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Fünfte Treppe

Zwischen Ludwig und Benvenuto, diesem und Adalbert, zwischen Adalbert und Philipp hatte jeweils eine Zeit des Alleinseins für Elli gelegen, in der sie das vorher Gewesene hatte verarbeiten und von neuem wieder bedürftig werden können; das Schicksal vergnügte sich diesmal an einer Abwechslung, oder auch es willfahrte Elli, indem es ihr ohne Pause zuteilte, was ihr not war, gleichviel, ob sie es mit oder ohne Verstand wünschte, und der neue Anfang begann sogar noch vor Ablauf der alten Frist und bei Lebzeiten Philipps.

Der kleine Gasthof, in den sie eingekehrt waren, lag in einer Ortschaft von nicht mehr als einem halben Dutzend Häuser, für die am Winterabend Anlangenden im Dunkel und allgemeinen Weiß des Schnees mit ihren weißgetünchten Wänden und verschneiten Dächern fast unsichtbar unter der schwarzen Wölbung des Nachthimmels. Sie gingen, nachdem sie in der niedrigen, gewölbeartigen Schenke zu Abend gegessen hatten, in ihr Zimmer hinauf und legten sich in den zwei Betten nieder, die den winzigen Raum fast ausfüllten, – nach dem jahrelangen Tosen der Hauptstadt plötzlich abgeschlossen von aller Welt, in vollkommener Stille, – eine unglaubhafte Erscheinung wie das unvermutete Aufgehobensein eines unablässig bohrenden Schmerzes.

Bald entschlafen, erwachte Elli mit einem Schrecken davon, daß die Tür aufsprang und mehrere Menschen hereinkamen, – nicht jedoch zu ihr, wie es erst schien, sondern ins Nebenzimmer. Sie konnte die Ritzen einer Verbindungstür, grad gegenüber, rötlich schimmern sehen vom Licht.

Geraume Zeit war es stille drüben; nur die Schritte Jemandes, der langsam auf und nieder ging, waren nicht eben laut hörbar, mit einem wechselnden Geräusch, wenn die Füße auf Dielen oder auf einen Teppich oder Bettvorleger traten, wo sie für Sekunden fast verstummten. – Plötzlich sagte eine dürftige weibliche Stimme, infolge der Dünne der Wand und der Verbindungstür deutlich vernehmbar in der Nachtstille: »Ich hatte heut eine berauschende Vorstellung …«

Eine außerordentlich tiefe, männliche Stimme versetzte nach einer Welle: »Schon wieder?«

Die weibliche, nach einer Pause, fuhr fort:

»Ich hatte die Vorstellung, daß die Kaiser der Welt, auf Veranlassung des bunten Kaisers von Hinterindien, übereingekommen waren, die Krankheit der Welt, die menschliche Schwermut, auszurotten, indem sie ein eisernes Verbot legten auf das Zeugen und Gebären. Ihr Wort versiegelte die Schöße aller Frauen und die Mannbarkeit aller Männer. Das Geschlecht der Schwermut begann auszusterben. Ich sah, wie sie starben, die Greise zuerst in gewaltigen Massen, während die Jugend alterte und zu Greisen ward und erlosch, und ich fühlte den wundersamen Stillstand alles Geschehens, in dem nur das große Sterben rieselte wie ein ununterbrochener Flockenfall. Aber das war noch nicht das Berauschende. Das Berauschende war, als die beiden Letzten, ein uraltes Greisenpaar, von Verzweiflung ergriffen wurden über den Untergang dieses so verruchten und doch so schönen Geschlechts; und wie ihre Verzweiflung auf Rettung sann und sie darauf verfielen, ein neues Geschlecht aus sich zeugen zu wollen. Aber da –«

Die dürftige Stimme, die sich zu übergeheimnisvoller Eindringlichkeit niedergedrückt hatte, schwieg sekundenlang und schloß feierlich: »– da konnten sie nicht.«

Einen Augenblick später hörte die verdutzte Elli neben sich ein kurzes Schnauben durch die Nase; es schien, ihr Mann lachte. Die weibliche Stimme ward wieder hörbar:

»Und dies sich vorzustellen, war so maßlos berauschend! Da waren jene Beiden, einsam auf dem ungeheuren Gräberfeld, im Besitze der letzten Möglichkeit, und – da konnten sie nicht mehr.«

Die tiefe Stimme sagte: »Der Traum eines Weibes! Wer die Krankheit heilbar wähnt, was weiß der von der Krankheit? Aber das Weib wußte vom Wesen der Schwermut nie!«

Die Dürftige wandte entschuldigend ein: »Es war ja nur eine Vorstellung!« Und, sich unterwerfend, setzte sie mit bescheidener Ehrfurcht hinzu: »Es ist wahr, Ibrahim, ich bin nur eines von den dienenden Geschöpfen, denen die Ursprünge ewig fremd sind. Du aber, Ibrahim, hast mir viel gezeigt … Du wiesest mir den Becher der Schwermut, und weil ich ihn so deutlich erblickte, und weil es deine Hand war, die ihn hielt, so meinte ich wohl, wirklich getrunken zu haben. Ach, sprecht wieder, ihr Beiden, euren ewigen Gesang, ich will lauschen!«

Nun sagte eine andre männliche Stimme von großer Weichheit und jener Verschleppung der Menschen aus Österreich beim Sprechen, der Verbreiterung der E-Laute und der Dehnung aller Vokale:

»Dü–rär – hat sie gemalt – – sähr tief–sienig.«

»Malte er sie nicht als ein Weib?« fragte die Dürftige gedankenvoll.

»Malte sie als ein Weib, weil er sie selber nicht malen konnte, sondern nur von ihr – ein Bild. So malte er sie, sitzend in sich selber, in ihren Gegenständen, dem furchtbaren Kometen, der steinernen Last, des Windhundes, der nicht laufen mag. Denn dies ist der Sinn der Schwermut: daß die Welt so traurig ist, daß man nicht darüber hinwegkann.«

»Oh, wie ich dies verstehe!« antwortete sie scheu. »Nicht darüber hinwegkönnen, das ists. Erlaubt, daß ich es verstehe! Alles lastet umher, nichts will sich heben, zu nichts läßt sich gelangen, alles erlosch bis auf den bösen, bösen Komet. Oh, daß man von sich sagen könnte wie Lao-Tse: ›Ich bin vergessen wie das Meer!‹«

»Und darum«, wurde die tiefe Stimme hörbar, »sagt der Chinese, darum giebt es für den überlegenen Menschen, der in unentrinnbarer Weise zum Herrschen berufen ist, nichts andres als Nichttun.«

»Darf auch ich hierzu kommen?« fragte sie bescheiden.

»Du darfst, Zinaide! Denn das Weib kann belehrt werden, obgleich es nicht wissen kann.«

»Belehret mich denn! Belehre mich du, Kalaaf, über die Schwermut! Nie werde ich satt!«

»Schwermut –« sagte der Österreicher, »Schwermut ist das ewig Männliche. Schwermut ist das Angeschlossensein an den Weltschmerz. An ihn angeschlossen ist das Weib durch die Geburt, durch das dumpfe Tun. Da lernte sie, den Schmerz der Gebärerin für das Gegebene zu halten. Sie mußte sich abfinden mit ihm und tat es. Sie gewöhnte sich an ihn, sie vergaß. Aber der Mann ist angeschlossen an ihn mit seiner Seele. Er konnte sich nicht abfinden, und da hat er ihn durchdrungen. So wurde er schwermutvoll. Das Weib versteht nicht. Er aber versteht, was sein muß, und er sieht, daß er nichts ändern kann, und das ist die Schwermut. Die gan–ze Welt iest zum Verzwei–feln trau–rieg.«

In der nun folgenden Stille empfand Elli bewußter den weichen Zauber dieser Stimme und der Worte, unter denen ihre eigene Trostlosigkeit aufquoll mit einem Seufzer. – Sie war, mit dem Augenblick der Gewißheit von Philipps Ende nach der letzten Operation, halb unbewußt erst, dann mit immer bewußterer Hingabe der Trostlosigkeit anheimgefallen, die ihren Grund hatte in der bevorstehenden Auflösung dessen, was ihr doch immer als letzte Sicherheit des Daseins erschienen war. Als sie Philipps Frau wurde, war das Erlösende, das eigentlich Beglückende gewesen, daß sie für den Rest des Lebens aufgehoben und in einem Gewahrsam sein würde. Nun war sie um noch kein Jahrzehnt gealtert, sah sich im täglichen Spiegel noch als dieselbe, fühlte sich welker, doch längst nicht verblüht und im Kern ihres Wesens und Daseins ungewandelt. Nun sollte alles wieder unsicher werden, sie auf sich selber allein gestellt sein, – ach, sie wußte, wie hülflos sie war, wie beschränkt und eingedumpft schon durch das Alleinsein!

Hiervon hatte Philipp selbst eines Abends zu sprechen begonnen mit den Worten: »Wenn ich einmal nicht mehr bin …« was einen Tränenausbruch Ellis von solcher Dauer und Heftigkeit zur Folge hatte, daß die Ursache davon wohl tiefer lag als die schmerzlichen Worte des Abschiednehmenden. Er hatte dann gemeint, das beste würde sein, wenn Elli das Geld, das sie haben würde, nämlich ihr, mit Zins und Zinseszins auf beinahe 10 000 Mark angewachsenes Erbe, dazu den Betrag seiner Lebensversicherung von 12 000 Mark – angriffe, um davon zu leben, bis sie Ihr Oberlehrerexamen, vielleicht auch den Doktor gemacht haben würde, wozu sie sich Muße lassen konnte – auch mußte, da sie in mehr als elf Jahren viel vergessen haben würde. Trotzdem würde ihr noch etwa die Hälfte der ganzen Summe verbleiben, deren Zinsen ihr eine kleine Jahreszulage zum Gehalt bieten sollten … Die Art war sehr rührend, in der er für sie vordachte, da er sie dabei ganz als jugendlich nahm, als einen Menschen, der jederzeit von vorn anfangen konnte. Elli brach am Ende wieder in Tränen aus, unwissend, weshalb sie weinte, auf sein Zureden und Fragen nur hervorbringend: »Es ist alles so trostlos! – wenn du weg bist!« setzte sie hinzu, ohne das erst gemeint zu haben.

Der einst, als sie ein Mädchen war, so natürlich aussehende Gedanke an eine Zukunft als Lehrerin vollendete nun die Hoffnungslosigkeit in ihrem Innern, als werde ihr jetzt bewußt, von welch ferner und funkelnder Höhe sie in kümmerliche Niederungen herabgestiegen war. Auch war wohl niemals das anerzogene und vererbte Empfinden in ihr entwurzelt, daß ein Dasein als Frau, gleichviel welches Mannes, die von seiner Arbeit lebt, würdiger sei als eigener Broterwerb, welche Vorstellung nun, da sie Frau gewesen war, wieder in ihr trieb. Jedenfalls – sie versank in leere Schwermut hingebungsvoll, bis die unbekannte Stimme in der fremden Nacht sie ihr mit Namen nannte. (Davon freilich, daß das Weib von ihr nichts verstehe, hörte sie nichts.)

Das Übrige des Gesprächs, in dem die drei Stimmen und lange Pausen mit Geredetem wechselten, entging ihr unter haltlosen Grübeleien. Wieder erwachend, hörte sie die Stimme Philipps mit einem Stöhnen: »Oh mein Gott, wird es denn niemals enden?« Nebenan war es still, aber die Ritzen der Tür schimmerten wie zuvor. Bald hörte Elli auch wieder sprechen, schlaftrunken ohne mehr zu verstehn, als daß von Geistern, von Spiritismus die Rede war, aber nun war sie außerstande zu schlafen, wurde wacher und wacher, machte Licht, sah nach der Uhr – es war halb drei –, hörte sie drüben wieder schweigen, dann endlich, erlösend, die Stimme im Baß: »Gehn wir schlafen!« und ein unendliches Gähnen.

»Ich möchte euch noch Verse lesen!« sagte die weibliche Stimme, »wenn ihr mögt!« – Ach Gott, noch immer kein Ende!

Drüben war Schweigen. Ein Aufspringen ward hörbar, dann Schritte durchs Zimmer, endlos raschelte Papier. Wieder Schritte, das Knarren einer Bettstatt, auf die Jemand sich hinließ. Nun die eindringliche Flüsterstimme:

Das Reh des Himmels

Am Ende meines Herzens steht ein Stern.
Deine Seele äugt in mein Dunkel,
Und mein Herz wird süß.

Du goldenes Reh des Himmels!
Kommst du über die finsteren Ebenen gegangen,
Fließen dir entgegen die Ströme meines Haars,
Die deine türkisenen Hufe verwirren.

Sanft äsendes auf meiner kristallenen Lichtung!
Durch sichtene Säulen spähend nach deinem
Sternigen Schatten,
Wächst in den Vollmond mein wächsernes Antlitz
Und sieht dich trostlos Hüpfen im einsamen Schnee.

Eine Weile später erfüllten die Geräusche des Aufbruchs die Nacht mit Lärm, Schritte knarrten über den Flur, Türen gingen. Über einem endlos huschenden Rauschen und hin und her Flattern im Nebenzimmer schlief Elli ein.


Am nächsten Mittag bekam Elli die nächtlichen Drei leibhaft und einzeln zu sehen. Sie und ihr Mann fanden ihren Eßtisch nicht in der ›Schenke‹, sondern in einem Gastzimmer gedeckt, in dessen drei, von einer davorliegenden Glashalle verdunkelten Fenstern die schweigsame Entlegenheit des weißen Schneetales dampfte, sonnenlos. Eine Schmalwand des Raums war durch eine spanische Wand in zwei Hälften, eine fast dunkle und eine hellere, zunächst dem Fenster, geteilt, welche der Wirt Philipp und Elli anwies. Sie löffelten ihre Suppe, als die Tür sich zum erstenmal öffnete und ein Mann, zweifelsohne der nächtliche Baß, hereinkam, ein gewaltiger schwarzer Vollbart, schwerleibig in seltsamer Weise die überbreite, gewölbte Brust vor sich hertragend mit eingebogenen Knieen und zurückhangenden Armen in engen und kurzen Ärmeln. Das Ende eines dicken, aus roter Wolle gestrickten Schals, der um seinen Hals gewunden war, hing ihm bis zu den Knieen herunter. Seine Augen schienen geschlitzt, er sah starr gradeaus mit ihnen, streifte nur, als er hinter der Rollwand verschwand, Elli mit einem verlegenen Verdrehn der Augäpfel.

Eine Minute später erschien die Frau, – klein, schmächtig, dürftig wie ihre Stimme –, die sich beim Türschließen ganz herumdrehte und dann so leise ging, als sei es die Aufgabe, behutsam zu sein. Ihr Kleidrock von einem verfärbten, ziegelharten Rot befand sich in erbittertem Zweikampf mit dem Tuch von lehmgelber Farbe, in das sie den Oberkörper geschlagen hatte. Herankommend zeigte sie unter geschnittenem, mit Fransen in die Stirn fallendem schwarzem Haar ein dunkelgelbes Gesicht, das in erschreckender Weise dem eines Sperbers glich, zumal da sie es recht drehte, so daß unter der kaum vorhandenen Stirn der weit vorspringende Schnabel sich zeigte nebst dem, wie das des Vogels außen angesetzten Auge, das starr, dunkel und gläsern auf Elli eingestellt blieb, bis sie verschwand.

Als letzter kam, eilfertig, geduckt, die Hände in den Ärmeln eines langen Ulstermantels, ebenfalls einen langen, aber graugrünen Schal dick um den Hals gelegt, ein Mensch, von dem, da er das Gesicht gesenkt hielt, Elli nur die Kneifergläser wahrnehmen konnte, dazu die hohe Form seines Kopfes, der oben abgeplattet war, bedeckt mit den festen, glänzenden, von der Stirn nach hinten gelegten Strähnen rötlich braunen Haars.

Während des Essens sprachen sie kaum und mit so gedämpften Stimmen, daß nichts verständlich wurde. Der Baß schwieg ganz; die Zinaide schien unzufrieden mit etwas; vom Dritten kamen kurze, halblaut klagende Erwiderungen.

Doch beschenkte der Abend dieses Tages Elli noch mit der Bekanntschaft der Zinaide, welche Elli, als sie früher als ihr Mann ins Gastzimmer kam, neben dem Kachelofen fand über einem Tisch voll alter Zeitschriften. Sie erhob sich, trat auf Elli zu und sagte: sie habe vom Wirt gehört, daß Ellis Mann sich über die nächtliche Störung beklagt habe, und sie mochte sich deswegen entschuldigen. Sie hätten ja nicht geahnt, daß ein Todkranker neben ihnen liege, nun seien sie außer sich vor Bekümmertheit über ihr liebloses Wesen, – und mehr dergleichen, das Wort Todkranker noch öfter und mit einer Art Andacht wiederholend, – worauf sie Elli nach der Krankheit auszufragen begann. Auf das Wort »Brustkrebs« hin trat sie entsetzensvoll einen Schritt zurück, so daß große silberne Ohrringe unter ihrem Haar hervorschwangen, und stieß heraus: »O Gott! Er hat ein Tier in der Brust!« Es nützte darauf nichts, daß Elli erklärte, es sei kein Tier, sondern ein Geschwür, sie beharrte dabei, es werde nun ewig eine furchtbare Vorstellung für sie bleiben: ein Mensch, in dessen Brust innen ein Krebs sich verbissen habe. – Philipps Erscheinen veranlaßte sie, jählings abzubrechen und, bedeutungsvollen Auges einen Finger vor die Lippen legend, sich abzuwenden. – Etwas an ihr hatte Elli gefallen, ihre Augen, in der Nähe gesehen, waren schön geschnitten, und im tiefen, glanzvollen Schwarz hing ein sonderbar totes, mattgrünes Schimmern, Flecken von Patina ähnlich an schwarzer Bronze.

In dieser Nacht blieb es still bis auf einen grausamen Krach um Mitternacht, mit dem die Zinaide ihre Tür aufsprengte. Danach kaum ein Laut mehr.

Aus welchem Grunde, blieb unbekannt, aber am nächsten Tage war die Scheidewand zwischen den Tischen verschwunden. Die Zinaide sprach auch mit ungedämpfter Stimme und in der unzweifelbaren Absicht, vernommen zu werden, ein solches Kauderwelsch aber, daß Elli kein Wort begriff. Jedoch – auch wenn sie gewollt hätte, würde etwas sie daran gehindert haben: nämlich die Augen des Dritten, von denen sie sich unversehens ergriffen fand, sehr großen, hellen, blauen Augen von einer so unendlichen Schwermut, daß Elli darin verging.

Sein Gesicht war seltsam, lang, rosig, die Nase, ungemein fleischig, herabgedrückt auf den breiteren Mund, um dessen Oberlippe, wie zwei rostbraune Raupen, dünne Rollen Bartes sich krümmten, am Kinn verlaufend in ein rötliches Bartgefaser. Sehr hoch und eckig geschnitten war die Stirn. Und das war das Gesicht, waren die Augen, die Elli stundan nicht mehr losließen für lange Zeit.

Während dieser ersten Stunde war es so, daß Elli wieder und wiederum ihre Augen zu jenen bewegen und sie ihnen hinhalten mußte, offen, wie in Schalen darbietend, was sie enthalten mochten, im Herzen bald die lange vergessene, lange entbehrte Süßigkeit jenes Erzitterns, von dem es hieß: ›Kehrst du noch einmal, süße Beängstigung …‹

Einige Tage danach, als bei Philipp die Schmerzen wiederkehrten und Elli häufiger allein war, lernte sie alle Drei kennen, – damals noch nicht bei ihren richtigen Namen – der scheinbare Russe war keiner und hieß Martin Schermeß, der andre Ottokar Trinkl, ein Tscheche, die Frau Zinaide Brunke, geborene Demant –, sondern nur wie sie von der Dichterin genannt wurden: Ibrahim und Kalaaf. (Und es sei hier erwähnt, daß die damals in arabischen Vorstellungen schwärmende Zinaide später den gar zu banausischen Namen Elli in Ali verwandelte, wie sie dann von den Dreien gerufen wurde.) – Ibrahim war Maler, Kalaaf Musiker. Bald hörte Elli ihn spielen, indem er sich eines Nachmittages, als es dunkelte, von draußen das blaue Scheinen des Schnees leuchtete, an das schlechte braune Piano setzte. Schon nach den ersten Molltönen fiel Elli rettungslos einer Wollust von Klang anheim, die sie nie geahnt hatte. Er spielte unter fast ausschließlicher Benutzung der schwarzen Tasten, an sich ein einfaches Mittel, die Klangfarbe zu versüßen, zu brechen und melancholisieren, doch mehr für ihn; für ihn eines jener Dinge, in denen die Schwermut der Welt sich darstellte, so daß er nicht darüber hinwegkonnte: er konnte eben nur die schwarzen Tasten benutzen, die weißen widerstanden, sooft er sich vornahm, bei ihnen zu beharren, und nicht anders wars mit den Tonarten: er konnte in Dur beginnen, sooft er wollte, ›die schmerzliche Septime‹, wie er es nannte, schlich sich in Bälde ein, es wurde wieder ›schwarz unter seinen Fingern‹, das Lichte verkehrte sich ins Moll.

Als er geendet hatte, war Zinaide neben Elli und nötigte sie mit sanften und klagenden Wendungen des Mitgefühls, von dem ›Mann mit den Abschiedsaugen‹ zu sprechen und von sich selber. Und so kam die erweichte Elli, der in ihrem Leben nicht die Gelegenheit des Sagens geboten war, dazu, in dankbarem Glauben an mildfühlende Seelen, die langen Nöte ihres Daseins aufzudecken, unwissend, daß Ottokar vielleicht die Absicht hatte, zuzuhören, in Bälde aber wohl nicht hinwegkonnte über die Selbstbeschäftigung mit seiner Schwermut; daß der Maler, zu faul zu allem, auch zu faul war zu diesem, und daß Zinaide zwar durchaus an ihr Mitgefühl glaubte, im ganzen jedoch ein Parasitengewächs war, das sich auf fremde Leiden setzte und daran nährte. Sie wurde auch satt, bevor Elli alles gegeben hatte, und fing an zu gähnen in der Einsicht, daß die Zeit des Abendessens da sein würde, eh sie von sich anfangen konnte. Dies tat sie denn andern Tages, ohne übrigens irgend äußere Verhältnisse zu berühren, indem sie nur das ›Labyrinth ihres Wesens‹ mit Elli durchwanderte am Ariadnefaden der ›dienenden Demut‹, die den Grundzug ihres Charakters und also auch ihres Schicksals bilde, die sie mit schönen Versen aus Rilkes Stundenbuch belegte, und die augenblicklich, ›wie Ruth, die Magd, aufgedeckt hatte‹ zu Füßen Ibrahims, des himmlischen Rehs.

Ach, nicht ganz war Ellis Leben zur Farce geworden – zumal der die Farce kaum zu empfinden pflegt, der sie spielen muß –! Die unverderbliche kleine Oblate ihrer Seele blieb, wie sie geweiht war zur heiligen Speise, mit der sie fortfuhr, gutgläubig zu sättigen, wen es nach ihr verlangte.


Ottokar war erst fünfundzwanzig Jahre alt, aber die Welt müde. Nun hatte er doch eine Oper geschrieben, Text und Musik, an der er noch ein wenig arbeitete, die aber schon von der Darmstädter Hofoper angenommen sein sollte. An demselben Abend, an dem Zinaide und Ibrahim abreisten – da sie nur zu Besuch Kalaafs aus München gekommen waren, der, lungenkrank, zur Nachkur von Davos hier weilte –, spielte und sang er Elli und Philipp zwei volle Akte, den ersten und letzten vor. Der Inhalt – eine indische Legende – blieb den Hörenden etwas wirr; Text aber sowohl wie die Musik, die wiederum auf die weißen Tasten fast verzichtete, schienen Elli unerhört, und auch ihr Mann, der einigen Musikverstand besaß, war bezaubert von soviel schmerzhafter Süße, soviel fremdartiger, weicher, fast auf den Geruchssinn wirkenden Düftefülle. Nur schien Philipp das Ganze doch zu ›rückgratlos und molluskenhaft für das Theater‹, womit er recht hatte.

Von dieser Oper sei gleich gesagt, daß sie nicht vorhanden war. Sie war so sehr Erzeugnis des Augenblicks in Ottokar, daß er sie später nicht einmal wiederholen konnte; er hatte sie vergessen.

Und dies war seine Gabe: er konnte alles. Er erfand ein Lied, komponierte und spielte es auf dem Klavier, ebenso jedes andre musikalische Stück. Er spielte auch jedes Streichinstrument, das Cembalo und die Flöte. Er war zweifellos ein Genie. Ein Genie ohne Hände. Warum er nicht imstande war, eine Note aufzuschreiben – ausgenommen in frühester Jugend ein paar Lieder, ein Streichquartett und die Ouvertüre zu einer Oper –, hat Elli nie erraten. Er selber sagte, daß es an der Schwermütigkeit liege. Immer sei da ein Hindernis, über das er nicht hinwegkönne, und hier sei es der Gedanke, daß »etwas sein soll, ein Gebild, ein Werk, von mir gezeugt, geboren, von mir verantwortet … denke nur!« wiederholte er in seinem böhmischen Deutsch: »ver–ant–wor –tet –!« dieser Gedanke war ihm unerträglich. – Es sei angemerkt, daß er das später sagte, zu einer Zeit, als das Nichtvorhandensein der Oper sich nicht mehr verheimlichen ließ, was er übrigens ganz beiläufig eingestand, in etwas klagendem Ton: Ja … das sei wohl nichts gewesen – er erinnere sich kaum …

War er somit einesteils geladen mit Hemmungen, nämlich zum Tun, so war er andrerseits jeder äußeren Einwirkung des Lebens, wie er sagte, ratlos ausgesetzt. So ereignete es sich etwa, daß Elli ihn – am Abend vor der Abreise seiner Freunde –, die mit Elli zusammen saßen, an den Tisch treten sah, aufgeregt, und ihn, eine Hand auf die Platte gestützt, mit furchtbarem Ernst in die Augen der Andern fragend, sagen hörte:

»Ratet mir! Helft mir! Ich wer–de wahnsienieg! ich werde wahnsienieg! ich bin verloren! Was soll ich tun?« Er machte eine Pause und fuhr verzweiflungsvoll fort: »Da bin iech mit einer Dame verlobt, aus der besten Gesellschaft, sie liebt miech, ich kann niecht wiederstehn, ich verlobe miech, die Heirat steht bevor.«

Wieder innehaltend, starrte er trübe Elli an. Zinaide fragte kummervoll, was denn nun sei?

»Ja, weißt du denn nicht? Ich bin doch mit einer Andern verlobt, ich habe ihr die Ehe versprochen, ihr Vater wird mich töten, sie erwartet ein Kind von mir, sie ist ein Engel, eben bekomme ich –« Er wollte wohl sagen: einen Brief, begann aufgeregt in allen Taschen zu suchen, erklärte schließlich, er müßte den Brief oben liegen gelassen haben. Der halbe Abend verging mit Klagen und Beratschlagungen, wie aus diesem Dilemma zu entkommen sei; Elli hörte späterhin niemals weder von der mit, noch von der ohne Kind ein Wort, aber viele ähnliche Abenteuer, alle erfunden wie dieses von Ottokar.


Am Abend, nachdem Elli ihren toten Mann gefunden hatte, löste sie sich unter Ottokars schwermutvollem Zuspruch – im Grund mehr ein Abspruch – in Tränen auf. Er hielt sie in den Armen und küßte sie schonungsvoll. Schließlich fragte er, was sie nun meine, das aus ihr werden solle. Sie erwiderte nichts Bestimmtes, woraus sich, ohne daß es gesagt wurde, ergab, daß sie zusammenbleiben würden. Erst als er von ihr ging, warnte er sie wehmütig folgendermaßen:

Was sie von ihm erhoffe? Ob sie nicht wisse, daß er die Schwermut sei, daß er Nacht um sich habe? »Aber du«, fuhr er fort, »bist die Leuchte, an der ich meine Finsternis erkenne. Fürchtest du dich nicht? Denke dir eine riesige schwarze Nische von Nacht und einsam darin einen Wandleuchter, einen goldenen Arm mit einer Flamme – das bist du. Aber wer weiß? Vielleicht ist es doch ein Engel, der draußen hinter der Nische steht und seinen goldenen Arm hindurchstieß, dich, meine Flamme, zu halten.«

Die im weichsten, süßeintröpfelnden Tonfall gesprochenen Worte beantwortete Elli mit einem dumpfen Ja. – Ein paar Tage später war Philipp unter der Erde, und sie fuhr mit Ottokar zunächst nach München. Sie war ihm verfallen, was ist weiter zu sagen? Wenn ihrerseits Willen und Wollen dabei eine Rolle spielten, so war es eine dumpfe Wollust, sogleich tiefer zu sinken in der Atmosphäre von Hoffnungslosigkeit und Seelenschwere, von der sie schon lange umfangen war, nur daß sie diesmal in voller Gemeinsamkeit mit einem Andern zu sinken hoffte. Sie liebte ihn vielleicht nicht einmal, oder ihre Liebe war gleich dem Wind im Segel eines Nachens, den schon die Strömung des Gewässers davonführt.


Ihr Aufenthalt in München zog sich ein paar Tage hin, da Zinaide auf den Gedanken kam, Elli und Ottokar nach Berlin zu begleiten – nicht ohne das himmlische Reh –, einesteils, wie sie sagte, um der Verlassenen bei der Auflösung ihres Haushalts behülflich zu sein, andernteils aus andern Ursachen, darunter vor allem einem berauschenden Plan, der ihr bei gemeinsamer Besprechung von Ellis Zukunft aufging. Denn Lehrerin – das war eine Unmöglichkeit! Auf ihre Fragen nach sonstigen Fähigkeiten Ellis kam zutage, daß sie als Mädchen eine Zeitlang Gesangstunde gehabt hatte; eine sofortige Prüfung durch Ottokar erwies eine klare, kleine, schmächtige Stimme, wie sie häufig sind; eine von jenen unverhüllt rührenden, die das innerste Wesen der Sängerin mitunter fast peinlich preiszugeben scheinen; eine Stimme kleiner Sehnsüchtigkeit. Zinaide war tief ergriffen, streichelte und küßte Elli und warf ihren Plan aus.

Nämlich Konzerte wollten sie geben, kleine traurige Abende vielmehr unter Beleuchtungen und Vorhangverhüllungen, die Ibrahim entwerfen würde. Elli mit Ottokar am Spinett oder mit der Gitarre, in der abgerissenen Tracht von Bettelmusikanten der Goethezeit, würden die rührenden Lieder des Volkes, ›böhmischen Volkes Weisen‹ vortragen, sie selber in ähnlicher, nur zigeunerhafterer Tracht ihre eigenen Gedichte. Ottokar allein würde Chopin spielen, Debussy, sich selbst. Ein Schauspieler, der Verse von Verlaine, von Mallarmé, von Rimbaud, Gedichte von Rilke, von Heym und Trakl rezitieren würde, blieb zu erwägen. Ibrahim übernahm das Geschäftliche. Zeilen von Vollmöller schwebten ihr bei dem Ganzen vor, die sie inbrünstig zitierte: ›... auf den vollen – Jahrmärkten bettelnd und pathetisch ziehn!‹

Dieser Ibrahim übrigens war nichts weiter als faul, in einer einfacheren Weise als Ottokar, der doch immerhin das Klavier spielte, indem er gar nichts tat, als auf dem Diwan zu liegen und zu rauchen. Seine Unehrlichkeit dabei ging nicht weiter, als diese Faulheit auf einige weither hörengesagte Sätze aus der Taolehre zu betten, indem er sorglos seine vollkommene Unlust mit dem Nichtregieren und Nichttun Lao-Tses gleichsetzte, weswegen ihn Zinaide zum spielenden Reh des Himmels oder auch zum Kaiser von China erhöhte. Als solcher hatte er damals, wie Elli später gewahr wurde, zu jenen Kaisern gehört, die das Ausrottmittel der Schwermut erfanden, und die sich allesamt in Freunden der Zinaide verkörperten. Sonst war er seines Zeichens als Maler Primitiver; natürlich, denn er malte überhaupt nichts.


So fuhren sie denn nach Berlin und drangen alle zusammen in Philipps verlassene Räume ein, bei deren Anblick die Zinaide, stehen bleibend mit einem starren Blick, nichts weiter äußerte als: »Trostlos!« Später beklagte sie Elli oder Ali tief, weil sie in diesem Banausenheim die reichsten Jahre ihres Lebens hatte vertrauern müssen. Bald aber hielt sie es für das beste, daß Elli die Wohnung nicht aufgab, sondern zwei Zimmer davon vermietete, und zwar an sie und Ibrahim, und dies geschah gleich. Ottokar konnte zum Glück bei einem Freunde Ibrahims Unterkunft finden, dessen Atelier mit durchaus nichts ausgestattet war als mit einem Lager von wertlosen Teppichen, aus dem Zusammenbruch eines brüderlichen Geschäfts gerettet. Sie bedeckten Fußboden und Wände und lagen noch in Rollen und Ballen umher; einige unechte Kelims mußte Elli kaufen, um ihre Wohnung, vor allem die vermieteten Zimmer menschenwürdig zu gestalten.

Übrigens dauerte das Zusammensein kein halbes Jahr. In dieser Zeit gelang es einem malenden Mädchen, das früher Gesang studiert hatte, den letzten Keim eines Tons in Ellis Kehle auszurotten, nachdem der phantastisch überernährte Konzerttraum schon vorher den Geist aufgegeben hatte. Dann entschwand Zinaide mit Ibrahim nach München zurück, unter Zurücklassung einiger unbezahlter Rechnungen – darunter Ellis Miete –, eines entsetzlichen Unrats in den Zimmern und umfänglichen Lücken im wertvolleren Bestand von Philipps Bibliothek. Elli trug dies aufatmend gern. Sie hatte, nur von einem schlampigen Dienstmädchen unterstützt, die Wohnung in Stand gehalten und für den Lebensunterhalt von fünf Personen gesorgt, denn Ottokar erschien bereits zum ersten Frühstück – das heißt um die Zeit des zweiten Ellis – und – als der Sauberste der Drei –, um zu baden.

Nun zog er zu Elli, teils weil dies natürlich war, teils weil der Eigentümer des Ateliers Miete haben wollte, und nun war das Unglück geschehn, daß Ottokars Bruder, der ihn bisher unterstützt hatte, seine Hülfe auf eine winzige Monatsrate einschränkte. Tatsächlich hatte Ottokar bisher kein Geld von Elli genommen, und mit dem Bruder wird es seine Richtigkeit gehabt haben. Ottokar schmolz hin in Mitgefühl mit Elli und eigener Schwermut; außerdem zehrte Berlin an seiner Lebenskraft, die so dünn war wie ein altes Hemd; nach kurzer Zeit schlug er Elli vor, die Wohnung aufzugeben, den Besitzer durch den größten Teil der Möbel für den nicht innegehaltenen Mietvertrag zu entschädigen und nach München zu gehn. Elli folgte.

Elli war blindlings geworden und dachte nicht mehr. Ihr Blut war jetzt aufgebrochen und schäumte schwer und hitzig um Ottokars leibliches und seelisches Dasein, fast wütend in unerschöpflichen Liebkosungen. Etwas Kraft kam ihr daraus, denn da er Ellis eigenen Plan, zu Ende zu studieren, zaghaft vorzeigte, willigte sie ein. Ende Juli verließen sie Berlin, das heißt kurz nach Beginn der Ferien an der Universität.

In Elli ging damals etwas Neues vor, noch unsicher. Sie glaubte, empfangen zu haben; nicht ganz unerwartet.

Eine einmal versäumte oder nachlässig ausgeführte Vorsichtsmaßregel … Elli meinte, sich zu erinnern, wann es gewesen war, und auch, daß sie irgendwie nicht ganz ohne Absicht die Unvorsicht begangen hatte; daß sie an ein Kind gedacht hatte, noch ohne zu wissen, warum. Als dann die Erkenntnis unweigerlich war, machte sie Ottokar das Geständnis, noch selber ängstlich in einem Pietätsempfinden für Philipp: so bald nach seinem Tode … Ottokar hob die Hände hoch und sagte: »Das ist entsetzlich!«

Es war entsetzlich, ein Kind gebären zu wollen. Es war so gut wie ein Mord. Ein Kind, ein Ebenbild, ein Erzeugnis aus gleichem Stoff, das in Schwermut gebadet über nichts hinwegkönnen würde, in diese grauenvolle Welt setzen und dafür die Verantwortung übernehmen wollen –, gut, wenn Elli es wollte. Er lehnte sie ab, schlechterdings. Er war unschuldig an diesem Verbrechen.

Elli sank zusammen. Sie lag wie eine Zurückgekehrte in dieser dunklen Nacht, zurückgekehrt in das ausgestorbene Haus einer einst quellenden Jugend, wieder im Eignen, ähnlich wieder sich selbst, und hörte verschollene Stimmen, über sie hingehend wie trostloses Hörnerblasen, so daß um den bitter gewordenen Kern dieser verhärteten Hoffnung ihre Verlassenheit sich krampfte mit ganzem Körper, der zusammengezogen schief lag im Bett. Daß niemals Jemand um sie sich gekümmert hatte; daß sie obdachlos und besitzlos, rechtlos immer gewesen war bei soviel gutem Willen; daß sie verfolgt, zu Unseligkeit verurteilt war: sie sah es ein, aber wie ging es nur zu? Wo war ihre Schuld an all diesem?

Elli wahrhaftig war so christlich, daß sie auch noch bei diesem Schlag auf die Frage kam: Wo ist meine Schuld? Und dies vielleicht war die ganze Lösung ihres Wesens und Schicksals, daß sie christlich gebildet war. Anzunehmen, daß irgendein Mensch so beschaffen sei, daß er das Böse wolle, ist, vom verbrecherisch Kranken abgesehn, falsch. Es will vielmehr jeder das am besten Scheinende, das für ihn Beste, im beschränkten Raum seiner Blendung, und dieses Beste ungehindert zuwege bringen wollen, mit mehr oder minder Gedankenlosigkeit, Gewissenlosigkeit, Ruchlosigkeit: das ist die böse Art der Menschen. Elli ließ sich allezeit hindern, wovon in der gedankenlos unchristlichen Welt, die sie umgab, die Folge war, daß sie zu nichts kam.

Am Tage nach jener Nacht sah die Welt sich ein wenig lichter an. Was Elli Unbewußtes bereits lange zu Ende gedacht hatte, hatte während des Schlafes gekeimt, die Oberfläche durchstoßen und sich entfaltet, schnell aufschießend unter der Hitze des Leidens. Denn schon Ellis Einwilligung in den Plan, zu studieren, war mit dem Untergedanken erfolgt, eine Sicherheit zu gewinnen für das Kind; in der Ahnung erfolgt, daß sie einmal mit ihm allein sein könne. Daß sie das Kind haben wollte, stand fest, und sie verhärtete sich in diesem Beschluß. Ottokar nämlich hatte sofort von der Notwendigkeit eines Eingriffs gesprochen und von einem medizinischen Bekannten, der ihn des Näheren über diesen Ausweg belehren würde. Dieser, Assistenzarzt an einer Klinik, kam am Vormittag, fragte Elli aus, betonte, vermutlich nach einer Verabredung mit Ottokar, die Fährlichkeit einer Geburt für eine Frau vom Alter Ellis, äußerte schwere Bedenken, als er erfuhr, daß Elli ihr Leben lang allmonatlich an Schwindelzuständen oder dumpfen des Schlafs gelitten hatte, hielt einen Eingriff für geboten, meinte aber, ein solcher sei erst in ein bis zwei Monaten angängig und könne auch nicht gut in Deutschland vorgenommen werden: sicher dagegen in Österreich, wo er nicht strafbar sei. Ottokar fiel es leicht, weichmütig und nicht einmal ungütig, wie er war, seine Furcht vor dem Kinde in die vor Gefahren für Elli zu verwandeln. Sie erwärmte in seinen Armen und war glücklich in der Vereinigung beiderseitiger Nachgiebigkeit, die zwei Monate erst abwarten zu wollen. Noch vor deren Ablauf suchte Elli einen Frauenarzt auf, dessen an Ludwig erinnernder Name Wolfssohn auf seinem Türschild sie anzog. Sie fand einen schlichten alten Mann, der sie untersuchte – eine Folter für Elli, die in der Liebe keine Scham kannte –, sie ausfragte wie der Assistent und feststellte, daß es für sie, die sich im Leben nicht so wohl befunden hatte wie jetzt, frei von den früheren Monatszuständen, nichts Besseres geben könne als eine Geburt, für deren guten Verlauf er sich verbürgte, wenn sie sich ihm anvertraun würde. Väterlich erkundigte er sich nach dem ›Herrn Bräutigam‹ und riet, die Hochzeit zu beschleunigen.

Ottokar benahm sich auf Ellis Mitteilungen hin, als ob das Ganze ihn nichts anginge, und die letzten Abmachungen schien er vergessen zu haben. Elli mochte tun oder lassen, was sie mußte. Als sie kläglich vom Heiraten anfing, äußerte er, das freilich sei eine selbstverständliche Pflicht für ihn, und versprach, sogleich zu seinem Konsul zu gehn, um sich nach den nötigen Schritten zu erkundigen. Danach konnte er seine tiefe Niedergeschlagenheit nicht verhehlen, die diese Maßregel gesetzlicher Bindung ihm erregte. Schon das Kind trenne sie geistig voneinander; das äußere Band der Ehe müsse notwendig ein seelische Belastung für ihn werden, die innerlich trennend wirke, – es ward eine der hundertfachen Umschreibungen des Nicht-darüber-hinweg-könnens, die Elli kannte.

Aber das Neue, die Erwartung des Kindes, hatte Elli erregt; sie fühlte sich kräftiger, hoffnungsvoller, sah wieder Zukunft und spielte sich auf der allzeit willfährigen Glückskugel der Phantasie in die luftigen Schlösser hinüber. Es war die Zeit der Einschreibungen in der Universität, sie ließ sich eintragen, belegte sparsam und begann zu arbeiten.

Der Heiratsplan nahm einen denkwürdigen Verlauf. Im österreichischen Konsulat erhielt Elli nach mehrstündigem Warten von einem mehr gähnenden als sprechenden Beamten Anweisung zur Herbeischaffung unterschiedlicher Papiere Ottokars, von denen sich bei Ellis Heimkommen herausstellte, daß keines vorhanden war. Als Elli mehrere Wochen später, die Papiere in Händen, wieder vor dem Beamten erschien, stellte sich heraus, daß einerseits zwei wichtige Papiere Ottokars fehlten – der Beamte meinte, er hätte wohl vergessen, sie zu erwähnen –, andrerseits gewisse Papiere Ellis, Überbeglaubigungen von Geburtsschein und Staatsangehörigkeitsausweis, Geburtsschein und Trauungsurkunde ihres ersten Mannes und dergleichen, nicht vorhanden waren, mit deren Beschaffung abermals etliche Wochen vergingen. Danach ging das gesammelte Ganze nach Ottokars Heimatsort ab, von wo es ans österreichische Justizministerium wandern würde; eine im Wartezimmer kennen gelernte Dame versicherte Elli, bis zur Rückkehr aus Wien würde zumindest ein halbes Jahr vergehn, falls Elli keine Beziehungen hätte. Elli hatte leider keine. Das Kind also würde wohl außerehelich zur Welt kommen, und aus anderen Wartezimmergesprächen wußte Elli bereits, was es kostet, solch ein Kind zu legitimieren. Denn durch ihre Eheschließung würde sie Österreicherin werden und konnte – und so weiter.


Während dieser Wochen aber hatte sich manches verändert. Zu Ottokars geistiger Loslösung hatte sich körperliche Abneigung gesellt, anfänglich unbemerkt von Elli, die sich ihrerseits körperlich zuschloß und tagsüber mit ihrer Arbeit beschäftigt war. – Sie bewohnten damals zwei möblierte Zimmer bei derselben Vermieterin. – Ottokar, der längst nichts anderes tat, als am Klavier phantasieren, hielt sich nun je länger je mehr vom Hause fern, – Elli vermutete ihn in einem Kaffeehaus, in dem sie selber zuvor halbe Tage in Gesellschaft der Halben – halber Literaten, Maler, Musiker und Dirnen – verbracht hatte, die allesamt wie die spärlichen Fleischbrocken eines Wirtshausgulasch in einem braunen Absud von Vermiestheit und Wollust langsam gar kochten –, und an den Abenden in Konzerten, zu denen er als angeblicher Musikstudent stets über Freikarten verfügte. Daß sie ihn bald mehr als einmal frühmorgens heimkehren hörte, mußte sie ertragen.

Als aber körperliche Entstellung an Elli sichtbar wurde, bekannte er, daß sie ihm unerträglich wurde, und zog aus und zu einem Freunde. Noch besuchte er sie mitunter und lieh etwas Geld von ihr, gab es aber auf, da die Stunden, zu denen sie außer dem Hause war, sich schlechterdings nicht von ihm behalten ließen, erlaubte jedoch, daß sie ihn aufsuchte, möglichst am Mittag – denn dann war er sicher allein, und zwar noch im Bett – und in einem Mantel, der ihre Entstellung verbarg. Elli saß dann eine kleine Stunde neben dem Bett, das einen kleinen Verschlag mit dem schrägen Dach darüber nahezu ausfüllte. Das Dachfenster war mit einem festen Laden verschlossen, so daß nur durch die Tür, in der Elli saß, Licht in das Dunkel fiel, in dem er noch halbschlafend lag, sanfte Beruhigungen spendend oder Mitklagen in Ellis Kümmernisse über den Fortgang der Eheangelegenheit.

Wie es kam, daß Elli plötzlich versagte, hätte sie selber kaum anzugeben gewußt. Aber schon mit Ottokars Sichabwenden war sie schwankend geworden, und angesichts der offenen Möglichkeit, ihn zu verlieren, begann sie sich zu zerzaudern zwischen dem Wunsch nach dem Kinde und nach ihm. Hatte sie ferner zu Anfang gehofft, daß sie ihn, wenn erst die Geburt überstanden sei, wieder haben würde – ihn, den lose doch immer Behaltenen –, so mußte sie nun befürchten, ihn vorher ganz einzubüßen und unwiederbringlich. Ein besonderer Umstand – von ihm später! – vertiefte diese Beängstigung. Wahrscheinlich brach am Ende nur zusammen, was nur künstlich auferbaut war und mit vielzuviel Wollen von Elli, für die es eine innere Notwendigkeit war, nicht zu wollen; und was sehr notdürftig bis dahin in der Schwebe gehalten wurde. Im Ganzen eine Kraftanstrengung, der sie schon nicht mehr gewachsen war. Es war Verwirrung. Es war der alte, der ewige, aus Unwissenheit die falsche Bahn mit Willen vorschreibende Trieb nach dem Opfer.

Elli war im sechsten Monat, als sie, übergeschraubt, einen plötzlichen Entschluß faßte, ihn ausführte, ehe sie sichs versah, und die Treppe hinabfiel, auf der sie eben stand.

Abgesehen davon, daß sie in der Richtung Ottokars mit dieser Tat nicht ihre Absicht erreichte, hatte sie eine, vorher nicht geahnte und schmerzliche Folge für Elli. Von der Frucht verhältnismäßig leicht entbunden, beging sie eine Unvorsichtigkeit, wurde krank, mußte geschnitten werden und auf die Möglichkeit des Gebärens von nun an verzichten. Erst im Augenblick, wo sie dies vom Arzt erfuhr, wurde ihr bewußt, daß sie trotz der Geschwindigkeit des Handelns sich die Tat – einem Mord nicht allzufern ähnelnd – erlaubt hatte in der, einem Versprechen gleichen Hoffnung auf Sühne, auf das Leben eines andern Kindes, später – irgendwann. – O, sie lernte Schmerzen und Verzichte aller Art kennen, dies langausdauernde Geschöpf, dem zur Zähigkeit einer Kreuzspinne leider nicht deren feine Kunst gegeben war, sich von fremdem Blute zu nähren.


Wirklich ein Kind haben –, will sagen: vom ersten Atemzug eines Kindes an wahrhaftig ihm Mutter sein oder Vater, wahrhaft aufgehen in seinem Dasein: das heißt nichts andres, als noch einmal von vorne ein Leben anfangen. So ist nicht auszudenken, was es für Elli oder Ali bedeutet haben würde, wenn sie damals geboren hätte: es ist zum wieder von vorn Beginnen niemals zu früh oder zu spät. Denn aufzugehen in einem anderen Dasein als ihrem, ihrer selbst zu vergessen, sich darzubringen, Trank aus ihren Tränen, Glut aus ihrem Blute, Licht aus ihren Augen und Süße zu bilden aus Ihrem Herzen: das war ihr Wesen, ihr Auftrag ihr – Urteil, denn sie gebar nicht.


Und Ottokar, wie angedeutet –, nun, ihn zurückzugewinnen, war es zu spät geworden, da er sich bereits in andern und kräftigern Händen befand.

Elli hatte das Wesen, das über diese verfügte, schon früher kennen gelernt, eine Schauspielerin, als solche begabt, nicht mehr jung, an Gestalt und Zügen ganz grade, unschön, aber mit eigentümlich geschnittenen und steingrauen Augen; das grauweiße Gesicht saß am Kopf wie an einer Kugel von poliertem Holz, das kurzes braunes Haar war; im Umgang mit Menschen war sie derbe, nicht hart, wenn auch von einer Art wissender Gleichgültigkeit, die sich der rechten Griffe sicher ist. Mit solch einem nahm sie den Ottokar und schlug ihn wie einen Pflock an die Stelle ihres Daseins, wo sie ihn brauchte und er sich tüchtig erweisen konnte. In der Tat, Elli mußte staunen, da sie das Verfahren mitunter anzusehn bekam, wie höchst einfach es war. Es begann für Elli damit, daß sie – Asta, die Schauspielerin – bei einem Wetterfeste das Gedicht ›Die Heimkehr‹ von Paquet, ein schönes langes Gebilde von rhythmischer Prosa, aufs Tapet des Flügels stellte und von ihm verlangte, eine melodramatische Begleitung zu spielen, während sie es sprach. Er tats, sie wiederholten das Stück noch am selben Abend und noch mehrere Male an den folgenden Tagen, zum Teil in Ellis Dabeisein, bis die Asta sicher war, daß er, von dem Aufschreiben vorderhand nicht zu erlangen war, die Musik nicht wieder vergessen konnte. – Schon wenige Wochen später hatte sie vermittels eines ehemaligen Geliebten, dessen Vater eine Konzertagentur besaß, Verträge nach überallhin zum Unterzeichnen in der Hand: sie würde Gedichte vortragen, Ottokar spielen, beide zusammen das Melodram aufführen.

Melodram? – O Ludwig, Ludwig!

Vom Plan der Konzerte erfuhr Elli natürlich nichts. (Dies war nach ihrer Fehlgeburt.) Ottokar, im Vorgefühl des Abschieds und Nachgefühl der Treulosigkeit, war oder schien ihr nähergekommen. Zudem wars eben Dreikönigstag gewesen, München schwamm im Karneval, Elli trug alle unwandelbare Lieblichkeit zur Schau, versüßt durch Hoffnung, erweicht durch Ergebenheit, in der farbigen Tracht einer morgenländischen Fee oder Sulamithin, sie versah sich nichts.

Da fand sie denn heimkehrend eines Nachts Zeilen von Ottokars neuer Freundin – er selber schrieb ja nicht –, in denen sie ihr nicht unfreundlich erklärte, sie sei mit ihm davon, ihrerseits bedauernd, daß Ottokar auf der Heimlichkeit bestanden habe; Elli möge vorderhand jedenfalls nicht auf seine Wiederkehr rechnen, wozu sie auch kaum berechtigt sein dürfte; denn bei ihr wäre Ottokar verkommen, sie, Asta, habe ihn auf die Beine gestellt, und nun würde er was leisten.

So endete dies Erlebnis für Elli mit einem Lach-, Schrei- und Weinkrampf, den übrigens niemand hörte, da niemand nahe genug dazu war. Danach entschlief sie; ihr Leben ging weiter.


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