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Krebsbüchlein oder Anweisung zu einer unvernünftigen Erziehung der Kinder. (Gekürzte Ausgabe)

Das Krebsbüchlein ist 1780 erschienen. Den Namen »Krebsbüchlein« hat die Schrift erst in der dritten Auflage erhalten. Zu diesem hat das Titelblatt Anlaß gegeben, das einen alten Krebs und 2 junge Krebse zeigt mit der Unterschrift: »Faciam, mi papule, si te idem facientem prius videro!« (Ich werde es tun, Väterchen, wenn ich dich dasselbe zuvor werde tun sehen.)

Vorrede

Ich erinnere mich, irgendwo gelesen zu haben, daß einmal eine Gesellschaft christlicher Europäer, die sich der Handlung wegen Geschäfte halber. in einer bengalischen Stadt niedergelassen hatten, an einem Freudentage unter Trompeten- und Paukenschall geschmaust, getrunken, gescherzt, gelacht und gesprungen habe, unterdessen daß die braune Bürgerschaft von Teurung und Hunger gepeinigt wurde, Scharen halber Leichen in den Gassen umherwankten, zum Teil an der Schwelle des Freudenhauses niederfielen, röchelten und starben, ohne daß nur einer von der fröhlichen Gesellschaft von diesem jämmerlichen Anblicke den geringsten Eindruck auf sein Herz empfunden hätte. Bei dieser Gelegenheit wurde die Frage aufgeworfen: woher es doch kommen müsse, daß der Europäer, sobald er auf Ostindiens heißen Boden käme, seine Natur so verändere und die zärtliche Teilnahme an seiner Nebenmenschen Leiden, die er insgemein mit aus seinem Vaterlande brächte, mit barbarischer Fühllosigkeit vertausche?

Der Grund hiervon ist so schwer nicht zu finden. Boden und Himmelsstrich sind hieran unschuldig. Das Vorurteil vielmehr, diese fruchtbare Mutter des meisten Jammers, gebiert auch diese Fühllosigkeit. Wenn einmal durch ein bei der Nation herrschendes Vorurteil eine gewisse Klasse Menschen zur Unterjochung verdammt ist und die Vorrechte der Menschheit ihr entrissen sind: dann nimmt in kurzer Zeit das Herz eines jeden Bürgers eine solche Härte an, daß es dem Winseln, den Tränen und Konvulsionen dieser Menschenart zusehen kann, ohne viel mehr als bei den Verzückungen eines gewürgten Stieres zu empfinden. In den Ländern, die wir nur in der Absicht besuchen, um uns mit ihren Schätzen zu bereichern, sind nun einmal durch ein die Menschheit entehrendes Vorurteil den Landesbewohnern die Rechte der Menschheit entwunden und den Europäern das unumschränkte Recht, sie zu mißhandeln, zugestanden worden. Dieses Vorurteil atmet der Europäer ein, sobald er seinen Fuß vom Schiffe auf das Land setzt, und fühlt bald die Wirkung davon an seinem Herzen.

Es würde mir leicht sein, mehrere Beispiele von ähnlicher Fühllosigkeit gegen die Leiden einer gewissen Menschenart aus allerlei Jahrhunderten und Himmelsstrichen zusammen zu bringen. Aber wozu diese Weitläufigkeit, da wir solche Beispiele in der Nähe haben können? Wir leben in einem gemäßigten Himmelsstriche, und viele von uns sind, seit etlichen Jahren, so empfindsam geworden, daß sie der Floh dauert, dessen Wonneleben sie abkürzen müssen. Gleichwohl hat doch auch bei uns das Vorurteil eine gewisse Gattung von Menschen zur völligen Unterjochung verdammt und ihren Beherrschern eine unumschränkte Freiheit, sie nach eigener Willkür zu behandeln, zugestanden.

Diese unter dem Drucke seufzende Menschenart sind die Kinder und ihre Unterdrücker die Eltern. Die Mißhandlungen, die sie in den meisten Häusern ausstehen müssen, sind bis zum Bejammern groß; und gleichwohl sind die meisten unserer Zeitgenossen schon so sehr an dergleichen Anblicke gewöhnt, daß sie das unschuldigste Kind können peitschen sehen und sein Jammergeschrei anhören, dem Sarge eines anderen, das durch väterliches oder mütterliches Vorurteil hingerichtet wurde, folgen, ohne dabei an Ungerechtigkeit zu denken.

Vielen Kindern wird in den ersten Jahren ihres Lebens die Gesundheit ihres Körpers und ihrer Glieder durch der Eltern Schuld entrissen, indem diese ihnen teils durch die Erzeugung das Gift mitteilen, das sie durch ihre Ausschweifungen in ihr Blut gebracht haben, teils durch Vorurteile und Sorglosigkeit ihre Gesundheit zerstören. Deswegen glaube ich, ohne die Sache zu übertreiben, behaupten zu können, daß in keinem barbarischen Raubneste so viel verstümmelte Sklaven umherwandeln als in einer mittelmäßigen, polizierten (wohlgeordneten) Stadt Sieche und Gebrechliche, die durch ihrer Eltern Schuld das wurden, was sie sind.

Die Mittel, die Gesundheit der Kinder zu erhalten, sind in den meisten Häusern so verkehrt, so augenscheinlich ihrer Gesundheit und ihrem Leben nachteilig, daß ich nicht zu viel sage, wenn ich behaupte, daß die meisten Kinder, die das Jahr hindurch zu Grabe getragen werden, der Eltern Vorurteil getötet habe.

Die Strafen, die diese kleinen, schütz- und wehrlosen Menschen fast täglich ausstehen müssen, sind meistens ungerecht. Wenn gleich der Ungeheuer äußerst wenige sind, die in der Wut ihre Kinder blutig und ungesund schlagen, so haben doch die wenigsten Kinder die Züchtigungen, die sie ausstehen müssen, verdient; sie leiden also Unrecht, und jeder Rutenschlag, den man, ohne ihn verdient zu haben, übernehmen muß, ist Ungerechtigkeit.

Da sitzt eine Mutter im Kreise ihrer Freundinnen und stellt gegen ihre kleine Familie eine öffentliche Klage an, malt ihren Eigensinn, ihre Halsstarrigkeit, Bosheit, Trägheit, Unordnung mit den schwärzesten Farben ab; dort steht ein Vater vor seinem achtjährigen Sohne und hält ihm eine lange Strafpredigt, die ein Gewebe von den bittersten Vorwürfen und den pöbelhaftesten Schmähungen ist; ein anderer peitscht seine Kinder wegen allerhand Ungezogenheiten, die er an ihnen bemerkt hat. Wie aber, Freunde! wenn ihr den Kindern die Fehler und Unarten, die ihr an ihnen bemerkt, selbst beigebracht hättet, wäre es nicht ungerecht, wenn ihr sie deshalb so hämisch behandeln wolltet ? Wenn ihr erst euren Kindern gewisse Fehler beibrächtet und sie nachher deshalb bestrafen wolltet daß sie dieselben so gut begriffen haben, wäre es nicht grausam?

Und dies ist ganz gewiß: Der Grund von allen Fehlern, Untugenden und Lastern der Kindern ist mehrenteils bei dem Vater oder der Mutter oder bei beiden zugleich zu suchen. Es klingt dies hart und ist doch wahr.

Der Mensch zeugt immer Kinder, die seinem Bilde ähnlich sind. Das Gehirn, Blut, Bein und Fleisch des Kindes sind von seinen Eltern entsprossen. Wenn nun die Eltern fehlerhaft an Leib und Seele, oder an beiden zugleich krank sind, so müssen notwendig alle diese Krankheiten den Früchten ihres Leibes mitgeteilt werden. Der heftige Hang zu gewissen Lastern, die unbändige Bosheit, der Eigensinn, die Halsstarrigkeit, die unordentliche Lüsternheit, die übermäßige Sinnlichkeit, die Verdrossenheit, selbst die Dummheit, wovon die meisten Kinder bald dieses, bald jenes mit aus der Windel bringen, sind augenscheinlich Mitgaben vom Vater oder von der Mutter.

Wer ferner Familien beobachtet hat, wo nicht eine vorzüglich gute Kinderzucht herrscht, der wird bemerkt haben, daß die Fehler der Kinder sich mit den Jahren vermehren und vergrößern. Wie unschuldig lächelt das zweijährige Karlchen, und wie hämisch sieht der zehnjährige Leopold aus! Diese Anmerkung ist durchgängig als wahr angenommen, daß man in vielen Häusern diejenigen Jahre, da der Verstand des Kindes sich zu regen pflegt, da also die Besserung desselben merklicher werden sollte, die Flegeljahre (man verzeihe mir diesen Ausdruck!) nennt. Und also muß es auch wohl noch Ursachen geben, die nach der Geburt die Fehler des Kindes vermehren und vergrößern. Und diese sind meistenteils wieder nirgends anders als in den Eltern zu suchen.

Die traurigen Folgen, die daraus für die Gesellschaft entspringen, sind nicht zu berechnen. Schon dies ist traurig, daß so viel tausend Unschuldige leiden und die schönsten Tage ihres Lebens mißvergnügt zubringen müssen; daß so viele, die einst die brauchbarsten Glieder des Staates hätten werden können, von der Unwissenheit ihrer Eltern entnervt, verstümmelt, zu jeder Handlung, die Kraft erfordert, unfähig gemacht oder wohl gar hingerichtet werden. Und wenn das wahr ist, was von jeher der vernünftigste Teil der Menschen behauptet hat, daß Tugend allein dem Menschen wahre Glückseligkeit verschaffe, daß der Besitz einer Welt ihm diejenige Zufriedenheit nicht zu schenken vermöge, die aus derselben entspringt: möchte nicht jedem Menschenfreunde das Herz bluten, wenn er dem größten Teile der Nachwelt dieses Gut entreißen und ihn im Laster unterweisen sieht? Wenn der junge Mensch, der noch keinen bessern, einsichtsvollem Freund als seine Eltern kennt, ihr Wort annimmt, wie wenn es vom Himmel geredet wäre, ihren Leitungen sich zuversichtlich überläßt, aber an ihnen Verräter findet, die ihn auf die gefährlichsten Irrwege leiten, von denen er sich entweder nie oder erst spät mit geschwächtem Körper, verwundetem Gewissen und tränenden Augen zurechtfindet?

Fast alles verdrießliche und freudenlose Wesen, das man an den meisten Eltern bemerkt, entspringt aus der verkehrten Art, wie sie ihre Kinder behandeln. Sie lehren ihnen Ungehorsam, Halsstarrigkeit, Eigensinn, Trägheit, Unordnung und Eitelkeit. Kinder mit solchen Untugenden sind freilich kein Reichtum. Der Vater einer so verwilderten Familie ist vielmehr ein armer beklagenswürdiger Mann. An jedem Kinde hat er einen Befehlshaber, der täglich Nahrungsmittel, Ergötzlichkeiten, Kleidung und Aufwartung fordert, ohne sich die geringste Mühe zu geben, das Seinige zum allgemeinen Besten des Hauses beizutragen. So muß der arme Vater über Vermögen arbeiten und fronen, um immerhin imstande zu sein, die Kontributionen abzutragen, die seine Kinder von ihm fordern. Das einzige, was ihm von der Herrschaft noch übrig ist, ist die Erlaubnis, bisweilen eine Strafpredigt zu halten und durch Schläge seinen Unwillen auszulassen. Man entkräftet seine Kinder und macht sie krank: man bringt ihnen eine Menge höchst widriger und unangenehmer Untugenden bei, und nun ist es freilich kein Wunder, wenn der Aufenthalt bei ihnen höchst unangenehm ist; wenn die Eltern, die ihre Tage in einer Stube zubringen müssen, wo das eine Kind wimmert, das andere durch sein bleiches Gesicht Mitleiden erregt, das dritte zankt, das vierte lärmt, sich nach einem Orte sehnen, wo sie freie Luft atmen und bei einem Kruge Bier oder Wein, oder in einer lustigen Gesellschaft, ihre Kinder und ihr Leid vergessen können.

Dieses alles hat mich nun bewogen, dieses Büchlein aufzusetzen. Es soll eine Schutz- und Bittschrift für die armen, wehrlosen Kinder sein, deren viele durch die Unwissenheit und Unvorsichtigkeit der Eltern um ihre vergnügten Stunden, um Tugend, Gesundheit und Leben gebracht werden. Ich habe dies mit vielen Exempeln bewiesen, davon schwerlich jemand eins lesen wird, ohne sich an ein Haus zu erinnern, wo es ebenso zugeht, wie es in dem Exempel beschrieben wird.

Gibt es allenthalben Leute, die ihre Kinder so unvernünftig behandeln, wie hier erzählt wird, so ist es ja gewiß, daß die Eltern meistens selbst an den Untugenden ihrer Kinder, oft auch an ihren Krankheiten und ihrem Tode Ursache sind.

Eltern, die ganz roh sind, werden nun freilich dadurch nicht gebessert werden, sie werden das Buch voll Unwillen weglegen, schimpfen und in der verkehrten Art, die Kinder zu behandeln, fortfahren. Für diese habe ich aber auch nicht geschrieben.

Was aber Eltern sind, die noch einiges Nachdenken haben, bei denen noch ein Funke Zuneigung zu ihrem eigenen Fleische und Blute zu finden ist, die werden doch dadurch aufmerksam gemacht werden. Wie? werden sie denken, ich sollte selbst meine Kinder krank machen? ich sollte selbst an ihren Untugenden schuld sein, die mir so viele mißvergnügte Stunden verursachen ? Dieser Gedanke wird sie niederschlagen, sie werden sich die Sache weiter überlegen und gar bald sich überzeugen, daß ich die Wahrheit geredet habe. Wenn nur zehn Paar Eltern dadurch so weit gebracht würden, daß sie sich der Torheiten schämten, die sie seither begingen und die ich hier gerügt habe; wenn sie dieselben ablegten, ihre Kinder vor Verzärtelung, gekünstelten Speisen, den Klauen der Quacksalber, und was sonst der Gesundheit und dem Leben des jungen Weltbürgers schädlich sein mag, verwahrten; immer so redeten und handelten, wie sie wünschten, daß ihre Kinder reden und handeln möchten; mehr Liebe und Vernunft bei ihrer Erziehung brauchten; wenn dadurch nur in zehn Häusern die Familienfreuden, die süßesten und gesündesten unter allen irdischen Vergnügungen, wieder hergestellt würden: o wieviel Gutes hätte ich durch diese wenigen Blätter gestiftet! wie stolz wollte ich darauf sein, sie geschrieben zu haben!

Freilich werden meine Leser und Leserinnen aus diesem Buche noch nicht ersehen können, was sie eigentlich mit ihren Kindern vornehmen sollen, um Freude an ihnen zu sehen. Sind sie aber nur erst davon überzeugt, was ich sie durch alle diese Exempel habe lehren wollen, daß in ihnen selbst der Grund von den Fehlern ihrer Kinder liege, dann können sie weitere Belehrung finden in meinem: Konrad Kiefer, oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Kinder. Siehe Einleitung

Das ganze Buch ist in einem scherzhaften Tone abgefaßt; nicht deshalb, als wenn ich glaubte, daß die Torheiten, von denen ich rede, unbedeutende, belachungswürdige Kleinigkeiten wären; denn aus dem, was ich in dieser Vorrede gesagt habe, kann man schon schließen, daß ich diese Torheiten für solche Übel halte, welche die Tränen des Menschenfreundes verdienen. Deshalb schrieb ich vielmehr scherzhaft, damit ich desto mehr Leser herbeilocken und ihnen im Scherz Wahrheiten sagen könnte, die den meisten so nützlich, so unentbehrlich sind, damit auch diese das Büchlein lesen möchten, die nicht Geduld genug haben, einen ernsthaften Vortrag auszuhalten.

Daß hier und da ein pöbelhafter Ausdruck vorkommt, wird man mir hoffentlich verzeihen. Wenn man schildern will, muß man die Sachen vorstellen, wie man sie findet. Ein netter, reinlicher Anzug, den der Maler um den Körper des Bettlers hängen wollte, würde das Auge des Kenners mehr beleidigen als ein zerrissener Rock. Alsdann erst hat man Ursache, sich zu beschweren, wenn die Vorstellung der Natur so hoch getrieben wird, daß die Schamhaftigkeit darunter leidet. Und dieses kann man mir nicht zur Last legen.

Übrigens hoffe ich von allen Eltern, die nur einiges Nachdenken haben, daß sie dieses Büchlein sorgfältig verschließen werden, damit es ja nicht in die Hände der Kinder komme. Sie würden alle Achtung bei ihren Kindern verlieren, wenn diese die Torheiten ihres Betragens kennen lernten. Auch der einfältigste Vater behauptet oft eine Zeitlang sein Ansehen unter seinen Kindern. Es ist aber um ihn geschehen, sobald seine Einfalt in der Kinder Gegenwart aufgedeckt wird.

Chr. Gotth. Salzmann.


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