Eduard Trautner
Tagebücher der Henker von Paris - Erster Band
Eduard Trautner

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Das Autodafé auf der Place de Saint Louis in Versailles

Meister Mathurin

Finanzielle Notlage Frankreichs; die Neuerer; die Notablenversammlung.

Im Jahre 1788 wurde die Strafe des Räderns in Frankreich zum letztenmal verhängt. In folgendem will ich über diesen Fall etwas Näheres berichten.

Zu Versailles, in der Rue de Montreuil, wohnte ein Hufschmied namens Mathurin Louschart. Das war noch so einer aus der alten Zeit, ein echter Handwerksmann von einst, mit allen Vorurteilen und Abneigungen eines solchen, voller Zunfthaß und Innungsdünkel.

Ganz durchdrungen von den Vorzügen seines Handwerks vor allen anderen, hatte er noch nie daran gedacht, sein dickes, fahlledernes Schurzfell, welches ihm bis an die Knöchel reichte, mit dem langen Rock eines Gerichtsbeamten oder dem kleinen, kurzen Wams eines Abbé zu vertauschen. Trotz seiner schlichten Tracht und vielleicht gerade wegen seiner patriarchalischen Sitten hatte Mathurin etwas unbeschreiblich Würdevolles an sich. Seine ganze Stellung und seine Gebärden, wenn er das Eisen mit der Zange auf dem Amboß herumdrehte, ihm durch den Hammer die gehörige Form gab, es streckte, bog und rundete, zeigten so viel Gewandtheit, Kraft, Sicherheit der Hand und sogar Zierlichkeit, daß man wohl schwer heutzutage ihresgleichen finden dürfte.

Da nun aber Mathurin so ganz ein Mann von altem Schlag war, haßte er natürlich den neuen Zeitgeist. Die Montmorencys, die Rohans seines Zeitalters hatten lange nicht den Widerwillen gegen die allgemach in die Mode kommende Gleichheit der Stände wie er. Der alte Hufschmied Louschart betrachtete diese Neuerung als eine nur in der Einbildung von Toren beruhende Erfindung, und so sagte er denn auch: man solle nur ruhig dem Esel die Ohren verkürzen, es würde doch nimmer ein Pferd daraus werden.

Meister Mathurin war reich; er hatte es für seine Pflicht gehalten, wenigstens betreffs der Erziehung seinen Sohn die Vorzüge seines Wohlstandes genießen zu lassen.

Demzufolge war Louis auf dem Collège du Plessis erzogen worden, ganz so wie die anderen dort befindlichen Söhne reicher Bürger.

Scheinbar im Gegensatz zu dem vorigen glaubte jedoch der Hufschmied zufolge seiner Ansichten von gesellschaftlichen Fragen, vielleicht auch nach der Vorliebe für seinen Stand, daß der junge Mann gar keinen anderen Lebensberuf haben und wählen könne, als denjenigen, welchen bisher alle seine Vorfahren bekleidet hatten.

»Seitdem die Welt steht,« sagte Meister Mathurin sehr oft, »sind die Louscharts Hufschmiede gewesen; wenn einmal einer von ihnen Kaufmann oder Notar werden sollte, so kann der Weltuntergang nicht mehr fern sein.«

Zuerst mochte es wohl dem Schüler des Collège du Plessis schwer genug geworden sein, seine ruhigen Studien, die Schulkameraden und jenen Vorgeschmack eines vornehmen und angenehmen Lebens aufzugeben, um das Handwerkerkleid und das rohe Schurzfell anzulegen, glühendes Eisen zu bearbeiten, an dem Blasebalg tätig zu sein und so mitten unter Arbeit und zweifelhaften Freuden das Geschäft seines Vaters zu teilen. Es läßt sich wohl denken, daß das Rauhe in dem neuen Beruf, welcher doch gar so wenig mit der bisherigen Beschäftigung des Studierenden im Einklang stand, zuerst seine Seele mit einem gewissen Schauder vor der neuen Bestimmung erfüllt haben mochte. Aber Louis war von Kindheit auf an eine blinde Unterwerfung unter den väterlichen Willen gewöhnt. Dann war aber auch die Freude, mit der Meister Mathurin seinen verständigen Nachfolger im Amte begrüßte, so aufrichtig, der gute Alte ein so beredter Lobredner seines Handwerks, daß sich der junge Louschart schon entschließen mußte, in den für ihn gewählten Stand zu treten.

Zu seinem Unglück verstand der junge Mann es nicht, die philosophischen Meinungen, welche ihn unaufhörlich mit den Grundsätzen seines alten, strengen Vaters in Widerspruch brachten, in sich niederzukämpfen, und so setzte es von jetzt ab manchen harten Zwist mit dem Hufschmied, der seine Ansichten mit nicht geringerer Bestimmtheit und Festigkeit aussprach als das Viergestirn am literarischen Himmel des achtzehnten Jahrhunderts.Voltaire, Rousseau, Montesquieu und Diderot.

Der junge Mann hatte den väterlichen Stolz geerbt doch war dies Gefühl bei ihm, wenn es bei seinem Vater in Grobheit oder Spott ausartete, vermöge seiner Erziehung zu einem ernsten Selbstbewußtsein geworden.

Jean Louis wurde in seinen Ansichten immer noch mehr befestigt. Allmählich erfaßte auch ihn das Revolutionsfieber, welches in dem Luftkreis jener Zeit lebte.

Der junge Louschart besaß stets zu viel Achtung vor seinem Vater, um nicht seine geheime Gesinnung zu verbergen und zu verschweigen; aber einmal gemachte Beobachtungen hatten den alten Hufschmied aufmerksam und argwöhnisch gemacht.

In der Stellung, im Lächeln, selbst im Schweigen seines Sohnes fand er die Ideen der neueren Zeit vertreten, und er gewöhnte sich, aus Blicken wie aus einem offenen Buche zu lesen. Alsdann, da er nicht schweigen konnte, brachte er das Gespräch stets auf den ersten, schon bekannten Gegenstand zurück. Die Mäßigung und Würde des Jungen entwaffneten den Alten nicht mehr; er gewöhnte sich daran, ihn weniger als Sohn, vielmehr als einen Gegner zu betrachten. Sein Geschmack an Wortgefechten hatte zugenommen. Ein Feind, der sich ergab, ohne sich für besiegt zu erklären, war nicht seine Sache. Des alten Mathurin Kampfeswut bedurfte jemandes, mit dem er ringen, dem er das Bein stellen, den er niederschlagen konnte, und wie die Stierkämpfer, wendete er Eisen und Feuer an, die verletztendsten Worte, um nur Jean Louis zum Sprechen und Streiten zu bringen.

So verwickelt die Sachlage schon war, durch scheinbar mit diesem Hause in gar keiner Verbindung stehende Ereignisse wurde sie es noch mehr.

Durch die wachsende Staatsschuld gedrängt, der man überdies in keiner Weise mehr begegnen konnte, rief das Ministerium die erste NotablenversammlungVersammlung der angesehensten Staatsbürger, etwa nach der Art eines preußischen Herren- oder Abgeordnetenhauses, mit dem Unterschiede, daß alle bürgerlichen Notablen von der Krone gewählte Vertrauensmänner waren. zusammen, um neue Abgaben auszuschreiben.

Um den Bedürfnissen des Staatshaushalts wenigstens für den Augenblick zu genügen, führte der König bedeutende Einschränkungen am Hofe ein.

Meister Mathurin Louschart wurde von den neuen Bestimmungen nicht gerade in eigener Person betroffen, und nur seine Kundschaft litt unter ihnen; indessen so viel Personen bei dem Hufschmied arbeiten ließen, es gab doch keinen, der von dem ganzen Ereignis so heftig erregt worden wäre, als er.

Als er sich vergegenwärtigte, wie langmütig der König doch gewesen sei, daß er sich so des schönsten seiner Vorrechte begab, wurden ihm die Augen naß. Er hob seine schwarzen, schwieligen Hände zum Himmel und, als wenn die Wolke, welche seinen Augen die Zukunft verhüllte, plötzlich von unsichtbarer Hand zerrissen worden wäre, rief er mit kläglicher Stimme:

»Armer König, wohin wird dich deine Schwäche bringen?«

Selbstverständlich spielte bei solchen Akten sein Sohn auch mit und nahm unter den Verwünschten den ersten Platz ein.

Mit der Naivität seines Standes machte er Louis für den aufrührerischen Geist verantwortlich, welcher damals alle Stände durchdrang und in ihm den bittersten Feind hatte.

Das Herz des Meisters Mathurin verhärtete sich allgemach in seinem Zorn und in der Abneigung, welche ihm der vermeintliche Abfall seines Sohnes von Sitte und Recht einflößte. Er sprach seine Gefühle nicht mehr offen aus. Szenen wie die früher beschriebenen wurden immer seltener, aber indem sie an Heftigkeit verloren, wurde das Gefühl, welches sie hervorrief, immer stärker, nahm an Festigkeit zu, und schließlich wurde aus der politischen Leidenschaft des Meisters Hufschmied ein ganz unerträglicher Fanatismus. Bisweilen auf seinem Amboß sitzend, mit verschränkten Armen, den Kopf auf die Brust gesenkt, ließ er zu seinem Sohne hinüber wilde Blicke gleiten, und man hörte ihn ganz leise feindliche und drohende Worte murmeln.

Eines Sonntags – die Werkstatt war geschlossen, der Herd finster und alles darin stumm – sah Jean Louis von dem Fenster seiner Kammer aus den alten Mathurin, gefolgt von der Magd, aus der Messe zurückkehren. Er bemerkte, daß der früher so feste Schritt des alten Hufschmieds zitternd und unsicher geworden war, und zum ersten Male entsetzte er sich über das furchtbare Leiden, welches diese Züge kennzeichneten. Er beschloß, das endlich auszuführen, wozu er sich schon längst entschlossen hatte. Er stieg schnell die Treppe hinab, um endlich einmal die Aussprache herbeizuführen, die nach seiner Meinung die Ruhe im Hause wieder herstellen mußte.

Aber Jean Louis hatte eine böse Stunde gewählt.

Es war an den königlichen Marställen eingeführt worden, daß Meister Mathurin alle Vierteljahr dem Stallmeister sein Rechnungsbuch für das königliche Haus überbringen mußte, damit dieser Beamte die Richtigkeit prüfe und durch Namensunterschrift bezeuge. Erst dann wurde durch den Schatzmeister die Zahlung geleistet.

Tags vorher nun hatte der alte Hufschmied dem Beamten seinen vierteljährlichen Besuch abgestattet, dieser die Rechnungen geprüft, alles in Ordnung gefunden, nichtsdestoweniger aber mit einem traurigen Lächeln dem Handwerker das Buch zurückgegeben.

Auf die Verwunderung Mathurins entspann sich folgendes Gespräch.

Der Schatzmeister sagte:

»Dies Vierteljahr, lieber Herr Louschart, werde ich das Vergnügen haben, Euch zweimal statt früher einmal zu sehen. Seit einiger Zeit setzen uns unsere Gläubiger so sehr zu, daß wir nicht mehr wissen, wo aus noch ein, und so viele machen Forderungen an uns geltend, daß ich Euch eben nur eine Abschlagssumme bieten kann.«

Das Gesicht des Meisters Mathurin hatte sich bei diesen Worten in tausend Falten gezogen und eine Grimasse geschnitten, über deren Bedeutung der Schatzmeister nicht im unklaren bleiben konnte.

»Haben Sie, mein Herr,« sagte der Hufschmied endlich, »meine Rechnungen geprüft und für richtig erkannt?«

»Bei Gott, wir kennen Euch doch schon lange genug und wissen, daß Ihr ebenso rechtschaffen wie geschickt seid, lieber Herr Louschart.«

»Weiter brauche ich nichts, mein Herr!« hatte der Hufschmied geantwortet, aus seinem Buche die Rechnungen gerissen, sie in seinen breiten Händen zusammengeballt und ins Feuer geworfen.

»Was zum Teufel tun Sie da?« rief der Schatzmeister.

»Mein Herr!« entgegnete kalt der Hufschmied, »ich bin nicht einer von den Unglücksvögeln, welche die Hand, die sie ernährt hat, zerfleischen, wenn sie leer ist; der König schuldet mir fünftausendachthundertzweiunddreißig Livres und sechs Sous, das ist alles. – Der König kann mich bezahlen, wann es ihn gutdünkt. Und wenn ich jemals in meinem Leben bedauert habe, nichts mehr als Mathurin Louschart zu sein, so ist dies heute, um nicht mit Fug und Recht Seiner Majestät sagen zu können: Sire, hier sind zweihundertzwanzigtausend Livres! Den größten Teil davon habe ich in Eurer Majestät Diensten erworben, nehmen Sie sie hin und seien Sie überzeugt, daß Eurer Majestät Hufschmied sich der hohen Ehre, ein Gläubiger des Königs von Frankreich sein zu dürfen, bis zum Lebensende würdig zu erweisen bemühen wird!«

Ohne die Danksagungen und freundlichen Reden des Schatzmeisters länger anzuhören, war Meister Mathurin nach Hause gegangen, voll Schmerz und Kummer über die Armut des Königs. Innerlich fluchte er über diejenigen, welche Gott und den König verließen.

Die Gegenwart seines Sohnes trug nicht dazu bei, ihn milder zu stimmen und die in seinem Herzen neu erwachende Wut zu besänftigen.

Bei den ersten Worten des jungen Mannes zwar, welche den Wunsch ausdrückten, dem alten Vater seine Tage zu erleichtern, bei der Betrübnis, die des jungen Louis Antlitz zeigte, bei der Verzweiflung, mit der er von den in letzter Zeit eingetretenen Zwistigkeiten sprach, glaubte Meister Mathurin, daß Gott ihm auf sein Gebet den verlorenen Sohn wiedergeschenkt habe, und er öffnete seine Arme, um ihn in dieselben aufzunehmen. Schon wollte sich der junge Mann überglücklich dem Alten an die Brust stürzen, da ließ mit einem Male derselbe die Hände sinken und trat mit ernstem Blick einen Schritt zurück, den erschrockenen Sohn durch eine verweisende Gebärde zurückdrängend.

Bevor er Jean Louis seine Verzeihung bewilligte, verlangte er von ihm, daß er folgende Worte ausspräche:

»Ich entsage hiermit Satan, seinem Gepränge und seinen Werken, den philosophischen Ansichten, den Grundsätzen der Freiheit und staatlichen Gleichheit.«

Jean Louis schrak vor der Lüge zurück und stutzte. Ohne geradezu auf die Frage des Greises zu antworten, sagte er mit der ihm eigentümlichen Gewandtheit, sich auszudrücken, daß es doch für ihn recht traurig sei, zu sehen, daß der Vater einen so ungeheuren Wert auf die Verschiedenheit der politischen Meinung lege. Ihn würden derartige Ansichten nimmer dahin führen, seinen Vater weniger zu achten und seinem Willen ungehorsam zu sein.

Der Greis ließ ihn nicht zu Ende kommen. Da er einer so bescheidenen und doch so sicheren Festigkeit begegnete, wo er Unterwerfung und Reue, auf die zu zählen er ein Recht zu haben glaubte, zu finden hoffte, so brach nun das lange niedergehaltene Unwetter von neuem los. Vergebens suchte sein Sohn ihn zu beruhigen. Meister Mathurin hörte nicht mehr. In einem Anfall der gefährlichsten Wut erklärte der alte Hufschmied seinem Sohne, daß er mit ihm, dem Abtrünnigen, nicht mehr unter einem Dache schlafen wolle, und befahl ihm, sofort das Haus zu verlassen.

Die Nachbarn und die Dienerin, welche auf das Geschrei des Meisters Louschart herbeigeeilt waren, zogen Jean Louis hinweg, aber sein Vater hörte nicht auf, zu fluchen und zu schimpfen, als ihn sein Sohn schon lange nicht mehr hören konnte.

Jean Louis vermochte sich einige Tage kaum in die Trennung zu finden. Wochenlang irrte er noch um das väterliche Haus herum, immer in der Hoffnung, daß seine Abwesenheit den Zorn des Alten abgekühlt haben, daß der Hufschmied durch die Leere, welche bei ihm entstanden, sich seiner erinnern und ihn an seinen Platz im väterlichen Hause zurückrufen werde.

Die Dienerin, welche Louis erzogen hatte und ihn aufrichtig liebte, versprach, für den Sohn beim Vater zu bitten. Sie versuchte es auch; aber bei den ersten Worten, welche sie ausgesprochen, hatte Meister Mathurin sie schief angesehen und der Ausdruck auf seinem Gesicht der guten Frau gezeigt, daß sie nicht ungestraft die Sache eines Abwesenden vertreten würde. Demgemäß riet sie dem jungen Manne, Geduld zu haben und zu warten.

Jean Louis besaß noch einige Verbindungen mit Gelehrten und Kaufleuten, deren Sitten und Gewohnheiten sich auf vorteilhafte Weise von denen seiner Herren Kollegen am Herd und Amboß unterschieden. Diese jungen Leute kamen ihm zu Hilfe; der eine von ihnen, bei dem Hofleinewandhändler Herrn Lecointre angestellt, sprach mit seinem Prinzipal von Jean Louis Louschart.

Herr Lecointre wollte den jungen Mann kennenlernen und war von seiner Bildung überrascht. Angezogen durch die Art, in der Jean Louis über sein Unglück sprach, nahm ihn der Hofleinewandhändler gegen ein Jahresgehalt von achthundert Livres in sein Haus.

Was nun den alten Meister Mathurin betraf, so vollendeten die neuesten Handlungen seines Sohnes vollständig den Bruch.

Er verbot, in seiner Gegenwart den Namen seines Sohnes zu nennen, und wenn er sich jemals nach dessen persönlichen Verhältnissen erkundigte, so fügte er hinzu, daß er sich für aller Bande ledig, aller Verpflichtungen eines Vaters frei erachte.

Bald verkündete er seinen Nachbarn, daß er sich wieder zu verheiraten beschlossen habe. Die von ihm getroffene Wahl war ein neues Zeugnis für den Haß, welchen er schon lange gegen seinen Sohn im Herzen trug.

Elisabeth Verdier und ihre Tochter

Die Tat.

Seit etwa fünf Jahren wohnte eine Kusine von Meister Mathurin in dessen Hause.

Diese Frau hieß Elisabeth Verdier; ihr Mann war Stallknecht im großen Marstall, sie selbst in der Wäschekammer des königlichen Schlosses angestellt gewesen. Herr Verdier war tot, und seine Frau hatte wegen einer immer mehr zunehmenden Augenschwäche ihre bescheidene Stellung aufgegeben. Die Tanten des Königs ließen sich durch die unglückliche Lage der Witwe, von der man ihnen erzählte, dazu bewegen, ihr eine Pension von zweihundert Livres auszusetzen. Jedoch Elisabeth Verdier hatte eine Tochter, und so reichte diese Unterstützung nicht hin, die allerbescheidensten Bedürfnisse zweier Personen zu befriedigen.

Da war nun Meister Mathurin bei der Hand und half, soviel er helfen konnte.

Helene Verdier, so hieß das kleine Mädchen, war damals neun Jahre alt und ein Kind, dessen seine und regelmäßige Züge schon im voraus die künftige große Schönheit verkündeten. Da der junge Hufschmied, wie es in seinem Alter gewöhnlich zu sein pflegt, einen nicht geringen Stolz auf sein Wissen besaß, so war er sehr erfreut, bei dieser Gelegenheit seine Gelehrsamkeit auf eine nützliche Weise anwenden zu können; er übernahm die geistige Ausbildung Helenens und gab ihr Unterricht im Lesen und Schreiben.

Freilich glaubte Jean Louis lange Zeit hindurch, in Helenen nichts anderes als eben nur seine fleißige und gelehrige Schülerin zu lieben, deren Fassungsgabe und große Fortschritte ihm als ihrem Lehrer Ehre machten. So suchte er denn auch nicht das ihm ungefährlich erscheinende Gefühl zu unterdrücken, und erst nach seiner gewaltsamen Entfernung aus dem väterlichen Hause und der damit verbundenen Trennung von dem jungen Mädchen wurde es ihm zur schmerzlichen Gewißheit, daß er Helene liebte, ja daß seine zärtliche Neigung zur unauslöschlichen Leidenschaft geworden war.

Er beschloß, sich ihr um jeden Preis wieder zu nähern.

Er wartete zwei Tage lang in einer Sackgasse auf sie, wo sie gewöhnlich in einem daselbst befindlichen Laden ihre kleinen Lebensbedürfnisse zu holen pflegte. Aber er wartete vergebens und sah sie in den bezeichneten Laden weder hineingehen noch aus ihm herauskommen.

Auf eine Frage bei der alten, schon erwähnten Dienerin erfuhr er, daß seit einiger Zeit Helene ihre Mutter nicht mehr verlasse und daß von da ab, nach dem ausdrücklichen Befehl des Meisters Mathurin, sie, die Magd, ihre kleinen Bedürfnisse einkaufen müsse.

Da seine ersten Versuche mißglückten, schlug Jean Louis nun andere Wege ein. Er wartete den Augenblick ab, wo Arbeiten außer dem Hause seinen Vater aus der Wohnung riefen, und begab sich, den Hut tief ins Gesicht gedrückt, schnell nach der väterlichen Behausung. Ebenso schnell stieg er die zwei Treppen hinan und trat in das Zimmer der Frau Elisabeth Verdier.

Die Überraschung, welche er dort hervorrief, bewies dem jungen Manne, daß Helene eine nur schwesterliche Zuneigung zu ihm besaß.

Das Benehmen der Witwe gegen Jean Louis war kalt, zurückhaltend, ja fast streng. Kaum forderte sie den Besucher auf, Platz zu nehmen.

Endlich wurde Jean Louis Herr seiner Bewegung; aber immer noch unter dem Einfluß der Leidenschaft, welche ihn hierher getrieben hatte, bestanden seine ersten Worte in der Bitte, Helene sehen zu dürfen.

Die Witwe Verdier antwortete ihm, daß ihre Tochter so beschäftigt sei, daß er sie nicht stören dürfe.

Jean Louis seufzte.

Ohne große Umschweife und Einleitungen erzählte er darauf Madame Verdier, wie er die Entdeckung gemacht habe, daß er seine junge Kusine liebe. Er schilderte ihr mit der Begeisterung seiner aufrichtigen Neigung das allmähliche Entstehen seiner Liebe und schloß mit der Bitte an die Witwe, ihm Helene zur Frau zu geben.

Als Madame Verdier dies gehört hatte, legte sich ihr Gesicht womöglich noch mehr in Falten. Sie antwortete dem Antragsteller ganz kurz und in überaus strengem und verweisendem Tone, daß jetzt, wo er den gerechten Zorn seines Vaters verdient und seine Zukunft in Frage gestellt habe, doch nicht der geeignete Moment für solche Pläne sei und daß er doch lieber an andere Dinge denken möge. Was übrigens die ganze Werbung anbelange, so hätte sie betreffs ihres Kindes andere Absichten und würde es auch nimmer einem jungen Manne geben, dessen Grundsätze alle rechtschaffenen Leute verdammten.

Jean Louis beging die Unklugheit, sie an ihre früheren Ansichten zu erinnern. Diese Berufung auf eine Vergangenheit, auf welche sie sich nicht mehr gern zu besinnen schien, glich allzusehr einem Tadel, um den Unwillen der Witwe nicht noch zu steigern.

Bis dahin war die Mutter Helenens nur hart und streng gewesen, jetzt wurde sie angesichts einer schwachen und verwundbaren Stelle des jungen Mannes unverschämt. Sie befahl ihm, ihre Wohnung zu verlassen, und drohte ihm mit seinem Vater, wenn er es wage, jemals wieder einen Fuß über ihre Schwelle zu setzen.

Einige Tage nach dem erzählten Auftritt vertraute die alte Magd Jean Louis an, daß Kusine Verdier in dem Hause eine Rolle spiele, über die sich jedermann wundere und welche sie selbst beunruhige. Bald war die Ursache dieses Einflusses für niemand mehr ein Geheimnis, und nach dem umlaufenden Gerücht hieß es, daß der alte Hufschmied Mathurin Louschart die Tochter der armen Witwe, welche er bei sich aufgenommen habe, heiraten werde.

Als Jean Louis dies hörte, war es ihm, als wenn ihn jemand in das Gesicht geschlagen hätte. Sein Schmerz war so heftig, daß er zuerst kein Mittel fand, ihn zu offenbaren.

Als er am folgenden Tage in das Kontor hinabkam, fiel dem Leinwandhändler die Verzweiflung in dem Gesicht Louis', die Verstörung, welche sich in den Zügen des jungen Mannes ausprägte, auf, und er fragte ihn nach dem Grunde dieser plötzlichen Veränderung.

Anfänglich konnte Jean Louis nur mit Tränen antworten; als aber Herr Lecointre, hierdurch neugierig gemacht, ihn seiner Schwäche wegen verspottete, gewann es der junge Mann endlich über sich, seinem freundlichen Prinzipal das zu erzählen, was ich vorhin berichtet habe.

Lecomtre war durch die Erzählung seines Schützlings gerührt und sein Auge naß geworden. Mitleidig versuchte er den Unglücklichen zu trösten und ließ sich dabei natürlich nicht die Gelegenheit entgehen, gegen alle Gattungen der Tyrannei loszudonnern. In einer Art und Weise, die keine Erwiderung zuließ, erklärte er dem jungen Manne, daß diese Tränen nicht die Sache eines Patrioten wären. Bei den bevorstehenden Zeitereignissen müsse sich jeder Mann von Geist und Herz glücklich schätzen, dem Vaterlande einen freien Arm anbieten zu können. Übrigens wäre ja auch das Mädchen, welches er so schmerzlich vermißte, schon deswegen, daß sie den Vater dem Sohne vorzöge, seiner Liebe unwürdig, und um ihn den schädlichen Einwirkungen einer täglich mit neuer Stärke erwachenden Leidenschaft zu entziehen, wolle er ihn gleich am anderen Tage auf einige Monate nach Flandern schicken, um daselbst für das Haus Einkäufe zu machen.

Um die Wahrheit zu gestehen, so fand Jean Louis das Heilmittel schlimmer als das Übel, und die Aussicht auf die baldige Abreise flößte ihm einen derartigen Schrecken ein, daß er es ganz vergaß, seinem Prinzipal für die ihm erwiesene Aufmerksamkeit Dank abzustatten.

Gegen neun Uhr abends verließ er das Kontor des Herrn Lecointre, der ihm noch die letzten Verhaltungsbefehle gegeben hatte. Aber er blieb nicht zu Hause.

Etwa um zehn Uhr sah ihn ein alter Arbeiter seines Vaters, namens Perlet, auf dem Nachhausewege, wie er hinter dem Schirmdach der Bude einer Fruchthändlerin stand und das gegenüber gelegene Haus des alten Hufschmieds fortwährend aufmerksam betrachtete.

In dem väterlichen Hause schien schon alles zu schlummern; die geschlossenen Fenster hoben sich, schwarz wie sie waren, kaum von der dunklen Fassade ab, und kein Lichtschimmer bezeichnete dem Jüngling das geringste Leben.

Jean Louis blieb, in seine Betrachtungen versunken, bis lange nach Mitternacht stehen.

Um vier Uhr morgens dachte er endlich daran, daß es Zeit sei, nach Hause zurückzukehren.

In dem Augenblick, wo er in die Rue de l'Orangerie einbog, sah er im Schatten die Gestalt eines weiblichen Wesens, welches an den Eckstein gelehnt stand, der gerade an der Verbindung der genannten Straße mit der Rue Satory aufgestellt war. Bei der Annäherung Jean Louis' erhob sich die Person. Einen Augenblick schien sie unschlüssig zu sein, dann eilte sie dem Kommenden entgegen und forderte ihn auf, sie zu begleiten.

Jean Louis hatte schon Helene erkannt.

In einer Bewegung, die er nicht bemeistern konnte, umfing er sie mit seinen Armen und preßte sie ans Herz. Aber gleichzeitig fiel ihm ein, daß die Wahl seines Vaters dieses junge Mädchen für ihn unverletzlich mache, deshalb stieß er sie fast ebenso schnell, wie er sie umarmt, zurück und fragte, was sie zu so vorgerückter Nachtzeit noch außerhalb ihrer Wohnung auf der Straße mache.

Helene zitterte und stammelte einige unverständliche Worte. Vergebens versuchte sie zu antworten. Ihre Stimme erstickte unter lautem Schluchzen. Sie verbarg das Antlitz in ihren Händen, und erst als Jean Louis ihr dringende Vorstellungen machte, entschloß sie sich, zu reden. Sie erzählte ihm, daß sie die Unterhaltung gehört hätte, welche er mit ihrer Mutter gepflogen, und daß eine Vereinigung mit ihm das größte Glück für sie wäre, welches sie auf Erden hoffen könnte. Nach seinem Hinweggehen, fuhr Helene schluchzend fort, habe sie die Kammer verlassen und sich ihrer Mutter zu Füßen geworfen, um deren festen Willen zu beugen. Die Antwort dieser sei jedoch folgende gewesen: daß man zwischen einem armen Sohne und einem begüterten Vater, der sie überdies zur Frau zu haben wünsche, gar keine Wahl mehr haben könnte. Helene gestand Jean Louis, daß ihre Mutter zuerst ihren Wünschen lebhafte Vorstellungen, später Drohungen entgegengesetzt habe, bis sie schließlich fortgesetzten Bitten durch rohe Mißhandlungen ein Ziel gesetzt. Hierauf, versicherte das arme, schöne Kind, hätte sie ganz den Kopf verloren und geduldig wie ein Opferlamm alles mögliche mit sich machen lassen. Erst in den letzten Tagen war ihr der Gedanke an Flucht gekommen, und diesen hatte sie nun heute ausgeführt. Ihre Absicht war gewesen, zu dem zu gehen, den sie liebe, und ihn um Hilfe zu bitten, damit er sie vor einem Ehebündnis bewahre, welches nur zu ihrem und des Geliebten Unglück geschlossen werden könnte.

Einige Stunden vorher, und Jean Louis Louschart hätte gar keinen anderen Gedanken gehabt, als nur auf irgendeine Weise an dem Ort bleiben zu können, wo es ihm vergönnt war, Helene wenigstens bisweilen zu sehen. Jetzt, wo er das schöne Mädchen, welches ihn mit so zärtlich bittendem Blick ansah, in den Armen hielt, stieg ein anderes Gefühl in ihm auf. Helene hatte ihm soeben ihre Liebe gestanden, er selbst eine Flucht vorschlagen wollen, die ihm ihren Besitz sichern konnte – da erwachte plötzlich in der Brust Louis' eine Opferfreudigkeit, die er vorher nie besessen. Eine geheime Stimme sagte ihm, daß es nun an ihm wäre, diesem unverhofften Glück mit mutigem Herzen zu entsagen.

Der junge Louschart behauptete dies vor Gericht, und die folgenden Ereignisse beweisen, daß er die Richter nicht belog.

In dem bezeichneten Augenblick hatte er nur den einen Gedanken, seiner Freundin die Pflichten klarzumachen, welche ihnen beiden diese so eigentümlichen Verhältnisse auferlegten. Jean Louis ermahnte seine ehemalige Schülerin mit einer bewunderungswürdigen Entsagung, sich in das Unvermeidliche zu schicken und die Wünsche ihrer Mutter zu erfüllen.

Helene zeigte sich der großen Seele ihres Geliebten ebenbürtig, denn etwa eine Stunde vor Tagesanbruch gingen beide in der Richtung nach dem Hause des Hufschmieds zu.

Das junge Mädchen hatte den Schlaf ihrer Mutter benutzt, aufzustehen und das Haus zu verlassen; Jean Louis wünschte demnach, daß sie, ohne bemerkt zu werden, in das Haus zurückkehrte, damit ihre heimliche Entfernung für Frau Verdier nicht der Vorwand zu neuen Mißhandlungen würde.

Die Werkstatt von Meister Mathurin wurde jeden Abend fest verriegelt und durch große Querbalken vor Einbruch geschützt. Der Hufschmied selbst schlief in einer hinter dieser Werkstatt gelegenen Kammer. Auf dieser Seite des Hauses ging ein kleines Seitengäßchen hinab, welches in einen engen Hof mündete; von hier aus führte eine Außentreppe direkt in die oberen Stockwerke des Hauses.

Die Eingangstür zu dem Seitengäßchen war stets offen, und da Helene in ihrer Angst auch vergessen hatte, die Tür, welche zu der Wohnung ihrer Mutter führte, zu schließen, schien die Rückkehr des jungen Mädchens bedeutend erleichtert.

Bald standen beide vor dem Hause. Es schien alles finster und ruhig darin. Da Jean Louis die Bewohner schlafend glaubte, atmete er erleichtert auf.

Er geleitete Helene bis an die Pforte zu dem Gäßchen; weder er noch das junge Mädchen hatte die Kraft, das Wort »Adieu« auszusprechen. Ihre tränenfeuchten Blicke begegneten sich; ihre Hände schlossen sich fest ineinander. Aber jeder Augenblick Zögerung konnte möglicherweise große Gefahren bringen, daher öffnete Jean Louis endlich selbst die Tür. Ohne das mindeste Geräusch ging sie auf. Der junge Mann löste gewaltsam die zarten Finger der Geliebten, welche krampfhaft seine rechte Hand umfaßt hielten, und floh, denn er fühlte, wie allmählich der Mut, den er bis dahin bewahrt hatte, zu weichen begann.

Eben wollte er über die Straße gehen, um unter dem Schirmdach der Fruchtbude aufzupassen, daß Helene auch ja keine Gefahr liefe. Da – er war noch keine zehn Schritte gegangen – unterbrach ein furchtbares Geschrei die nächtliche Stille. Er erkannte nur zu gut die Stimme des jungen Mädchens, welches ihn zu Hilfe rief.

Jean Louis stürzte, zu Tode erschrocken, nach der erwähnten Pforte zurück.

Das vorher vollkommen dunkle Gäßchen war jetzt von einem schwachen Lichtschimmer erhellt, der aus dem weitgeöffneten Zimmer des Meisters Mathurin kam.

Auf der Türschwelle stand der alte Hufschmied selbst, die Arme gekreuzt und das Haupt auf die Brust geneigt.

Aber Jean Louis sah nicht auf seinen Vater, er sah nur Helene, auf dem holprigen Steinpflaster ausgestreckt, und die Mutter des jungen Mädchens, welche, einer Furie ähnlich, das arme Kind an den Haaren schleifte und ihren Kopf zu wiederholten Malen und immer heftiger auf die spitzigen Steine des Bodens stieß.

Jean Louis stürzte vor, um seine Geliebte den Händen dieses wütenden Scheusals zu entreißen; aber der alte Louschart trat in das Gäßchen und versperrte dem Herbeieilenden den Weg, ohne ein Wort zu sagen.

»Mein Vater!« schrie Jean Louis, ganz außer sich über diese Erscheinung, »sie ist unschuldig! Bei dem Andenken an meine geliebte Mutter beschwöre ich Euch! Wollt Ihr es denn dulden, daß man das arme Kind vor Euren Blicken mordet?«

»Je lieber das Kind, je schärfer die Rute, Jean Louis! Du machst mir fast Lust, dich, wie du hier vor mir stehst, zu züchtigen, obwohl ich dich heute kaum noch lieb habe!«

»Mein Vater! Im Namen Gottes beschwöre ich Euch, beruhigt Euch!«

»Gottes? Du rufst den Namen Gottes an und glaubst nicht an Gott? Du, dessen Aufführung seit zwei Jahren so gotteslästerlich war?«

»Sprecht nicht so. Helene ist unschuldig. Noch einmal, ich schwöre es! Ich werde Euch alles sagen, Vater!«

»Unschuldig?« rief Frau Verdier mit kreischender Stimme. »Sie würde es ohne dich sein. Elender! Du bist es, der die Unglückliche verführt hat!«

Der alte Louschart wiederholte traurig, mit einer wahren Grabesstimme:

»Elender!«

»Mein Vater, ich habe Euch durch meinen Widerstand gekränkt, indem ich meine Meinung der Eurigen, meine Ansichten den Eurigen entgegensetzte. Ich bitte Euch jetzt reuevoll und demütig um Verzeihung. Ich werde meine liebsten und teuersten Gefühle Euch opfern. Ich werde alles, was mir meine Vernunft sagt, ableugnen. Ich werde mich fortan, ohne zu fragen, Eurem Willen unbedingt unterwerfen, nur verweigert mir jetzt meine Bitte nicht! Glaubt mir, wenn ich ihre Unschuld bezeuge, wenn ich schwöre, daß sie nicht aufgehört hat, Eurer würdig zu sein.«

»Ah!« rief der Hufschmied unter spöttischem Gelächter, »das ist also der Grund, der dich bestimmt, Abbitte zu tun? Du liebst sie wohl recht sehr, Jean Louis, meine Zukünftige?« Der junge Mann machte eine verzweiflungsvolle Gebärde.

»Elender!« wiederholte der alte Louschart, dessen bisher leichenblasses Gesicht nunmehr purpurrot zu werden begann.

Unter dem Einfluß dieser Beleidigungen und rohen Vorwürfe, die Jean Louis nicht verdient zu haben glaubte, begann allgemach sein Mut wieder zu wachsen. Er hatte den Kopf erhoben, und seine Blicke ertrugen ruhig das zornige Anstarren seines Vaters.

»Ja, Elender!« sagte zum dritten Male der Hufschmied, der den Unwillen bemerkt hatte, welchen dies Wort bei seinem Sohne hervorgerufen. »Elender! Ja, ja, sieh nur her, das ist der Name, den wir rechtschaffene Menschen mit Fug und Recht solchen Abtrünnigen wie dir geben können.«

»Bin ich denn meiner Gesinnung abtrünnig geworden, mein Vater?« fragte Jean Louis ungeduldig.

Aber der Alte hörte ihn nicht an und setzte seine Rede fort:

»Ich mußte deine Religion und dein Gott sein, wenn du glaubtest, des Gottes da droben entbehren zu können. Ach!« sagte er wie im Selbstgespräch, »ich, der ich so glücklich war, wie ich dich noch als ganz kleinen Buben in meinen Händen halten konnte. Ich erzog dich so zufrieden und stolz und liebte dich – wie man nur sein herrlichstes Gut lieben kann. Wie oft sagte ich zu mir: auch du wirst bald das einzige Gut deines Kindes sein! Alter Narr!«

Jean Louis wollte ihn unterbrechen, aber der Greis begann nun einmal zu schwärmen und ließ ihn nicht zu Worte kommen.

»Ach,« setzte er seine Rede fort, »das Pferd, dessen Huf ich beschlage, ist erkenntlicher als mein eigenes Kind. Es schlägt nicht aus, wenn ich es verwunde, und das Kind, welches ich so sehr geliebt habe, hat mich zu Tode verletzt. Mein Vertrauen zu Gott, welches aus mir einen rechtschaffenen Handwerker gemacht, hat mein Sohn als Schwäche verlacht! Meine Verehrung des Königs nannte er eine Torheit und hatte kein Mitleid mit ihr, der er doch alles verdankte. Er hat meinen Namen den Namen von Spöttern und Verschwörern zugesellt. Mein Sohn hat sich so viel zuschulden kommen lassen, daß ich mich seiner schämen muß und ärmer und niedriger als ein Bettler geworden bin. Ich, der ich früher so sehr das Recht hatte, stolz zu sein. Oh, daß ich sehen mußte, daß ein Louschart der Freund eines jener feilen Verbrecher wurde, welche unser Unglück und unseren Untergang vorbereiten.«

»Mein Vater,« rief Jean Louis, »überhäuft mich mit allen möglichen Beleidigungen, aber beschimpft nicht einen Mann –«

»Lecointre beschimpfen?« rief der Greis lachend. »Einen Judas beschimpfen?«

»Herr Lecointre ist ein Ehrenmann!« sagte Jean Louis mit starker Stimme.

»Ein Ehrenmann wie du, der nach der Hand beißt, welche ihn ernährt. Wenn das so ist, werde ich deinem Lecointre den Schädel spalten, wie ich ihn dir jetzt zerschmettern will.«

Bei diesen Worten schlug der alte Louschart mit der ganzen Gewalt seiner nervigen Faust seinen vor ihm stehenden Sohn ins Gesicht.

Seit Beginn dieser schrecklichen Szene hatte Frau Verdier ihre Tochter verlassen, und diese war nun allmählich wieder zu sich gekommen.

Noch viel zu schwach, um aufzustehen, hatte sich Helene, mit dem Rücken gegen die Hofmauer gelehnt, wenigstens in eine sitzende Stellung gebracht. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen, und man hörte nur ein schmerzliches Stöhnen, in dem sich ihre Brust Luft machte.

Frau Verdier stand neben dem Hufschmied, die Arme in die Hüften gestemmt, und schürte durch ihre Zurufe den törichten Zorn des Alten, der doch ohnehin so leicht ausbrach, immer noch mehr.

Als der Vater seinem Sohne jenen blutigen Schlag versetzt hatte, brach die Megäre in ein teuflisches Hohngelächter aus.

Jean Louis, der bei dem Schlage stumm geblieben war, wurde durch das widerwärtige Gekreisch wieder an sich selbst erinnert. Er schritt drohend auf das Weib zu.

»Mein Vater kann mich schimpfen und schlagen,« rief er, »aber von Euch werde ich nichts dulden, Ihr Rabenmutter!«

»Ja,« spottete der Alte, »du wirst es ihr freilich nicht verzeihen können, daß sie so wenig Nachsicht für deine Buhle hat.«

»Mein Vater,« schrie Jean Louis mit einer furchtbaren Stimme, »mein Vater, sprecht nicht also –«

»Du drohst mir? – Was, du drohst deinem Vater? Oh, ich habe dich nicht gesucht, Jean Louis, ich hatte dich verflucht und es Gott überlassen, mich zu rächen. Aber nun kommst du hierher, mir in meiner eigenen Wohnung Trotz zu bieten! Jean Louis, das ist unzweifelhaft ein Fingerzeig Gottes, daß ich selber dich für deine Freveltaten bestrafen soll.«

Nachdem der alte Louschart diese Worte gesprochen, hatte er schon eine der neben ihm an der Hauswand angelehnten Eisenstangen ergriffen und führte nun mit ihr einen schrecklichen Schlag nach seinem Sohne.

Jean Louis wich behende dem Streich aus, aber schon sah er seinen Vater zu einem zweiten ausholen.

»Fliehe, fliehe!« rief Helene ihm zu.

Und in der Tat konnte Jean Louis nur noch in der Flucht seine Rettung finden.

Er machte schnell einen Sprung nach der Tür zu, welche auf die Straße führte. Aber schneller als er hatte Frau Verdier in ihrem schrecklichen Verlangen nach einem blutigen Ausgange dieser Szene sich an diesen Punkt begeben und verwehrte ihm nun entschlossen den Ausgang.

Gegen sie, die sich ebenfalls bewaffnet hatte, kämpfen, hieß seinem Vater Gelegenheit zum Schlagen geben, und nur mit größter Mühe wich er dem zweiten Streiche aus, den der Greis schon in halber Raserei nach ihm getan hatte.

Den Augenblick, wo der Hufschmied seine Eisenstange eben wieder aufhob, benutzend, flüchtete sich Jean Louis schnell in das Zimmer des Alten und von da in die Werkstatt, aus welcher er auf die Straße entwischen zu können hoffte.

Jean Louis hörte seinen Vater, der ihm auf den Fersen war, und die Stimme Helenens, welche um Hilfe rief. Die Tür der Werkstatt war fest verschlossen.

Schon hatte Jean Louis den Schlüssel umgedreht und zog am Riegel, schon bemerkte der Flüchtling eine kleine Öffnung oben an der Tür und sah durch sie einen schwachen Schein des anbrechenden Tages, als eine schwere Eisenmasse donnernd über seinem Haupte dahinfuhr und, einen der Türbalken treffend, große Splitter herumfliegen ließ.

Der alte Louschart war es, der seine Eisenstange niedergelegt und nun, mit einem furchtbaren Hammer bewaffnet, diesen entsetzlichen Streich gefühlt hatte.

Die Verwirrung oder besser Verrücktheit des Greises hatte einzig und allein noch zum dritten Male das Leben des jungen Mannes retten können.

Er wollte sich aus dem Bereiche des schweren Hammers flüchten, aber eine Hand, welche ihn wie eine Zange packte, zog ihn heftig am Arme zurück.

Jean Louis begriff jetzt, daß er verloren wäre und sein Leben nicht mehr retten könnte, wenn er sich nicht einem Kampfe unterzöge, den er bisher schaudernd vermieden hatte. Er hielt die Hand seines Vaters in dem Augenblick zurück, wo sie zum vierten Male die mörderische Waffe über seinem Haupte schwang, und suchte sich des Hammers zu bemächtigen.

Aber der Hufschmied besaß noch außergewöhnliche Kraft, und die blinde Raserei, welche ihn ergriffen hatte, verdoppelte seine Gewalt: er hielt fest. Um neuen Angriffen zu begegnen, mußte Jean Louis sich mit der ganzen Schwere seines Körpers auf den Vater werfen.

Vater und Sohn rangen eine Sekunde lang miteinander; der eine, um seinen Gegner niederzuwerfen und um so sicherer zu töten; der andere, um sein Leben zu retten.

Endlich begannen die Knie des alten Louschart zu wanken, die bisherige Kraft verließ ihn, und der Vater stürzte rückwärts nieder, seinen Sohn mit sich ziehend.

Erst während des Falles hatte seine Faust sich geöffnet und Jean Louis sich des Hammers bemächtigen können. Er riß sich aus den Armen seines Vaters los, welcher ihn mit blinder Wut festhielt, erhob sich und stürzte hinaus.

Als er auf der Türschwelle stand, warf er unwillkürlich den schweren Eisenklumpen, den er noch in der Hand hielt, in das Zimmer zurück und flüchtete, von einem unnennbaren Grauen ergriffen.

In der Eile, mit welcher der Sohn das väterliche Haus verließ, in der Verwirrung seines Geistes hörte er nicht den Aufschrei, welcher in der Werkstatt in dem Augenblicke ertönte, da er den Hammer hineinwarf.

Diesen Schrei hatte Meister Mathurin ausgestoßen und damit zugleich seinen Geist aufgegeben. Der schwere Eisenhammer hatte ihn gerade über dem rechten Auge getroffen und dem alten Manne den Kopf zerschmettert.

Das Autodafé

Die Menge.

Jean Louis wurde in Sèvres durch reitende Polizei überrascht, verhaftet und inmitten eines immer mehr wachsenden Menschenhaufens, der ihm unter Flüchen folgte, nach Versailles zurückgeführt.

Als man sich seiner bemächtigte, hatte er große Verwunderung darüber an den Tag gelegt. Erst diejenigen, welche ihn geleiteten, erzählten ihm den Mord seines Vaters und die Anklage, welche sein Haupt mit dem Verbrechen belastete. Der erste Schrei des jungen Louschart war ein Schmerzensruf. Die Trauerbotschaft beschäftigte seinen Geist so vollständig, daß er auf weiter nichts acht hatte, nicht einmal auf den Verdacht, der ihn schon in aller Munde als Mörder seines Vaters bezeichnete. Aber bald wurde ihm das Wort: Vatermord in seiner ganzen furchtbaren Bedeutung klar. Er begriff, welcher Schandtat man ihn beschuldigte, und rief mit lebhaftem Unwillen aus:

»Kann man denn wohl seinen Vater töten?«

So oft er den gräßlichen Vorwurf hörte, legte er immer dagegen einen entschiedenen Widerspruch ein.

Man brachte ihn zuerst in das Gefängnis von Versailles. Erst am Abend schleppte man den vermeintlichen Mörder aus seiner Zelle und ließ ihn einen Wagen besteigen. Jean Louis war so trostlos, daß er nicht fragte, wohin man ihn führte. Als der Wagen in der Rue de Montreuil hielt, folgte er maschinenmäßig der Gerichtsperson, welche ihn begleitete, und schien nicht einmal das Haus wiederzuerkennen, in welches diese ihn eintreten ließ.

Plötzlich befand er sich in einem Zimmer zusammen mit einer auf dem Bett ausgestreckten Leiche, in der er seinen Vater wiedererkannte. Ohne auf die Fragen zu hören, die der Gerichtsbeamte an ihn richtete, warf sich Jean Louis über den Leichnam, schloß ihn in seine Arme und bedeckte das bleiche und blutige Antlitz des alten Hufschmieds mit Küssen und Tränen.

Als man ihn fragte, ob er den Toten kenne, antwortete er mit Sanftmut:

»Wie können Sie daran zweifeln, mein Herr? Und was meinen angeblichen Mord betrifft, so bitte ich Sie, zu bedenken: würde ich wohl diesen Körper, wenn ich ihn selbst getötet hätte, in diesem Augenblicke zu umarmen wagen?«

Aber die Aussage der Frau Verdier war so klar und bestimmt, daß das Gericht in der Antwort Jean Louis' nur die niederträchtigste Heuchelei eines ganz ausgefeimten Bösewichts erblicken konnte.

Der Prozeß wurde dem Châtelet übergeben, und dieses ging nun mit vollem Eifer ans Werk.

In der öffentlichen Meinung war unterdessen eine allgemeine Änderung eingetreten.

Der große, von jedem gehegte Abscheu gegen den vermeintlichen Mörder und die gewaltige Erregung, die der plötzliche und gewaltsame Tod des Meisters Mathurin Louschart hervorgebracht hatte, wurden durch Nachdenken über die Sachlage vermindert. Diejenigen, welche von vornherein Jean Louis verdammt hatten, bemitleideten ihn nun, nachdem sie die Vorgänge in jener verhängnisvollen Nacht näher in Erfahrung gebracht.

Zur selben Zeit blieben die Freunde Jean Louis' nicht untätig. Sie stellten ihn als das Opfer der Tyrannei des Greises dar, sie gingen auf die frühere Zeit zurück und erwähnten, mit welcher Geduld und Sanftmut der junge Louschart die ungerechtesten Anfeindungen seines Vaters ertragen hatte. Sie beriefen sich auf die zahllosen Opfer ihres Freundes und auf alle jene Einzelheiten, die dem Hufschmied zum Vorwand gegen seinen Sohn gedient hatten, und zwar taten sie dies alles, um das Mitgefühl des Volkes für den Angeklagten wachzurufen. Es glückte ihnen so vortrefflich, daß diese ganze Kriminalsache mehr das Ansehen und den Umfang eines politischen Prozesses für die Bewohner von Versailles annahm.

Indes, wie Jean Louis vorhergesagt, verteidigte er sich nicht, und ungeachtet der verschiedenen gerichtlichen Wege, die man ihm einzuschlagen geraten und an die Hand gegeben hatte, wollte er gegen das Zeugnis der Frau Verdier nicht ankämpfen.

Angesichts dieser stillschweigenden Zugeständnisse ließ der Gerichtshof die Strenge des Gesetzes in seiner ganzen Kraft obwalten.

Der gerichtliche Erlaß vom 31. Juli 1788 verurteilte Jean Louis Louschart an Armen, Beinen, Schenkeln und Rückgrat auf einem Schafott lebendig gerädert zu werden, welches zu diesem Zweck in Versailles auf dem Platze, wo das Verbrechen begangen worden war, aufgerichtet werden sollte. Darnach sollte der Körper, das Angesicht zum Himmel gerichtet, bis zum Tode aufs Rad geflochten und hernach auf einem Scheiterhaufen verbrannt werden. Schließlich hatten die Richter ihrem Erlaß ein Retentum hinzugefügt, welches folgenden Inhalt hatte:

»Das Gericht hat sich vorbehalten, daß der in Rede stehende Jean Louis Louschart nicht einen Schlag lebend bekommen und daß er, bevor das Rad zum erstenmal seine Glieder berührt, insgeheim vorher erdrosselt werden soll.«

Aber dem Volke blieb diese menschliche Verordnung der Richter unbekannt, und die Nachricht von der Verurteilung des jungen Louschart, auf dessen Unschuld jetzt ein jeder schwur, erregte in der Stadt den lebhaftesten Unwillen, ja man könnte sagen, mehr als das.

Die Vollstreckung des Urteils über Jean Louis wurde auf den 3. August festgesetzt.

Jean Louis Louschart war in einer der Zellen zu ebener Erde eingesperrt worden. Eben lag er noch in tiefem Schlummer auf seiner Matratze. Bei dem Geräusch, welches die vom Gefängniswärter weggezogenen Riegel verursachten, richtete er sich von seinem Lager auf und betrachtete ruhig die in seine Zelle Eintretenden.

Ein Gerichtsbeamter las ihm das Urteil vor, und er hörte es mit großer Aufmerksamkeit an. Als die Vorlesung zu Ende war, murmelte der junge Louschart einige unverständliche Worte vor sich hin, unter denen man nur die beiden verstehen konnte:

»Armer Vater!«

Dann fügte er ganz laut hinzu:

»In zwei Stunden werde ich mich vor ihm rechtfertigen; aber nein,« unterbrach er sich selbst leiser und mit vor Erregung zitterndem Tone und wandte sich dabei an den eben eintretenden Geistlichen der Kirche St. Louis, »er hat nicht glauben können, daß sein Sohn ihn mit Wissen und Willen tötete. Ist es nicht so, mein Herr?«

Der Priester näherte sich ihm und umarmte ihn. Die Gerichtsdiener zogen sich zurück und ließen die beiden allein.

Ein Befehl der gerichtlichen Kommissarien unterbrach die fromme Unterredung.

Charles Henri Sanson steckte seinen Kopf durch die Öffnung über der Tür und gab dem Verurteilten ein Zeichen, welcher eben vor dem Priester kniete und die Absolution empfing.

Jean Louis Louschart bemerkte dieses stumme Zeichen und sagte, sich zu dem Henker umwendend, unter einem schmerzlichen Lächeln:

»Sind Sie nicht bedrängter als ich, mein Herr?«

Um viereinhalb Uhr morgens bestieg man den Karren. Die richterlichen Kommissarien hatten gehofft, daß infolge der geheimen Anordnungen alles beendet sein würde, bevor die Bevölkerung der Stadt erwacht wäre.

Als man das Gefängnis verließ, sah man erst ein, wie unnütz die Verheimlichung der getroffenen Bestimmung gewesen war.

Trotz der frühen Morgenstunde flutete schon vor den Pforten des Gefängnisses das Volk auf und nieder.

Der Henkerkarren wurde durch eine Flut von Schimpfnamen empfangen, und nur unter Anwendung der größten Mühe gelang es, dem Fuhrwerk in dem Haufen einen Weg zu bahnen.

Der Verurteilte vermutete nicht, daß diese Bewegung eine Folge des Mitgefühls für ihn sein könnte. Vielleicht sah er sogar darin noch die Anzeichen des allgemeinen Abscheus und der wilden Wut, die ihn nach seiner Verhaftung bei dem Einbringen in Versailles empfangen hatte. Er hörte mit frommer Ergebung die Ermahnungen seines Beichtigers und wagte es nicht einmal, die Augen auf seine Umgebung zu richten. Am Ausgange der Rue de Satory indessen ereignete sich etwas, das ihn seinen frommen Betrachtungen entriß.

Plötzlich erscholl ein Mark und Bein durchdringendes, gellendes Geschrei, ein verzweifelter Ruf übertönte das Lärmen der Menge. Wie mit einemmal trat Totenstille ein, und man sah ein junges, totenbleiches Mädchen, welches ein Taschentuch schwenkte und offenbar die Aufmerksamkeit des Verurteilten hierdurch auf sich zu ziehen suchte.

Bei dem Tone dieser Stimme, welche bei dem Volke eine so merkwürdige Stille hervorgebracht, hatte Jean Louis Louschart den Kopf erhoben und sich augenblicklich, trotz der Ketten, welche seine Arme und Beine schwer belasteten, von seinem Sitze aufgerichtet. Er wendete sein Gesicht nach der Seite, wo er das junge Mädchen sah, das von den Begleitern des Henkerkarrens an weiterer Annäherung verhindert wurde. Seine Augen waren voll Tränen, die ersten, die man ihn an diesem Morgen vergießen sah. Er versuchte zu lächeln, dann aber rief er in einem herzzerreißenden, wehmütigen Tone:

»Lebe wohl, Helene! Lebewohl!«

In demselben Augenblicke drängte sich ein riesenhafter Mann vor, ein Grobschmied, welcher, seitdem der Henkerkarren das Gefängnis verlassen, diesem unmittelbar vorangegangen war, sprang auf die Deichselstange und schrie mit einer furchtbaren, alles übertönenden Stimme:

»Du mußt sagen: auf Wiedersehen, Jean Louis! Darf man denn rechtschaffene, makellose Männer, wie dich, rädern?«

Einer der den Karren begleitenden Bewaffneten stieß ihn zurück; aber das Beifallsgeschrei, welches bei den Worten des Schmiedes ausbrach, zeigte deutlich, daß er nur die allgemeine Meinung ausgesprochen hatte. Wunderbarerweise kam man ohne irgendwelchen Angriff am Fuße des Schafotts an.

Auf der Place St. Louis war der Volksandrang ungeheuer; sämtliche Straßen spieen die in ihnen flutende Menge auf ihn aus.

In dem Augenblicke, da der Karren hielt, richtete Jean Louis Louschart eine Frage an den Geistlichen von St. Louis, und mein Großvater hörte diesen antworten:

»Um Euch zu retten.«

»Nein, mein Vater,« sagte der Verurteilte mit fieberhafter Stimme und einer gewissen Ungeduld. »Wenn ich auch unschuldig in betreff der bösen Absicht bin, welche erst eine Tat zum Verbrechen macht, so sind meine Hände doch immer nicht frei von Blut. Ich muß sterben, ich will sterben. Beeilen Sie sich, mein Herr!« fügte er hinzu, indem er sich zu meinem Großvater herumwendete.

»Mein Herr,« antwortete ihm dieser und zeigte auf die furchtbaren Volksmassen, welche eben in entfesselter Wut gegen die Umzäunung anstürmten, »wenn jemand seine letzte Stunde erwartet, so hat es mit Ihnen gerade die mindeste Eile!«

Charles Henri Sanson hatte noch nicht vollendet, als ein wahrhaftes Sturmgeheul losbrach, man könnte fast sagen das Wutgebrüll des Volkslöwen. Die Umzäunung flog in tausend Stücke, und mit einemmal wälzte sich der Haufe an das Schafott heran.

Der Grobschmied, welcher schon beim Ausgange der Rue de Satory das Wort an Jean Louis Louschart gerichtet hatte, war der erste auf dem Schafott. Er ergriff den Verurteilten, zerschnitt, da die Ketten schon gelöst worden waren, die den Unglücklichen fesselnden Stricke, hob ihn in seinen nervigen Armen in die Höhe und setzte ihn auf seine Schultern, um Jean Louis Louschart so im Triumph davonzutragen.

Da entspann sich eine bisher noch ganz unerhörte Szene.

Ein zum Tode Geführter kämpfte gegen seine Befreier und stieß sie zurück. Er tadelte diese Leute, daß sie ihn der Strafe, die er mit Recht verdient zu haben glaubte, entziehen wollten, er wendete sich zu seinen Henkern, rief sie zu Hilfe, er bat sie sogar in dem ängstlichsten Tone, mit dem man sonst um das Leben fleht, um seine Hinrichtung, welche seine kindlich fromme Liebe zur Sühne für notwendig erachtete.

Aber schon hatten ihn seine Freunde umgeben. Ihre vereinten Bemühungen trugen über seinen Widerstand den Sieg davon, und sie brachten ihn in sicheren Gewahrsam.

Bei allen diesen Vorgängen wurde die Lage meines Großvaters eine sehr unbehagliche und unsichere. Getrennt von seinen Leuten, umgeben von einer über ihren leichten Sieg freudetrunkenen und rohen Volksmenge, die ihn nur als Henker kannte und deren ganzes Bestreben nur auf seinen und der Seinigen Tod gerichtet zu sein schien, blieb Charles Henri Sanson nur das eine übrig: sein Leben so teuer als möglich zu verkaufen.

Sein Gesicht drückte ganz klar die feindseligen Gedanken aus welche ihn im Innern beschäftigten; so klar, daß der riesenhafte Grobschmied, der den unschuldig Verurteilten befreit hatte, sich ihm näherte, ihn am Arme ergriff und ihm zuschrie:

»Hab keine Furcht, Schinder;Französisch: »Charlot«, die Volksbezeichnung für den Henker. wir wollen nicht dich, sondern dein Handwerkszeug. Merke dir es wohl, Schinder, wenn du Kundschaft hast, so mußt du sie töten, um sie aus dem Wege zu räumen, aber nicht auf das Schafott schleppen, um sie zu quälen! Überlassen wir die Höllenqualen dem lieben Gott! Hörst du wohl, Schinder?!«

Und sich zu dem Volkshaufen wendend, rief der Grobschmied mit lauter Stimme:

»Laßt ihn hindurch und merkt euch wohl, daß, wer irgend etwas gegen den Schinder sagt, für einen Gebrandmarkten, der sich jetzt rächen will, gehalten werden wird!«

Auf diese kluge Drohung öffneten sich die Reihen, und mein Großvater entrann.

In kürzerer Zeit, als man es niederschreiben kann, waren das Schafott und all das schreckliche Zubehör in tausend Stücke zertrümmert. Man warf die Überbleibsel in den für den Leichnam des Hingerichteten bestimmten Scheiterhaufen, oben darauf das grauenhafteste aller Henkerwerkzeuge, das Rad, den letzten Vertrauten so vieler Dulder. Das Feuer schlug bald und wie frohlockend über den Schandwerkzeugen zusammen; Männer und Frauen bildeten, sich an der Hand haltend, eine unermeßliche Kette, deren letzte Glieder so fern waren, daß sie kaum die Glut des Brandes sehen konnten. Die dem Scheiterhaufen zunächst stehenden Kreise jubelten laut auf, wenn der Brand immer von neuem aufflammte, und die Freude pflanzte sich wie ein elektrischer Funke von einem zum anderen fort, daß der Platz und die daranstoßenden Straßen bald widerhallten von unermeßlichem Jubelgeschrei. Bis gegen Mittag hin tobte das Volk, und hie und da wurden schon die vorderhand noch verpönten, aber bald darauf so gang und gäbe gewordenen Revolutionsgesänge hörbar.

Ich habe dies den Geschichtschreibern unbekannte oder doch wenigstens von ihnen außer acht gelassene Ereignis sehr ausführlich erzählt, jedoch lediglich deswegen, weil ich darin das erste revolutionäre Volksfest zu erkennen glaube.


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