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Vierte Treppe

Von Dauer und Vergehen von Zeit – Stunden wie Tagen oder Jahren – kann der Mensch ein sehr verschiedenes Empfinden haben, welches nicht vom Maße der Zeit abhängig ist, sondern von ihrem Gehalt an Leben; Zeit kann langsam vergehen und schnell, Zeit kann aber auch langsam vergangen sein oder schnell, und das menschliche Empfinden von der Bewegung eines Zeitraums, solange er dauert, braucht durchaus nicht übereinzustimmen mit dem, sobald er vergangen ist. So waren die drei nun folgenden Jahre in Ellis Leben von jener Beschaffenheit, die das Gefühl der endlosen Langsamkeit im Hingehn erregt und hinterdrein das des wie ein Hauch Verflogen- und wie nicht Gewesenseins. Denn schwer und gefüllt mit Mühsal waren nur die Tage; Leben war nicht darin, und die Seele blieb leer. Unerwartet schlossen sie dann für Elli mit einer jener belanglos erscheinenden Veränderungen, die sie gewohnt war, dem Wechsel der Arbeitsstelle, der aber eine belangvollere Wandlung, ihre Verheiratung zur Folge hatte.

Sie hatte während dieser drei Jahre in Großbanken gearbeitet und in Depositenkassen, in großen und kleinen Handelsfirmen, in Kanzleien und Registraturen. Sie hatte die einfache und die doppelte Buchführung und das Maschinenschreiben zugelernt, hatte es im Gehalt bis auf zweihundertundvierzig Mark gebracht, hatte Tausende von Briefen desselben Stiles geschrieben, Hunderte von Diktatblocks auf dem Knie abgebraucht und Milliarden von Ziffern untereinander geschrieben. Sie hatte teilnahmslose und freundliche Brotherren, gleichgültig bleibende und kameradschaftliche, höfliche und ihr nachstellende Mitangestellte gehabt und nette, alberne, gehässige, törichte oder tückische Gefährtinnen, und um sie her hatte es immer gewimmelt von Eifersucht, Ränken und Hinterhalten. Immer wieder hatte es einen Grund gegeben, der zum Verlassen der Stelle nötigte und zum Annehmen einer neuen, mit der selten eine Verbesserung verbunden war und jedenfalls eine Verschlechterung insofern, als sie selten eine Weihnachtszulage und niemals Urlaub bekam. Sie war an Stellen gewesen, wo sie um fünf Uhr nachmittags fertig wurde, und um drei Uhr, und solche, wo sie nicht vor elf Uhr abends zu Hause war. Immer war es anders und immer das gleiche gewesen. Sie war währenddessen aus einem jener möblierten Zimmer, an deren Möbeln, Decken und Wänden der Dunst und Unrat von Karawanen der Mieter sich niedergeschlagen hatte als fressende Säure, deren Odem die Seele des Eintretenden beschlug wie die Ofenwärme ein kaltes Brillenglas, und in denen die Öde saß, sichtbar auf den Fensterbrettern, wie ein fliegenfangendes Chamäleon, das, mählich wachsend, den ganzen Raum füllen und seinen Wohner in sich zusammendrücken konnte –: aus einem solchen Zimmer war sie in ein andres gezogen, und alle waren sich gleich gewesen. Sie hatte es nicht immer schlecht, sie hatte es auch besser getroffen, ohne daß es jemals gut gewesen wäre. Sie hatte mit bösen Wirtsweibern unzählige Fehden ausgefochten, war unterlegen und mit Schimpf und Verlust abgezogen, und sie hatte mit gutmütigen sich vertragen und klatschen gelernt. Sie hatte auch kummerlose Stunden gehabt, Stunden der Versunkenheit und des Glühens über den fremden Schicksalen eines Romans, im Konzert, im Theater, und Stunden des wehmütigen Genießens, einsam, an Sonne und Landschaft Sonntags, Feiertags, wenn die Stille der blauen Havelfläche zu ihren Füßen breit und verschleiert durch die weißen Brücken zog, der weißbläuliche Himmel atmete über den Türmen von Potsdam, und der Name Babelsberg freundliche Erinnerungen in ihr rieseln ließ an Königsfamilien vergangener Tage, an Kindheit, Bilderbücher und Sonntage auf dem Land. Immer im Getümmel vieler Menschen, zuzeiten auch in der Gesellschaft eines gutherzigen Wesens, war sie immer so einsam gewesen wie der Stein im Volkslied. Sie war auch krank gewesen, hatte in den verruchten Sprechzimmern der Kassenärzte gesessen mit Frauen in Umschlagtüchern, riechenden Männern und den klebrigen Zeitschriften; sie war überhaupt nicht ganz gesund, die Nerven, das Blut – irgend etwas war immer unzufrieden und lustlos. Und sie hatte die Stunden der bodenlosen Verzweiflung überstanden wie die Wochen der verzehrenden Öde und des Grams, wie sie all das überstanden hatte, was das Leben, ein solches Leben wirklich ausmacht, was diese Aufzählung nicht enthielt, was sich nicht aufzählen läßt: die Versteinerung der Straßen im Novemberwetter, die ewigen Fahrten in der elektrischen Bahn, das Warten an den Haltestellen, das graue Aufstehen, behangen mit der tönernen Form des Schlafes, die peinlich bröckelt und in Stücken abfällt, die grausame Gleichgültigkeit des ewigen Vorübertreibens, der Menschen, Gesichter und Blicke, der Läden, Haustüren und Fenster; das hoffnungslose Heimkommen am Abend, im Herzen die Angst vor dem ungeheizten Zimmer, vor der abscheulichen Frau, die über einen Fleck auf der Politur eine wütende Garbe von Grobheit und Beschimpfungen ausschüttet; die feinen und die klobigen Peinigungen des Chefs, die Hoffart der Mitarbeiterinnen, die gereizten Erwiderungen, die Anschnauzer der älteren Männer, die Betastung der jüngeren, tausend und aber tausend und zusammen ein Termitenberg der kleinen Nöte, unter dem die unsterbliche Seele begraben liegt wie ein abgefressenes Skelett so entseelt. Aber der Mensch vergißt unter allen Kleinoden, die er unwissend bekam, keines so leicht wie die Seele und nennt es wohl einen Vorzug an ihr, daß sie sich vergessen läßt. Elli war nach Ablauf der drei Jahre so mürbe geworden wie nur irgendein Stück Rücken oder Lende unterm Schlegel des handfesten Garkochs, – und all das, hatte sie derweil zu denken, wird nie im Leben ein Ende nehmen.

Was war Ellis Trost und Erholung in jener Zeit? Da selbst der berauschendste aller Romane vom älteren Dumas, in der Abendeinsamkeit eines möblierten Zimmers gelesen, nicht über so viel Magie verfügt, daß er nicht – selten erst und dann öfter – zu einem kleinen Buch, einem weißen Quadrat von zwei bedruckten Seiten im Lampenlicht zusammenschrumpfte, hinter dem eine dunkle Höhle mit dem Gespenst sich auftut: so konnte es auch für Elli nur das eine Opiat geben, das dem Bewohner der Großstadt in unterschiedlichen Formen geboten wird: das Theater. Zwar der Kinematograph war bedeutend billiger, aber den ließ die Erinnerung Ludwigs denn doch nicht zu. Auch ins Theater der erste Weg war nicht leicht, aber – den Faust kann man schließlich einmal sehn, nicht wegen des Theaters, sondern um ihn einmal zu sehn eben, und was den Shakespeare anging, so hatte Ludwig selber zugegeben, daß seine Gestalten für das lebendige Leben der Bühne geschnitten seien, und wenn das Theater von heute auch nichtswürdig war, nun, so war Elli sich doch dessen bewußt, und war das nicht das Wichtige, sich bewußt zu sein? Infolgedessen, so tief Elli einerseits auch untertauchte in den schaumigen Rausch des nur Theatralischen, der Darstellung, des Stoffes der Stücke, der Szene und Kulisse und der Beleuchtungen, so behielt sie sich doch stets einen Winkel vor, von dem aus sie auf all das hinabsah; und wenn sie bald nicht mehr imstande war, die Sache selbst zu verurteilen – ach, hatte sie denn jemals richtig begriffen, weshalb denn und was hier überhaupt nichtswürdig war? – so beurteilte sie immerhin das Gebotene feindlich und schlecht, das heißt die Leistungen der Spieler, des Regisseurs und dergleichen, was sie bald lernte aus der täglich gelesenen Kritik in den Zeitungen, die sie übrigens auch verachtete. Und also war sie denn schließlich durchfressen und zersetzt von der ganzen öden Kränklichkeit großstädtischen Kunstgenusses, der eben diese Mischung darstellt von besinnungsloser Betäubtheit und hoffärtig dumm verneinender Kritik, wozu beim weiblichen Teil des Publikums als drittes Ingredienz noch das Selbstgenießen im Gesehnwerden kommt. Wenn auch nur die Gesellschaft der Galerie um Elli her war: das Bewußtsein, in einer eigenartigen Bluse, in einer besonderen Haltung, in der eben modischen Haartracht, mit ihrer weißen Haut, ihren brennenden und verschatteten Augen, abweisend, unbeweglich dazusitzen unter häufiger Wiederkehr von diesem und jenem männlichen Blick, – sich beobachtet zu wissen beim Lesen des Programms, beim Herumkramen im gestickten Beutel, bei jeder Bewegung, – und das blicklos hochmütige Hingleiten mit den Augen durch die der Nachbarinnen, die auf das Muster ihrer Bluse geheftet sind: all das – Theater im Theater – war nicht der kleinste Teil im Ganzen dieser erhitzenden Abende, die Glut genug enthielten, um Heimweg und Heimkehr in Kälte und Öde, Auskleiden und Einschlafen überstehen zu lassen.

Drei Jahre, wie gesagt. Dann kam Elli durch die Vermittelung eines netten Menschen in der ›besseren‹ Pension, wie man das nennt, in der sie zuletzt wohnen konnte, zu dem Mann, dessen Frau sie bald darauf wurde, Philipp Ohnefehl, Herausgeber und Schriftleiter einer Zeitschrift ›Aus fremden Zonen‹, Theaterkritiker und Feuilletonist.


Elli, das muß gesagt werden, hatte schon damals an ihrer Seele jedwede Prägung verloren und war ausdruckslos geworden, – nicht leider zu denen gehörend, die geprägt auf die Welt kommen, – ausdruckslos geworden wie zehntausend in Großstädten ihresgleichen, die nur die Bestandteile des Lebens handhaben, doch nicht den Plan wissen, nur beschäftigt sind mit dem Leben, anstatt es zu bilden und in ihm sich selbst. Ach nein, dies eigenhändig zu tun, dies Bilden, das war dieser Elli nicht mitgegeben unter der Ausrüstung, als sie die Reise antrat! Gegeben dafür die willige Erkennung eines Jeden, der es für sie täte. Den hatte sie einmal gefunden; nun war seine Prägung lange verwischt; Elli war wieder Stoff. Nur leider: wo Leben Lebendiges auslöscht, da tilgt es auch die Erinnerung mit, so gut die verstorbene Seele im Hades erinnerungslos an den Ufern dahinweht; denn das wäre – Nichtleben und Lebens Gedenken – die Hölle, nicht Hades.

Stoff war sie wieder. Wenn aber dieses zu sagen war, so darf auch ein anderes nicht vergessen werden. – Denn sie war Seelestoff, Elli, und sie war eine Verkörperung – durch ihr Menschsein nicht nur, sondern durch persönliche Anlage obenein – eine Verkörperung des Unendlichen, das in hundert und hundert Gestalten dies göttliche Qualental durchzieht, und in ihr hatte es den Namen: unendliche Bereitwilligkeit, zu lieben – und hierfür nichts zu empfangen als immer von neuem die Erlaubnis dazu. Und diese, ob sie schon wollte oder nicht, war sie unaufhörlich zu suchen begriffen.

Denn: das Gefäß schüttet sich in Fülle aus, aber der Becher setzt seiner Gabe die Grenze.


Bedauerlich scheint, daß wir heutigentags noch nicht so weit gelangt sind, das Geschäft des öffentlichen Schreibens für den Tagesbedarf von Leuten besorgen zu lassen, die von Charakter wie durch geistige Anlage oder Begabung hierfür passend erscheinen und sich selbst dafür halten, die also in Schulen oder Akademien dazu erzogen und ausgebildet werden könnten. Die Kenntnisse für den Beruf des politischen wie des kritischen und auch des feuilletonistischen Schreibers sind für die Anforderungen der Massenleserschaft von heute so gut lehrbar wie die eines Pfarrers oder Arztes, und Anlage wie Begabung dazu sind zumindest so allgemein heute verbreitet wie die zum Anwalt oder Techniker. Eine sogenannte ›Skizze‹, ein ›Bild aus dem Leben‹, einen Aufsatz über irgendeine Erfindung oder dergleichen zu schreiben, bringt das heute nach drei Probearbeiten nicht jede Studentin im ersten Semester fertig? Und andrerseits die Kritik – Buch, Theater, Konzert –, was ist sie anders als die längst veraltete und vom Inserat abgelöste Form der Reklame, deren Überflüssigkeit schon Balzac feststellte, und die man heutzutage auf Waschzetteln von jedem Verlagsgehülfen mit Schneid und Geschmack ausgeübt findet? Trotzdem und noch immer aber ist dies der einzige Beruf, der von Leuten ausgefüllt wird, die sich ›eigentlich für etwas Besseres‹ halten, die auch, ob im Haupt- oder Nebenamt, Besseres hervorbringen oder einmal hervorbrachten, und die niemals etwas für ihn lernten, sondern sich immer nur an ihn gewöhnten. Schon giebt es ja die große Zahl der festangestellten Redakteure, die nichts andres sein wollen, als was sie sind, daneben aber jene Menschenklasse der ehemaligen Dichter, der Journalisten und freien Schriftsteller, deren jeder ganz genau weiß, daß er nicht ein Zehntel von dem, was er schreibt, schreiben könnte, wenn er es mit dem von Rechts wegen geziemenden Aufwand an Gründlichkeit, an Vertiefung, an stofflicher und sprachlicher Durcharbeitung leisten würde, und die gleichwohl das mehr schlecht als recht, hurtig und oberflächlich Hingestrichene noch für zu gut halten für das Publikum, das noch hundertmal so hurtig darüber hinliest, als es geschrieben wurde. Und so bildet eine Gewissenlosigkeit, deren sie sich selber freilich kaum bewußt sind, den Grundzug ihres geistigen Lebens, denn wie oft kommt es nicht vor, daß sie etwas schreiben möchten, das ihnen am Herzen liegt, für das sie ihre ganze Kraft aufwenden möchten, und das sie gleichwohl mit der gewohnten Liederlichkeit erledigen müssen, oder sie müssen unter hundert Andern eben das Buch, das ihnen das wertvollste scheint, unbeachtet lassen, weil ihnen die Muße zu der Gründlichkeit fehlt, die es erfordert, – falls sie es nicht unter dem übrigen Darmgeschlinge ihrer Tagesschreiberei überschlucken mit ganz dem scheuen Seitenblick des Gewissens wie des Hundes, der etwas Verbotenes einschlingt. Unter beständigen Zugeständnissen an Verleger, Redakteure oder Publikum, verlogen obendrein, unter beständiger Selbstverachtung bitter und durch die Marter der Gewohnheit öde, lau und giftig geworden, zutiefst erfüllt vom Wissen um das Sinnlose und Vergebliche ihrer Mühsal für den Augenblick, von Jahr zu Jahren geladener mit Verachtung, Gewissenlosigkeit, Galle und Überdruß; Schlösser vor den Mündern, genötigt, immer nur mit halber Stimme zu sprechen, das Halbe anzupreisen und zu beloben, nicht zu laut, ja nicht zu laut das Gute oder Schlechte zu nennen, können sie natürlich nicht anders, als das ganze empfangene Gift dieser Beschäftigung wieder in sie von sich zu geben, ein schauerlicher Kreislauf von Wirkung und Gegenwirkung, die sich überbieten. Und wer weiß davon? Der, auf den es ankommt, der behagliche Leser so wenig, wie er aus den Spalten seiner Abendzeitung den Pesthauch atmet, der die Lunge des Setzers dieser Spalten zerfraß und ihn mit vierzig Jahren zum halbtoten Manne machte.

Philipp Ohnefehl war solch ein Mensch. – Elli fand, als sie sein Arbeitszimmer im dritten Stock eines vierten Hofes der Lindenstraße nahe dem Belle-Alliance-Platz betrat, in ihm einen wider Vermuten jugendlich aussehenden Menschen, um dessen langgezogenes, im Fleisch lockeres und fast weißes Gesicht mit sehr braunen, etwas vorquellenden Augen, spärlich blonden Brauen und hoher, wagerecht sich einrunzelnder Stirn ein Ausdruck von Geistesabwesenheit und Versorgtheit wehte, einem durchsichtigen Schleier gleich, der im Schnitt der Augen irgendwie befestigt war, denn er schwand niemals. Beim Aufstehn nahm er einen randlosen, ganz gläsernen Kneifer vom schmal eingeklemmten, aber fleischigen Nasenrücken, indem er von oben in den Bügel faßte. Beim Sprechen hielt er ihn in der Rechten, leicht mit ihm auf den Daumenrücken der Linken klopfend, und übrigens pflegte er, wie Elli später bemerkte, ihn so zu tragen, daß er – um sowohl hindurch wie darüber hinweg sehn zu können – etwas tiefer als die Augen saß, deren nacktes und dunkles Leben daher frei blieb. Er sprach leise und mit einem beständig sich wiederholenden Anstoßen in der Stimme, das um so häufiger kam, je nervöser er war, und er hatte eine Angewohnheit, aufrecht am Schreibtisch sitzend, das Kinn in der aufgestützten Hand zuhörend, immer bekümmerter über den Kneifer hinweg nach dem Fenster zu sehn und dann mit emporgezogenen Brauen Gesicht und Augen herzuwenden, unbestimmten Blickes, als sei er mit ganz andern Dingen beschäftigt, so daß es unkenntlich blieb, ob er zugehört hatte und richtig antworten würde. Doch war dies nur zur Maske gewordene Gewohnheit, denn stets antwortete er recht.

Daß er Elli zuerst wie ein Dreißiger erschien, bewirkte das starke Braun seiner Augen, das fast weiße Blond des Haars; bald alterte er sichtlich in ihren Augen, ja über sein wirkliches Alter – fünfundvierzig Jahre – hinaus; aber wie alt er eigentlich war, das entdeckte Elli mit plötzlicher Hellsichtigkeit erst viel später einmal, als sie ihn bei einem Stelldichein quer über den Fahrdamm gehen sah, ohne noch von ihm bemerkt zu sein. Mit seinem kleinschrittigen raschen Gang, im schlechtsitzenden, farblos grünlichen Wintermantel mit abstehenden Taschen und nicht anschließendem, überm Nacken in schiefem Bogen abstehenden Kragen, in seinem braunen Schlapphut, nicht krumm und nicht gerade, irgendwie verbogen oder verschoben, mit innerlich abwesendem und doch äußerlich gespanntem Ausdruck der immer versorgten Augen nach da und dort hastig sich umsehend, erschien er ihr als das, was er war: ein alter Mann; einer, der die Form des Alters bekommen hatte und nun lange schon trug.

Zwanzig Jahre früher, zu einer Zelt, wo der Naturalismus in der Literatur bereits wieder zu welken begann, hatte ein Drama von Philipp Ohnefehl Erfolg gehabt und war sein Verhängnis geworden. Denn der kleine Triumph kräftigte seine Meinung von sich und seinem Streben; nun war er zu ehrlich und auch zu beschränkt, um die einmal eingeschlagene Bahn dieser Literaturgattung verlassen zu können, als sie sich allgemein leerte. Infolgedessen blieb dem, was er weiterhin hervorbrachte, der Erfolg versagt, aber – er konnte schreiben, nicht schlecht und auch, wie es ihm zu Anfang vorkam, ohne Zugeständnisse schreiben, was gefiel und durch den kleinen Glanz seines Namens Zugang in die Tagespresse fand. Plötzlich war dann die Tür hinter ihm zugefallen und wie in einem Märchen verschwunden, wo er hereingekommen, da war nur Wand, er konnte nicht wieder heraus. Freilich: ohne Anerkennung der Mitwelt schaffen, wem ist das gegeben? Nicht dem, der keinen Unterschied zu sehen vermag zwischen Beruf und Berufung, und der die eine für so geschaffen zum Broterwerb ansieht wie den andern, und Philipp war als fünfter Sohn eines kleinen Landarztes angewiesen auf die Arbeit seiner Hände. Fünf oder sechs Jahre später hatte er sich eingeschrieben, und wahrscheinlich befand er sich nun in der Atmosphäre, welche die ihm natürliche und gemäße hätte sein sollen und es nur in seiner Meinung deshalb nicht war, weil er zuvor höher zu stehn gewähnt hatte. Nacheinander kamen sie dann und waren da: Erniedrigung, Enttäuschtsein, Entsagen, Hoffnungslosigkeit und Gram.

Und nicht allein diese. Dreißig Jahre alt verheiratete er sich und kaufte mit dem Gelde seiner Frau die Zeitschrift, zwei Geschehnisse, die ihn für ein paar Jahre wieder lebensfroher und stattlich machten und darauf zwei Quellen, eine des Elends, die andre der Bitterkeit, für ihn wurden. Die Frau verfiel nach drei Jahren in Irrsinn und verbrachte seitdem ihr Leben in einer Anstalt, wo sie erst zwölf Jahre später verschied; die Zeitschrift, die er groß und schön zu machen gedacht hatte, wurde nur kleiner und bescheidener und lag zur Zeit von Ellis Eintritt seit Jahren im Todeskampf, – denn: wer hat, dem wird gegeben, wer aber nicht hat, dem wird genommen, was er hat. – Sie, die Zeitschrift, hatte damals noch etwa fünfzehnhundert Bezieher, und entsprechend war die Menge der Anzeigen; seit Jahren schon zahlte er zu, zahlte noch immer gern, denn sie war sein Eigentum, war in langen Zeiten des Veränderns, der Bemühungen um sie sein Geschöpf geworden, sein Werk und sein Trost. Ihr Inhalt bestand aus einem oder zwei Romanen – in Fortsetzung –, einer oder zwei kleineren Erzählungen und noch ein paar Kleinigkeiten, Skizzen, Anekdoten und etwas Kritik: lauter Übersetztes aus allen möglichen Sprachen, oder aber der Stoff mußte ausländisch oder exotisch sein. Ellis Arbeit bestand, außer in der Führung des Briefwechsels, im Übersetzen dieser Sachen, da ihn gerade die altgewohnten Mitarbeiter im Französischen und Italienischen verlassen hatten; und zwar hatte sie zunächst die Verdeutschung im Groben zu besorgen, die Philipp selber dann ausfeilte, bis sie sich eingewöhnt hatte und selbständige Arbeit machen konnte; recht schludrige Arbeit, denn ihr deutscher Wortschatz war viel zu gering, um ihr mehr als den allerarmseligsten Plunder an Synonymen zu bieten, und der Arbeit war viel. Sie hatte selten Zelt genug, Wendungen, die sie zwar dem Sinne nach durch den Zusammenhang notdürftig begriff, vermittels des Wörterbuches zu prüfen und genau zu übertragen; immer mußte das Ungefähre genügen. Nun, am Ende waren die Sachen keine bessere Behandlung wert. Philipp selber hatte damals innerlich den Kampf bereits aufgegeben, nahm hin, was die gewohnten Mitarbeiter boten, und hatte übrigens andre Arbeit vollauf. Für eine der kleineren Berliner Zeitungen nämlich hatte er die Kritik der Ur- und Erstaufführungen zu besorgen, für ein süddeutsches Blatt den Wochenbericht über alle wichtigen Vorgänge aller Berliner Theater herzustellen, hatte seit Jahren seinen umfänglichen Kreis von Verlegern, die ihm Bücher zur Besprechung sandten – sie schwollen unter beständigem Räumen und Fortschaffen zu Bergen und Gebirgen überall –, und schrieb schließlich noch, wenn es irgend anging, eine kleine Erzählung oder Skizze, die er bei einer Korrespondenz oder kleinen Provinzblättern absetzte, zweimal und dreimal jede zu immer niedrigeren Honorarsätzen. Daß all diese Arbeiten mit ihren zehn Pfennigen für die Zeile oder Fünf- und Dreimarkstücken für den Zweit- und Drittdruck insgesamt doch ein jährliches Einkommen von über fünftausend Mark zusammenbrachten, das schien Elli, als sie es hörte, über die Maßen erstaunlich; erstaunlich auch nun erst recht als Leistung, und erstaunlich als die Summe von Kränkungen und Ärgernissen über Entstellungen, Setzerfehler und Streichungen – immer der besten Wendungen –, die darin steckte.


Was war Philipp Ohnefehl? Er war das, was der Knabe Bogner mit so giftigem Hasse verfolgte; das er mit Feuer und Schwert ausgerottet hätte, wenn es nur möglich gewesen wäre; das, wovor er Elli auf das inständigste, ja flehend gewarnt haben würde, hätte er einmal bedacht, daß ihr Weg nicht bei ihm enden, sondern sie weiterführen würde. Philipp Ohnefehl war Bürger.

Er war kein Synthetiker wie Adalbert – er kam nicht so weit –, aber er hatte, von Natur unschlüssig und weichmütig, beständig die Anfänge davon zwischen den Fingern, jenes Aufstellen und gegeneinander Ausgleichen, das im Grunde auch Adalberts Pläsier in höherem Grade als das Finden der Synthese gebildet hatte; er hatte das furchtbare: Aber. Seine kritische Tätigkeit hatte mit immer neuem Krallengriff die Herzfrucht des menschlichen Daseins, die Mitte ausgehöhlt; er war ohne Kern geworden und konnte – die Folge – nirgends Kern mehr sehn. Er hatte seit seinem vierundzwanzigsten Lebensjahre so viele Bücher und in solcher Hastigkeit lesen und darüber schreiben müssen, daß er niemals so weit kam, aus dem Für und Wider seiner Meinungen einen Schluß zu ziehn und sich zu entscheiden für Anerkennung oder Ablehnung des Ganzen, das heißt zu Haß oder Liebe. Was nur den kritisch-literarischen Teil seines Wesens angeht, so hatten wenige Jahre dieser Beschäftigung genügt, ihn, den von Natur Weichmütigen und Wohlwollenden, zu der Annahme zu verleiten, daß alles Gedruckte irgendein Gutes enthalten müsse, – das er dann wohl das ›Menschliche‹ nannte, den guten Willen, – und das er aus dem minderwertigsten Machwerk von Tinte und Papier hervorzog. Aber ebenso unterließ er nicht, es mit dem Tadelnswerten innerhalb des Guten zu machen. Dann mit der Zeit war sein ganzes Wesen so geworden: ein langer, dürrer Baum mit einem einzigen, weichen, aber noch bunten, obschon welken Blatt, auf dem geschrieben stand: Aber! und das, wenn der Baum sich geschüttelt hatte, noch lange in Bewegung blieb. Das gute Ding hatte sein böses, das böse sein gutes Aberhängsel, welches – und das war das Tödliche – zehnfach größer war als das ganze Ding.

Philipp, der Bürgerliche, er konnte nicht entbrennen. Er konnte dem Schädlichen, dem Kranken, dem Fluchwürdigen, Verkehrten, Dummen, Lügnerischen –, er konnte ihm nicht das Haupt abschlagen und den Fackelbrand draufhalten, der es ausmerzte. Er konnte nicht mit Palmen und Harfen einherziehn vor dem Gott, wenn er sichtbarlich Einkehr hielt in die ertaubte Stadt der Zeit. Er konnte nicht segnen noch fluchen, nicht fehlgehen und bereuen, nicht sich ereifern, nicht sich empören oder frohlocken. Alles, was er konnte, war ein wenig loben – oder ein wenig tadeln – und zu sagen: Aber man muß andrerseits …

Gewißlich: gemocht hätte er gerne! Es kam doch vor, daß ein Buch, ein Theaterstück ihn in Feuer versetzte, und daß er einen Brand davon über sein Haupt hätte schwingen mögen zur Verkündung an die Menschen. Aber zu oft waren ihm vom Redakteur derartige Ergüsse der Ehrlichkeit wiedergegeben worden oder so verstümmelt gebracht, daß er sie kaum erkannte, und so wagte er's längst nicht mehr, – vor dem alten Widersacher Redakteur bange, wie der seinerseits die Verantwortung auf den Verleger abwälzte und der auf das Publikum. – Philipp war lau.

Elli, so erquickt durch die Nähe eines Menschen aus der geheiligten Sphäre der Kunst nach so langer Entbehrung, Elli merkte dies nicht. Sie spürte den Weichmut und hielt ihn für Güte, spürte die Wehmut und in ihr die Verwandtschaft mit dem eigenen, derzeitigen Empfinden des Entsagthabens, spürte die Bedürftigkeit in ihm und in ihr. Sein Wesen gefiel ihr wohl, und natürlich verjüngte er sich – zu Anfang ihrer Bekanntschaft – mit jedem Schritt, den er näher tat. Er verfügte immerhin über einigen Geist und einen Vorrat an Sätzen, der für ein paar Monate reichte – eben für lange genug, um Elli zu gewinnen –; sie hörte von seinem Schicksal – die irre Frau –; sie las, was er über Bücher und Theater schrieb, mit gutem Vorurteil, und das war, wie der Terminus lautet, ›nobel‹ geschrieben, war immerhin persönlicher Färbung, sprachlich von angenehmer Schlichtheit und im ganzen von einer bescheidenen Haltung, die sie für Ehrfurcht halten mußte, – kurz, sie nahm ihn.

Wie, Elli hätte nicht zugreifen sollen? Da war ein Mensch, der ihr nahe sein sollte und warm, mit dem sich sprechen ließ, beinahe wie mit sich selbst, der sie küßte und ansah mit dankbaren Augen. Der sie fortführte aus der endlosen Flucht der möblierten Zimmer, in eine eigene Wohnung, zu eigenen Sesseln und Gardinen, zu einem eigenen Bett. Der die lange Wanderung endete und ihr Obdach und Rast bot für immer. Dem sie dienen, dem sie wohltun, o, den sie vielleicht heilen konnte! Bei dem sie sicher war, daß er sie nicht wieder allein lassen würde.

Heilen! – Schon dachte er wieder an Zukunft und schmiedete Pläne. – Die Zeitschrift mußte aufgegeben werden, sie zu unterhalten war nun ein Unrecht, nämlich gegen Elli, aber der Verzicht, lange vorbereitet, war leicht gegen den Gewinn, den Elli bot. Dazu bedeutete er einen Zuwachs an Muße, er konnte andre Arbeiten unternehmen, zum Beispiel die Übersetzung wahrhaft guter Werke gemeinsam mit Elli, und geheimnisvoll und mit zarter Sehnsucht sprach er von einem alten Entwurf zu einem Trauerspiel.

Trauerspiel! – Elli mußte an den theaterhassenden Ludwig denken, aber die Kraft langte in diesem Augenblick nur dazu, ihn zu erreichen, und zog sich zurück.

Ludwig! – Im ersten Vierteljahr ihrer Berliner Zeit hatte es eine Woche gegeben, wo sie jeden freien Augenblick benutzte, um in der Stadt herumzulaufen, fiebernd von Begierde, von Hoffnung, von Gewißheit, ihm zu begegnen, bis sie, ermattend, fähig ward, im Adreßbuch nachzuschlagen, wo sie ihn nicht fand. – Einige Wochen nach ihrem Eintritt in die Zeitschrift Philipps hatte er sie angewiesen, eine Adresse im Literaturlexikon nachzuschlagen, und da suchte sie nun, die nie gewußt hatte, daß es solch ein geistiges Adreßbuch gab, den Namen und fand ihn, erschreckend über sein jähes Dasein, seine Unweigerlichkeit, und drang langsam und angstvoll durch die geringen Hindernisse der Angaben über Geburtstag und -ort und seine Werke – zum ersten Gedichtband war ein zweiter gekommen, das Alexanderwerk lag in allen drei Bänden vor – zum jetzigen Aufenthaltsort: ›Lebt in Urach‹, stand da.

›Nur fast so wie lm Traum ist mirs geschehen,
Daß ich in dies geliebte Tal verirrt …‹

Die Zeilen rieselten in ihr; sie wußte nicht weiter, wußte aber, daß sie von Mörike waren, und sah deutlich im Buche die Überschrift: Besuch in Urach. ›Nur fast so wie im Traum …‹ Auf einer Landkarte fand sie Urach, und daß es ganz nahe bei Tübingen lag, wenigstens schien es so auf der Karte. Ob er damals schon dort gewesen war?

In späteren Jahren, wenn sie sich Ludwigs erinnerte, geschah es mit diesen Worten: ›Nur fast so wie im Traum …‹


Sechsundzwanzig Jahre alt wurde Elli vom Standesbeamten mit Philipp Ohnefehl getraut und zog, da für eine neue Einrichtung keine Summe zur Verfügung stand, in seine Vierzimmerwohnung, in der noch alles so war wie zu Lebzeiten der ersten Frau, bis auf ihr Bett, das nur vom Boden hatte heruntergeholt werden müssen. Die Wohnung war im Jugendstil eingerichtet und häßlich wie der Tod; doch hatte sie jenen Hauch von Behaglichkeit, den lange Gebrauchtheit zu erregen vermag; dazu waren die Tapeten erneuert, alle Schäden verbessert, und schließlich war sie auch verschönt durch einen kleinen Dachgarten mit vielen Blumen, einer berankten Pergola und unermeßlicher Aussicht über das Dächermeer von Wilmersdorf, über Sandflächen, Felder, Gartensiedeleien, über Neubauten, Gasometer und Kirchen bis zur schwarzen Hecke des Grunewalds.

Wo war denn Elli angelangt? Dort, wohin sie gehörte. Diese Umgebung unterschied sich von der ihres Elternhauses durch nichts als durch eine ausrechenbare Spanne von vielleicht zweitausend Mark, und Elli war nicht nur leiblich Geschöpf ihrer Umgebung gewesen – ausgenommen vielleicht einen Tropfen Romantik, ihn, der sie seinerzeit nach Berlin – in der Aussicht Genf und Paris – getrieben und den langen Umweg bewirkt hatte nach Wilmersdorf.


Und nun vergingen die Jahre.

Zufriedenheit: nicht um eine bestimmte Stunde an jedem Morgen aus dem Bett zu müssen; an keiner Haltestelle der Straßenbahn bei Schlackerschnee und schneidendem Wind warten zu brauchen; nicht hastig, die Ruhepause zu vergrößern, mittags ein seellos verfertigtes Essen durchzukauen; einen ganzen leeren, mit freiwilligen Handlungen auszufüllenden Tag vor sich zu haben; keine einsamen Abende mehr. Und dann dies: jedes Ehepaar denkt, wenn es beginnt: Bei uns wird alles ganz anders sein! – Und dann wird es auch anders, da es nun eigenes Erleben ist und früher nur Hörensagen war oder Vonfernsehn.

Ob es sehr lange dauerte, bis Elli einsah, daß sie doch an jedem Morgen, gleichviel wann sie aufstand, zu einer bestimmten Stunde aus dem Bett mußte? Länger bis dahin dauerte es jedenfalls als bis zur Entdeckung, daß die nette und mundfrische Magd frech war und lügnerisch. Ja, so hatte ein jedes eine andre Dauer –, die neue Freude am Nochwissen der mädchenhaften Kochkünste; die Leere der Tage, die sich mit Staubwischen, Einkäufen, Mittagsschlaf, Strümpfestopfen, Wäscheflicken für zwei, Zeitunglesen, Mahlzeiten und dem fast allabendlichen Besuch des Theaters zum Überlaufen mit einer unendlichen Gleichförmigkeit füllten, und die Einsicht aller Ehepaare, daß es genau so bei ihnen war wie bei jedem andern – – jedes seine andre Dauer, bis dann eines Tages auch die letzte der unterschiedlichen Fristen abgelaufen war, und – ja was dann?

Nichts. Erkennen ist nicht Bekennen. Höchstens daß einmal in nachmittäglicher Stille, wenn die Dämmrung begann, wenn beim Aufsehn von dem immer noch hellen Weißzeug im Schoß das Dunkel schon jene Vertieftheit angenommen hatte, die so viel Blick hat wie eindringlich dunkle Augen –, daß dann ein leises Quälen sich regte: War es dies? War es denn dies, was kommen sollte, was geplant wurde? – Aber wer ist geneigt, eine Frage zweimal zu tun, auf die beim ersten Male die Antwort kam: Es giebt keine Antwort?! Elli war es nicht.

Denn vielleicht hätte sie weiter fragen müssen – müssen, dieweil es keine Antwort giebt, die nicht wieder eine Frage mit Antwort und neuer Frage enthielte wie jener Spielzeugkasten der Kindheit, nur mit dem Unterschied, daß die geschachtelten Kästen kleiner, die Fragen und Antworten dagegen immer weiter und wolkiger werden –, weiter fragen müssen: Wie kam ich hierher? Wo war ich zuvor? – Und dann: Hoch war ich, warum jetzt tief? Und am Ende hätte sie eine doch abschließende Antwort gefunden mit dem Wort: Ich bin tief, weil ich hoch war.

Immerhin waren die zweiten drei Jahre von Ellis Ehe die äußerlich angenehmsten für sie. Sie dachte nicht nach, alles schien still zu stehn, alles zu sein, wie es sein konnte. Sie hatte, dank einem guten Dienstmädchen, des ersten, das blieb nach unzählbarem Wechsel, bequem werden können. Es verkürzte sich jeder Tag durch spätes Aufstehn; der Haushalt spulte sich ab, ohne viel Zugreifen ihrer Hand.

Dann kamen die Sorgen. Wie sie zu kommen pflegen: eine, die wieder schwindet; eine zweite sodann, die nur erst wieder eine erste scheint, und die auch wieder geht, und auf einmal warens doch viele, eine Kette, und mehrere auf einmal sind schon da, und ob diese wieder Abschied nimmt und jene geht, es kommt auf die einzelnen nicht mehr an, es sind nun: die Sorgen, und ihre Eigenschaft ist, immer da zu sein.

Influenza, Erkältung, ein kleines Magenleiden, Mietesteigerung, Kündigung, teurer Umzug, eiskaltes Schlafzimmer, zu dunkles Vorderzimmer der neuen Wohnung, Lungenentzündung, Blutarmut, immerfort Kränkeln des Einen oder des Andern, wieder Magdwechsel und nun wieder alle paar Monat, plötzliche Kündigung einer ewig sicheren Stellung Philipps, langes Suchen nach einer neuen, Kündigung der andern, wieder Suchen, nun lauter Fehlschläge, Enttäuschungen, Kränkungen, Einschränkungen, Verbitterung – o dies ewig Welke!

Philipps Wesen und Ausdruck blieben unveränderlich gütig. Hoffnungen hatten ihn verjüngt; als ihre Erfüllung ausblieb, wurde der Vergrämte, inzwischen nur Gealterte, doch grämlich.

Die eine Hoffnung war die auf sein neu hervorgezogenes Werk. Er fing an zu schreiben, schloß sich – so geheimnisvoll, daß Elli lächeln mußte über diesen einfältig rührenden Beleg eines vor langem gehörten Worts – an den Nachmittagen in sein Zimmer ein, wo dann Elli ihn auf und nieder gehn hörte oder an der Stille zu erkennen glaubte, daß er schrieb. Eines Abends erschien er, feierlich, fast glühend, und las einen ersten Aufzug, der Elli auf das tiefste erschütterte und ihn auch. Nun weiter, ah weiter! Allein nach einer Zeit stellte sich heraus, daß er einen Fehler gemacht hatte; daß die Gegenwartszeit des Stückes doch nicht die rechte war; daß er es in eine andre, historische verlegen mußte, – ein kleiner Umweg, weiter nichts, ein paar Studien. Dann breiteten die Vorarbeiten sich aus, er geriet ins Lesen, und, vor Elli sein Geheimnis kümmerlich wahrend, versaß er die Nachmittage in seinen Zimmern über Geschichtswerken, jahrein jahraus, – bis er eines andern Abends, an dem es keinen Theaterbesuch gab, so verstört und wirr und mit geröteten Augen erschien, daß Elli den Zusammenbruch, der stattgefunden haben mußte, erriet und sich in seine Arme warf, worauf sie in gemeinsamem Sichausweinen eine engere Gemeinschaft gefunden zu haben glaubten. Allein – so schön und tröstlich das war als Gefühl, worin sollte sie sich ausdrücken, diese Gemeinschaft, da immer die Tagesform die alte blieb, er seinen Beruf hatte, sie ihren Haushalt, und kein Empfinden zu dauern imstand ist, das gestaltlos bleibt. Liebevolle Blicke, und eine Liebkosung auch, lassen sich nicht beliebig wiederholen, wenn im Innern kein Frohmut ist, keine Hoffnung, und außerhalb alles am Welken.

Eine andre Hoffnung Philipps war die auf einen Sohn, auf Kinder. An wem lag es, daß sie sich nicht erfüllte? In den ersten Jahren ihrer Ehe war Elli, erfrischt von Umarmung, bewegten Blutes, gesund und bei Kräften, und auch er fühlte sich frischer und kraftvoller. Daß seine erste Ehe kinderlos geblieben, war nach kaum vierjähriger Dauer kein Beweis. Elli ging zum Arzt, brauchte Mittel, Kuren, ein Bad – der Arzt glaubte nicht, versichern zu können, daß die Schuld an ihr liege. – Im sechsten Jahr der Ehe stellte Philipp, körperlich bedürfnislos, die aussichtslosen Liebkosungen ein, verzichtend zum vielhundertsten Male, nicht eben zu Ellis Gunsten.

Die letzten zwei Jahre dieser Ehe waren eitel Trostlosigkeit. Für Beide hatten, wie die Farben einer gedrehten Scheibe zu grauem Weiß ineinanderfließen, die Farben der gleichmäßig vorübergewirbelten Tage auf der Scheibe des Jahrs ihre Farbigkeit verloren, sichtbar an Möbeln, Tapeten und Gardinen, – das will heißen: sie waren farbenblind geworden auf ihren blutlosen Augen. Die Blume der Zuneigung, die in keinem Garten stand, sondern Topfblume war, nicht mit frischestem Wasser täglich, sondern nur mit der in den Untersatz durchgesickerten Brühe wieder und wieder begossen, verdorrte, obschon unsichtbar Beiden. Schließlich versiegte das allzuoft durchgeseihte Naß, oder Elli vergaß das Begießen, und das Letzte, was verzweifelt gegrünt hatte, wurde dürr, entfärbte sich, fiel ab. Elli sah es und sagte: Es war doch wohl immer nur Mitleid mit ihm …

Ein letztes Aufflackern vor dem Ende: Philipp wurde vom Brustkrebs befallen und das Leben nun freilich schwer. (Auch tröstlich kaum das Bewußtsein einer bei Männern so seltenen Krankheit.) Nach einigem Hinschleppen, indem Elli für ihn die Theater besuchte, worauf er nach ihrem Bericht und den schon in Zeitungen erschienenen Kritiken ihr die seine diktierte, mußte er diese Stellung aufgeben. Die kärglichen Ersparnisse gingen dahin. Trotz seines Sträubens blieb nichts übrig, als daß Elli gegen die Bürgschaft ihres Erbes eine kleine Summe lieh, klein und mit hoher Verzinsung. Dann wurde die Operation vorgenommen und verlief günstig.


Einige Zeit später hatte Elli ein Erlebnis, eine Begegnung nur, die jedoch einen Einschnitt bewirkte, so tief und kräftig wie das Arztmesser bei ihrem Mann.

Philipp hatte sie ins Freie geschickt. Der Herbsttag war schön, sie selber nach seiner Genesung, die vollkommen schien, gutes Mutes, ja übererregt und farbiger Hoffnung. So kam sie, eingetaucht in den feuchten, starken Dunst der Herbstwälder, getröstet vom Anblick der stillen Seen und des zärtlichen Abschiedshimmels zurück, angenehm müde gelaufen, und bestieg eine Straßenbahn, während es zu dunkeln begann.

Da bemerkte sie im schon erleuchteten, übervollen Wagen, an derselben Seite wie sie, das Profil eines Herrn, der sich eben niedersetzte, und das ihr bekannt erschien, jedoch im nächsten Augenblick hinter den dazwischen Sitzenden verschwand. Sie suchte noch in der Erinnerung, als sie ihn wieder aufstehn sah, um einer Dame Platz zu machen, und nun hatte sie unfern über sich sein Gesicht unter einem weichen, silbergrauen Filzhut. Sie kannte es, ohne Zweifel, aber sie suchte vergeblich nach der Erinnerung in diesem länglich bartlosen, nicht eben hagern, aber kargen Gesicht, dessen Nase, als er den Kopf wandte, ernsthaft vorsprang, dessen ziemlich kleine, farblos dunkel scheinende Augen tief in großen Höhlen lagen mit sichtbaren Knochenrändern unter der Haut, wobei der Ausdruck vielleicht an den traurigen eines Affen erinnerte, – und all dies war doch wieder sehr unbekannt. Sie musterte selbst Hut und Überzieher nach einer Spur – vielleicht war es doch nur ein Schriftsteller oder Schauspieler flüchtiger Bekanntschaft im Kaffeehaus? –, die schlicht und vornehm waren: der Mantel von leichtem dunkelgrauen und rauhen Stoff hatte mattseidene Aufschläge. Aber dies störte das Erinnern fast wieder. Er sah wie die gesammelte Ruhe aus und schien mehr als dreißig Jahre alt.

Sie mußte wieder fortsehn und versuchte eine Zeitlang, sich das Bild dessen vorzustellen, an den sie erinnert war. Da ging er vorwärts, und wie er jetzt, in der Tür dicht vor ihr, stehen bleibend, mit den Fingern der Rechten leicht nach der Nase griff und wieder losließ, nach draußen sehend, da erkannte sie Bogner.

Ihr Herz zuckte grimmig, ihre Hand, ihn zu halten. Aber sie bewegte sich nicht. Sie sah ihn die Plattform betreten, am Ausgang die Haltestelle erwarten, absteigen und, im Anfahren des Wagens, hinter ihm zum Vorschein kommen und über den Damm gehen, kleiner werdend, in einer ganz unbekannten Haltung von leichter Rüstigkeit; und sah ihn endlich verschwinden und wußte nicht, und wußte doch tiefsten Herzens, daß es Bogner gewesen war.

Elli flüchtete früh in ihr Bett an diesem Abend, wo sie wider Vermuten sofort einschlief. Erwachend bemerkte sie einen Lichtschein im Zimmer und sah ihren Mann.

Im rechtsstehenden der zwei Betten liegend, sah sie im Schein der Kerze, die auf dem Nachttisch links drüben stand, über die Fußwandung der Betten hinweg, ihren Mann, der, ihr den Rücken zudrehend, neben dem Waschtisch stand, in Unterhosen, rötlichen Socken und alten niedergetretenen Reiseschuhn; sah das wollene Hemd, im Rücken gebauscht wie eine Bluse über dem Bund der schief hängenden Hose, die in Falten und Runzeln um seine hageren Beine lag. Ja, so stand er, über dem Eimer sich den Mund reinigend, gurgelnd und spuckend.

Der Schauder aber, die Scham und die Pein, die Elli aus diesem, unzählbar oft gesehenen Bild überströmte, war von unbegreiflicher Tiefe. Sie hatte dafür keine Worte, starrte nur hin wie gelähmt, was aber in ihr rang, das läßt sich in diese Sätze fassen:

Ist denn dieses der Mensch? Ist darum die Welt erschaffen worden, sind darum die Jahrtausende vergangen, und ist all das Ungeheure entsprungen, Christus und Buddha und die Bibel und Beethoven und Faust, die Kriege und Revolutionen und alle Erfindungen, daß der Mensch in solcher Gestalt, ein ausgebaggerter Lohnsklave, mit Fetzen von Seele behängen, sich nicht schämt, vor einem Andern dazustehn? Ist das der Sinn von allem hier unten, die Absicht Gottes und die Mitte von Sternen und Wäldern und Meeren? Warum ist er denn so, dieser Mensch? Warum ist er denn, umringt von zehntausend Vorbildern, nicht schön wie der Schwan, rein wie die Narzisse, ruhig wie die Sterne, seelenvoll wie der Maihimmel und weise wie das Matterhorn? Warum, da er seit zehntausend Jahren Seele zu handhaben weiß und Leib, ihm die vollkommenste Schöpfung gelingt im Marmor und die blumenhafteste im Gedicht: warum lernte er nichts für sich und blieb ungeschlacht und fürchterlich wie das einsame Gnu, das aus seinem Morast aufsteigt?

Ach freilich, um solchen Schauder zu empfinden, brauchte es keiner Socken noch Schlappschuhe und keiner Vergleichungen mit Filzhüten und seidenen Aufschlägen, die Gott vermutlich auch nicht erfunden hat. Und Elli, sie empfand nichts weiter als ihr Elend, ihre Armseligkeit km vergleichsweise geringen Unterschied mit glanzvolleren Möglichkeiten äußeren Daseins, nur empfand sie einmal in ganzer Tiefe, – und Schlappschuh und Gamaschen waren nichts als die Werkzeuge magischer Natur, jenes ungeheure Antlitz ans Licht zu heben, aus dem mit den Augen Bogners eine ruhige, aber furchtbar drohende Vollkommenheit blickte, aus der sie gefallen war oder verstoßen. Der da wie ein Löwe schritt seines unangreifbaren Wegs, sicher durch sich selbst, – sie war einmal das kleine Nagetier gewesen, das ihn mit hurtigen Zähnen aus dem Netz befreite, – und war es geblieben, das war alles. Alles? Nein, das war nur die Tatsache, was aber Elli mit feurigen Messern zerschnitt, das war die Einsicht.


Philipp Ohnefehls Ende war schwer, für ihn, auch für Elli. Das Gefäß eines Lebens, das allezeit überfloß von Elend und Kummer, am Ende noch langsam zerrissen und zerrieben zu sehn, ist ein Anblick von grausamer Bitterkeit, und die Krankheit ersparte Philipp nichts. Nach dem ersten, Genesung scheinbar verbürgenden Eingriff im Herbst mußte im kommenden Frühjahr ein zweiter, und abermal im November ein dritter vorgenommen werden; daß der Arzt selber am Erfolg zweifelte, verbarg er Elli auf Philipps Bitte. Immerhin konnte das Ende noch lange auf sich warten lassen. Während des Winters stieg die unablässige Qual der Schmerzen so, daß der Kranke verzweifelte, stundenlang in hülflosem Weinen liegend, und oftmals stöhnend über die Unerträglichkeit des Lärmens im Haus, in der Stadt, die ihn erdrücke zu allem andern. Elli nahm daraufhin noch einmal Geld auf, sie fuhren nach einem kleinen Ort im Inntal, wo die Reinheit der winterlichen Lüfte ihn einige Tage lang aufatmen ließ. Dann, als die Folter wieder begann, führte er selber das Ende herbei. Nicht ganz ohne Gutes war dies Letzte für Elli gewesen: sie liebte, oder sie glaubte ihren Mann wieder zu lieben, überwältigt von seiner Not, vor der Mitleid ein zu kleines Gefühl schien.

Denn dies war der Fehler in Ellis Anlage: sie konnte nur lieben, wo sie überwältigt war, wo sie ganz hingenommen wurde von einem viel Größern, nur wo sie brannte, ringsum eingeschlossen vom Feuer, entquoll ihr der helle Lebensgesang. Er aber, dieser arme Mensch, war selber erloschen, und sie verstummte an seiner Lauheit.

Und so blieb sie, von Anfang, von Ludwig an, arm, geistig arm. Wie der Kohlenpeter im Märchen Hauffs von Gnaden des Flößermichels immer so viel Geld in der Tasche hatte wie der reiche Ezechiel, und also eines Augenblicks nichts, da Ezechiel alles Geld an den Peter verspielt hatte: so war es mit Elli, deren geistiger Reichtum allzeit so groß war wie der dessen, den sie liebte. Erwerben konnte sie nichts, immer nur geben, sich immer nur wiederholen, immer die gleiche bleiben. Freilich: daß sie es innerst doch blieb unter den Umständen, die sich späterhin zeigen werden, das war vielleicht schon so viel, wie ein Mensch zu leisten imstand ist. – Sie konnte nicht erwerben und verarmte schnell, wenn sie nicht mehr bekam, von Philipp bekam sie noch einmal eine volle Brust Schmerz zu halten und fühlte sich reich.


An einem der Berghänge, die das Tal zu zwei Seiten begleiteten, gab es einen abseit vom Wege hoch gelegenen Platz, wo Holz geschlagen war und die riesigen Stämme in schwerem Durcheinander lagen. Dort hatten Philipp und Elli zuweilen gesessen, besonders an Frühnachmittagen, über dem grauen Dunst des breiten, verschneiten Tals, hatten es dunkler, hatten das erstaunliche Gold und rote Feuer von den Gipfeln drüben lautlos verschwinden sehn, und Philipp besonders hatte sich geweidet am Erscheinen eines Sterns in der Leere des südlichen Himmels: erst eine silberne Nadelspitze im kaum bläulich überhauchten Himmelsgrau, strahlte er langsam zum brennenden Demanten auf, und immer wieder wars ihm ein inniges Entzücken, in die Leere zu blicken, bevor er kam, und wieder fort, bis er plötzlich rufen konnte: Nun ist er da! und Elli das kleine, hoffnungsvolle Licht gewahrte im unendlichen Raum. – Dort fand sie ihn eines Abends, nachdem er schon gleich nach dem Essen, während sie sich niederlegte, fortgegangen sein mußte. Anscheinend hatte er auf einem der Stämme gesessen, sein Mantel lag darüber, aber er war nach hinten zu Boden geglitten und lag, nicht eben glücklich, die Beine noch auf dem Stamm, die Augen weltoffen, scheinbar regungslos aufblickend zu den Sternen, aber erfroren und tot. – Als Elli die tränenden Augen von den seinen aufhob zu der erschreckenden Fülle des allerenden sich niederwölbenden, schwarzen und goldfunkelnden Firmaments, lief ein Zittern über die Bilder der Sterne. Die Unerreichbaren, so schiens, zitterten vom Niederschlag einer warmen Seele, die sich endlich hinaufgewunden hatte, ein zarter Rauch, aus der abgründigen Tiefe.

Vorn in Philipps Schreibmappe, auf den mitgenommenen Papieren seiner Lebensversicherung – die Elli, so sie nur die Zinsen brauchte, ein jährliches Einkommen von 500 Mark bewirkte – fand sie später, zartes Zeichen des Abschieds auf der ärmlichen Gabe, die Zeilen:

Was mich trieb und was mich stieß.
Ach, daß ich es nie verstand!
Scheidend in ein andres Land,
Laß mich rufen drum nur dies:
Süße Jugend, bleibe süß!

Damals stand Elli im vierunddreißigsten Jahr ihres Lebens, und hier endete ihre Bahn. Denn wenn jemals vorher in der Bewegung, mit der sie die Ketten anlegte, die sie verlangte, Freiwilligkeit gewesen war und Entschlossenheit, so wirkte fortan nur ein dumpfer Trieb, eine, an ihren Füßen gleichsam ziehende Getriebenheit aus einer Lage in die nächste, von einer Stufe zur tieferen hinab, wie es heißt: ›Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen.‹


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