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Zweite Treppe

Mit heftiger Begierde ins Freie getrieben, wanderte Elli an einem glanzvollen Maimorgen in aller Frühe auf dem hohen Ufer der Seine in der Gegend von Meudon, in der Richtung auf Paris, und in der heimlichen Erwartung, eine schwere, greise Gestalt, die Rodins, unter der weiß und goldenen Kuppel des Himmels vor sich auftauchen zu sehn. Allein dies ereignete sich nicht, nur entdeckte sie im Grase der Uferböschung ziemlich tief überm Wasser eine liegende menschliche Gestalt, in einer Haltung, die – halb auf dem Gesicht, einen Arm von sich gestreckt – auf dieser sehr schrägen Wandung nicht eine zum Hinliegen gewählte schien.

Es half Elli nichts, daß sie vorüber und noch einige Minuten ihres Weges weiterging; etwas Unweigerliches zwang sie, umzudrehn und mit dem Wunsche, sich näher von der Sonder- oder Nichtsonderbarkeit dieses Daliegens überzeugen zu wollen, den Weg zurückzugehn.

Der Mensch lag genau wie zuvor, sie wartete noch eine Minute, stieg endlich, da er nach wie vor kein Glied bewegte, zu ihm hinunter, hockte nieder und sah, daß sein Mund und das Stück unter der Nase naß waren von hellrotem, frischem Blut. Sie suchte nach seiner Hand; die war ins Gras geballt, war rötlich und warm anzufühlen; er war nicht tot. Es schien ein ganz junger Mensch zu sein, das Gesicht war erschreckend hager, blond das Haar, der rötliche Bartflaum auf den Wangen so weich, daß noch kein Messer über sie hingegangen sein konnte; die Kleidung war sehr abgetragen und ärmlich, die Hosen hatten unten Fransen, eine Stiefelsohle klaffte.

Sie rührte ihn nun an der Schulter an, wälzte ihn endlich herum, soweit sie vermochte, und wobei er beinahe ins Wasser hinabrutschte, und entdeckte nun, daß in der Hand, auf der er gelegen hatte, ein Revolver steckte. Erschreckt ihn abtastend, fand sie gleichwohl nirgends Blut noch Wunde am Körper. Er trug keine Weste, nur ein altes, schon vergilbtes weißes Hemd unter dem Rock, um den Leib einen Riemen. Elli tauchte ihr Taschentuch ins Wasser, wusch sein Gesicht, – es schien wirklich nur Nasenbluten, vielleicht war er gefallen. Gleich darauf, wohl von der Kälte des Wassers erweckt, schlug er die Augen auf und sah Elli an.

Nein, so jung, wie sie gedacht hatte, war er wohl doch nicht; die kleinen, tiefliegenden Augen waren hell, fast wässrig graublau, und diese für sich angesehn hatten einen erstaunlichen Ausdruck von Gealtertsein und Vergrämtheit. Er sagte nichts; nach einer Weile fielen seine Lider zu. Elli bemächtigte sich der Waffe, ohne daß er es zu merken schien; sie sah so billig und schlecht aus, daß Elli sie kurzerhand in den Fluß warf.

Auf ihre Bitte, ihr zu sagen, was ihm fehle, schlug er die Augen auf und würgte hervor: »Was wollen Sie denn?« in deutscher Sprache. Elli darauf: »Ach, Sie sind ein Deutscher? Ich bin auch eine Deutsche, ich möchte Ihnen helfen, bitte, was ist Ihnen denn?« – Als Antwort kam nach langer Zeit erst, kaum hörbar schwach: »Nichts gegessen … vierzehn Tage …«

Vierzehn Tage! Er delirierte wohl, der Arme! – Elli kletterte stracks die Böschung empor und lief davon in der Richtung eines Hauses, das sie erspähte, von wo sie Minuten später mit einem Napf Milchkaffee und einem Stück Brot zurückkehren konnte. Er lag wie zuvor. Nachdem er ein paar Schlucke genommen hatte und den ersten, vorsichtig ihm gereichten Brocken Brotes vertilgt, riß er ihr den Rest aus der Hand und verschlang ihn augenblicks; nur der letzte Bissen quoll ihm im Munde, und es dauerte lange, bis er ihn hinunter bekam.

Er konnte nun aufrecht sitzen, starrte trübe auf die eklig vorbeiwandernde Fläche des Stromes und schwieg, bis sie wieder zu fragen begann.

Was er denn sei? –

Nichts. – Er war böse und machte verächtliche Kaubewegungen.

Wie er denn heiße?

Hätte keinen Namen. Und sei nirgendher, ginge nirgendhin, wolle gar nichts und – Da entdeckte er das Fehlen seines Mordinstruments, suchte es mit den Augen im Gras, heftete dann den Blick blinzelnd auf Elli und fragte hohnvoll: »Wollen Sie die Verantwortung auf sich nehmen? Na schön! Habeat sibi!«

Aber wie alt er sei, das könne er doch vielleicht sagen. Die hingeworfene Antwort: »Achtzehn!« genügte für die zwanzigjährige Elli, um sich als Frau zehn Jahre älter zu fühlen.

Sie saßen wieder schweigend, vor Augen die Fläche des hellen Stromes, das jenseitige Ufer und die fernen Reihen der Pappeln, jener Bäume, die ein so liebliches Gefühl von Kindheit mit der Erinnerung an die Dörfer, Tiere und Bäume der Spielzeugkästen hervorrufen, sobald sie in Reihen erscheinen, – auch Elli in beharrlicher Stummheit, dieweil dies ihr das beste Mittel schien, die seine zu brechen. Wirklich fing er nach einer Weile, Gras ausrupfend und durch die Finger ziehend, an: Was sie denn eigentlich wolle? Was er sie anginge? Sie hatte seinen Revolver gestohlen und sollte ihn wieder hergeben. – Elli deutete matt lächelnd auf die Seine: »Da drin!«

Augenblicks sprang er auf, wankte, warf sich gegen die Böschung herum, kletterte hinauf und lief davon, Elli hinterdrein, aber er kam nicht weit. Er lag schon, als sie über dem Rand der Steile sich aufrichtete.

Elli, die immerhin nun an seiner Sprache erkannt hatte, daß er ein gebildeter Mensch und Norddeutscher war, versuchte es jetzt mit Streicheln und Gutzureden. Sie sagte, sie getraue sich schon, die Verantwortung zu übernehmen, er solle sich nur beruhigen und ihr erst mal sagen, wer er sei, und was all das zu bedeuten habe. Das Weitere fände sich schon, – und sie hatte denn auch die Genugtuung, daß er zu weinen anfing, ihre Hand ergriff und küßte und schließlich zu reden begann.

Aber woher er stamme, wollte er nicht sagen, er sei Maler, sein Name Bogner, – nein, kein Vorname, wäre weg, abhanden, flöten, B. könnte es heißen, B. Bogner. Er lebte seit anderthalb Jahren in Paris, vor einem halben sei ihm sein Geld ausgegangen, seitdem hätte er von Handlangerarbeit und Tagelohn gelebt, sei aber bald von Kräften gekommen, habe nichts mehr verdient, nichts mehr zum Versetzen gehabt, seine Knochen der Anatomie verkauft, wieder das Geld verbraucht – er sagte: verviehkatzt! – und nun, seit vierzehn Tagen, habe er gelebt, wie die Hungerkünstler es machten, von kohlensaurem Wasser. Heut morgen habe er sich totschießen und obendrein in die Seine fallen wollen – doppelt, sagte er, hält dreifach –, aber die Schwäche ließ es nicht mehr dazu kommen.

Fertig, er blieb wieder stumm. Aber eine kleine Welle später hatte Elli ihn doch auf dem Wege zur Dampferstation, erlangte seine Adresse von ihm, und endlich, nach langen Fahrten mit dem halb Ohnmächtigen im Dampfboot, in der Untergrundbahn, schließlich im Omnibus, hatte sie ihn auf der höchsten Montmartrehöhe in der elendesten der für Elli denkbaren Dachkammern, die wahrhaftig nichts enthielt als eine zerfetzte Matratze und einen eisernen Ständer mit blechernem Waschbecken. Die Vermieterin hatte sich in einer Türspalte gezeigt, als sie kamen, eine schwangere Frau in Hemd und Rock mit einem ängstlichen, veralterten Gesicht, hinter ihr winselte ein Kind aus einem betäubenden Stinkdunst von nasser Wäsche, Kindern und Lumpen. Sie sagte kein Wort.


Dies war der Beginn. Elli, um nichts bekümmert, als was ihr notwendig schien, hatte einen Tag später ein Atelier gemietet, die nötigen Geräte aller Art zum Malen und Zeichnen besorgt und hineinschaffen lassen, endlich ihn selber hingebracht unter der Vorspiegelung, daß sie dort wohne. Drinnen ging sie wortlos an die große Fensterwand und stellte sich davor, ohne bewußten Gedanken, nur daß sie nach einiger Zeit, ungefähr so wie sie als Kind, wenn ein Stern fiel, eilig einen Wunsch zu erraffen suchte, besinnungslos dachte: daß Ludwig wiederkommt! daß Ludwig wiederkommt!

Dann hörte sie eine Bewegung von ihm. Er fragte mit unterdrückter Stimme, was das alles solle. Elli drehte sich halb zu ihm herum und lachte und sagte: wenn sie doch schon die Verantwortung übernehmen wolle … und drehte sich wieder weg. Bald darauf kam er zu ihr, nahm ihre Hand, und als er nun, einen Kopf großer als sie, sich über sie beugte, glaubte sie, plötzlich einen um Jahre Gealterten zu erblicken; ja sie meinte ihn wirklich zu sehn, wie er in zehn Jahren sein würde, so war der ernste, prüfende, fast gütige Blick seiner Augen und so beherrscht, so ruhig sein Mund. Er sagte: »Ob Ihnen das einer lohnen wird, weiß ich nicht. Aber ich werde einmal groß sein, Kind, und wird es Ihnen dann genügen, zu wissen, wem ich alles verdanke?«

Elli nickte bloß, zog seinen Kopf herunter, fühlte sich mütterlich und küßte seine Stirn. Danach machte er sich los und begann, die Hände in den Hosentaschen, im Raum herumzulaufen, schlottrig, sich hängen lassend, immer schneller und schneller, bis er nach einer Bewegung, als wollte er auf sie zu oder vor sie hin stürzen, sich über den Diwan hinwarf und in ein solches Geheul ausbrach, solches Weinen und Geschrei, solches Toben und Würgen, und schließlich in Krämpfe und Zuckungen zu verfallen, daß Elli vor Angst herzlich gern entlaufen wäre. Als sie sich ihm näherte, stieß und trat er mit Händen und Füßen um sich. Sie mußte warten, bis er genug hatte, aber es dauerte eine gute halbe Stunde bis dahin.

Anlage zur Weissagung besaß Elli nicht; immerhin war ihr die Ahnung nicht fern, daß sie es nicht leicht haben würde mit dem B. Bogner.


Acht Tage lang, von dem friedfertigen Abend an, der auf jenen Zusammenbruch folgte, und an dem er schwelgte in Bildern der Zukunft, des Ruhmes, der gigantischen Werke, die er in sich enthalte ›wie ein Sack voll Gerste‹, wich er ihr kaum von der Seite. Am ersten Morgen fand sie ihn vor ihrer Haustür – es war schon zehn Uhr, zufällig der einzige Tag in der Woche, an dem sie nicht früher zur Universität ging –; er erklärte strahlend, er warte schon seit sieben, oh es sei das Wunderbarste auf der Welt, auf etwas zu warten, das komme! Er brachte sie bis zur Tür des Hörsaals, war nach einer Stunde wieder zugegen, ging mit ihr essen, ließ sich Geld schenken, am Nachmittag einen Anzug kaufen, brachte sie zur Bibliothek und kam mit hinein, blätterte in den aufgestellten Lexiken und anderen Werken des Lesesaals, beobachtete haarscharf jeden, der kam, steckte zuletzt den kleinen Finger in Ellis Tintenfaß und malte mit einer Zickzacklinie das Profil ihres Tischnachbarn auf die Platte, so daß der zurückfuhr vor dem Entgegenspringen seines eigenen Gesichts. Abends schleppte er sie stundenlang in Paris herum und zeigte ihr tausend nie gesehene Dinge, Farben und Erscheinungen in den Straßen und des honigfarbigen Himmels. Am andern Tage das gleiche und so fort ganze acht, während er nichts tat als die albernsten und ausgelassensten Reden führen, Witzeleien, Kalauer, Parodien seiner Lehrer im deutschen Gymnasium, in der Kunstschule, Possen treibend, Leuten auf die Hacken tretend, auf Haustürglocken der Hebammen drückend, und einmal warf er sich mit beiden Händen in das Hinterrad eines eben anziehenden kleinen Wagens. Waren sie ins Freie gefahren, so ging er auf den Händen umher, schlug Rad, pfiff gellend und zweistimmig, ahmte Schweine, Kühe, einen Zweikampf von Hunden, einen ganzen Hühnerstall mit dem Munde nach, fragte Elli bei jeder Vorführung, ob sie das auch könnte, kurz er war außer Rand und Band. Die Malgeräte lagen am Ende dieser Woche um kein Haarbreit anders da, als Elli sie hingelegt hatte; war sie mit ihm zusammen im Atelier, so schien er dieselben geflissentlich zu übersehn.

Aber jener Kuß, der erste am Fenster, so schwesterlich er gewesen war, er hatte doch die Möglichkeit körperlicher Nähe und zärtlicher Berührung enthalten, für Menschen ihrer Jugend und ihres Blutes. So kam es, daß auch beim ersten Lebewohlsagen Elli ihm die Lippen reichte – aus reiner Schwesterlichkeit, wie sie meinte –, die er sehr zaghaft nahm, kam es, daß sie sich in der Folge beim Kommen und Auseinandergehn küßten, und später bei dieser oder jener Gelegenheit, die eben Anlaß dazu bot. Dann war die leibliche Berührung ihnen vertraut und allzeit möglich geworden, er küßte sie nach jedem Scherz und jeder Albernheit, zum Abschluß nach jedem Geschwätz, zur Abfertigung, wenn sie widersprach, legte bei Spaziergängen im Boulogner Wäldchen den Arm um ihre Schulter, drückte sie an sich, trug sie unversehens ein Stück davon, um ihr seine ›herkulische Kraft‹ zu beweisen trotz kohlensaurer Hungertage, und kurz: sie führten sich wie Verliebte auf.

Und die Blicke kamen dann, das innerliche Erzittern, die zunehmende Süße der Zärtlichkeit, wohlbekannt – oh nein, unbekannt und nie erlebt für Elli, die sich übrigens einbildete, er sei ein Junge, und freilich – ihr tiefstes Gefühl für ihn blieb allzeit das mütterliche. Aber ich weiß nicht, wie sehr sich die Verliebtheit einer sehr jungen Mutter in einen Sohn von irgendeiner andern unterscheidet.

Als sie am Sonntagabend – an einem Sonntagmorgen hatte er sie gefunden – von einer Fahrt nach Versailles zurückgekehrt, sehr still und verhalten das dunkle Atelier betraten, fiel er plötzlich auf die Knie vor ihr und schrie überlaut: »Oh Mädchen, Mädchen, ich liebe dich ja so wahnsinnig!« Darauf sprang er wieder auf, umschlang und erstickte sie mit Küssen, die sie eine Zeitlang mit Inbrunst erwiderte. Plötzlich jedoch fielen ihr die Arme wie abgehauen, sie entfiel ihm fast, machte sich heftig von ihm los, schlich mühselig zum Diwan und setzte sich. Nach einigen Minuten wagte er sich zu ihr und fragte, ob sie ihn nicht liebe. Sie nahm seine Hand und sagte halblaut: »Du mußt warten …« Ja, das wollte er gern! – Immerhin lag sie eine Weile später wehrlos in seiner Umschlingung, die sich so allgemach aus seinen leisen Tröstungen entwickelt hatte, er fragte nicht mehr, und vermutlich genügten ihm vorderhand ihre Küsse.

Hierin unterbrach er sich nur einmal, um sie zu fragen, wie eigentlich ihr Vorname sei.

Nun, er wisse doch: Elli!

»Na ja, Elli! Ist das alles? bist du so getauft?«

Ja, so sei sie getauft.

»Oh Teufel auch, das ist ein Name! Konnten sie nichts Glorreicheres erfinden? Elli, Anni, Lissi, Emmi, Lilli und so weiter, das sind ja Gänsenamen!«

»Einer,« sagte Elli leise, »hat mich Inge getauft.«

»Na, das muß ein Idiot gewesen sein, mit Erlaubnis! So ein blinder Hesse, hat er denn nicht gesehn, daß du schwarz bist und nicht blond wie so eine schwedische Ingeborg?«

Blinder Hesse, dachte Elli und erwiderte, er habe es von Ignis abgeleitet. Er bemerkte, das ließe sich eher hören, aber nun könnte er sie doch nicht auch so nennen. Während dieser Reden war er damit beschäftigt, ihr Haar, das sie in der Mitte gescheitelt und in leichten gewellten Bäuschen über der Stirne trug, zurückzustreichen und immer straffer von Stirn und Schläfen zurückzuziehn. »Warte,« sagte er jetzt, »so mußt du es tragen, und nun weiß ich auch gleich, wie du heißen sollst! Ja, ich werde dich Gemma nennen,« schloß er, das G wie ein deutsches aussprechend, »du hast ein Profil wie eine Gemme.«

»Oh pfui, Dschemma heißt es, nicht Gemma!«

»Tschemma –«

»Ach: Dschemma! ganz weich, du kannst es ja nicht sprechen!«

»Ach, der Teufel hole die Aussprache!« sagte er, sie unter sich begrabend, »dann kann ich ja ebensogut Badeschwamm sagen oder Stemmeisen!«

»Also sage nur Gemma!« gab sie nach mit einem Seufzer.


Andern Abends, als sie gehen wollte, hielt er sie fest und sagte: »Du darfst nicht!« Sie riß sich los, setzte den Hut auf und wandte sich zur Tür. »Du darfst nicht!« schrie er aufgebracht, »hörst du nicht, ich kann nicht malen, wenn du nicht –« Er brach ab, verbesserte sich und rief: »Wenn du gehst, – ich werde dir zeigen, was geschieht, wenn du gehst!«

»Nun, was denn?« fragte sie matt, wenig belustigt.

Sofort lief er in die Ecke, stürzte sich über Malkasten, Palette, Pinsel, Skizzenbücher, schleppte, soviel er erraffen konnte, herbei, schmiß sie knallend vor ihre Füße hin und schrie: »Da! alles nimmst du mit! Meinst du, ich wollte was von Ihnen geschenkt haben, von so einer, so einer, die mich nicht liebt? Weg mit Schaden!« Und er fing an, Rock, Kragen und Schlips auszuziehn und auf die Malsachen zu werfen. Scheinbar wollte er sich nackt entkleiden, damit sie alles mitnehmen könne.

Es führte zunächst zu einer Art Lachkrampf bei Elli, der wütende Bengel, gesträubt wie ein Zinshahn, fluchend und schwörend wie ein Sklavenhändler, schien ihr das Komischste, was sie je gesehn. Aber das Ende war, daß sie blieb; gerne blieb; sehr gerne blieb.


Sie mußte eingeschlafen sein in dieser Nacht, denn sie erwachte, leise fröstelnd – obschon die Juninacht die kleine Kammer neben dem Atelier noch mit Wärme und Duftigkeit durchhauchte –, und fand sich in dem fremden Raum, auf dem Rücken liegend, in einem dämmrigen Lichtschein und halb entblößt, ohne Decke und nur die Brust unter einem dünnen Zeug, in dem sie ihr Hemd erkannte. Als sie sich bewegte, hörte sie die Stimme des Jungen, halblaut und beiläufig: »Bitte still liegen!« – Sie lag still, bewegte nur nach einer Zeit leise das Gesicht zur Seite.

Die Kerze im Leuchter stand irgendwo auf den Dielen. Im Schatten, nur das Nachthemd am Leibe, saß der Knabe Bogner, den großen Block für Kohlezeichnen auf einem Stuhl gegen dessen Lehne gestellt, vor sich, in der Hand ein Stück Kohle, und blickte sie fremd an, – so schien's, allein bald mußte sie merken, daß der unveränderliche Blick auf irgendeine Stelle ihres Körpers geheftet war. Also drehte sie das Gesicht wieder nach oben, und so lag sie still, sehr leise überflutet von glücklichen Gefühlen, lange Zeit. Und so entschlief sie wieder, um wieder zu erwachen von einem reißenden Geräusch und schlaftrunken zu sehn, daß er ein Blatt vom Block herunterriß und zu einigen andern am Boden warf, worauf er den Block wieder aufstellte und sie gedankenvoll betrachtete. Die Kerze stand jetzt anders, stand unsichtbar ihr zu Häupten. Er saß entfernt; da sie jetzt auf der Seite lag, konnte sie ihn gut sehn, aber bald fielen ihr die Augen wieder zu, geblendet vom Lichtschein.

Doch schlief sie nicht. Sie dachte; was dachte sie?

An die Umarmungen dieses Knaben, die von einer an Tollwut grenzenden Zügellosigkeit gewesen waren, zähnefletschende, erdrosselnde, zermalmende, eines Teufels Umarmungen in eben dem Grade, wie ihr die Ludwigs eines Engels geschienen hatten. Sie lächelte innerlich: das war wohl der Anfang. – Allein was dies anbetrifft, und so wechselreich die Art des Knaben sonst sein mochte: in diesem Punkt blieb er sich gleich; viel mehr ein Zorniger scheinend als ein Zärtlicher, pflegte er hinterdrein ersterbend zusammenzufallen wie der Läufer von Marathon, worauf er – ob es Nacht war oder Tag – eine halbe Stunde später vor seinem Block oder einer Leinwand saß, pfeifend, daß es schallte, oder pfeiferauchend wie ein Kamin bei Mittag. –

Sie dachte ferner, wie schön und beglückend es war, so zu liegen und diesem Menschen zu dienen, womit er gedient haben wollte; und wenn sie es nicht dachte, so empfand sie es doch, daß es genügte zu dienen, um glücklich zu sein, gleichviel ob mit dem Geist oder mit dem Körper, da nicht im Geist und nicht im Körper die Seele ist, sondern im Dienen.

Und sie dachte an Ludwig, der ein edler Schatten geworden war, fast einem Menschen ähnlich in einem sehr schönen Buche; in einem Buche der Kindheit einer jener so geliebten Menschen, daß man in späteren Jahren nicht mehr weiß, ob sie im Buch vorkamen oder in der Wirklichkeit, denn sie waren ganz Leben.

Und sie dachte wieder mit Heiterkeit an kommende Tage der Arbeit, und daß es wahrscheinlich einige Mühe kosten werde, am gewohnten Tagesmaß festzuhalten, worüber sie entschlief.


Als Elli oder Gemma am Morgen erwachte und sich ankleidete, fand sie den Fußboden mit den großen Blättern bestreut und besah sie wißbegierig. Was sie erblickte – ihr eigener Leib, nicht zu erkennen, da sie ihn erstens nie recht gesehn, und da er zweitens sehr verändert war dessen wahrhaft wüste Zügellosigkeit konnte sie freilich nach ihren eigenen Erfahrungen nicht überraschen (abgesehen von einem Blatt, das sie errötend umdrehte; das konnte man tun, aber doch nicht malen), aber das war bei aller Maßlosigkeit der Gestaltung von erstaunlicher Größe. Diese Glieder in Kohleumrissen schienen, umfetzt oder überhäuft von Schattenmassen, einer Riesin Glieder zu sein, hingewälzt in Stücken wie Erdrutsche, aus Finsternis herausgestürzt, ein Bein oder Arm, Fanfarenstöße von Licht; ihr Kopf, halb von hinten gezeigt mit dem Haar, schien der einer schlafenden Furie, alles war gehauen, gerissen und gestochen, aber immer aus aller Verzerrtheit keuchte die gequälte Wahrheit so leiblich, so feuerhaft und so bestürzend, daß es für Elli am Genie ihres Knaben seitdem keinen Zweifel mehr gab.

Als sie aber dann an dem, auf dem Diwan im Atelier Schlafenden vorüber zur Tür wollte, erwachte er, stieß sich die Fäuste in die Augen und hielt Elli fest. Elli oder Gemma mußte bleiben und weiterhin sich zeichnen und malen lassen, und sie blieb, diesen Tag und ein volles Jahr.

Am Nachmittag nämlich zwang er sie, ihr Zimmer zu räumen und die Kammer neben dem Atelier zu beziehn. Bei der Arbeit, meinte er, könnte keiner den andern stören, schlafen würde er auf dem Diwan. Dem Vermieter des Ateliers, einem gewesenen Photographen, der trank und – wie Bogner erfuhr und Elli verriet – nur noch Aufnahmen außer dem Hause von einer gewissen Art machte, sagte er nichts als, auf Elli deutend: » Ma femme!« – Ellis Arbeit bekam eine Lücke von beinah zwei Wochen, dann war sie malerisch für ihn erledigt und konnte von nun an kommen und gehen, wie es ihr gefiel.

Aber diese zwei Wochen hatten ihr Gewicht. Bogner fuhr fort, ihren Körper zu studieren, mit Ölfarbe und Tempera, mit Wasserfarben und dem Buntstift am Tag, nachts mit Kohle bei Kerzenlicht, stückweis und im ganzen, mit einziger Unterbrechung durch die Mahlzeiten, Schlaf und Umarmungen. Einmal ließ er sie fort, damit sie ihm ein anatomisches Werk aus der Bibliothek beschaffte, und nun arbeitete er vom Kopf zu den Füßen ihren Körper in den Abbildungen des Buches durch und in Leiblichkeit; er mußte alles wissen, betastete ihren Bauch nach den Organen darunter und verbrachte ganze Stunden mit dem Befühlen, Drehen und Biegen von jedem ihrer Gelenke. Am fünften Tag aber gab es einen Ausbruch, ähnlich dem am ersten, nur begann es diesmal damit, daß er mitten aus schnaufender Arbeit aufsprang und mit erhobenen Armen, gespreizten Händen und offenen Mundes wie im Schreikrampf, aber ohne Laut kreisend im Raum herumlief, schließlich bäuchlings zu Boden fiel und zu schreien begann: »Ich kann nicht! Ich kann nicht!« Danach kamen wieder die Krämpfe, die übrigens keineswegs epileptisch waren, sondern nur Entladungen der seelischen Wut durch die Glieder. Wieder ruhiger geworden, beichtete er erschöpft in ihrem Schoß: es sei nicht der erste Anfall dieser Art gewesen, es würde wohl auch noch wiederkommen – es kam auch, vier- oder fünfmal im Laufe eines halben Jahres –, der verfluchte Hund von seinem Vater sei zweifellos daran schuld, er habe in den letzten fünf Jahren Daseins in seinem Hause neunzig Prozent Malkraft in sich fressen müssen wie Talg, nun sei es eine Pest geworden, das Malen, eine Cholera, ein Aussatz, nur: »den Ausschlag sieht man auf dem Papier«, und die Raserei sammle sich fühlbar in seinen Händen, seinen Fingern, bis sie brannten, fieberten, frören, schlotterten und vor dem Übermaß an Menge des Malbaren sich sträubten und versagten. – In der Tat, da Elli mit der Zeit einsah, daß es technisch für ihn kaum eine Unmöglichkeit gab, daß er konnte, was er wollte, so bestand sein Leiden nur in diesem: dem Nicht-alles-Können, dem ohnmächtigen Ausgesetztsein in Möglichkeit ohne Grenzen und dem ebenso ohnmächtigen Unterworfensein unter den zermalmenden Zwang, alles nachzumachen, was er sah, gewissermaßen alles Malbare der Welt einzuschlingen.

Trotzdem aber: seinem innersten Wesen lag daran nichts, wie ein späteres Gespräch Elli offenbarte, welches folgendermaßen zustande kam.

Umgang mit Genossen pflegte er kaum, doch hatte er einen Freund, einen genialisch aussehenden Menschen in seinem Alter, von dem er sagte, daß er mit der Schnauze alles, mit dem Pinsel nichts könnte, aber einen Heidenmammon verdienen würde – Mammon war für ihn der Inbegriff des irdischen Unflats –, den er aber liebte, aus unbekannten Gründen. – Elli vermutete, daß er ihm einmal geholfen habe, und übrigens war es ein liebenswürdiger Mensch. Der kam zuweilen, oder Bogner besuchte ihn mit Elli, wo es sich dann ab und an traf, daß Andre dazukamen, mit ihren Mädchen zumeist. Späterhin richteten sie es so ein, daß sie allein blieben, denn Elli meinte, daß diese Art Mädchen doch nicht ganz der rechte Umgang für sie sei, was er einsah, und ihn verdrossen die Gespräche über Kunst, bei denen er sich schweigsam verhielt, ungemein. Nach einem solchen aber war es, daß Elli ihn auf dem Heimweg fragte, selber verdrossen von dem Unsinn, den sie, geschult an Ludwigs und Valerius' feinem Gefühl für Größe, Adel und Frommheit, hatte anhören müssen: was er denn eigentlich von den Meinungen der Andern dächte.

Daß sie ein großer Mist wären.

Warum?

»Weil – weil sie lauter Probleme haben. So ein Blödsinn! Jeder pickt sich was heraus, das er ein Problem nennt, dreht's nach allen Seiten, bewundert's, erklärt es jedem, der vorbeikommt, und dann malt er's mitsamt Staunen und Erklärungen, daß alle sehen können: Welch ein Problem! und: Wie ist das angepackt! – Verfluchte Expressionisten! Als ob es darauf ankäme, einen Ausdruck zu finden! Als ob nicht jedes Drecksding, jede zerbrochene Tasse und jeder Nachttopf voll Probleme säße wie der Hund voll Flöhe. Der eine schreit: Farbe! der andre: Rhythmus! der dritte: Struktur! und der vierte: Schweizerkäse! Als ob es all das gäbe! Musikalische Auflösung der rhythmischen Intervalle, was? Kontur und Farbe und Fläche und all der Stumpfsinn! Licht giebt's, weiter nichts, und außerdem Schatten, und das ist das ewige Problem!«

»Aber du,« meinte Elli, »warum quälst du dich denn mit all den –«

»Warum! Weil ich lernen will, weil ich alles können will, weil das der Anfang ist, ohne den es gar nichts giebt! Das ist doch alles bloß Technik! Was geht denn einen Menschen auf der Welt die Technik an? Die muß doch bloß vorhanden sein! Meinst du, ich hielte das für Malen, was ich machte? Aber wart' es bloß ab! Ich werde ihnen schon nochmal Rubens auf Rembrandt setzen und mit Velasquez verleimen, daß ihnen die Augen übergehn!«

»Aber was ist denn Malen?« fragte Elli.

»Malen! Nun tu bloß nicht so, als ob du das nicht wüßtest! Malen ist Dichten! Bilder machen! das ist Malen! Bauten machen, Architektur, Komposition, allen Dreck weglassen, mit dem man sich jetzt herumschlägt, weglassen, bloß weglassen, weiter gar nichts!« Er spuckte. »Die Vision,« sagte er, »das ist's. Ich sitze so voll Visionen wie die Krähe voll Läuse. Dianen und Katharinen meinetwegen, ich brauche bloß die Bibel anzutippen, so klappt ein Gemälde heraus. Schlachten, Tumulte, Revolution, Hochzeiten und Kindtaufen, Gesichter, Gesichter, das menschliche Leben, schließlich wird einem doch alles ein Dreck wie Rembrandt, man säuft Schnaps, feixt in den Spiegel und malt's. Wenn ich kein Dichter wäre, und wäre ich Manet, was ich übrigens lange schon bin, so wär ich bloß ein lausiger Handwerker, der seinen eigenen Mist bestaunt und auf die Leinwand schmiert. Die Natur nachmachen? Natürlich! Natur ist alles, da kann man nicht herum. Aber warum soll ich sie denn noch mal machen? Bloß weil ich's kann, weil's Kunst ist? Wozu denn der Geist? Wozu denn die Sterne? und Phantasie und Gott und Dämonen? Soll ich nicht Dostojewsky sein oder Dante, bloß weil ich nicht erzählen kann mit dem Pinsel? Natürlich kann ich's nicht, will's auch gar nicht, aber – das Natürliche, das kann doch nur Mittel sein, niemals Zweck! mehr Zweck meinetwegen als bei Böcklin oder Feuerbach, aber weniger als bei Manet oder Schuch, und das ist Geschmackssache. So eine Kuh mit der Frau in der Dämmrung von Segantini in Berlin, das wäre schon was. Kuh oder Engel ist schließlich egal, aber die Kuh bitte schön nicht ohne den Engel, und die malen noch im Engel bloß die Kuh. Wenn ich das wollte, braucht ich bloß dich auf die Leinwand zu klatschen, wie du da bist; da haben sie dich; was wollen sie mehr? Muß ich dazu malen lernen – – «

Er fuhr noch eine halbe Stunde lang so oder ähnlich fort ohne neue Aufklärungen für Elli, die nun Bescheid wußte.

Noch wäre zu sagen, daß er nach jenem Ausbruch am fünften Tage ein neues Verfahren einschlug und Elli von der Stirn zu den Zehen, vom Wirbel zu den Fersen, liegend, stehend, gehend, sitzend und hockend, Quadratzoll um Quadratzoll mit dem Bleistift in Skizzenbücher eintrug, und zwar in immer kleinere, mit Bleistiftlinien willkürlich abgetrennte Räume, das ergab für Elli eine erschreckende Galerie von winzigem Leben, da sie aus jedem dieser Körperstücke sich angefunkelt sah, wie von Augen eines gesträubten kleinen Tiers. Zwischenhinein fuhr er mit ihr an besonders warmen Tagen »in die Gegend«, und wo er ein Ding von zwanzig Bäumen entdeckte, das er einen »Lusthain« nannte, so mußte sie sich entkleiden und in Gras und Blätterschatten legen, damit er sie malte, einen Schal zur Hand, den sie über sich zog, wenn jemand nahe kam, doch störte sie nur einmal ein Wildhüter, der sie fortjagen wollte, sich aber durch ein geschwindes Porträt seiner selbst versöhnen ließ.

Danach, wie vermerkt, war sie für ihn abgetan, und er leitete das gleiche Verfahren wie gegen sie gegen die Natur ein – Bäume, Blumen, Gesträuche –, doch das währte nur ein paar Tage; es war aus, er war leer, es hing ihm alles zum Halse heraus. Er sei, erklärte er, doch nur ein infernalischer Stümper. »Vielleicht hilft's, wenn du betest!« warf er hin mit einer Anspielung auf ihr Kruzifix, das er, als sie es aufhängte, mit einem albernen Witz begrüßt hatte. Gewiß: Elli, die mit Ludwig zusammen im Innern des Heiligtums zu weilen geglaubt hatte, nun höchstens im Vorhof stand, fühlte Frömmigkeit bewußter als damals; sie trat wieder in eine Kirche auf dem Morgenwege zur Vorlesung, nahm vom Weihwasser mit frommem Ernst, kniete und sprach ihr Gebet, wie vor dem Einschlafen auch, um Erlösung ihres Knaben zu dauerbarer Mannhaftigkeit, zu reinern Gefühlen, zur Beruhigung.

Wenn er auch aufgehört hatte zu malen, so kam sie darum vorderhand nicht zur Ruhe. Er bedurfte ihrer beständig, er flehte sie an, ihn nicht allein zu lassen, er sei krank von Einsamkeit, er verfolgte sie in Hörsäle und Seminare, er schleppte sie in jeder freien Stunde, deren sie mehr und mehr opfern mußte, auf die Straßen, in die Kirchen, in Galerien, ins Freie, und so war – alles in allem – diese Zeit reich an Entzückungen für Elli. Nun war ihr Auge, das in Ludwigs Schule nur ein Vermittler war, um Gemaltes geistig oder seelisch zu erfassen, – es war ein neues, erstaunliches Organ leiblichen Sehens für sie geworden, erstaunlich vor allem dadurch, daß sie bei seiner – des Knaben – Unterweisung bald erkennen mußte, daß jedes wahrhaft gesehene, noch so sehr abgetrennte Stück an Mensch oder Natur seine Essenz von Seele und Schicksal enthielt, ein übersinnliches Geheimnis bot oder enthüllte, das Gottesauge, wie er es einmal nannte, das tausendfach durch alles Irdische breche, so wie der Sternhimmel immer vorhanden sei auch am Tag und tausendmal dichter besät mit den himmlischen Augen, als das menschliche Auge wahrnehmen könne.

Eine sehr seltene Äußerung von so sänftlicher und christlicher Fassung. Zwar war seine geistige Sphäre an sich keine andre als die Ludwigs, sie mußte aber Elli wie ein Brockengipfel im Nebel, in Donner, Blitz und Regensturm erscheinen gegen jene, wo ein Alpengipfel die Klarheit seines Schnees einer abendlich geläuterten Sanftmut entgegenhob. So abgesondert, selbsteigen und einsam seine Stellung war, so sehr blieb er doch jeden Augenblick verhaftet dem Land und seiner Bevölkerung, dem er sich erst vor kurzem entwunden hatte, der heimatlichen Umgebung, unter der er zu leidenschaftlich gelitten hatte, um nicht immer noch sie um sich her zu wähnen und sich von ihr bedrängt zu fühlen. Also bildete kein Urteil, kein Meinen sich reinlich in ihm, sondern immer feindselig nach außen gerichtet blickten sie alle wie durch eine jener verkrampften und zähnefletschenden japanischen Kriegermasken, und jede Regung ward ihm verfärbt und vergiftet durch Gehässigkeit. Ein Gallier an Nachträglichkeit, an Leidenschaft der Empörung noch ganz ein Knabe, haßte er durch die Bank alles, was nicht war, nicht dachte und empfand wie er, und das ihm deshalb feindlich, widerwärtig, schlecht und nichtswürdig erschien. Er haßte seinen Vater in den Tod – dessen er nie erwähnte, doch tobte er gegen Väter allgemein –, haßte Deutschland, das ihm durch eben den Vater für einen Schlangenturm von Banalität, Banausität, Knechtung, Mörderischkeit und Entseeltheit galt –, wogegen er Frankreich pries und liebte, bloß weil allda kein Mensch sich um ihn kümmerte –, haßte übrigens die ganze Menschheit, die nichts von seinen Ekstasen wußte, haßte die Weiber und die Männer, die Staaten und die Religionen, die Fürsten und die Fuhrknechte, die Lehrer, die Schulen, die Gesetze, die Sitten, kurzum alles, und all dies griff und hob er wie mit einem eisernen Fleischhaken zusammen mit seinem Haupt- und Schlagwort: pervers. All das galt ihm für verrenkt, verdreht, verkehrt, kurz für pervers, welches Wort er dann abwandelte durch erlesene Giftreden und Beschimpfungen, daß die Balken sich bogen und Elli mit ihnen angesichts dieser Grube voll Galle.

Und geladen mit Rachsucht und Nachträglichkeit, wie er war, ließ er sie nicht unverschont. Seine Art gegen sie bestand in nichts weiter als im Gebrauch der natürlichen männlichen Waffe gegen die Frau – die ihrerseits die natürliche der Tränen besitzt –, nur daß er sie zur Anwendung brachte, ohne angegriffen zu sein, denn Elli tat, was sie konnte. Er verstummte also plötzlich, er schwieg vollkommen, sprach tagelang nicht ein Wort, unzugänglich für Beschwörungen. Wenn er sich dann endlich auszusprechen geruhte, so zeigte sich's, daß er sich unterweil vollgesogen hatte mit Geifer, das heißt mit hundert aus der Luft gegriffenen Dingen der Lieblosigkeit, des Unverständnisses und der Nichtachtung Ellis, die er zusammenlas aus Gegenwart und Vergangenheit. Der Gelegenheiten hierzu gab es tausend und eine. Eine Verabredung, die sie nicht hatte innehalten können, war freilich schon ein Kapitalverbrechen an Gehässigkeit; Zuspätkommen war ein übler Beweis von Nichtachtung, der an Umfänglichkeit zunahm mit jeder Minute, die er verwarten mußte. Widerspruch gegen eine seiner rabiaten ästhetischen oder sittlichen Äußerungen brauchte nur ein gewisses, für Elli schwer erkenntliches Maß zu erreichen, so war es eine persönliche Kränkung, war Gemeinschaft mit dem Gegenpart – und er sah immer einen Gegenpart –, also Feindseligkeit gegen ihn, also Unverständnis und Erniedrigung seiner, also Vereinsamung, trostlose Verlassenheit seiner.

Elli fand sich schließlich damit ab, daß sie ihn um noch ein Stück größer sah an Genie und an Zerrissenheit und ihn neben den hellenischen Ludwig als den Gotiker stellte, seelisch betrachtet, so schien ihr die Flamme seines Genius schmal in die Himmel emporgepreßt wie die gotische aus der Enge der Städte und Dogmen. Dies, weil er selber ihr einmal die gotische Form nachgewiesen hatte aus dem ungeheuren Krampf der riesenhaften Kathedralen und aus den Formaten der Bilder jener Zeit, die entweder allesamt so schmal seien, daß die Gestalten darauf sich gegenseitig zerdrückten und dünn in die Höhe zogen, oder so niedrig wie jene Zimmer, zusammengepreßt wie ihre Häuser von den gigantischen Häusern Gottes. Freilich, von der Dämonsgotik der steinernen Ungetüme an Kathedralen schien er ihr genug im Leibe zu haben, und als er wieder einmal seit einigen Tagen schmollte, kaufte sie eine Postkarte mit solch einem jungen Geier von Nôtre-Dame, schrieb: Das bist du! darunter und legte sie ihm hin. Er war beseligt. Ein versteinerter Adler, ja, das war er! Und er warf Memnons Säule, die Morgenröte, den Phönix, den halbversteinerten, durch Bestreichung mit unschuldigem Blute erlösten treuen Diener aus dem Märchen mit sich und Elli zu einem bacchantischen Gleichnis zusammen.

So knabenhaft aber all dies schien, half es Elli im allgemeinen doch wenig, es so anzusehn, denn er selber nahm es bitter ernst, und die tödlichste Verletzung war die, nicht ernst genommen zu werden, sich als Knaben betrachtet zu sehn, und gemeinhin prallte auch jeder Anlauf zur Besänftigung an der Mauer seiner starrsinnigen Schweigsamkeit ab, bis es ihm gefiel, sie einzureißen. Danach gab es denn Szenen unendlicher Rührung, der Selbstbezichtigung – wo er dann wohl alles auf »verruchte Vererbung« schob –, der Beklagungen Ellis, wüste Zerknirschung seiner hyänenhaften Undankbarkeit, süße Versprechungen des Sichbesserns; allein – er konnte nicht gegen seine Natur, es mochte wirklich Vererbtes dabei sein, und zwei Wochen später wiederholte sich der Vorgang. Elli lernte sich bescheiden, sich in Geduld fassen und hoffen auf die langsam tilgende Wirkung der Jahre.

»Siehst du,« sagte er in einer weichmütigen Stunde und mit der gedämpften Jugendlichkeit, die nichts so überzeugend erscheinen ließ wie den Größenwahn seiner Äußerungen, »eigentlich bin ich ja ein Engel. Aber der Engel, wenn er hier geboren wird, wird als Dämon geboren, und es giebt kein Mittel, als ihn aus der Dämonshaut herauszupeitschen.« Der gestürzte goldene Stern, fuhr er fort, ließe sich finden und nicht wieder erkennen als alraunisch verkohltes Gebilde, und das seien alle Gewächse und Gebilde hier unten im Vergleich mit denen strahlender Wahrheit oben. »Die Menschen hier sind keine Lebenden,« sagte er, »sondern Sterbende vom ersten Augenblick, weil dieser erste schon ihnen den Tod verbürgt; und so muß alles Lebendige sich bis in das kleinste zu Galle, zu Bosheit, zu Niedertracht wandeln.« »Bei Gott,« rief er, »je widerlicher der Flegel außen, um so süßer der Himmlische innen. Und das ist ja das Grauenvolle an den Engeln: sie sind nur, sie sind, und sonst nichts. Sie haben keine Arme, keine Hände, – Arme und Hände hat der Dämon, sie führen keine Keule, keinen Pfeil, – Gift und Dolch und Fackeln hat der Dämon, sie kämpfen nicht, sie wehren sich nicht, nichts haben sie als ihr Engeltum, ihre Reinheit und die Unschuld des himmlischen Entsprossenseins. Und was wird aus ihnen allen? Vergiftet, betrogen, zerschlagen, verschnitten, gerädert jahraus jahrein siehst du sie allüberall unter den Menschen herumschleichen, die königlichen Sklaven, verflucht, zu dienen im Getriebe des goldenen Götzen, und selten einmal und entsetzlich starrt dich aus dem erniedrigten Bestiengetümmel des Bürgerpöbels, halbentseelt, ein Augenpaar von echtem Golde an. Oh Jakob, Jakob!« schrie er fast weinend, »daß man doch einen ringenden Engel hätte wie du, daß er einen auf die Hüfte schlüge, und daß er den Segen lassen müßte!«

Bogner, der Knabe mit dem Engel innen, war in der Tat seines Äußern ein Lümmel von seltener Ungeschliffenenheit. Unbeherrscht, zügellos, wie er sich geistig hielt, so lief er am lichten Tag leiblich umher in einer tiefen Verachtung jeden Anstands, jedes gebärdlichen Schliffs, an dem er die Spuren eines bourgeoisen Wetzsteins argwöhnte. Die Hände in den Hosentaschen, krumm, schlottrig, eine gebündelte Weltverachtung, so trabte er mit sich herum und spuckte, wohin es traf. Jede Regung von Bosheit nämlich setzte sich in eine körperliche Bewegung der Geringschätzigkeit um, mit der er kauend das Kinn vorschob, dabei Speichel sammelnd, den er dann aufs Geratewohl von sich spie. Und dies war die einzige Flegelei von unzähligen beim Essen und Benehmen unter den Menschen, die Elli ihm abgewöhnte, indem sie ihn kurzerhand im Atelier, nicht anders wie einen jungen Hund beim Drill zur Stubenreinheit, beim Ohr nahm, zu der geschändeten Stelle hinführte und mit der Nase darauf stieß. So etwas gefiel ihm mächtig, er besserte sich dann gern, aus Dankbarkeit, nicht aus Einsicht.


Dieses Leben erfuhr eine einzige Unterbrechung im Dezember desselben Jahres, wo Elli zu einer sterbenden Verwandten, einer Stiefschwester ihres Vaters, nach Augsburg reisen mußte. Diese sehr kategorische alte Dame war in ihrer Jugend von zwei Liebhabern im Stich gelassen und vom dritten, der sie zur Frau bekam, um ihr Vermögen gebracht worden. Den ihr verbleibenden Rest verwandelte sie damals in Leibrente bis auf eine Summe von wenigen tausend Mark, die sie zur Verfügung behalten wollte, von der sie jedoch keinen Pfennig verausgabte, sondern die sie vielmehr im Lauf der Jahre noch um ein Stück vergrößerte durch monatliche Überbleibsel ihrer Rente, für ihre Person so bedürfnislos wie ein Kaktus. Nun verschied sie in Ellis Gegenwart, stramm und aufrecht in ihrem Bett und gewissermaßen mit einer Verfluchung des männlichen Geschlechts auf den Lippen, denn nach derselben, bis zu ihrem, einige Stunden später eintretenden Ende äußerte sie nicht ein Wort mehr, ganz als habe sie es sich vorgenommen, daß jenes das Schlußwort bilden solle. Einen Zwilling jener Verfluchung fand Elli hinterdrein im Eingang des Testaments, das sie, Elli, zur Erbin über die Barhinterlassenschaft der Toten – sechstausend und einige hundert Mark in Gold und Silber in einer Truhe unterm Bett verwahrt – einsetzte, unter der Bedingung jedoch – für deren Erfüllung ein Altersfreund der Verstorbenen zu sorgen hatte –, daß die Summe einer Sparkasse übergeben und von Elli nicht angegriffen würde vor dem Eintritt in ihr dreiundfünfzigstes Lebensjahr, falls sie verheiratet, oder in das fünfunddreißigste, falls sie zur Zeit unverheiratet sei; »denn sonst,« stand da, leichter zu begreifen als zu verstehn, »kriegt der Kerl doch alles.« Die Ziffern hatten irgendeine gefährliche Bedeutung im Leben der Verstorbenen gehabt.

Elli hatte ihren geliebten Knaben mitnehmen wollen, allein er »betrat mit keinem Fuß dies perverse Land«. So fand sie sich in den vier Tagen vom Tode der alten Dame bis zur Testamentseröffnung in einer seltsamen Leere, an der sie nun die Tiefe und Gewaltsamkeit ihrer erst so mütterlichen Leidenschaft verspürte. Unausgesetzt dachte sie auf langen Spaziergängen durch die anmutig verschneite Stadt, auf einer Fahrt nach München und dem Gange zu den elterlichen Gräbern über ihn nach, über sein Wesen, sein Genie, seinen Charakter, seine Herkunft, wie da zu helfen, zu fördern, durch leise Verbesserung zu erleichtern sei; denn wie die eigene Bosheit neben den Qualen des Genies an ihm zehrte und drückte, das wußte sie wohl. In süßer Wehmut vor ihren Gräbern, deren sie lange nicht gedacht, fand sie kein schöneres Gebet, als daß sie ihrem Knaben so lange wie möglich erhalten bliebe. Denn daß er schon um vieles sanfter geworden war durch ihre Nähe und sicherer durch ihren Glauben, glaubte sie gesehen zu haben. Erschreckt und davongescheucht wurde sie dann durch den Gedanken, daß, wenn sie nur den Wohnort seiner Eltern gewußt hätte, die Reise Gelegenheit geboten haben würde, sie aufzusuchen. Nun malte sie sich zur eigenen Quälerei, da sie nicht daran gedacht hatte, die Adresse von ihm zu erlangen, alle phantastischen Szenen einer Unterredung zwischen ihr und den beiden alten Leuten – als welche sie ihr erschienen – aus und glühender alle Heilsmöglichkeiten einer Versöhnung. Schließlich fanden diese Empfindungen einen Ausdruck im Einkauf einer kleinen Karrenladung von Christbaumsachen, dieweil sie sich, in ihre Gedanken verloren, vor einem Schaufenster voll solcher Dinge fand, Kugeln, Früchte, Ketten aus buntem Glas, Sterne, vergoldete Nüsse, Lametta, Silberbänder und Lichtern nebst Haltern.

Elli hatte noch in jedem Lebensjahr ihren bunten Kinderbaum gehabt und hielt ihn für unumgänglich, auch mit Ludwig … und noch vor der Auslage brach sie unvermutlich in Lachen aus, da sie ihn sah, wie er sich fast den Mund verbrannte beim Auslöschen der Kerzen, die er jedesmal weiter entfernt wähnte, als sie waren. Weihnachten in Paris ohne Baum – wenn es nur Bäume dort gab! – schien ihr der Schwermutsinbegriff. Sicherlich litt Bogner auch an Heimweh, wenn es auch, durch seine derzeitige Art der allgemeinen Vergälltheit zugeschmolzen, ihm unkenntlich blieb; dann konnte der Baum ein kindliches Wunder wirken.


Die gekauften Sachen schickte sie als Paket an sich ab. Am heiligen Abend hatte sie nicht nötig, ihn durch einen Vorwand für eine Stunde aus dem Atelier zu entfernen, er verschwand von selber an diesem wie an mehreren Nachmittagen vorher, – ihretwegen, wie Elli erwarten zu dürfen glaubte. Nun schaffte sie die nicht allzu stattliche französische Fichte vom Boden herunter und schmückte sie aus in einem ängstlichen Zustand von Wehmut, da ihr geistiges Auge nicht loskam von der Erscheinung Ludwigs, oder vielmehr des roten Zimmers mit dem brennenden Baum und den Freunden und ihrer heillosen Gefräßigkeit in Haufen von Gebäck und Konfekten. Gegenwartsangst war es aber, die sie wieder und wieder die damals geliebte Stimme in ihrer Mundart eine Bemerkung Ellis – sie habe sich erst gefürchtet, ob ihm der Baum nicht zu empfindsam oder bürgerlich vorkommen werde – beantworten hören ließ: Jedes freundliche und schöne Ding festlicher Erfindung steht außerhalb aller alltäglichen Sphären, und bürgerlich kann es höchstens durch die Art werden, wie man es sieht.

Endlich fertig mit dem Baum, immer noch wartend auf den Ausbleibenden, wurde sie wieder von Angst und Zweifeln überfallen. Entweder bürgerlich – oder empfindsam –, eine von beiden Regungen mußte doch sicherlich eintreten. Sie verfiel endlich auf den Gedanken, jenes Wort Ludwigs mit großen Schriftzügen auf ein weißes Blatt zu schreiben, das sie mit einem Reißnagel an der Außenseite der Tür befestigte als eine Warnungstafel.

Als sie dann schließlich seinen Schritt auf der Treppe hörte, steckte sie den Kopf durch die Tür, rief ihm zu, er solle eine Minute warten, zündete in Eile die Hälfte der Kerzen an, öffnete dann die Tür und fuhr fort, den Rest zu entzünden, ohne sich um ihn zu kümmern.

Endlich sich umdrehend, sah sie ihn, ein Paket auf den Knien, auf dem Diwan sitzen und in die Lichter starren; doch stand er nun auf, kam zu ihr und reichte ihr das Eingewickelte, das sie nicht ohne Überwindung und Enttäuschung – weil es kein Bild war – in Empfang nahm, immerhin doch wieder froh, daß er an das Fest gedacht hatte. Während sie es auspackte, sah sie ihn langsam um den Baum gehn und diesen und jenen Gegenstand mit der Hand berühren.

Aus den Papierhüllen aber erschien jenes Gemisch aus Knabenhaftigkeit und Genie, an dem sie auch gleich seine, trotz aller cholerischen Ausbrüche große Neigung zu Geduldsübungen wiedererkannte – Bürgschaft seiner Dauerhaftigkeit –; jene, ihr immer heilig bleibende Gabe seines damaligen Wesens, nämlich: ein großer, sorgsam gepappter Kasten, überzogen mit grasgrünem Glanzpapier, mit goldenen Borten umrandet und bedeckt mit einem schwarzen Gewimmel kleiner und kleinster Scherenschnitte, Blütenzweige, Halme, Blumen, Käfer, Tiere, Falter von unsäglicher Lieblichkeit und Lebensmunterkeit. Beim Öffnen des Deckels gewahrte sie zunächst eine, scheinbar für Briefe und Schreibsachen dienende Einrichtung bunt ausgeklebter Fächer, und dann im Deckel, auf lichtgrünem Grund wie die Außenseite, das zarte, gemalte Wunder einer blauen Hyazinthe im Topf, eine leibhaftige Jungfrau Maria.

Da sie nun hineinging, um ihm zu danken, und seine Schulter berührte, so bewegte er sich nicht, sondern fuhr fort, auf die silberne Kugel zu starren, die er in der Hand hielt, und sagte endlich halblaut: »Heut bin ich neunzehn Jahr alt geworden.« Elli faßte nach seiner Hand, dabei beharrend, nur mit ihren Augen die seinen her zu bewegen, und nach einer Weile drehte er sich dann, ohne sie anzusehen, zu ihr, strich mit der Hand an ihrer Schulter herunter, sagte: »Ach Mut –« und fiel vor ihr auf die Knie, jämmerlich aufheulend: »Es ist ja so gräßlich sentimental!«

Aber diese Erkenntnis kam zu spät; er schluchzte sich gewaltig aus, ließ sich dann zum Diwan ziehen und von Elli ausfragen.

»Wie heißt du?« fing sie an. Er versetzte, den Kopf wegdrehend und errötend, als verriete er den Namen seiner Geliebten: »Benvenuto.«

»Danke!« sagte sie ergriffen und begreifend, warum er sich dieses Namens entäußert hatte. – Und nun –, wie es weitergehe.

Sein Vater war Arzt; eine Schwester war klein gestorben, ein jüngerer Bruder wohl noch im Gymnasium; er selber war bis zur Untersekunda gekommen, mit siebenzehn Jahren etwas spät. Da sollte er ins Kadettenkorps – das letzte Mittel seines Vaters, ihm das Malen auszutreiben –, und er lief davon.

Oder er hatte es ihm nicht austreiben wollen, aber beschränken, ihn zwingen wollen, etwas andres zu lernen, einen Beruf zu ergreifen, nur »nebenbei« Maler zu sein.

Er begann von alledem sanftmütig, mit erkennbarer Absicht gerecht zu sein, sich zu beschuldigen, der nie hatte arbeiten wollen, immer nur malen, zeichnen, von klein, von so klein auf, daß er selber sich nicht erinnerte – es war ihm gesagt worden –, seine Eltern zu rechtfertigen, aber, wenn ihm das auch halbwegs bei seiner Mutter gelang, die sehr gut gewesen, oft zu ihm gekommen sei, ihm zugesprochen, ihn gebeten, vermahnt, vertröstet habe, und die seines Erachtens nur zu weich gewesen sei, hülflos gegen den Vater, in dessen Gegenwart sie immer zu ihm gehalten hätte, wider bessere Einsicht, – »denn,« sagte er aufbrennend, »sie war meine Mutter und erkannte das Genie!« –: beim Vater gelang es nach der zweiten, dritten Berührung seines Andenkens nicht, und alsbald gab es einen weniger körperlichen als seelischen Ausbruch in Worten, bei dem er vor keiner höllischen Verdammung dieser »perversen Kanaille von einem Bürger« zurückschreckte, und er nannte ihn Kehlabschneider, Ehrabschneider, Seelenverkäufer und Kindsmörder in einem Atem. (Elli freilich war klug und liebend genug, um in ihm die Liebe zu spüren, die den Feind im Geliebten und Blutsverwandten wütender zu hassen geneigt ist als im Fremden.) Und was er an hundert und aber hundert Zügen »feinsinnig erdachter Folterungen der Erniedrigung, Entwürdigung, der seelischen Erdrosselung« in sich aufgespeichert hatte mit sorgfältigster Rachsucht, »alles anzumelden am Tage des großen Gerichts, wo aus mir der Engel erscheinen wird und zur Rechtfertigung herzitieren den pflichtvergessenen Erzeuger und Verwahrer meiner Seele«: das gab er nun von sich mit Geknirsch und Gebrüll, stets ein und die gleiche Darstellung der einen Kämpferpose: er wollte immer nur malen; sein Vater wollte ihn immer zum Bürger machen. Aber – er würde es ihm beweisen! »In drei Jahren,« sagte er, »bin ich fertig, dann schmier ich ihm einen Schinken auf Leinwand, daß ihm grün und gelb vor Augen wird, und das Geld dafür, das schick ich ihm per Postanweisung ›zur Begleichung seiner Auslagen‹!«

Am Baum brannten derweil die Lichter herunter, Rauch der christlichen Kerzenopfer stieg feinfädig empor, es roch uraltbekannt nach verbrannten Nadeln, es knisterte, es kam uraltbekannt das ruckweise Dunklerwerden im Raum von erlöschenden Flammen. In Pausen dies und jenes Licht, das Feuer drohte, ausblasend, saßen sie stiller beisammen, wie die Kinder jeder sein Lebenslicht wählend und sich merkend, das am längsten von allen brennen sollte, und durchaus beseligt, als an unteren Zweigen die beiden Flammen, allein in der Dunkelheit noch ihr geheimnisvolles Licht durch Gezweige verbreitend, fast im selben Augenblick sich hoch aufrichteten, zusammensanken, sich wanden und plötzlich verzückt waren.

In der Finsternis hörte Elli ihn gedankenverloren nach der Melodie der ›Stillen Nacht‹ summen: » Com–me je suis – – sen–timen–tal …«


Das Schicksal entweder pflegt keine Zeichen zu senden oder nicht solche, die sich erkennen lassen; daher vergingen die fünf Monate, die es Elli noch ließ, vielleicht weniger genützt, als wenn sie geahnt hätte. Vielmehr war sie nicht unfroh, in dieser Zeit mehr Freiheit für sich und ihre Arbeit zu erhalten und manche Versäumnis nachholen zu können.

Nachdem nämlich einige Wochen wie immer hingegangen waren, begann Benvenuto – naturgemäß in der möglichst ungeeigneten Zeit hierzu – eine Periode einsamen Herumstreifens, Anlaß genug zur Besorgnis für Elli, da seine durch die früheren Entbehrungen noch geschwächte Gesundheit sehr anfällig war gegen die Witterung, und eigentlich war er stets mit irgendeiner Erkältung behaftet, der Nase oder des Rachens, der Ohren oder Zähne. An Zahnschmerzen vor allem hatte er von jeher gelitten, seine Zähne waren fast alle schlecht bis auf – glücklicherweise – die besonders sichtbaren vorn, aber vor dem Zahnarzt und der Bohrmaschine hatte er eingestandenermaßen ein so hundsföttisches Grauen, daß er mit keiner Gewalt zu einem hin zu bewegen war, sondern den Schmerz mit Bier betäubte. Die Seelenqual, sagte er in bescheidener Hoffart, hat mich wehrlos gemacht gegen Körperschmerz.

Eines Tages dann sah sie ihn eine umfängliche Leinwand aufspannen, danach auch einen Kohleaufriß beginnen, vor dem er ein paar Tage saß, und den er in den Arbeitspausen sorgsam verhüllte. Am vierten Tage aber fand Elli heimkommend ihn nicht mehr vor und den Knaben Benvenuto ausgestreckt auf dem Diwan, erschüttert von Gelächter über Tilliers Onkel Benjamin. Hiermit hatte er in gewohnter Gründlichkeit eine neue Periode, nämlich die der Lesewütigkeit begonnen, die ohne Unterbrechung bis in den April hinein dauerte, und während der er besinnungslos und blindlings in sich hineinschlang, was Elli ihm zutrug. – Nun entwarf er Reisepläne.

Zwar äußerte er, Paris falle ihm schweinemäßig auf die Nerven, und begann während der Genesung von einem bösen Erkältungsfieber in stunden- und tagelanger, schweigsamer Verdrossenheit über seine Krankheit in Ellis altem Schulatlas zu blättern; aber seine Pläne waren derart, daß kein Gedanke an wirkliche Ausführung mit ihnen verbunden schien, wenigstens suchte er sich nur Weltgegenden der unmöglichsten Art als Reiseziele aus, wie Kambodscha, die Sundainseln, Japan und dergleichen.

Immerhin fühlte Elli sich hierdurch bewogen, zum ersten Male während ihres gemeinsamen Lebens eine Abrechnung über ihre Ausgaben herzustellen. Der Erfolg war trüber, als sie angenommen hatte. Trotz aller persönlicher Einschränkungen, trotz Benvenutos Bedürfnislosigkeit – seine einzige Ausgabe war für Tabak –, hatte sie allmonatlich mehr als das Doppelte verbraucht von dem ihr zur Verfügung Stehenden. Freilich allein der Mietpreis für das Atelier, so niedrig er war, betrug fast noch einmal so viel als der ihres früheren Zimmers; hinzu kamen die vielen Posten für Malsachen, die sich im Laufe der Zeit aus einzeln geringfügig scheinenden Augenblickssummen zu einer unbegreiflichen Masse gehäuft hatten; dann, mit dem Winteranfang, Kleidung für Benvenuto, – und kurz und gut, sie merkte nun, was es mit der Bemäntelung auf sich hatte, die jeder Ausgabe im stillen von ihr umgehängt worden war: wir leben ja sonst so sparsam. Allein wenn sie auch die ererbten paar Tausend für spätere Zeit schon in die verbleibende Masse warf, so war doch an eine gemeinsame Reise kein Gedanke erlaubt, oder – ja, freilich: oder sie mußte auf allen eigenen Ehrgeiz verzichten, das teure Doktorexamen aufgeben, in einem oder anderthalb Jahren ihr Oberlehrerexamen zu machen trachten und selber verdienen. Möglich – nun, immerhin möglich war es ja, daß er in nicht allzuferner Zeit für sich selber würde sorgen können, aber war damit zu rechnen, und durfte sie es?

Gleichwohl hat Elli sich hinterdrein gewundert über ihr Schwanken und Zaudern in diesen letzten vierzehn Tagen, das ihr hinterdrein so ahnungsvoll schien, aber damals ahnte sie nichts. Warum die Unschlüssigkeit? Warum, da sie vorher nicht gesorgt und hergegeben hatte, was nötig wurde, warum jetzt die Ängstlichkeit? Allerdings hatte es sich bisher stets um Tatsächliches gehandelt; Farben und Leinwand, Wäsche, ein Überzieher, Kohlen im Winter waren herrische Befehle, aber diese Reise war ein Gedanke, ein Spiel seiner Phantasie, von der – ja, hätte sie nicht ahnen müssen, daß auch hier Notwendigkeit war? Notwendigkeit, nicht einmal für den parismüden Jungen, sondern für das Schicksal, das auf diese Wochen seine willkürliche Entscheidung gelegt hatte. Warum, ja warum gerade auf diesem Punkt dachte sie an ihr selbstisches Ich, ihre Pläne, und was hatte sie Ehrgeiz zu haben?

So dachte sie, wie vermerkt, später. In Wirklichkeit war alles ganz unbestimmt und undeutlich, sie vergrub sich tiefer in Arbeit und schob die Entscheidung an das Ende des Semesters, denn an eine Unterbrechung ihrer Studien dachte er jedenfalls nicht.


Fast auf den Tag ein Jahr war vergangen, daß Elli, ihm voran das Atelier betretend, vom Fenster aus Paris im Glanze des Maitages hatte liegen sehn, so dunkel vor den Augen die Gestalt Ludwigs, so dunkel im Ohr die Musik schöner Verse, die sie von ihm lesen gehört hatte:

An einem gelben Sommernachmittag
Kam ich mit staubigem Helm und müdem Pferde
Dem Ziele nah – und sah herab vom Berge
Montmartre auf die große Stadt Paris …

da stand sie und sah es wiederum und unter dem selben Leuchten unveränderlich durch die Tiefe hin ausgebreitet, nur daß sie es diesmal vom Fenster ihrer Schlafkammer aus erblickte und freilich unter andern Empfindungen.

Reinhardt, Benvenutos Freund, hatte das »unerhörte Schwein« gehabt, in der Lotterie zweitausend Mark zu gewinnen, und er war ein lieber Kerl und wollte dies Geld nur zusammen mit seinem Freunde verviehkatzen, nämlich in Spanien, im Lande des Greco. Für ein halbes Jahr konnte es reichen, vielleicht auch länger, wenn sie von Tabak lebten, sich im Ebro wuschen, im andalusischen Heu schliefen und auf der Landstraße reisten. Benvenuto strahlte unverhohlen. »Inzwischen,« sagte er, »kannst du schuften wie der Satan, im Winter bin ich wieder da, dann fange ich bestimmt an zu malen, und außerdem wird geheiratet, was? Glorios, nicht wahr?«

Aber was war denn nun geschehn? Elli begriff nichts. Auf einmal waren tausend Schleier gewesen, seine Gestalt, seine Stimme ganz fern, und nun war da dies dunkelgraue, rotfleckige Schiefermeer in der Tiefe, überflort von blauem Dunst, und das ewige Leuchten der Himmelskuppel vom Zenith herunter nach allen Seiten. Es flirrte und blendete; irgendwo an der grauen Bläue der Ätherwand bildeten sich die Ränder von Wolken.

Ein Schmerz, in dem sie zu vergehen meinte, und eine Angst zugleich, die ihr bodenlos schien. Kein Gedanke, nicht einer, lange Minuten, während sie stand und in ihr Hirn durch die Augen das Bild der Aussicht preßte, so daß sie es im Leben nicht wieder vergaß.

Dann lag sie auf ihrem Bett, auf der Seite, die Augen geschlossen, und bemühte sich, zu denken.

Er wollte fort. Für ein halbes Jahr. Ja, was denn? Warum dann diese Angst? Ein solches Unmaß von Angst nur, weil sie ihn sechs Monate entbehren sollte? Nein, wenn auch die Entbehrung einer so kleinen Frist ihr kaum erträglich schien, das konnte nicht der Grund einer so maßlosen Angst sein.

Plötzlich wußte sie, daß er nicht wiederkommen würde. Er will nicht fort, wußte sie, er will von dir fort. Vielleicht braucht er nur eine Pause und will wiederkommen. Aber ich werde nicht warten können. Ich werde es nicht können, ich habe die Kraft dazu verbraucht für – für –, sie suchte eine Weile, aber der Name war nicht in ihrem Gedächtnis, und sie wußte ja, wen sie meinte. Dann aber mit dem Schlage, der ihr jetzt den Namen wie einen Nagel ins Gedächtnis trieb, glaubte sie das Ganze zu wissen – das in Wahrheit nicht das Ganze war, nicht das ganze Schicksal –: es war das gleiche wie mit Ludwig, der gleiche, plötzliche Hieb, das Fortgehn – und ihr Bleiben in der Leere. Bei diesem Gedanken, bei der Vorstellung des Daseins ohne ihn, drehte sich ihr das Herz um, und sie wäre der Ohnmacht erlegen, die sich über sie neigte und auf sie hinunter blies, wenn sie nicht, ohne es zu wissen, den Entschluß gefaßt hätte, den sie später ausführte.

Jetzt war für den Augenblick das Ärgste überstanden, sie seufzte auf und begann zu überlegen. Warum fuhr sie nicht mit? Warf alles über Bord und fuhr mit? Nein, es war ja dies: er wollte fort; und davon abgesehn: ihr Dabeisein würde die Reise über die Maßen verteuern, – und nun begann sie zu rechnen, bis sie fieberte vor Zahlen.

Als sie endlich bleich und mit brennenden Augen ins Atelier zurückkehrte, trat er verlegen auf sie zu, sagte, es sei natürlich alles Unsinn, er dächte nicht daran, sie allein zu lassen, was sie zuerst erstaunte wie ein Verkündigungsengel, bis sie begriff, daß dies die Einleitung zu dem kleinen Scheingefecht zwischen seiner und ihrer Edelmütigkeit war, das nun begann. Aber es vergingen noch ein paar Tage, bis er sich vermittels ihrer zu der Einsicht gebracht hatte, daß sie ihr Studium nicht so lange unterbrechen, daß deswegen nicht er und noch weniger sein Freund die Reise aufschieben durfte, daß ein halbes Jahr in der Tat nichts bedeutete, kurz: daß er allein reisen mußte. Doch bestand er auf dem Heiraten – nachher. Elli dachte bitterlich lächelnd: Oh dieses Kind!

Ja, aber wo ist nun meine Mütterlichkeit? fragte sie sich, als ob das Wesen derselben darin bestünde, andre Gefühle zu haben als andre Menschen, anstatt zu sein, was sie ist, nämlich: ein Gefühl.

Die Gleichheit ihres Schicksals durch Ludwig mit dem jetzigen aber war bei alledem das zutiefst Erschreckende. So sinnlos eine derartige Erwägung ihr vorkam, schien doch nichts ihr so unbegreiflich, wie daß ein solches Zweimal sich überhaupt ereignen konnte, ereignen durfte, in einem Leben, und sie war nahe daran, nach eigenem Verschulden zu suchen, denn so war ihre Natur, doch fand sie damals keins.

Oder – werde ich verfolgt? mußte sie plötzlich denken. Und jetzt glaubte sie zu wissen, daß dies Gefühl, des Verfolgtseins, es gewesen war, das, ihr selber verborgen, sie schon im ersten Augenblick überfallen und die Angst jener Minuten am Fenster über sie gewälzt hatte. Verfolgtsein – ja giebt es das? Giebt es solche Menschen? Bin ich solch einer? – Die Angst schwoll wieder in ihrer Brust, fast wünschte sie, er wäre schon fort, um mit sich allein zu sein, um das Ganze zu haben, um zu wissen, ohne Ablenkung, ob die Folter sich ertragen lasse oder nicht.


Und dann war er fort. Vor Augen noch seine schmerzlich erhitzten, zusammengezogenen Züge am Fenster des Abteils, ging Elli zu Fuß durch die sonnenheiße Stadt zurück, deren Getümmel mit jener Unwirklichkeit sie umdonnerte wie einen Fieberkranken, in jener allbekannten Zerpreßtheit des Seins, die der Atemnot gleich ist, der Angst, nicht mehr Atem holen zu können, und so brach sie zusammen, schwermüde die Treppen hinaufgestiegen, angesichts des furchtbar gähnenden Schlundes von Öde, des verlassenen Raums, der wie immer war.

Ein schwächliches Lächeln: Zum zweiten Male, ja, aber – nicht ganz! Das Ende würde anders sein und ein drittes Mal niemals kommen. Sie ging, da der Entschluß bereits gefaßt war, halb bewußtlos an die Ausführung, indem sie sich langsam entkleidete, das Nachthemd anzog, den Hahn des Gasarmes unter der Decke öffnete, sich ins Bett legte und die Augen schloß, schaudernd im Fieberfrost, leibhaft zurückversetzt in den Beginn einer Krankheit als Kind. Sie mußte dann noch einmal aufstehn und die vergessenen Vorhänge gegen die Sonne schließen, die nachmittäglich vollglühend hereinschien, und dabei hörte sie schon halb im Schlaf ein leises Knacken und Knarren, das sie unbeachtet ließ, an das sie sich aber nachmals traurig erinnerte.

Sie erwachte aus einem wahren Höllenschlund von Träumen der Angst, in ein Feuertuch von Kopf- und Brustschmerzen gehüllt, am andern Morgen, schleppte sich, vom Gasgeruch zum Erbrechen gepeinigt, ans Fenster und schlug es auf. So kam sie zur Besinnung und erinnerte sich. Sie mußte entdecken, daß die, stets nur nach zweimaligem Festdrücken schließende Tür der Kammer aufgesprungen war, als sie zum Fenster ging und die Vorhänge schloß, das Gift ins Atelier und durch das dort offene Fenster hatte entweichen lassen.


Wochen später, von der schweren Vergiftung genesen, war sie sich selber eine Fremde. Noch sehr müde, immer noch halb geblendet, durchblätterte sie ohne rechtes Begreifen im Krankenhaus einen Stoß Briefe Benvenutos voll entflammter Schilderungen, schrieb ihm dann auf seine verwunderten Fragen wegen ihres Schweigens ein paar Worte über eine Krankheit, die sie erfand, verbrachte noch eine Woche im schmerzhaft unterdrückten Hoffen, er würde auf diese Nachricht hin plötzlich wieder da sein, litt wieder ein paar matte Tage lang unter dieser letzten Enttäuschung, und mußte langsam erkennen, daß die Vergangenheit in der Pause ihrer Bewußtlosigkeit während der Krankheit sich lautlos entfernt und zu einem Halbtraum oder dem Erlebnis einer unbekannten Jugendzeit geworden war. Jetzt wußte sie auch, warum sie keinen Brief an ihn zustande gebracht hatte. Da überfiel sie noch einmal die Angst. Sie wollte fort und ihm nach; sie wollte ihm Briefe schreiben von einer Glut, die ihn in ihre Arme zurücktrieb; sie wollte alles für einen Irrtum halten, nur ihre Liebe nicht, ihre Not, ihr loderndes Bedürfen seines Daseins und sich und ihn fesseln durch die Umschlingungen flammender Briefe. Allein: wirklich von alledem wurde nichts; sie beantwortete seine Briefe mit matten Aufzählungen aus ihrem Leben und Bejahungen seiner Freuden, die sie blinden Auges kuvertierte und in den Kasten warf, einen jener winzigen, halb unsichtbaren Pariser Briefkästen, die aussehn, als ob niemand von ihnen wüßte, geschweige daß jemand sie ausleerte. Sie wunderte sich kaum, daß aus seinen Briefen Karten wurden und die Pausen größer; sie dachte nichts bei einer zwei- oder dreimal erscheinenden ›Amerikanerin vom ungefähren Aussehn eines Teufels und höllischem Reichtum‹ – außer vielleicht, daß sie aus dem ›Aussehn eines Teufels‹ – fälschlich auf Häßlichkeit schloß –, und sie glaubte doch alles gewußt zu haben, als plötzlich eine unselige Geisterbeschwörung von Brief mit einer englischen Marke auf dem Umschlag kam, in dem es hieß, nichts lasse sich mehr verbergen, er sei ›geliefert‹, die Bestie habe ihn nun nach England geschleppt, er ginge zugrunde mit Fanfaren, die Hölle frohlockte, und sie, der Engel, möge sich abwenden.

Dies war für Elli das Letzte von Benvenuto Bogner. Aber damals war sie längst nicht mehr in Paris, sondern in Tübingen, wohin sie über Heidelberg gelangt war. Jene, in den Ferien studentenleere Stadt war ihr trotz des Schlosses an einem Regentage unfreundlich erschienen; als sie nach Tübingen kam, schien die Sonne über die alten Gebirge, Erinnerungen an den kranken Dichter schwebten schmerzlich säuselnd zu ihr empor über den Neckar, hier wollte sie bleiben.


Als Elli damals, kaum erst genesen, am Fenster ihres Krankenhauszimmers saß, dessen zweites Bett, ohne daß sie es hätte wahrnehmen können, seinen kindlichen Insassen an jener Küste gelandet hatte, die Elli selber vergeblich suchte, als sie den Himmel wieder sah, des Spätnachmittags, über den roten Krankenhausgebäuden, unermeßlich weit, blaßbläulich, leer, und doch wie ein unendliches Antlitz ohne Züge, nur mit dem Ausdruck eines Engels, als das Schmerzensglück des Auferstandenseins sie erfaßte, der Rückkehr, des Wiedererkennens: da trat nach ewigen Minuten des tränenlos inneren Schluchzens eine Erkenntnis so in sie ein wie ein mächtiger unnachgiebiger Keil in ein weiches Wachs, auseinanderdrängend ihr Innres mit Gewalt, dabei kaum schmerzlich, obwohl es schmerzte, aber viel zu gigantisch für ihren Zustand, der nur das Leichteste an Lust oder Qual aufzunehmen imstande war.

Dies begann damit, daß sie im Leeren plötzlich die Zeile las: ›Zu wem als dir soll sie die Blicke wenden – die glühend Suchende …‹ Und daß sie im Augenblick wußte: Sie hatte einmal gesucht. Oder – gesucht nicht vielleicht, aber gehofft, erwartet. Ja, erhofft und gefunden und wieder verloren – was? Alles, was Ludwig gewesen war.

Sie war einmal, das wußte sie nun, von zuhause fortgegangen, in der Erwartung von mehr als einem Studium, einem Beruf, einer Heimat; wenig bewußt und doch sicher im Verlangen nach – einem Erhabenen, einem Glänzenden, Edlen, Seltenen, ganz Hohen; nach der Legende im wirren Dickicht der Wirklichkeit.

Benvenuto – freilich auch das war schön gewesen; auch das hatte sein Großes gehabt in Alltag und Feiertag, in Lüsten und Schmerzen, sein mächtiges Dämonsauge mitten in der Lichtscheibe der Sonne. Aber doch hatte sie immer dabei gewußt, daß es das Wirkliche nicht wieder war, nun erkannte sie es, geschehen lassen hatte sie's nur, dabei zugesehen und es geduldet, mütterlich fast, – so wie sie in dieser Minute sich selbst sah und Benvenuto alles verstehend, zwei Kinder, die sie ihren gespielten Ernst gutherzig treiben ließ zu ihren Füßen.

Vom plötzlichen Mitleid mit ihrer Verlassenheit überwältigt, ließ sie das Gesicht hülfesuchend auf den Arm fallen und weinte minutenlang um all das Verlorene.

Und wieder aufrechtsitzend und aus noch nassen, verschleierten Augen in die Unendlichkeit der weißer und kälter gewordenen Himmelswand starrend, dachte sie kraftlos: Und nun? Was wird nun noch kommen?


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