam, blieb sie stehen, nahm die kleine Hand und sagte: »Komm, du kleines Mädchen, geh' mit mir, es sitzt sich hier so kalt mitten im Schnee.«

Annele stand auch auf und ging mit. Da sagte die Frau: »Weißt du auch, wer ich bin?«

»Nein,« sagte Annele.

»Ich bin die Dämmerung,« sagte die Frau. »Darum trage ich ein graues Kleid, wenn ich über die Erde gehe.« Und wie sie gingen, da wurde alles grau, die Felder und die Bäume am Wege und der Himmel. Graue Nebel wogten durch die Luft, und wie ein graues Meer lag die Stadt hinter ihnen. Da kamen sie an das große Haus, wohin Annele gehen wollte; die Dämmerung sagte: »Hier wohne ich,« und ging die Stufen hinauf, die nach der Tür führten.

Husch, husch, husch, flogen eine Wolke Fledermäuse, und eine Menge große graue Motten summten aus den Mauerritzen hervor. Nun gingen die großen Torflügel auf, und wie sie hineintraten, da leuchteten Tausende von grünen Lichtchen die Halle und die Treppe entlang. Aber Annele sah bald, daß es lauter Eulen waren mit blitzenden, grünen Augen, die da wie Soldaten an den Wänden aufmarschiert standen. Oben an der Treppe kauerten ein paar große Uhus, die sahen das fremde Kind ganz verwundert an und schüttelten die grauen Federhauben. Alle Wände und die Treppen waren von grauem Marmor. Nun kamen sie in einen großen Saal, der war mit glänzender Tapete behangen; es sah aus wie gewirktes Gold. An der Decke waren Wolken gemalt, und in der Mitte hing ein großer blasser Stern wie ein Kronleuchter.

»Ist das nicht hübsch?« sagte die Dämmerung. »Ja,« sagte Annele und tippte mit dem Finger an die Tapete. Da purzelten ein paar schwarze Kügelchen herunter, und sie sah nun wohl, daß die ganze schöne Tapete bloß lauter Leuchtwürmchen waren, die dicht beisammen saßen, die hielten vielleicht da ihren Winterschlaf.

»Wer wird alles angreifen,« sagte die Dämmerung und hob schnell die paar Käferchen auf und setzte sie wieder an die Wand.

An jeder Seite des Saales war ein großer Marmorbrunnen mit klarem, silberhellem Wasser gefüllt. Ringsum lagen kleine, hübsche Kinder in dünnen Röckchen und schliefen; sie hatten gläserne Gießkannen in der Hand. Die Kinder, die an dem Brunnen nach Morgen zu lagen, hatten Kränze von Veilchen im Haar, die an dem anderen Brunnen nach Abend zu lagen, trugen Ranken von weißem und lilaem Nachtschatten.

»Du bist wohl recht neugierig,« sagte die Dämmerung, »wer die hübschen Kinder sind? Sieh', in diesem Brunnen ist der Morgentau und in jenem der Abendtau. Gib nur einmal recht gut acht im Sommer, wenn meine Kleinen durch die Luft fliegen und alle Felder und Gärten mit dem Tau aus ihren Gießkannen bespritzen. Wenn du sie auch nicht sehen kannst, so wirst du doch ganz gut ihre Veilchen- und Nachtschattenkränze riechen können.«

»Das da oben ist mein Abendstern, der allereinzige, den mir meine Schwester, die Nacht, von ihren vielen Sternen geschenkt hat. Aber dafür ist er auch der allerschönste. Ist er nicht schön?« – »Ja,« sagte Annele und guckte in die Höhe. Die Dämmerung winkte jetzt einem der Kleinen am Abendtaubrunnen, dieser hatte statt der Gießkanne eine Schale in der Hand. Er tauchte sie in den Brunnen, und die Dämmerung trank sie aus.

»Willst du auch Tau trinken?« sagte die Dämmerung, »du mußt nun fortgehen.« Damit wickelte sie sich recht fest in ihren grauen Mantel ein und fiel auf ein Bett mit blauen Atlaskissen, das gerade unter dem Abendstern stand.

»Summ, summ, summ,« kamen die Motten geflogen und kreisten schwirrend und singend um das Bett. Da kamen die Fledermäuse gehuscht und trieben mit ihren großen Flügeln das Annele zum Saale hinaus, die Treppen hinunter.

»Schuhu, schuhu,« krächzten die beiden alten Uhus an der Treppe. Die ganzen Eulen fingen an zu krächzen und machten ihre grünen Eulenaugen zu, daß Annele nichts sehen konnte und herzlich froh war, als sie an der boshaften Gesellschaft vorbei und glücklich wieder auf der Straße war.

Sie blieb aber nicht lange stehen, denn der Wind blies und heulte ganz grauslich. Sie lief fort, ohne sich umzugucken, und war froh, als sie endlich jemand hinter sich herkommen hörte. Sie dachte erst, es wäre die Dämmerung, die sie wieder in ihr Haus holen wollte. Aber als sie stehen blieb und sich umguckte, da sah sie gleich, daß es eine andere Frau war.

»Was machst denn du hier?« fragte diese, als sie an Annele vorbei wollte.

Annele erzählte, daß sie bei der Dämmerung gewesen war und daß sie die Fledermäuse wieder fortgejagt hätten.

»Komm mit mir und kriech' unter meinen Mantel,« sagte die Frau. »Ich bin die Nacht und kenne die Dämmerung gut, denn sie ist meine Schwester. Früher wohnten wir zusammen mit unserem Bruder, dem Tag, aber seitdem dieser die Sonne geheiratet hat, da gab's stets Streit und Zank. Endlich haben wir uns getrennt. Jeder wohnt für sich und geht allein über die Erde hin. Wenn der Tag mit der Sonne zur Ruhe geht, kommt die Dämmerung hervor aus ihrem grauen Schloß, und wenn sie schläft, wandle ich über die Erde.«

Annele huschelte sich in den schwarzen, warmen Mantelzipfel, den die Nacht über sie geworfen, er war mit einem Goldsaum eingefaßt und flatterte weit hin in der Luft. Wie sie gingen, wurde alles schwarz, das erst grau gewesen war, die Bäume, der Weg, die Felder und der Himmel. Schwarze Schatten senkten sich über die Welt. Annele stieg aber immer höher und höher auf den schwarzen Schattenstufen in die Luft hinauf. »Dort ist mein Haus,« sagte die Nacht, »aber erst muß ich in meinen Garten gehen.«

Nun kamen sie in einen großen Garten, so groß, so groß, wie der ganze Himmel. Da standen goldene Blumen mit silbernen Blättern, die leuchteten wie Sterne. Mitten darunter stand der Mond mit einem silbernen Horne. Der war Wächter im Sternengarten der Nacht und scheuchte die Wolken weg, die gezogen kamen.

Leise, leise wandelte die Nacht durch den weiten Sternenblumengarten, und sie küßte die schönen Blumen auf die blitzenden Kelche, die zitterten vor Wonne, daß die Funken wie Sternschnuppen von ihren Blättern flogen.

Nun kamen sie an einen großen Palast von schwarzem Marmor. Da stiegen sie empor auf einer hohen schwarzen Treppe, die war mit Goldkies bestreut, der stäubte knisternd unter dem rauschenden Gewande der Nacht empor.

Sie traten in eine weite Halle, da hingen Ranken von leuchtenden Sternblumen, die warfen ihr Licht wie klingende Goldwellen in die Luft hinaus. Zwei schöne Knaben lagen auf Blumenbeeten von purpurnen Mohnblumen und weißen Lilien. Der eine hatte schneeweiße Flügel und ein weißes Gewand, der andere hatte schimmernde Schmetterlingsflügel, und seine Kleider waren mit Gold und bunter Seide gestickt.

Die Nacht küßte beide auf die Stirne, und alsbald sprangen sie auf. Die Nacht nahm ein goldenes Gefäß und ein feines Tüchlein und gab es dem Engel mit den weißen Flügeln. »Geh hinaus, Schlaf,« sagte sie, »die Welt harrt auf dich und ist müde. Träufle Balsam in die traurigen Herzen und trockne die Tränen der Betrübten.«

Der Engel nahm die goldene Schale und schwebte davon, und indem er seine weißen Flügel entfaltete, ertönte eine süße Musik, die mit ihm über die stille Erde schwebte. Dann ging die Nacht an ein großes Tor, welches im Hintergrunde der Halle war, schob einen eisernen Riegel zurück, und alsbald entquoll eine bunte, lustige, tanzende Schar der dunkeln Pforte.

»Traum,« sagte die Nacht zu dem Engel mit den Schmetterlingsflügeln, »folge mit deinen Heeren deinem Bruder in die Häuser der Menschen. Zeige jedem, was ihn freut und was er hofft.«

Da flog der bunte Engel davon und hinter ihm drein schwirrten die Traumgestalten. Annele konnte nicht sehen und nicht zählen, so viel waren es.

Es waren aber die drolligsten Dinge darunter, Häuser und Tiere, Kronen und Sterne, Kränze und Kleider, auch schöne Puppen und Zuckerdüten für artige Kinder, und alles hatte Beine und Flügel und floh davon.

»Ist das nicht hübsch?« fragte die Nacht.

»O ja,« sagte Annele, aber dabei fielen ihre Augen zu, denn die Mohnblumen und Lilien rochen gar zu stark.

»Willst du hier ein bißchen schlafen?« fragte die Nacht, »ich will in meinen Sternengarten gehen.«

»Ja,« sagte Annele und legte ihr Köpfchen leise auf das Blumenbett, von dem der Schlaf aufgestanden war.

Da ging die Nacht in ihren Sternengarten hinaus, und Annele wollte schlafen. Aber weil der Schlaf über die Erde flog, da konnte er nicht in Anneles Augen kommen, die lag ganz munter in ihrer bunten, duftenden Blumenwiege und dachte an den anderen Tag, wo sie wieder sollte betteln gehen durch die kalten, windigen Straßen.

»Ich will die Nacht doch bitten,« dachte sie, »daß sie mich hier behält, ich werde gewiß artig sein und recht schön folgen.«

So wartete Annele immer, daß die Nacht wieder hereinkommen sollte, aber die hatte gewiß viel in ihrem Garten zu tun und kam gar nicht wieder.

Da ging Stunde auf Stunde hin, und plötzlich hörte Annele ein fröhliches Lachen und Singen von fern. Sie stand auf und sah die Nacht am Tore stehen, die winkte ihr mit der Hand.

Annele sprang hin, und da sah sie, wie ein kleiner goldener Wagen von fremdartigem Bau, mit acht goldenen Schwänen bespannt, dahergeflogen kam. Zwei schöne, lachende Kinder standen darauf und hielten die Schwäne an rosenroten Bändern. Sie trugen beide rote Florkleider und rote Rosenkränze im Haar.

»Wollt ihr schon fort, ihr wilden Kinder?« fragte die Nacht, und dabei winkte sie traurig mit der Hand und trat in ihre schwarze Pforte zurück.

»Ja,« riefen jauchzend die Kinder, »wir wollen fort, die Menschen sollen aufwachen aus ihrem Schlafe, wir wollen Rosen auf die Erde streuen, sieh nur, unser ganzer Wagen ist voll Rosen.«

Annele drehte sich um und wollte die Nacht bitten, daß sie sie doch in ihrem Palaste behalten sollte, aber in dem Augenblicke flog die dunkle Pforte zu und die Nacht war darin verschwunden.

»Willst du ein bißchen mit uns fahren,« sagte der Knabe, »so steig geschwind in unseren Wagen, denn wir haben keine Zeit zu warten.« Da stieg Annele in den goldenen Wagen, die Kinder zogen an den roten Zügeln, und fort flogen die Schwäne durch die hellen, silbernen Wolken.

»Ich bin der Morgen,« sagte der Knabe. »Und ich bin die Morgenröte,« sagte das Mädchen. »Der Tag ist unser Vater, und die Sonne ist unsere Mutter!« Dabei streuten sie mit vollen Händen ihre Rosen auf die silbernen Wolken, daß sie sich wie mit Purpur färbten, und pfeilschnell fuhr das leichte Gespann dahin.

»Ist das nicht hübsch, so durch die Luft zu fahren?« sagte der Knabe zu Annele.

»Ach ja, herrlich!« rief Annele und warf einen ganzen Rosenstrauß jauchzend in die Luft.

»O weh, Morgenröte!« sagte der Morgen, indem er seine rosige Hand wie geblendet vor die leuchtenden Augen hielt. Da sah Annele auf einmal ein großes goldenes Tor sich öffnen und daraus wallte eine glühende Strahlenfülle hervor. Annele konnte vor lauter Glanz kaum erkennen, daß eine Königin und ein König mit flammenden Kronen und flammenden Gewändern heraustraten.

»Unsere Eltern!« flüsterte Morgenröte. Die Schwäne hielten still. »Leb' wohl, leb' wohl, Annele!« rief der Morgen und die Morgenröte. Annele taumelte von dem goldenen Wagen herunter, dieser fuhr davon. Die glühende Sonne kam näher und näher, feurige Pfeile sprühten aus ihrer Krone, eine flammende Glut wehte vor ihr her. Annele erschrak und wußte nicht, wohin sie fliehen sollte. Ihr Kleidchen fing schon an zu brennen, da machte sie einen tüchtigen Sprung, aber ihr Füßchen glitt aus auf den glatten Wolken, sie fiel hinunter – in ein weiches, warmes Bettchen. Da machte sie erstaunt die Augen auf. Eine alte Frau stand an ihrem Bettchen und sah sie ganz freundlich an.

»Wer bist du?« fragte Annele. »Du bist nicht die Nacht und nicht die Dämmerung, das sehe ich wohl.«

»Nein,« sagte die Frau, »ich bin nicht die Nacht und nicht die Dämmerung. Hast du denn nun ausgeschlafen?«

»Habe ich denn geschlafen?« fragte Annele.

»Ja, seit gestern abend, wo ich dich halberfroren auf dem Chausseestein fand, nicht weit von meinem Hause. Da nahm ich dich mit mir und legte dich ins warme Bett. Da hast du geschlafen bis jetzt,« sagte die Frau.

Annele dachte lange nach, denn sie wußte ja ganz genau, daß sie bei der Dämmerung und bei der Nacht gewesen und mit dem Morgen durch die Wolken gefahren war. Und wir wissen's doch auch, nicht wahr? Dann erzählte Annele alles, was sie seit gestern gesehen hatte, und die alte Frau lachte hell auf, küßte Annele und sagte: »Willst du denn nun hierbleiben nach deiner langen Reise?«

»Ach ja,« sagte Annele, »sind denn keine Fledermäuse da?«

»Die Fledermäuse sind fortgeflogen,« sagte die Frau, »alle fort.«

»Das ist gut!« rief Annele.

Nun sollte Annele bei der alten Frau bleiben, die hatte keine Kinder und sagte, sie hätte dem armen Annele das Leben gerettet.

»Wenn aber der Morgen und die Morgenröte kommen und mich einmal mitnehmen wollen in ihrem Wagen, darf ich denn da mit?« fragte Annele.

»Ja, wenn du recht artig gewesen bist, sollst du mitfahren,« sagte die alte Frau. So blieb das arme Annele bei der reichen Frau und wurde ihr Kind.

Wenn aber der Morgen und die Morgenröte einmal kommen und Annele abholen wollen in ihrem goldenen Wagen, da mag sie es nur bestellen, daß sie auch zu euch kommen sollen, wenn ihr recht artig seid. Wollt ihr dann mitfahren?


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