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Eingang

Elli war achtzehn und ein halbes Jahr alt, als sie an einem regendunklen Aprilabend, wenige Wochen nach dem Tode ihres Vaters, von München gekommen, unter der Arkade des Anhalter Bahnhofs in Berlin stand und sich umsah.

Ihre Absicht in dieser Stadt war, das Studium der französischen und deutschen Sprache zu beginnen, das sie mit dem Doktor- und Oberlehrerexamen zu beschließen gedachte; doch sah sie den späteren Lehrerinnenberuf nur verschleiert, gleichsam durch eine phantastische Wand, auf der sich neben der unbekannten Stadt, in der sie sich nun befand, die abenteuerlicheren Parks und Genf darstellten, sowie ganz fern die leise brennende Aussicht auf einen Lehrstuhl in der Schweiz, oder gar in Amerika. Ihr ererbtes – schon von der Mutter ererbtes – kleines Kapital würde ihr, falls sie sich bescheiden hielt, die Verwirklichung solcher Pläne erlauben.

Vorläufig, eingeschüchtert genug und ratlos, starrte sie mit geöffneten Augen in das, von einer roten Lichtwolke hier, von vielen regennassen Lichtern überall aufgehellte Dunkel, durch das ein heftiger Wind Wolken von Regen hinjagte, und das unaufhörliche Anfahren der erleuchteten elektrischen Bahnen – ähnlich wie am heimischen Stachus, aber durch Fremdheit erschreckend –, dazu der Omnibusse und Automobile von allen Seiten, das unaufhaltsame Hin und Her der wie schwarzes Laub fortgetriebenen Gestalten und Schirme, das vielstimmig verworrene Getöse, hielt sie in furchtsamer Betäubtheit auf dem Fleck, auf den sie geraten war, fest, bis sie, mehrfach von Vorüberhastenden angestoßen, sich auf den Namen des Gasthofs besann, der ihr genannt war, und der zur Linken des Platzes liegen sollte, worauf sie es denn wagte, durch das Getümmel hinüberzugehn, mühsam genug, den einen Arm beschwert von der Reisetasche, die Muskeln des andern gespannt durch den Kampf ihres Regenschirms mit dem Wind. Ihre Gestalt hatte nicht ganz die mittlere weibliche Größe, wer aber bei solch einem Wetter Augen für dergleichen hatte, der konnte sich an der Zierlichkeit ihrer Knöchel und der, in fest umschließenden kleinen Halbschuhen behende auswärts gesetzten Füße erfreuen.

Aber bald befand sie sich in einem kleinen Zimmer, das ihr im Schein der Nachttischlampe sauber und nicht unbehaglich erschien. Kaum gewaschen und frisch gekämmt, konnte sie auch ihren Koffer in Empfang nehmen, sie ging dann in die Speiseräume hinunter, wo sie einen einzigen kleinen Tisch für sich im Gedränge der rauchenden, trinkenden und redenden Männer frei fand, hungrig ohne Appetit eine Kleinigkeit aß und dabei nicht ganz ohne Genugtuung bemerkte, daß ein studentisch aussehender junger Mensch an einem der Nebentische mehr als einen Versuch machte, ihre Augen mit den seinen festzuhalten. Sie erwiderte aber erst einen einzigen durch einen unbestimmten Blick, bevor sie beim Kellner zahlte, aufstand und geradeswegs hinausging, ein wenig gekräftigt durch dieses.

Wieder im Zimmer oben, öffnete sie den Koffer, kramte ein wenig darin, legte was zu oberst lag, ein fußlanges Kruzifix aus dunkelbraunem Eichenholz mit einem kaum handgroßen elfenbeinernen Heiland, nach einem hauchenden Kuß und sekundenlanger Unschlüssigkeit, wohin damit, auf die Kopfschräge des Diwans, verteilte dann den Inhalt der Handtasche, Nachthemd, Schuhe und Waschgeräte an ihre Plätze, setzte das lederne Uhrgestell und die gerahmten Photographien Ihrer Eltern auf den Nachttisch und begann, da zehn Uhr bereits vorüber war, leise gähnend die Nadeln aus ihrem Haar zu nehmen.

Das leichte Klirren der in die Schale gelegten Spangen ließ sie auf die Stille merken, die wie ein weicher, etwas ängstlicher Kern in einer weiten Schale entfernten Brausens war. Was brauste draußen? Die Stadt, das Unbekannte, die Zukunft. Dies waren Begriffe, mit denen ihre beschränkte und dürftige Vorstellungskraft das tiefe Geheimnis in ihr und um sich her zu erhellen vermochte. – Elli hatte den gängigen Verstand, dessen Wirksamkeit stets so weit reichte wie ihr Wortschatz; wer diesen vergrößerte, vergrößerte sie.

Sie schüttelte den Kopf, daß der Haarschopf auf den Rücken flog, vergrub dann die Finger beider Hände locker in die Haarwellen an den Schläfen, und so, die losen Massen an- und zurückhebend von der Stirn, blickte sie in den Spiegel.

Hübsch glaubte sie sich nicht finden zu dürfen. Wie aber das Ganze sein mochte, – Einzelheiten gab es doch einige, die ihr gefielen. Diese Stirn, rein, weiß und niedrig, war mit den dichten, schwarzen Brauen, leis brennenden, eher schwarz als braun wirkenden Augen und schwarzem, krausem Haar Erbteil der südlichen Mutter, und auch die kleine Gestalt war von ihr. Daß sie von Unbekannten häufig für eine Jüdin gehalten wurde, war ihr eigentlich nicht recht; weniger aus Abneigung gegen diese Menschen, deren sie kaum einen kannte, als weil es doch nicht wahr und also unrecht war, sie damit zu sticheln. Schade um das Kinn! Warum stand es vor? Und der Mund, – nun, er mochte hingehn, obgleich sie nicht zu wissen glaubte, was ihr an den sehr schmalen, aber wie sie fand, zu breit ausgezogenen Lippen von dunklem, immer ein wenig feuchtem Rot wohlgefiel. Daß er sehr zart bestrichen war mit dem farblosen Firnis Reiz, das wars, was sie erkannte, ohne es ganz zu begreifen. – Elli war ein junges Mädchen.

Sie schloß die Betrachtung, indem sie sich die Zungenspitze zeigte, worauf sie vor dem, sie anlächelnden Spiegelbild die Augen senkte und das Haar kräftig zu striegeln begann, als in welche Beschäftigung vertieft, sie über einigen Gedanken an ihren Vater allmählich sich selbst aus dem Bewußtsein entschwand, schläfriger wurde, sich gedankenlos entkleidete und niederlegte.

Eine Weile lag sie noch, fröstelnd, das Warmwerden erwartend, mit halb geschlossenen Augen den Lichtfleck der Lampe an der weißen Zimmerdecke betrachtend, leise zusammengezogenen Herzens, die gefalteten Hände zwischen den seitwärts gelegenen Knien, und sie betete wohl zu jenem unbekannten Gott der Geschicke jenseits aller Götter und auch jenseits der Worte.

Dann löschte sie das Licht und schlief bald ein.


Mancher wohl hatte einen Traum wie den:

Er trat aus der Tür seiner, in einem Oberstock des Hauses gelegenen Wohnung, und im Stiegenhaus war es dunkel, Nacht. Die erste Halbtreppe aber senkte sich nicht wie sonst gegen ein Fenster hinunter, sondern dort war eine Tür und in ihrem Rahmen eine ganz leuchtende, schöne und sonnige Landschaft mit Brücken und wandelnden Menschen. Erfreut, hineinzugelangen, stieg er nicht, sondern schwebte die Treppe hinunter, doch war da jetzt keinerlei Ausgang, sondern doch ein Fenster und die Landschaft gemalt auf ihm; sie bewegte sich noch, aber nun schon nicht mehr, und auch nicht Menschen und Bäume waren da, sondern nur Arabesken, und es war auch ganz dunkel, beängstigend. Jedoch im Umdrehn wurde die nächste Halbtreppe wieder erkennbar, nur waren die Stufen überhoch, und es war die Pyramide von Gizeh; sehr mühsam und mit Ängsten kletterte sichs herunter, doch war unten immerhin das große Tor zum Königspalast, in den die Menschen schon strömten, und endlich war man auch dort. Allein nun war ein gewaltiger Abgrund dazwischen, und das Schloß lag zwar leuchtend, aber ganz fern und klein auf einem Berg in der Ebene. Der Abgrund war schwindelnd nahe, die Angst betäubend, nirgend die Treppe, – aber nein – dort war sie ja! sie führte am Abgrund hinunter, ganz schmal war sie geworden und hatte kein Geländer.

Nun und so weiter, wie jeder es sich ausmalen oder es geträumt haben mag. Ein solcher Traum aber war von nun an das Leben Ellis, und es beginnt hiermit die


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