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Siebente Treppe

Die Flamme einer Kerze, bevor sie auszischt, zieht sich und duckt sich zusammen; richtet sich dann noch einmal hoch auf und steht sekundenlang schön und gerade in glänzender Mandelform. So auch das Leben Ellis.

Und auch dies wäre zu sagen: Manchem, der sich von Unheil verfolgt sah, der unter Schlägen jenes dämonischen Wesens ächzte, das wir Schicksal zu nennen gewöhnt sind, wird es begegnet sein, daß unter der Kette der Peinigungen ein für ihn Freundliches vorbeizog, eine kleine Lichtheit, ein Ereignis zwar solcher Art, daß es an andrer Stelle seines Lebens die weitesten und glückbringende Folgen gehabt haben könnte, in dieser Stunde aber zu nichts mehr dient, als zu zeigen: siehst du, da ist doch was, – und ein wenig Freude zu machen. An einer solchen Verschwenderischkeit scheint das Schicksal sich zu gefallen, indem es die gute Handhabe zum schönsten Erfolg in einem Augenblick bietet, wo sie unsinnig und völlig wertlos bleibt. Und auch so erging es der Elli.

Nämlich – die erste Folge des Ronskyschen Zusammenbruches war eine dramatische Szene der Zimmerwirtin Ellis, welche Bodo vor einiger Zeit aus einer ›kleinen Verlegenheit‹ mit einem halben Hundert Mark geholfen hatte, sich nun, vom Polizeibeamten in Ellis Abwesenheit genügend aufgeklärt, sich aus der betulichen und mütterlichen Klatschfreundin Ellis in die hurtigste der Hyänen verwandelte und Elli vor die Tür setzte. Ohne die geringste rechtliche, aber mit der besten menschlichen Handhabe in Ellis gebrochenem Zustand legte sie ferner auf deren Kleidung und Koffer Beschlag als Pfand für ihren Ronskyschen Wechsel, erlaubte ihr schließlich noch die fünf Tage bis zum nächsten Monatsersten zu bleiben – denn die Miete war wie immer vorausbezahlt –, um sich eine neue Behausung suchen zu können.

Elli befand sich bald darauf, zum Ausgehen gekleidet, im Treppenhaus.

Die Haustür, nur wenige breite Stufen unter Elli, öffnete sich jetzt zu ihrem Glück, und ein Stuhlwagen mit einer alten Frau wurde von einem Manne hereingeschoben. Derselbe half dann der Frau heraus und ihr, die an Stöcken sich kaum alleine bewegen konnte, Stufe um Stufe empor, bei deren jeder die Alte einen schnellen und musternden Blick zur höflich seitwärts gewichenen Elli hinaufblitzen ließ. Bei Elli angelangt, machte sie halt, musterte sie noch einmal von oben bis unten und fragte gradezu, obschon nicht unfreundlich: »Wohl vor die Tür gesetzt, mein Kind?«

Elli, die kaum etwas wahrnahm, bemerkte, daß sie unverständlicherweise einen kleinen Handkoffer trug. (Er war übrigens leer.) Auf die nächste Frage, was denn nun werden solle, fand sie keine Antwort. Ihr schwindelte, und als es wieder klarer um sie wurde, hatte sie ihren Koffer nicht mehr und war dabei, der Alten die Treppe hinaufzuhelfen, die an der andern Seite von dem Mann unterstützt wurde. So kamen sie in die Wohnung hinauf. Bald darauf lag Elli auf einem Sofa in einem Zimmer, das sich von hundert andern, die Elli gesehn hatte, durch nichts unterschied als durch eine gewisse und unergründbare Freundschaftlichkeit des Ausdrucks. Elli war allein, die Alte hatte gesagt, sie habe im Augenblick keine Zeit für sie, Elli solle sich ausruhn.

Das tat sie. Zu liegen war schön, es war still umher, Empfindungen hatte sie keine als die Gliederzufriedenheit des Liegens. Allerlei Gedanken gingen ihr wohl durch den Kopf – so wie einem Rehe durch einen Wald gehn, in den man hineinsieht –, erkennbar, aber nicht zu halten: Wo ihr Scheckbuch sein möge, und wer es genommen haben könnte? Ob Adalbert wohl seiner Frau erzählen würde, daß er sie getroffen habe? Was die Severin für ein sonderbares Gesicht gehabt habe. Und die Frage: ob sie nun eigentlich gesund sei oder nicht, hielt sich länger auf. Sie erinnerte sich, daß Bodo gesagt hatte – irgendwann einmal –, in einem viertel bis halben Jahr könnte sie geheilt sein, leider brachte sie die Zahl der Monate, die seither vergangen waren, nicht zusammen. Der Gedanke, daß sie ihm zu Anfang verschwiegen habe, daß, seit sie ihr Kranksein entdeckt hatte, bereits zwei Wochen vergangen waren, machte ihr noch eine Zeitlang Unbehagen, und über der Anstrengung, die ihr Kopf dabei machte, entschlief sie.

Sie erwachte wieder von einem Lichtschein, fand auf einer, über ein Stück des Sofatisches vor ihr gebreiteten Serviette Essen stehn und nahm etwas davon, mit plötzlichem Hunger und ebenso plötzlichem Widerwillen. Bald darauf kam, von einer Magd unterstützt, an ihren Stöcken die Frau herein, ließ sich in einen Sessel sinken und begann Elli auszufragen.


Diese Frau, die jetzt in den sechziger Jahren stand, hatte ein merkwürdiges Leben hinter sich. Von der Insassin eines Freudenhauses darin geboren, wurde sie zum Beruf ihrer Mutter erzogen, dergestalt daß sie in den ersten zwanzig Lebensjahren es nicht anders wußte, als daß dieser ein Beruf wie jeder andre war. Sie verrichtete ihn einesteils ähnlich wie ein Beamter den seinen, den ihm weniger eigene Wahl als die Umstände zuerteilten, zu dem er keine Anlage mitzubringen brauchte als seinen Verstand, und zu dem er Neigung nicht verspürt; andernteils, ihrem Charakter entsprechend, mit einem gewissen Ernst, ja mit Eifer. Früh begann sie, was sonst keine ihres Standes zu tun pflegt, zu sparen, indem sie ihr Geburtshaus verließ, ihr Gewerbe selbständig ausübte und sich mit einem ähnlich gesinnten Manne zusammentat, der den wenig geehrten Beruf eines Gehülfen beim Abdecker bekleidete, ein ordentlicher Mensch, Sohn eines Scharfrichters, der nicht trank, nicht rauchte, nicht spielte, dem dann leider der Hufschlag eines verendenden Pferdes nach langem Siechtum ein zu frühes Ende bereitete, da er nur dreiundzwanzig Jahre alt wurde. Sie hatte ihn zu Tode gepflegt, beerbte ihn, blieb danach allein, sparte weiter, spielte gleichzeitig mit Maßen in Lotterien, tat eines Tages einen Treffer und kaufte bald darauf das Haus, in dem sie zur Welt gekommen war. Nachdem sie dem Betriebe darin sechs Jahre nicht zum Unwohl der Insassinnen vorgestanden hatte, knüpfte sich eine Verbindung an zwischen ihr und einem regelmäßigen Gast, einem absonderlichen Gesellen, der zur Sekte der Adventisten gehörte, seiner fleischlichen Lüste aber nicht anders Herr werden konnte, als indem er ihnen zuweilen nachgab.

Dieser pflegte die erste Stunde hernach in heftiger Reue, die ihn jedesmal packte, häufig bei ihr zu verbringen, sich und sie anklagend und beschwörend, daß sie dies sündhafte Gewerbe aufgebe. Sie war in der ersten Zeit noch nicht reif, oder ihr Charakter war so, daß eine Umwandlung – die freilich von Anfang in ihm begründet gewesen – sich nur langsam, nur in kräftiger Bewußtheit und Mithülfe ihrer Vernunft vollziehen konnte; jedenfalls pflegte sie ihm die augenscheinliche Notwendigkeit der Einrichtung entgegenzuhalten, der zum Beispiel er selber kaum entraten konnte, sowie die gute Zeit, welche die Mädchen bei ihr hatten, – allein nach und nach gewann der blasse und schmächtige, heftige und schwärmerische Mensch – er war Bankbeamter – Macht über sie. Sie verliebten sich ineinander, ohne es sich zu gestehn, er bewog sie, die Zusammenkünfte seiner Gemeinde zu besuchen, er gab ihr das Neue Testament zu lesen, in einer frühen Morgenstunde vollzog sich ihre Umkehr.

Diese nun machte sie nicht, wie das häufig zu geschehen pflegt, weder weich und schlaff, noch hart und hochmütig, sondern sie blieb der einfache und aufrechte Charakter, der sie war, nur daß sie gläubig wurde; und so wurde sie wahrhaft fromm. Zu dem Mann sagte sie: Er habe ihr zum Glauben verholfen; sie sei bereit, ein andres Leben anzufangen, aber sie fühle sich schwach und unwissend. Wenn es ihm Ernst gewesen sei, das heißt, wenn er wirklich gewußt habe, was er tat, indem er sie auf seine Seite zog, so werde er sich nicht weigern, die Verantwortung auch weiterhin zu tragen und mit ihr zusammen zu gehn; denn anders, sagte sie, tue sie es nicht.

Sie, jetzt eine feste alte Frau in dunklen Kleidern, mit noch schwarzem Haar, starken schwarzen Brauen über gerade, kühl und durchdringend blickenden dunklen Augen, im gerundeten, gelblich weißen Gesicht eine etwas aufgeworfene Nase, sparsam in Worten, sie zeigte Elli eine Photographie aus ihrer Jugend, die keine Schönheit, aber ein Wesen von eher sanfter als ernster Sicherheit zeigte, klugäugig mit schönen Brauen, in offenem Haar, dessen Scheitel vielleicht jenen Ausdruck von Sanftheit betonte. Elli schien es begreiflich, daß jener Mann – seine vergrößerte Photographie über dem Sofa zeigte ein kleines, magres Gesicht, über dessen untere Hälfte ein dunkler, sehr buschiger Schnurrbart, ähnlich dem Nietzsches, herabhing, und mit fast unheimlich blickenden tiefen Augen unter einer rein gewölbten Stirn – nicht Nein sagte. (Fast die ganze Lebensgeschichte teilte die Frau, Ellis Antworten und ihre Fragen unterbrechend, ihr mit.) Sie löste ihr Haus samt dem ganzen Betriebe auf; Beide zogen in eine andre Stadt, nämlich jetzt erst nach Altenrepen, und heirateten. Da auch er nicht unvermögend war, eine Erbschaft dazugewann, konnten sie ein Haus kaufen und sorglos leben. Den Mann trieb es aber zur Betätigung, er trat in die Heilsarmee, begann bald Menschen, denen die Armee eben nicht helfen konnte, zu seiner Frau zu bringen, und so führten sie ein reiches und sorgenvolles Leben der tätigen Hülfe, abseits von bürgerlicher Moral, nur sich als Samariter fühlend und jedem Unglücklichen am Weg zur Hülfe verpflichtet, gleichviel mit welchem Erfolg auf die Dauer. Obwohl sie in seelischer Beziehung weniger erfolgreich sein mochten als in leiblicher, und vielleicht die Mehrzahl der Schicksale, die sie zu heilen versuchten, sich als unheilbar erwiesen, fühlten sie Erfolges genug in den wenigen Fällen des Gelingens und ihr Dasein als erfüllt und gesegnet.

Leider währte es für den Mann nur dreizehn Jahre, seine schwächliche Gesundheit rieb sich auf, er erlag einer Rippenfellentzündung. Die Frau traf einige Jahre später ein Schlaganfall, der ihre untere Hälfte lähmte. Aber sie mochte nicht einsam sein, richtete das Stockwerk, das sie bewohnte, zum Abvermieten ein, und aus den Mietern wurde in Bälde eine Pension, die sie mit Unterstützung einer gut kochenden alten Magd von ihrem Stuhl am Fenster aus leitete.

Und wie es mancherlei Arten von Menschen giebt, die magisch sind für etwas – der Eine für die Geister der Toten, ein Andrer für Geldstücke, die er überall findet, ein Dritter für Menschen, die zu ihm kommen, um zu beichten und sich loszusprechen –, so zeigte sich an ihr eine Magie für eine Art Menschen, die eine zeitweilige Zuflucht brauchten. Irgendwie Unglückliche, heimlich Liebende, ihren Eltern davongelaufene Mädchen, die Sängerin werden wollten, geschiedene oder in Scheidung liegende Frauen und Männer, die bei ihr ihre Liebhaber empfangen konnten, oder von ihnen empfangen werden, und darunter keineswegs die Leichtfertigen – obwohl auch solche sich einschmuggelten –, sondern grad die, die es ernst nahmen mit ihrem Schicksal. So betrieb sie im Sinne des Gesetzes nun das Gewerbe einer Kupplerin. Dies aus der tiefsten Erfahrung ihres Lebens, daß, wer unrecht tut, kaum zu Recht kommt und selber am meisten darunter leidet; woraus sie für sich die Nutzanwendung zog, daß das Unrecht sie gar nichts angehe, daß sie bloß den Bedürftigen das Dasein zu erleichtern habe, soweit sie es vermochte, also indem sie ihnen Freistatt verschaffte. Bald kam, wer kam, zu ihr nur auf Empfehlung Andrer, und es ward mit der Zeit eine Art Gemeinde; denn mit all diesen Leben und Losen, deren erstes Bedürfnis war, von sich zu reden, trat sie in Verbindung, half aus, wo es sich machen ließ, oder genügte gequälten Seelen wenigstens durch Abhören ihrer alltäglichen Aufgabe an Klagen und Beklagungen, wie auch der Elli.


Elli erzählte freilich schlecht. Ihr Gedächtnis war so verblasen wie der Samenkopf einer Löwenzahnblüte vom Atemstoß eines Kindes. Aber die Frau hatte Zeit und Geduld und Erfahrung im Fragen und Schweigen an rechter Stelle. So sammelte sich denn doch alles nach und nach an, zumal aus den letzten Jahren bis zu Adalbert von Tautphöus hinunter, und dies, als das Leidvollere, war ja das Wichtigere. Elli hatte bald das Empfinden dabei, die Wirklichkeit von jedem Gesagten von sich ab und weg zu legen, worauf es entschwand, und längst empfindungslos geworden dafür, entledigte sie sich so ihres Lebens und verlor es aus dem Gedächtnis.

Als Rest in der Hand der alten Frau verblieben am Ende Ellis Sprachenkenntnisse, ihre frühere Tätigkeit als Korrespondentin und ihre Bereitwilligkeit, wieder anzufangen. Aber Elli hatte noch etwas auf dem Herzen, einen Wunsch, ja, einen ganzen festen Plan; die Frau bemerkte es, schon halb im Gehn, blieb noch und fragte, ob sie vielleicht noch ein Anliegen habe. Elli wurde eigentümlich beredt mit Erklärungen. Ja, sie habe eine Bitte; sie müsse eine Reise machen, zu einem Freunde, der ihr sicherlich helfen würde. Es sei ganz notwendig, es sei unmöglich für sie, irgend etwas anzufangen ohne dies vorher. Wenn die Frau ihr die Summe liehe, so würde sie jedenfalls von ihm sie zurückerhalten, oder Elli selbst würde sie von ihrem Gehalt abzahlen.

Die Frau wußte, daß es dies giebt; daß ein Mensch, in einer Stunde, das Gewisse braucht, und ohne das ist sonst nichts. Übrigens hatte sie auf Versicherungen und Versprechen nie etwas gegeben, so daß auch ohne jenes die Verwirklichung von Ellis Bereitschaft für einen neuen Anfang höchst unsicher schien; und schließlich paßte es ihr auch in einem praktischen Sinn. Denn das Zimmer, in das sie Elli gebracht hatte, war – hier die winzige Handhabe des Schicksals! – wie alle andern vermietet und stand nur für ein paar Tage leer, da die Mieterin ihre Ankunft um so viel verschoben hatte. Elli bekam das Geld und fuhr nach Urach.


Nur fast so wie im Traum ist mirs geschehen,
Daß ich in dies geliebte Tal verirrt …

Elli hielt die leise duftenden Zeilen im Schoß wie einen Strauß Primeln, von dem sie nicht mehr wußte, wo sie ihn gekauft hatte, oder ob sie ihn von Jemand geschenkt bekam, auf der Fahrt durch das märzliche, von wechselnder Sonne glänzend überspülte Land, das, von langer, schwerer Last befreit, aufatmete überall und sich dehnte, dem plötzlich wieder hochgewordenen, von leisen und süßen Schichten des Dunstgewölkes grau gestuften Himmel zu. Ach wohltätige Stille der weiten hallenden Leere um das gleichmäßige Rauschen der Fahrt! Von Ackern, deren tiefes Braun noch weiß gestreift war von Schnee, stiegen die schwarzen Krähen auf, grünlich metallen glänzend im Sonnendunst, ihre breiten Flügel schwingend wie schwarze Tücher. Als Elli nach Schwaben hineinrollte, war dort schon der Frühling. O nie erlebt war dies, am Hange von Höhen entlang fahrend, in der Tiefe unendlich ausgerollt die Ebene liegen zu sehn, die in bläulichen Nebeln schwand, und aus der von allen Seiten die Straßen heraneilten, Doppelzeilen der Obstbäume, rosig und weiß, und an der mitziehenden Landstraße unten Baum um Baum einzeln stehen zu sehn in seinen locker gehaltenen Zweigen, die blühten. Und als sie über einem schattenlosen Land voller Straßen die Umrisse des alten Juragebirges erkannte, nicht unfremd ihrem Auge, graue stille Bastionen, übereinandergeschoben, da erbebte ein Herz in ihr, wunderbar getroffen, erkennend das Ewige, geduldig. Wie stand dann im segenatmenden Fruchtland, einsam, wieder fremdartig, einer wandernden Gottheit gleich, ein blühender Baum, zu dem alle Weite umher staunend heranzueilen schien! Und die Kühle des schwebenden Himmels entfaltete sich wie eine unendliche Seele.

Und da war das Tal, grau, ein leichter Wirrwarr von Waldsenkungen, kahlen Bäumen und Tannenhängen, schwarz; von Hecken, einzelnen Obstgärten in Blüte, von zarten, ganz neuen Landhäusern und den gealterten braunen Dächern der kleinen Stadt. Tauben schwebten flatternd um einen altertümlichen Turm; auf hohem Berg lag eine hellgraue Ruine, leicht überflogen von schimmernden blauen und weißen Verwandlungen. Da stand der Zug.

Oh hier nur, hier nur konnte es sein! Alles umher schien ein Versprechen heiliger Nähe! Hundert Male während der Fahrt hatte ihre voreilige Phantasie ein Haus betreten, eine kleine Säulenvorhalle, einen stillen, schattigen Flur, ein Zimmer voll Bücher, und zurückschreckend nur vor der eigentlichen Erscheinung des Menschen, hatte sie doch Geschrei und Lachen von Kindern aus einem unsichtbaren Garten zu hören geglaubt. Nun ängstigte doch das Wirkliche des Hingelangtseins und das Näherkommen mit jedem Schritt. Allzu plötzlich war da ein kleiner Marktplatz, dessen Häuser in reizender Winkelung gegeneinander standen, und Ellis betäubte Vernunft empfing einen fremdartigen Eindruck von einer, wie ihr schien, ganzen Menge mächtig großer, schwarzer oder vergoldeter Gebilde aus Ranken, Blättern und Tieren darin von Schmiedeeisen, die in der Luft vor den Häusern hingen. – –

Nur fast so wie im Traum ist mirs geschehen,
Daß ich in dies geliebte Tal verirrt.
Kein Wunder ist, was meine Augen sehen,
Doch schwankt der Boden, Lust und Staude schwirrt,
Aus tausend grünen Spiegeln scheint zu gehen
Vergangne Zeit, die lächelnd mich verwirrt;
Die Wahrheit selber wird hier zum Gedichte,
Mein eigen Bild ein fremd und hold Gesichte.

Elli betrat, wie sie sich vorgenommen, ein Gasthaus, bat um ein Zimmer und fragte so heiser, daß sie die Frage wiederholen mußte, ob hier nicht ein Doktor Studassohn wohne. Ohne Herzschlag und den Atem anhaltend aus Angst, sie müsse zu früh atmen, da nur aus einem Grunde aufgeatmet werden konnte, sah sie das höfliche Gesicht des Mannes, den sie gefragt hatte, sich erhellen. Ja, ja, der wohne hier, freilich! – Elli wurde es, nicht vor Freude, sondern vor Erschöpftheit dunkel vor den Augen, während sie den Wirt weiter sprechen hörte: »Aber – aber den werdens halt jetzt nit finden. Der ist verreist.«

Verreist … Elli hatte beinah ein Gefühl der Erleichterung. So war er doch anderwärts oder später zu finden; natürlich konnte es nicht gleich zu Anfang glücken. – Sie fragte: »Wohin denn?«

»Ach, der isch weit!« Deutlich sah Elli in einer Leere nichts als das fremde, rötliche Gesicht des Menschen und seinen Mund, der sich bewegte und dabei sagte: »Übers Meer weit! Nach dem Indien, oder Ceylon oder – gar Japan?« Er lachte fragend.

Ach so! – Elli fühlte sich ganz sanft und weich werden und mußte den Kopf sinken lassen, während sie nach etwas grübelte, das es gab und das besser gewesen wäre, als einfach herzukommen.

Nein, das freilich hatte das Schicksal nicht gemeint mit dieser Reise, daß Elli hier Ludwig finden und, gütig von ihm empfangen, seine Schreibgehülfin werden sollte wie vormals, um ihr Leben weiter und zu Ende zu führen in Sicherheit, in warmer und heiterer Landschaft, in der Gemeinschaft des einst und immer Geliebten und eines weiblichen Wesens von Reinheit und Seelenruhe. – Es hatte die Reise gemeint, die zwei Tage, den Augenblick des Ausrichtens für die sterbende Flamme, und – obgleich das sonderbar klingen mag – so faßte Elli es auch auf.

Ja, als sie in einem kleinen Zimmer war, darin saß und hin und her ging, war das letzte Empfinden, das noch in der unempfindlich Gewordenen rieselte, Zufriedenheit. Auf ihrem Bett liegend, sah sie, etwas geblendet, daß draußen die Sonne schien; hörte das Gurren von unsichtbaren Tauben, sah noch einmal einen Flügelschatten über ihr Fenster schweben, ein Huhn gackerte laut und schier endlos dicht unter ihrem Fenster, und es ward dunkel, sie schlief. Dann wurde an die Tür gepocht, sie stand auf, sie saß in einem Gastzimmer bei stechendem Licht und aß etwas; dann kam die Nacht, die sie durchschlief wie ein Stein.

Doch – einmal erwachte Elli in dieser Nacht und trat, das Zimmer in einem hellen Glanze findend, ans Fenster. Ganz groß stand da vor ihr der Mond, so strahlend blank wie gereinigtes Silber auf dem blaugrauen Grunde des Morgendämmers, auf dem wenige Sterne verteilt waren. Innerhalb der glänzenden Mondscheibe aber waren Umriß und Schatten der Gebirge und Täler so deutlich erkennbar als Gestaltung einer im Nachtraum schwebenden Welt, daß augenblicks eine mächtige Sehnsucht sie ganz dort hinaufzog, – einsam zu sitzen dort eine Weile auf glänzender Fläche und schmerzlos hinunter zu blicken von da auf die düstere Erde.


Elli war früh auf am andern Morgen, frühstückte ein wenig, verließ das Haus, sah die Ruine auf dem Berg und befand sich bald auf steilen Waldwegen zu ihr empor, keuchend unter einer Mühsamkeit des Steigens ohn Ende. Droben wanderte sie lange zwischen den nackten grauen Wänden und Bogen, durch Gewölbe umher, Treppen hinunter und wieder heraus auf kleine baumbestandene Vorplätze überm Abgrund; und sie sah in die Tiefen der schmalen Täler, sah die entfernten großen Bergrücken; das Land schien ihr sehr ernst.

Hier wird ein Strauch, ein jeder Halm zur Schlinge,
Die mich in liebliche Betrachtung fängt;
Kein Mäuerchen, kein Holz ist so geringe,
Daß nicht mein Blick voll Wehmut an ihm hängt:
Ein jedes spricht mir halbvergeßne Dinge,
Ich fühle, wie, von Schmerz und Lust gedrängt,
Die Träne stockt, indes ich ohne Weile,
Unschlüssig, satt und durstig weiter eile.

So war es, allerdings so – und auch ganz und gar nicht, denn kaum noch zu wirklichem Erinnern, zu Vorstellung und Sichtbarkeit brachte es Elli, sondern nur zu einem wesenlosen Erinnerungsgefühl, das freilich mit Bitterkeit, Süße und unendlicher Wehmut aus jedem Halm und jedem Holz an ihr sog und zog. Zuletzt stand sie sehr lange in großer Unschlüssigkeit unter einem gewaltigen Fensterbogen, zu dem sie über Trümmer und bröckelnde Stufen hinaufgeklettert war, und sah Urach im Tale liegen, ohne es zu erkennen. Dort stiegen feine blaue Rauchsäulen, fast Blühendem gleich, über die schwärzlichen Dächer und das Astgewirr der vielen und kahlen Bäume. Alles so leer, so sonnig und stille. Ein weißer Falter schaukelte unter ihr herauf, Lüfte wehten heran, beängstigend frisch, erneut, kühl. Und all das umher war sehr schön und war Fremde; war schmerzvoll und heimatlich.

Am Mittag fuhr sie zurück nach dorthin, woher sie gekommen war. Warum, wußte sie nicht. Vielleicht nur, um der Frau zu sagen, daß sie nichts ausgerichtet hatte; vielleicht um wieder zu arbeiten und weiter zu leben. Vielleicht aus einem ganz andern Grunde; sie selbst wußte keinen.

So schließt das Gedicht:

O Tal, du meines Lebens andre Schwelle.
Du meiner tiefsten Kräfte stiller Herd,
Du meiner Liebe Wundernest, ich scheide,
Leb wohl! und sei dein Engel mein Geleite!

Aber das dachte Elli kaum, obwohl es so ziemlich paßte. Es war leer in ihr. Vermutlich war sie schon nicht mehr am Leben.


Nicht ganz ohne Großzügigkeit erwies Ellis Schicksal sich am Ende und ließ nicht zu, daß sie ruhmlos an sich selber verging; ließ nicht zu, weder daß sie noch jahrelang von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle, die Berliner Jahre wiederholend, zu immer geringeren und schlechteren sich hinschleppte, da ihre Verstandeskräfte nun doch zu keiner Verstandestätigkeit mehr ausgereicht hätten; noch daß sie in dumpfer Hülflosigkeit, nur um des Daseins willen an den Straßenecken sich verkaufte, um im Siechenhaus zu verenden; sondern es gab ihr noch einmal den Herrn, den sie brauchte, den Sinn über ihr, die Leibeigenschaft, in der sie immer und allezeit glücklicher gewesen war als in Freiheit. Und es machte so, daß ihr Ausgang immerhin durch eine gewisse Düsternis und Furchtbarkeit dem strahlenden Eingang sich anglich.


Erst gegen Morgen – Elli traf schlechtere Zugverbindungen bei der Rückfahrt – kam sie an; am Nachmittag gegen Abend – wie dahin gekommen, wußte sie nicht – saß sie auf einer Bank an einem Teich, dem Kuppelbau des Museums gegenüber, dessen Widerschein im dunklen und blauen Wasser sie vertieft zusah, wie er sich leise und wellenförmig bewegte. – Was inzwischen gewesen war, kann gesagt werden. Sie war bei der gelähmten Frau eingetreten und hatte leise gesagt: »Er war verreist.« Die Frau hatte, ein Nähzeug auf dem Schoß, schweigsam nach einer Weile nur dasselbe angehoben und anders gelegt und dann gesagt, das schade vielleicht nicht so viel, worauf sie Elli bedeutete, Schreibzeug und eine Unterlage von der Kommode zu nehmen und eine Anzeige aufzusetzen, was Elli auch ganz richtig machte. Die Frau nahm sie an sich, sagte, die Magd würde sie aufgeben, Elli könne vorläufig noch bleiben, solle sich nur gleich hinlegen und sich ausschlafen nach der langen Reise. Elli erwiderte leise: »Ja, danke!« erhob sich, stand noch eine Weile, verließ dann das Zimmer und ging aus dem Hause. Dann war sie weit draußen auf dem hohen Ufer des Flusses einhergewandert, tödlich müde und hungrig, immer im Augenblick des Entschlossenseins doch unfähig – nicht zum Sterben, sondern sich in das eilig glucksende, dick gelb und kalt strömende Wasser zu werfen. Endlich wieder in der Stadt, aß und trank sie irgendwo irgend etwas für das letzte Geld, das sie bei sich fand, schlich wieder weiter durch die Straßen und kam so über den alten Friedrichswall in den neuen Maschpark, wo sie am Wasser die Bank fand, leer, von Menschen wie die ganze Gegend, bei dieser Jahreszeit. Obwohl sie sich bemühte die Augen offen zu halten, saß sie wie im Schlaf, glaubte auch lange Zeit, da sie husten hörte, sie träume das; sie träumte, es huste Jemand im Nebenzimmer, bis sie an den Schmerzen, die der Husten ihr verursachte, merkte, daß sie selber es war.

Sie glühte und fröstelte, wußte wieder nicht recht, ob sie nicht träumte, und sah sich um. Auf dem andern Ende der Bank saß, die Hände auf seinem Stock vor sich gefaltet, ein sehr würdiger und alter Mann mit weißem, gelblich durchsträhntem Vollbart, barhaupt und kahlköpfig, mit einem kleinen und hellen Auge in faltigen Lidern; auf der Wange, die Elli sehn konnte, waren runde rote Flecke, an denen die Haut blätterte. Neben ihm sah Elli noch einen grauen Hut mit breiter und flacher Krempe liegen und hochgewölbtem Kopf, an dessen nur fingerbreitem weißlichem Bande Ellis Augen lange hafteten, bis sie herausfand, daß es schmutzig aussah.

Wieder geradeaus blickend, hörte sie plötzlich halblaut fragen: »Peut-être mademoiselle est française, n'est-ce pas?«

Elli, gleich in Paris sich befindend, erwiderte hüstelnd: »Pas du tout, monsieur, je suis allemande.«

»Ah mais c'est inouï! Cette figure! cet accent! cette mine!« Er fuhr fort, aus den Schmeichelhaftigkeiten zu Lobreden auf Paris und zu andrem überzugehn, das sich für Ellis Wahrnehmung bald verwirrte. Der Hut auf der Bank bewegte sich einmal, hob und senkte sich auf den kahlen Kopf. Plötzlich stand der Greis ungemein groß und majestätisch neben Elli, ganz gerade, nahm den Hut ab und sagte: »Permis de me présenter: Le prince de Lwow, rulle.« Und er wiederholte nach einer Weile die Ankündigung, deren Eigentümlichkeit Elli entging, die sich dunkel geehrt empfand und den Kopf neigte, worauf er sich wieder setzte. Elli hörte ihn wieder sprechen, antwortete auch, es wurde dunkel, sie sah – sehr schön – einen ganz grünen Himmel über dem Schattenriß des Kuppelbaus; dann fror sie, sie wollte aufstehn und war unfähig. Es schien ihr, der Greis beklagte sich über das Ausbleiben eines Dieners, eines Wagens. Als sie sich bald darauf gebeten hörte, ihn zu einem Wagen zu geleiten, stand sie auf, fühlte, daß er ihren Arm nahm, sich auf sie stützte, und ging davon, wie er sie lenkte. Weiterhin sah sie lange Zeit den ihr bekannten Springbrunnen mit Wassermännern und Ungetümen jenseits des Asphalts und der Gleise auf dem Platz vor der Wasserkunst, bis er plötzlich hinter einem Pferde, einer offenen Droschke verschwand, die still hielt. Ihr schwindelte, sie hörte sprechen, sie saß im Wagen und merkte in der Entferntheit des Fiebers, daß sie fuhr.

Dies dauerte endlos lange – und war auch wieder in einem Augenblick vorüber. Wieder bei Besinnung, obwohl dumpfen Kopfes, stieg sie aus dem Wagen im Gefühl, von dem Greis eingeladen zu sein, den sie durch einen Vorgarten in einen trüb erhellten Hausflur führte, in dem es schlecht roch, über breiten Stufen waren links und rechts große geschnitzte Türen, und der Greis machte vor der linken halt, auf der in einem weißen Oval ›Petersen‹ zu lesen war. Er zog leise schnaufend einen Schlüssel hervor, schloß, nach langem Zittern mit der Hand vor dem Schlüsselloch, auf und schob Elli vor sich in das Innere, das mit einem betäubenden Parfümgeruch gefüllt war. Im Dunkel sprang eine Tür vor Elli auf, sie sah ein Zimmer im Laternenschein, der von draußen hereinfiel, dann flammte Licht auf.

Sonderbar – dieser ganze Raum war überfüllt mit Photographien, die an den Wänden hingen, auf dem Schreibtisch, einer Kommode, auf Gestellen, auf dem Pianino, überall in Scharen standen, und auf allen zeigten sich halb oder ganz nackte Frauen in den verschiedensten Lagen und Stellungen, allesamt lächelnd. Elli erschrak dumpf, fühlte sich von hinten umfaßt, sah das Gesicht des Alten über sich und hörte ihn meckerhaft sagen: »Nun, mein Mäuschen, wie gefällt dirs denn hier?«

Elli war an der Tür, die war verschlossen. Plötzlich schwand alles. Sie fand sich wieder, liegend in einem Dunkel, das langsam zu roter Dämmerung wurde. Fern stand eine Lampe, verschleiert mit rotem Kreppapier. Darauf kam ein langer, widerlicher Kampf mit einem schnaufenden Wesen, in dem Elli zwar erlag, dem aber nur die abscheulichen Bemühungen des Vergreisten um das Versagte folgten. Schließlich fing er an zu schimpfen, weinte und klagte, daß seine kleine Melkziege ihm davongelaufen wäre, sein süßes Pischemäuschen, seine Erhalterin, aber nun müßte Elli dableiben und sehr gut zu ihm sein. Sie würde es auch gut haben, auf die Straße brauchte sie nicht zu gehn, er bringe ihr schon – lauter schöne junge Prinzchen, lauter Schokoladehähnchen …

Elli bemerkte wiederum, daß sie allein war, und daß sie sich nicht mehr krank, sondern kühl und nur sonderbar leicht fühlte. Sie erhob sich, – was allerdings Mühe kostete und sich anfühlte, als wäre ihr Körper nicht ihrer, sondern ein fremder, der aber stets folgte, wenn sie ihn bewegte –, schlich zur Tür, fand sie jedoch wieder verschlossen. Das Fenster! fiel ihr ein, sie teilte den Vorhang, öffnete es, kletterte, ohne sich viel umzusehn, auf die Brüstung und ließ sich draußen hinabfallen, gar nicht tief. Sie stand im kleinen Vorgarten, eine Laterne brannte außerhalb in der Nähe, die dunkle Straße lag einsam, das Gitter war hoch und hatte lange Pfeilspitzen, aber das neben dem Weg von der Haustür zur Straße war so niedrig, daß Elli hurtig darüber hinweg gelangte, – jedoch nun war die hohe Gittertür da vor der Straße, und Elli rüttelte umsonst an der verschlossenen, angstvoll, der Alte komme ihr nach. Sie atmete auf, als sie Schritte vernahm, aus dem Schatten zu ihrer Linken hervor kam eine große Gestalt, ein Herr, und sie rief: »Ach bitte! Bitte, helfen Sie mir doch!« Er ging vorüber, sie wiederholte lauter ihr Rufen, er ging weiter, an der Laterne vorbei, sie sah schon die großen Knöpfe überm Schoß des Mantels auf seinem Rücken blinken, sie schrie, da blieb er stehn, gleichgültig auf italienisch hinwerfend, er verstehe kein Deutsch, worauf er sich wieder abwandte. Als sie aber nun in italienischer Sprache schrie: »Ja, bitte, bitte, die Tür hier, nur die Tür, daß ich herauskann!« fast flammend von Entzücken, in der gurgelnden Stimme das Venezianische erkannt zu haben, – so trat er näher, rüttelte an der Klinke, griff dann nach innen und nach der Stange, die, wie das zu sein pflegt bei solchen Türen, schräg von der Seite, vom Boden her gegen die Türmitte oben und mit einem Haken an einen Ring gelegt war, hob sie heraus, und das Tor ließ sich bewegen, das Schloß sprang auf. Elli flüchtete sofort zehn Schritte weit und erwartete ihren Retter, der dann, ohne bei ihr anzuhalten, nur seinen Arm in den ihren schob und mit dem Zuruf: »Avanti!« sie mitzog.

Elli lachte und plauderte besinnungslos darauflos im Glück ihrer Befreiung. Unter der nächsten Laterne hielt er an, hob ihr Gesicht am Kinn empor und fragte, er kriege doch wohl eine Belohnung. Noch ehe Elli antworten konnte, hatte sie, in sein beleuchtetes Gesicht emporsehend, es erkannt. Das will sagen, sie erinnerte sich, es vor langem gesehen zu haben, aber kein Name wollte ihr einfallen, während sie mit freudiger Erschrockenheit in dies große und dunkelhäutige, im Licht glühende Gesicht ohne Bart mit den schwarzen, weit auseinander sitzenden Augen starrte. Allerdings – nicht so roh war jenes gewesen, aber er konnte sich ja verändert haben. Der schwarze steife Hut entfremdete es auch, und nun fiel ihr ein, daß jener, von damals, kein Italiener gewesen war. Nun so war dieser auch keiner, und sie lachte und sagte, sie erkenne ihn ja, er sollte sich doch nicht verstellen, – dies auf deutsch, aber nach seiner Erwiderung schien er sie wirklich kaum verstanden zu haben, ward auch nun ungeduldig und fragte barsch, ob sie ihn also mitnehme oder nicht!

Elli lenkte also ab und besann sich, so schnell sie konnte. In ihre Wohnung durfte sie nicht, – doch, heute und morgen noch, und die Vermieterin schlief an einem andern Flur, durch mehrere Zimmer von ihr getrennt, und konnte nichts hören. Am Morgen – – aber wenn es – ›er‹ war, den sie meinte, so würde sich alles finden. Der Name Pasada lag ihr derweil auf der Zunge, aber sie wußte, das war nicht der rechte.

Sie versuchte nun einiges zu erklären vom eben Durchdachten, aber er schnitt alles ab und zog sie mit sich, indem er sie anwies, die Richtung anzugeben. Es war, was Elli nicht wußte, zwei Uhr in der Nacht, und sie wunderte sich über die Menschenleere der dunklen Straßen. Es kam aber doch eine geschlossene Droschke dahergerasselt, Beide stiegen ein, Elli nannte Straße und Hausnummer, sie fuhren.

Im Fahren zerbrach Elli sich weiter den Kopf, gelangte auch in ihrer Vorstellung in ein großes, von einer Lampe erleuchtetes Zimmer, an dessen Wänden viele Klingelschnüre hingen, und sah deutlich jenes Profil, hörte auch die Stimme, empfand wieder die ganze Großartigkeit jener Erscheinung. Der Name aber – Josef von Montfort – war vollständig ausgelöscht in ihr, sie fand ihn in dieser Nacht nicht und nicht später. Und später auch blieb es wie in dieser Nacht: weniger in Form von Gedanken als von Empfindungen schwebte sie in Unklarheit, ob dieser und jener ein und derselbe Mensch waren, ob jener es sei und sich verstelle, ob er sich so verändert haben oder vielleicht nur damals ein Andrer habe scheinen können, im Laufe der Zeit aber erloschen die Rätselfiguren, und es genügte ihr, was sie hatte. Freilich wußte sie nicht, daß der Josef Montfort, den sie kannte, einen solchen Doppelgänger in der Welt herumlaufen hatte.

Elli deckte ihr Bett auf in einem süßen Gefühl von Demut und Begnadigtsein durch den hohen Besuch. Daß sie die rosa Ampel aus der Ecke des schmalen Raums wieder ihren Schein über die rosa und weißlichen Gardinenstürze des Betthimmels werfen sah, – mit seinem Kopfende an der Langwand stehend, ragte es, wie schon beschrieben, fast bis zu der breiten Flügeltür, die das Schlaf- vom großen Wohnzimmer trennte, – das gab nun beinahe ein Heimatsgefühl. In der Kreppmanschette einer künstlichen Palme, die auf einem dünnen Tischchen im Winkel unter der Ampel stand, steckten noch Bodosche Sträuße. Elli warf einen erfreuten Blick des Wiedersehens zu ihrem alten Kruzifix empor, das dort an der Wand hing, und ihr Aberglauben nahm die Erkennung in diesem Augenblick erfreut als glückliches Zeichen für ein längeres Wohnen in diesen Räumen.


Elli erwachte, eingeschlafen bald nach der ersten Hingabe, mit einem innern Erschrecken und gewahrte in dem rosigen Dämmer fast über sich das Gesicht des Menschen, dessen Augen, glimmend und auch schielend auf sie herunter, sie zittern machten. Er lag ihr zur Linken, wo das Fenster war, auf den rechten Arm gestützt, die linke Faust auf der Hüfte, und daraus hervor stand der dunkle und dünne Stahl einer Hutnadel. Nun sah sie erst sein Gesicht, entstellt von grauenhafter Lüsternheit, lag einen Augenblick noch, ohne sich bewegen zu können, war dann, flach liegend, wie sie sich befand, zur Seite aus dem Bett geschnellt und lag am Boden, hastig sich aufrichtend. So sah sie ihn auf seiner Seite das Bett verlassen und herumkommen um das Fußende, ohne Eile, und sie stand auf, preßte sich mit dem Rücken an das, was sie hinderte, weiter zu kommen, die Tür ihres Kleiderschrankes, und entdeckte, in hülflosem Zur-Seite-spähen nach einem Ausgang, das Kruzifix an der Wand. An ihm blieb sie hängen mit den Augen und wußte kaum noch von sich. Erst nach langer Zeit ward ihr bewußt, daß sie kein Tappen von Füßen mehr hörte, wagte es, die Augen herumzuwenden, und fuhr zusammen vor dem Menschen, der keine zwei Schritte von ihr entfernt an der Fußwand des Bettes stand, ganz geduckt, eine Hand auf dem Pfosten, die Augen in einer gierigen und niedrigen Scheu gegen das Kruzifix emporgerichtet, fast verdreht. So stand er noch Sekunden, ließ endlich den Blick fallen, drehte sich langsam um und ging, krumm und tappend in seinem Hemd, ins Dunkel des andern Zimmers hinein, wo Elli ihn an Möbel stoßen, dann ein Sofa krachen, dann nichts mehr hörte.

Sie hatte vor Ängsten keine Sinne mehr und fiel über ihr Bett hin.

Aber die Nacht war noch nicht zu Ende, und Elli erwachte wieder von einem Geräusch, das sie als ein unterdrücktes Heulen oder Winseln, Stammeln und Schluchzen erkannte. Allmählich ließen Worte sich unterscheiden, Elli erkannte zwischen dem gurgelnden Venezianisch die lateinischen Worte alter Gebete, immer wiederholt das »Ora pro nobis!« untermengt mit Geseufz und Ächzen, mit Achs und Ohs! Sehn konnte sie ihn nicht hinter dem Gehänge des Betthimmels. Und nun verstand sie deutlich:

»Oh sancta virgo, sancta, dulcis, dolorosa! oh virgo Maria! Ora pro me! Peccavi, peccavi! Oh mater! oh regina! Ad quam clamamus gementes et flentes in hac – in hac …« Ihm schienen die Worte zu fehlen, er begann ein andres Gebet, das Elli bekannt war. – »Confiteor« sagte er plötzlich. Er heulte: »Confiteor! confiteor! confiteor!« zehnmal und noch öfter heulte er, schrie und lallte es wieder leiser. »Confiteor meam maximam culpam! Confiteor!« Er schien aus Angst vor dem Geständnis nicht zum Gestehen zu kommen. Plötzlich dann kam Italienisch, ungeheuer rasch, fast plappernd:

»Maria Annunziata, eine Jungfrau, kaum fünfzehn Jahre ihres Alters, langsam im Bette erdolcht und die Leiche geschändet! Ora pro me, oh oh oh ora pro me, orate ommes sancti, orate pro peccatorem, qui confitet atque quem paenitet, ora oh virgo plena misericordiae, ich will es gewiß niemals wieder tun, o Gott, oh veniam da peccatori, veniam per fructum tuum, plena dulcedinis sancta genetrix, cujus venter – cujus … Ach, mein Gott!« wieder eintönig herplärrend: »Zwei kleine Knaben, Nicolo und Cesare, in den Wald gelockt eines Abends, einen an den Baum gebunden, den andern vor seinen Augen langsam geschlachtet und geschändet, oh oh! nunquam oh per filium tuum, qui resurrexit et venit – et – et – nunquam … Omnia mea peccata!« schrie er mit furchtbarer Stimme auf, »omnia mea peccata clamant ad caelos!« und er plapperte wieder: »Ein kleines Mädchen, Tochter einer Witwe …«

Elli preßte die Hände auf ihre Ohren und lag so, das Getöse dieser sprechenden Tierstimme bald lauter bald schwächer im Gehör, auflärmend, wenn sie den Druck ihrer Hände lockerte, um zu hören, ob er still sei, lallend unerschöpflich, murmelnd, weinend, neue Namen und Schandtaten plappernd, würgend dazwischen, bis sie es nicht mehr ertrug und nach ihm spähte. Er lag auf den Knien nackt auf seinem zerrissenen Hemde vor dem Blumentisch, die Hände gefaltet emporgehoben zu dem winzigen Heiland von Elfenbein. Sein ganz gedunsenes Gesicht war naß von Tränen, die Augen troffen, er keuchte, hustete und fing wieder an zu beten. Darauf verließ Elli ihr Bett, fiel hinter dem Daliegenden auf die Knie wie er und stimmte ein in sein Beten mit den alten Strophen ihrer Kindheit. Und so weinten und beteten sie zusammen lange Zelt. Als er sich ausgeschöpft hatte, stand er auf, taumelte wieder in das Dunkel des andern Zimmers und fiel dort hin. Elli kauerte dann noch eine Weile neben dem Nachächzenden, trocknete sein Gesicht mit ihrem Hemd, küßte ihn und schluchzte. Husten und Schüttelfröste des erst von den Aufregungen zurückgehaltenen, nun heftig ausbrechenden Erkältungsfiebers zwangen sie endlich aufzuhören und sich hinzulegen. Aus wüsten Delirien und Traumerscheinungen fiel sie erst gegen Morgen in Schlaf.


Alles, was im Verlauf dieses Tages sich zutrug, blieb Elli durch ihr Fieber verworren und unbestimmt, ob Traum oder Wachen, so wie sie auch von den Ereignissen der Nacht später niemals wußte, ob sie wirklich gewesen. Ihr Verstand arbeitete schon damals nicht mehr wie der eines geistigen, sondern nur mehr wie eines körperlichen Wesens, das ihn braucht, um mit den täglichen Vorkommnissen fertig zu werden; das nur immer ein Nächstes vor sich sieht und durch Denktätigkeit darüber hinaus sich nur belästigt oder gar gepeinigt fühlen würde; und Elli war nun so weit, daß sie den Verstand nur zu handhaben brauchte, wenn sie wollte, ein kleines Licht, das sich anzünden ließ und löschen; ein Nachtlicht.

So viel nahm sie wahr, daß bei ihrem ersten Erwachen ein lärmender Streit zwischen ihrer Vermieterin und dem Fremden in Gange war, den jeder der Beiden in seiner Sprache führte, der mit dem Knallen zugeschmetterter Türen endete, und aus dessen Lautheit sie schloß, daß sie ihn nicht träumte. Beim zweiten Erwachen war es dämmrig, und neben ihrem Bett, im Tageslicht, das zum Fenster hereinfiel, saß der Fremde, im Mantel, den Hut nach hinten geschoben. Elli war so heiser, daß sie kaum sprechen konnte, glühte über und über und war mit Kopfschmerzen wie geladen. So wars für sie Glückes genug, ihn wiederzusehn, und sie fragte nicht, was ihn hergeführt hatte. Auch ist kaum ganz ersichtlich, was den Menschen trieb. Er konnte Elli brauchen, gewiß; vielleicht auch, daß er fürchtete, sie könne etwas verraten von den nächtlichen Vorgängen; und vielleicht, daß es ihn wieder hintrieb zu dem Wesen, in dessen Gegenwart er sich so entblößt hatte.

Elli führte verdumpften Sinnes einige Verhandlungen mit ihm über ihr Zusammenbleiben, die sie sofort wieder vergaß bis auf seine Versicherung, sie am Abend holen zu wollen, und die sie beglückt in ihre neuen Delirien mit hineinnahm. Die Zimmerwirtin, die gleich nach seinem Weggang erschien, mußte angesichts von Ellis glühendem und strahlendem Gesicht und ihrer phantastischen Reden von Reichtum und Seligkeit unverrichteter Sache wieder abziehn und begnügte sich damit, ein paar Kleider Ellis und eine Halskette für sich über Seite zu bringen.

Das Toben des Fiebers hatte etwas nachgelassen, als Elli bei Lichtschein erwachte. Schmerzlich geblendeten Auges gewahrte sie nach einer Weile, daß im Wohnzimmer der Kronleuchter brannte, daß ihr neuer Geliebter am Tisch lehnte, Mantel an und Hut auf dem Kopf, eine Zigarette rauchend, und daß noch eine männliche Gestalt im Zimmer hantierte, wie es schien mit dem Packen ihrer Koffer beschäftigt. Nachdem dies endlos gedauert hatte, erschienen die Umrisse der Beiden am Fußende des Bettes, und Elli hörte eine fremde Stimme auf italienisch sagen: Die ist ja krank. Elli widersprach heftig und vom Husten unterbrochen, sie fühle sich schon ganz kräftig und werde bald gesund sein. Immerhin kostete Waschen und Ankleiden schwere Mühe, aber sie wurde fertig, dachte sogar an ihr Kruzifix und legte es in eine Handtasche.

Plötzlich saß sie dann in einem geschlossenen Wagen und konnte das Gesicht des zweiten Fremden erkennen, das nach dem italienischen Süden aussah, sehr braun und breit gedrückt, glitzernder Augen, pockennarbig und kraushaarig. Bald sollte sie erfahren, daß er aus Messina stammte, Antonio Ampezzi hieß, ursprünglich mit Südfrüchten gehandelt hatte, nun aber Besitzer eines Lichtspieltheaters war.

Vor diesem hielt der Wagen nach nicht langer Fahrt. Elli sah ein leuchtend buntes Transparentbild mit Indianern und Pferden auf einer Schaufensterscheibe. Sie wurde in einen finstern Torweg daneben geführt, dann war da ein Hof, dann unendliche Treppen nach oben, endlich ein Zimmer.

Drei Treppen hoch lag dieser lange und kahle, nur mit Bett, Kleiderschrank, Waschtisch, Kommode, einem kleinen Tisch und ein paar alten Sesseln ausgestattete Raum, in dem es unsagbar nach der Verwesung von tausendfacher schäbiger Vergangenheit roch, dessen trostlos gelbe Tapete verpicht war mit tausendfacher schamloser Ausdünstung, und in dem Elli die letzten sieben Monate ihres Lebens verbrachte.


Eine Woche später von ihrer Krankheit genesen, befand Elli sich eingeführt und eingewöhnt in all ihre Obliegenheiten und in einem folgendermaßen geregelten Tagesablauf.

Sie stand zwischen zehn und elf Uhr des Vormittags aus dem Bett auf, nachdem sie schon vorher Wasser in einem Emailtopf auf dem Spirituskocher zum Sieden gesetzt hatte, den sie nun mit einem, vor der Tür wartenden Kaffeetopfe vertauschte. Da es erst Anfang April und nach wenigen warmen Tagen wieder winterlich kalt geworden war, hatte der Raum über Nacht alle Wärme verloren, und den kleinen eisernen Ofen durfte Elli nicht vor Nachmittag anheizen, da es erst spät abends warm im Zimmer zu sein brauchte und sie nachmittags nicht darin war. Der Topf voll heißen Wassers mußte genügen, das kalte im Krug zu erwärmen, in dem sie sich, nur vermittels der Waschschüssel, ganzen Leibes zu waschen hatte; aber, so mühselig das war, bereitete die Reinigung ihr immer wieder Vergnügen. Dann folgte auch die glücklichste Stunde des Tages, wo sie, warm gerieben, wieder im Bett saß und sich mit dem heißen Kaffeegebräu füllte, das die gestrige Zeitung in ihrem Schoß mit großen gelbbraunen Flecken beträufte. Danach hatte sie das Zimmer zu fegen oder feucht aufzunehmen, ihr Bett zu ordnen, an ihren Kleidern zu nähen oder Strümpfe zu stopfen, worüber es Mittag wurde. In der Ecke einer Stehbierhalle, die neben dem Kinotheater lag, bekam sie ausreichend und nicht schlecht zu essen, auch ein Glas Bier und ein kleines Glas Korn oder eine Tasse ›Mokka‹ an besonders kalten Tagen. Darüber ward es langsam zwei und drei Uhr, und sie hatte in den winzigen Verschlag hinter dem Kartenschalter zu kriechen und, eingewickelt in Mantel und Pelzkragen, die Muff im Schoß, die roten, blauen und braunen Zettel zu stempeln und zu verkaufen, erst an die Kinder, die des Nachmittags kamen, mit zunehmendem Abend an die Erwachsenen. Dies unter dem fast pausenlosen Gelärm des Hammerklaviers aus dem langen und schmalen Saal, dessen Türöffnung, dicht vor Elli, mit einem rotbraunen Vorhang verschlossen war, in den jeder dritte Eintretende sich einen Augenblick verwickelte. Das Hammerklavier übrigens war entzwei, so daß in jedem Stück eine Stelle kam, wo alle Hämmer zugleich niederfielen, ein irrsinniges Tönegetöse, das so lange dauerte, bis der Gehülfe oder der, am Abend mit dem Hammerklavier wechselnde Klavierspieler hingelangt war und das Chaos abstellte. Mitunter mußten die Zuschauer lange trampeln und Antonio aus dem Hinterzimmer pfeifen, wo er die Maschine bediente. Ebenfalls pfiffen sie und trampelten, wenn die Bilder einmal verkehrt erschienen, oder halbiert, was sie übrigens durchaus nur belustigte. Sie kamen, um was zu sehn und möglichst zu lachen, und waren niemals böse, wenn ein Film – zumindest jeder zweite – vor seinem Ende zerflatterte und die leere Leuchtwand erschien, – Arbeiter zumeist und Arbeiterinnen, Lehrlinge, Verkäufer, Fabrikmädchen, Ladenmädchen und dann und wann ein Student. Elli durfte alles das mit erleben, entweder am Abend nach zehn Uhr, wenn keine neuen Gäste mehr kamen, oder – und ihr noch lieber – an den stillen Nachmittagen, wo sie allerdings vorn im Saal dem Eingang sich nah halten mußte, um durch den zurückgeschlagenen Vorhang nach Ankömmlingen spähen zu können. Wenn es so stille dann war, nur der Motor surrte – die Kinder bekamen nur zu jedem zweiten Stücke Musik –, warm und dunkel war und vor ihr das lautlose Vorbeiziehn flimmernder und kreidiger Landschaften, Flüsse, Städteansichten oder Schneegebirge sich bewegte, oder aber die Gebärden schön gekleideter und gewachsener Menschen in Fräcken und ausgeschnittenen Kleidern, in Prunksälen oder reichen Arbeitszimmern, in Hotelvestibülen oder Boudoirs mit Fellen und Teppichen; wenn sie gar beritten erschienen in herrlichen Parken und Wäldern; wenn das Laster sich liederlich betrug und verkam, in schwarzen Verbrecherkellern die Mädchen tanzten, Haar in die Stirn gekämmt, mit Lümmeln ohne Hemdkragen, mit Halstüchern und in die Stirn gerückten steifen Hüten; wenn die Unschuld geknickt, zuletzt aber die Bosheit entlarvt und zu Boden geschmettert wurde; wenn die Revolver lautlos knallten und der hurtige Meisterdetektiv Joe Jenkins U. S. über Dächer und Schlote seine kühnen Verfolgungen ausführte … und ah, wenn die Aufregungen der Indianerschlacht tosten, die rasenden Verfolgungen wilder Westmänner in Schlapphüten und Fellhosen dahinjagten über Prärien und Ströme; wenn im Innern der Wagenburgen Frauen und Kinder den bärtigen Pionieren des Westens ihre Kentuckybüchsen luden und sie in den herumgaloppierenden Kreis der Indianer feuerten auf lauter Schimmeln und Schecken, die nackt gingen nur mit einem Strick im Maul, bis endlich der tollkühne, entzückend magre Held, der sich durchgeschlagen, über Berge, Savannen und Flußbetten auf tobendem Schimmel das Fort erreicht hatte und sie endlich, endlich heranpreschte unterm Sternenbanner, die mächtige Kavalkade – – – o Lotos, Lotos, himmlische Speise des Vergessens, bezaubernder Saft in den Adern schwer und dick wandernden Blutes! Und wo einst die Namen – nein, Elli wußte die Namen längst nicht mehr, die erlauchten, die einst an einem Welthimmel gestrahlt hatten, wo jetzt an einem niedern Gewölbe, beschlagen vom Tabaksqualm und der Ausdünstung tausender Münder, nasser Mäntel und Schirme, die Namen der Detektive, der wunderschönen Henny Porten, des entzückenden Max Linder, des furchtbar komischen Prince und der seltsamen Asta Nielsen in elektrischen Schriften flammten. –

Gegen elf Uhr am Abend, wenn die Vorstellung zu Ende ging, konnten für Elli zwei Fälle eintreten. Entweder hatte Antonio, der um diese Zeit den Gehülfen an die Maschine stellte, bereits einen Gast für sie gefunden, mit dem er sie in ihr Zimmer hinaufschickte, oder nicht; und dann mußte sie auf die Straße, das heißt, in diesem Falle sogleich, sonst erst später, je nach den mehr oder minder Zeit erfordernden Ansprüchen des ersten Besuchers. Da die Bezahlung entsprechend war, so blieb es Elli selten erspart, einsam, wenn auch in Gemeinschaft mit einem halben Dutzend ähnlicher Gestalten in Abständen die Straße zu bevölkern, sei es in der vorgeschriebenen langsamen, wehenden Gangart auf und nieder wandernd, hier und da ein paar Worte mit einer begegnenden Gefährtin tauschend; oder im schmalen Vorplatz einer Haustür sich schützend vorm Wind.

Diese nächtliche Straße, von Elli selten anders gesehn als bei Nacht, war entsetzlich öde. Sie war nur auf einer Seite von Häusern bestanden, auf der andern war das gemauerte Ufer des Flusses mit seinem eisernen Geländer, an dem sich lehnen ließ und ins Schwarze hinabsehn, es roch nach Gerberlohe, und fern darin dort und da glomm der Widerschein eines einsamen Lichts, das jenseit des Flusses in einem der Fabrikhöfe brannte. Viele Schlote standen dort schwarz vor dem rauchigen und rötlichen Himmel der Stadt. Zur Linken lag die hölzerne Brücke, vom schwarzen Gerüst ihrer Träger überragt. Rechts unten bog sich der Fluß, ein Haus schloß die Straße quer ab und versperrte die Aussicht. Die letzte Laterne dort reichte mit ihrem Schein über das Wasser noch zu den Speichern hinüber und ließ erkennen, daß die Mauern von schwarzem Rot waren.

Diese Strecke, von der Brücke bis zum Theater und dann und wann etwas weiter, zwei bis dreihundert Schritte lang, durfte Elli durchwandern, hin und zurück und wieder hin, immer müder, in den engen Stiefeln mit hohen Absätzen schmerzender Füße, oft bis zwei Uhr in der Nacht, sich schüttelnd unter Krämpfen des Gähnens. War aber, wie es doch häufig vorkam im Sommer, der Himmel über den Fabriken rein und bedeckt mit den Bildern der Sterne, so hatte Elli einen schönen Genuß an ihrem Anblick, besonders an dem des Wagens, der so überaus deutlich und gegenständlich und im Raume so sicher stand wie auf einem unsichtbaren Berg. Elli war traurig in den Nächten ohne Sterne, ohne sie eigentlich zu vermissen, ihr Gedächtnis wurde kürzer und kürzer, und das hatte wieder das Gute, daß die Sternbilder ihr bei jedem Erscheinen auch wieder neu waren.

Das Geld, das sie einnahm, hob sie in ihrer Kommode in einer alten Konfektschachtel auf. Auszugeben hatte sie nichts; ihre Tätigkeit an der Kasse war Entgelt für Wohnung und Essen. In Zwischenräumen von drei bis fünf Wochen – auch sieben konnten es werden – kam ihr Besitzer, und sie lieferte ab. Er blieb jedesmal eine Nachtstunde bei ihr. Das war Ellis Beseligung.

Und dies war ihr Leben, der Rest ihres Lebens.


Eines Morgens Ende Oktober machte Elli die Entdeckung von Flecken an ihrem Körper, nachdem sie sich schon eine Zeitlang vorher über ihr Haar gewundert hatte, das plötzlich büschelweis ausfiel. Sie wußte – ohne mehr unterscheiden zu können, ob dies eine neue Krankheit oder einen neuen Ausbruch der alten bedeutete – gleich, was es war. Einen Augenblick war ihr zumut, als hätte sie die Nacht mit einem vielbeinigen Tier verbracht, das seine Pfoten an mehreren Stellen auf ihren Körper gestellt hatte, und an ihren linken Mundwinkel hatte es seine Schnauze gedrückt. Es schüttelte sie, in gelähmtem Zustand saß sie noch eine Weile, erhob sich dann und ging in ihr Bett zurück.

Es kommt vor, daß ein Pferd, welches sein Ende ahnt, plötzlich stehen bleibt auf der Straße und keinen Schritt mehr tut, jeder Hieb ist umsonst, es konnte gewiß noch eine Strecke gehn, aber das tut es nicht, es hat genug.

So auch Elli. Sie tat nichts mehr, sie legte sich nur hin. Der Gedanke, niemand anstecken zu wollen, war, wenn vorhanden, schwach, ein Funken, der letzte, den sie von Zeit zu Zeit willenlos anblies. Die Drohungen Antonios hörte sie kaum, daß er sie zwei Tage hungern ließ, war ihr gleich. Auch von dem Essen, das er ihr hernach wieder brachte, nahm sie fast nichts. Sie lag und wartete auf das, was noch zu kommen hatte. Fünf Tage so. Eine dämmrige Leere, nicht Raum und nicht Ebene, von beiden etwas, die sie durchwanderte, und in der dieses und jenes auftauchte, lag um sie her: ihr vergangenes Leben. Am häufigsten erschien das rote Zimmer mit den Bücherwänden und der weißen Maske an der Wand. Hauche des Wohlseins, Hauche des Grams, der Odem des Verschollenen so dünn wie eines sterbenden Kindes. Waren die Erinnerungen Traum, so ängstigten sie vielfach, sie war immer auf der Suche, alles verwandelte sich unaufhörlich, ohne je das Gesuchte zu werden, und häufig gelangte sie in das elterliche Wohnzimmer, wo ihre Mutter stickend am Fenster saß, ohne sich nach ihr umzuwenden, ohne sie zu bemerken. Schritte ihres Vaters draußen hielt sie im nächsten Augenblick für Schritte Ludwigs, allein wer hereinkam, war ein Unbekannter, der sie entsetzte, und sie floh, Straßen hinunter, die Kantstraße suchend, allein es war Paris, die Omnibusse verfolgten sich in jagender Kette, unter den wimmelnden Menschen vor ihr waren Rücken und Mütze Benvenutos, und mit immer lahmeren Knien bemühte sie sich umsonst, ihn zu erreichen.

Nun genug – am fünften Tage kam der Erwartete. Nun stand sie doch gleich aus dem Bett auf bei seinem Eintreten und tat, was ihr geboten schien in solch einer Lage: sie warf sich auf die Knie und bat sehr demütig, nicht böse zu sein, sie könne ja nun nicht anders. Er, vom Antonio schon verständigt, hob den Stock, auf den er sich gestützt hatte, hoch, fluchte und drohte mit ihm, einem dicken und braungelben Stock aus Rohr, den sie kannte. Elli richtete in plötzlicher Todesangst sich auf im Knien, hob die gefalteten Hände und sagte: »Ach, bitte, nicht schlagen!« – Er ließ den Stock wieder sinken, gurgelte etwas von »Zeit bis morgen!« und ging hinaus.

Wer war das, die da kniete? Elli – Inge – Ignis – Gemma – Madeleine? – Die aus Angst vor Stockschlägen die Hände aufhob und sagte: »Ach bitte!« Eine einst glänzende Seele, deren Träume durch Säulen wanderten, fackeltragend? War das sie, die sich jetzt aufrichtete, oder wars ein ganz anderes Wesen, eines, das den Schlag im Grund für gerechtfertigt hielt, denn sie war unfolgsam gewesen, und nur zu bitten wagte, daß er nicht fiele.

Tag und Nacht, noch einmal Tag und Nacht. Nicht viel mehr als ein Gemisch aus Schlaf und Traum, aus Vergangenheit und – Nichts, lag Elli, in Zwischenräumen von Minuten durchschaudert von Angst vor dem Letzten. Dann kam er, und sie kniete wie gestern, nur diesmal im Bett, hin, hob die Hände – sie wußte sonst nichts – und sagte: »Ach bitte!« Aber sie schlug im nächsten Augenblick vornüber unter einem Hieb, der ihr über Nacken und Schultern flammte, und lag dann, zermalmt, unter einem Hagel von Schlägen, fast besinnungslos von rasenden Schmerzen, da ihr alle Knochen im Leib zu zerbrechen schienen, dabei nach dem ersten Schrei ohne Laut.

Als sie wieder zu sich kam, war es dunkel. Ihr Mund war naß und klebrig, und sie schrie auf, als sie ihn öffnete, so waren ihre Zähne in die Lippe eingeschlagen gewesen, daß sie sie zerriß, und statt sich bewegen zu können, konnte sie sich nur schreiend und ächzend hin und her wälzen vor Schmerz in Knochen und an der Haut, von der das festgeklebte Hemd abriß. Sie lag dann lange auf einer Seite, die Hände zwischen den Knien, in Pausen schlotternd bis zu Kinn und Mund herauf, leise weinend und jammernd: »Immer willig gewesen, o mein Gott! Nichts Böses getan, o du lieber Gott! Immer einsam gewesen!« unwissend immer dieselben Worte.

Schließlich stand sie doch auf, riß sich in einem letzten Anfall von Kraft das Hemd vom Leibe, wusch sich und kleidete sich an.

Dabei stöhnte sie hin und wieder: O Gott! – nicht weil sie an Gott dachte, sondern weil sie nun von dem ersten menschlichen Laut, dem Hellen kindlichen A, die Treppe der Vokale hinunter zum dunklen O-Laut des Todes gelangt war, und nur das heulende U des Wahnsinns blieb ihr erspart.

Auf einmal war sie im Freien …


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