Felix Salten
Die Geliebte Friedrichs des Schönen
Felix Salten

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Die Erhebungen über Barbara Liebhardt

(1903)

Kein Mensch hätte jemals an diese alte Geschichte gedacht. Als sich aber der Magistratsbeamte eines abends von seinem Freunde, dem Kunstgärtner, zwei Gulden ausleihen wollte, ergab sich alles weitere gleichsam von selbst. Der Kunstgärtner Liebhardt sagte nämlich: »Nein, ich kann nicht.« Und Herr Schober konnte seine Bestürzung nur mühsam verbergen. Deshalb sah sich Herr Liebhardt zu einer Aufklärung veranlaßt und begann die Geschichte seines Unglücks zu erzählen. Alle Leute, die man um Geld anspricht, erzählen sofort die Geschichte ihres Unglücks.

»Sie sind halt noch ein junger Mensch, Herr Schober,« sagte der Kunstgärtner. »Sie wissen freilich nicht, was das heißt, so ein Geschäft führen. Diese Lasten . . . das Risiko . . . und was mich am meisten verdrießt, 196 daß ich bis heute noch der alten Schachtel die Leibrente zahlen muß . . .« Er holte tief Atem; dann betonte er, als sei es eine boshafte Pointe: »Gewisse Leute wollen eben nicht sterben.«

Herrn Schober tat es um die zwei Gulden herzlich leid und er machte ein nachdenkliches Gesicht. Der Kunstgärtner aber, der sich grübelnd in eine starke Erbitterung versetzt hatte, begann plötzlich zu keuchen: »Die stirbt überhaupt nicht; was ich Ihnen sag', die lebt ewig! . . . Hören Sie an: Im Jahr Sechzig hat sie die Gärtnerei mein' Großvater übergeben. Mein Großvater war nämlich ein G'schwisterkind von ihr. Kaufen hat er das Geschäft und den Grund nicht können, so haben s' halt eine lebenslängliche Rente ausgemacht . . . leider . . . das war schön dumm von ihm.« Wie aber Herr Schober beipflichten wollte, ließ der Kunstgärtner den Großvater nicht im Stich, sondern entschuldigte ihn: »Reden S' nicht! Die Tant' Barbara war damals Siebzig alt, wer hätt' denn so was denken können? Na, und im Jahr Neunundsechzig ist der Großvater g'storben, da hat mein Vater die Gärtnerei geerbt. Aber natürlich, die Rente war weiter 197 zu bezahlen. Und im Jahr Siebenundachtzig, wie dann mein Vater die Augen geschlossen hat, da bin ich drangekommen. Das sind jetzt auch schon siebzehn Jahr' her; aber die Alte lebt noch immer, und ich muß zahlen.«

»Wie alt ist denn Ihre Frau Taut'?« erkundigte sich Schober.

»Das ist doch leicht zu berechnen. Vierundvierzig Jahr' zahl'n wir die Rente, siebzig war sie dazumal, wird sie halt jetzt hundertundvierzehn Jahr' alt sein . . .«

Herr Schober beruhigte den Kunstgärtner und meinte, die Sache könne ja doch jetzt nicht mehr lange dauern. Aber Herr Liebhardt zeigte sich von jeglicher Hoffnung verlassen: »Gehn S' mir weg,« rief er aus, »die lebt länger als wir alle . . . und wenn s' gleich heute stirbt, das Geschäft ist doch schon fünfmal überzahlt.«

Auf dem Heimweg war Herr Schober zu sehr deprimiert und von seinen Geldsorgen zu sehr in Anspruch genommen, um der alten Frau zu gedenken. Als er aber am nächsten Morgen wieder im Rathause saß, fiel ihm ein, daß mit einer Hundertvierzehnjährigen unbedingt etwas zu machen sei. Vor allem eine Photographie für das Extrablatt. Dann 198 ließe sich vielleicht eine kleine Feier veranstalten. Wenn der Bürgermeister davon erfährt, kommt er gewiß und hält eine kleine, gemütliche, spaßige Anspreche. Der Magistratsbeamte Schober wußte, daß der Bürgermeister, um seine Popularität zu mehren, gern zu solch bescheidenen Familienfestlichkeiten in die Vorstadt ging. Er wußte, daß der Bürgermeister diese frommen, patriotischen und witzigen Ansprachen dazu benützte, um die Leute zu ermahnen, dem lieben Gott und dem Kaiser für alles zu danken. Bei Drillingstaufen, goldenen Hochzeiten, Dienstbotenjubiläen, überall erschien der Bürgermeister und sagte: Da könne man wieder sehen, wie jeder treu zu Gott und zum Kaiser halten müsse.

»Wo haben S' denn das wieder aufg'stierlt?« fragte der Bürgermeister gutmütig Herrn Schober, der alles berichtet hatte, worauf der Herr Magistratsbeamte bemerkte, daß er sich auch außerhalb des Bureaus um die Bevölkerung kümmere. Der Bürgermeister meinte: »Ich werd' halt eine Ehrengab' bewilligen lassen.« Und mit seiner bodenständigen Gemütlichkeit fügte er hinzu: »Ich kann ja nicht mit leere Händ' zu dem 199 alten Weiberl kommen . . . Natürlich müssen Sie,« so schloß er, »zunächst genaue Erhebungen pflegen.«

Herr Schober begann die alte Frau, der er so viel bürgermeisterliche Huld verdanken sollte, als seinen persönlichen Schutzengel anzusehen; und er leitete die Erhebungen ein.

Zu diesem Zwecke suchte er den Kunstgärtner wieder auf und fragte ihn nach der Adresse der alten Barbara. Als Herr Liebhardt vernahm, was im Werke sei, wurde er ganz gerührt. Die Aussicht, als Vertreter der Familie den Herrn Bürgermeister begrüßen zu dürfen, in der Leitung zu stehen und vor anderen Geschäftsleuten so ausgezeichnet zu sein, begeisterte ihn und er meinte etwas unklar: man könne an der alten Tante sehen, von was für einem Guß so eine hiesige Familie sei. Dann machte er sich erbötig, Herrn Schober zur Barbara zu begleiten.

Es war ziemlich weit draußen, in einem niederen, alten Haus. Sie mußten über einen Hof gehen, in dem Kinder spielten. Dann klopften sie an eine weiße, niedere Glastür. Der Vorhang wurde zur Seite geschoben und ein altes, verrunzeltes Frauenantlitz lugte mit scharfen blauen Augen 200 hervor. Als endlich geöffnet ward, stand ein schiefgebogenes Mütterchen vor ihnen und zeigte ein schüchtern neugieriges Gesicht.

»Ganz rüstig ist sie noch,« flüsterte Herr Schober.

Der Kunstgärtner aber lächelte: »Das ist ja gar nicht die Tant' Barbara, das ist ja das kleine Annerl . . .«

». . . Das kleine Annerl . . .?«

»Natürlich. Das junge Dienstmadel, was die Tant' damals zu sich g'nommen hat, damit sie eine Pfleg' hat und eine kräftige Person im Haus.«

Das kleine Annerl stand dabei, schiefgebogen und fast taumelnd vor Müdigkeit des Alters; und wie Herr Schober sie verdutzt ansah, merkte sie sein Staunen, und mit ihrer dünnen, jappenden Stimme bellte sie ihn an: »Freilich, vor achtundvierzig Jahren hat s' mich g'nommen.« Schober murmelte etwas von treuen Diensten, und da fuhr die Annerl leiser und vertraulicher bellend fort: »Wissen S', sie hat mir versprochen, ich erb' was, wenn sie stirbt, eine Ausstattung erb' ich, hat s' mir damals versprochen . . . aber natürlich,« sie lächelte, »mit'm Heiraten is' nix mehr . . .«

201 Liebhardt meinte vorwurfsvoll: »Da sehn Sie, wie die Alte ist . . . da könnt' so ein Madl lang warten.« Und sie traten in das Zimmer.

Mitten in der sauberen, hellen Stube saß die alte Barbara auf einem harten, steiflehnigen Stuhl und schaute zum Fenster hin, wo rote Fuchsien in der Sonne blühten. Herr Schober wollte sich in eine andächtige Stimmung versetzen. Hundertundvierzehn Jahre! wiederholte er leise immer wieder bei sich und starrte die alte Barbara an. Aber als er sah, daß sie ganz schmal und knochenmager sei, erschrak er, denn er war wehleidig, und der Anblick solch äußerster Gebrechlichkeit schmerzte ihn körperlich, irgendwo an einer Stelle seines eigenen Leibes. Das weiße Tuch, das die Alte wie einen Umschlag um die Stirn gebunden hatte, erweckte in ihm die peinliche Vorstellung von beständigem Kopfweh; und als er bemerkte, daß die greise Barbara eine wirkliche, ganz rosarote, nur von einzelnen weißen Haaren überzogene Glatze hatte, war er völlig entnervt. Aber er hielt sich vor, daß ja trotz alledem der Bürgermeister zu dieser alten Frau kommen werde, und da hatte er das dunkle Gefühl, 202 als müsse auch er ihr seine persönliche Ergebenheit ganz besonders bezeigen. Deshalb machte er denn, wie er so vor ihr stand, zwei tiefe, außerordentlich korrekte Verbeugungen. Herr Liebhardt aber hatte sich vor der alten Barbara aufgepflanzt, die Arme in die Seiten gestemmt, und betrachtete sie mißbilligend, kopfschüttelnd, verwundert, wie man einen zwar bekannten, aber unbegreiflichen Unfug kopfschüttelnd betrachtet. »Na, wie geht's Ihnen?« rief er laut, doch ohne nennenswertes Wohlwollen.

Barbara beachtete ihn nicht. Ihr hatten die zierlichen Verbeugungen Schobers ungemein gefallen, weshalb sie ihre Aufmerksamkeit dem Magistratsbeamten zuwendete. Schober sah mit Entsetzen, daß dieses Antlitz einem kleinen, vertrockneten, gelbbraunen Quittenapfel glich. Er dachte, daß dieser offene Mund, dessen Zunge nach den zahnlosen, roten Kiefern tastete, aussehe, als ob er von Blut erfüllt sei; und er wußte nichts zu sagen.

Wie nun Herr Liebhardt jetzt wieder anfing: »Sie, haben S' g'hört? Wie's Ihnen geht?«, nahm dieses kleine, stumpfe Gesicht einen beleidigten Ausdruck an. Die alte Barbara tat, als ob sie den Kunstgärtner nicht 203 sehen würde, und sagte, in die entfernteste Zimmerecke spähend, mit einer zornigen, greisen, umschlagenden Stimme:

»Es bleibt alles, wie's ist . . . nein, nein . . . was einmal abgemacht ist, das bleibt.«

Herr Liebhardt winkte abwehrend mit der Hand: »Es nimmt Ihnen keiner was. Hören S' jetzt auf mich, was ich Ihnen erzähl': Der Bürgermeister wird zu Ihnen kommen. Wir veranstalten ein Familienfest und Ihr Bild muß in die Zeitung – verstehn S'? Weil Sie so viel alt sind . . .«

Barbara ließ ihren Kopf sinken, faltete die Hände und ihre Lippen bewegten sich lautlos.

»Was hat sie denn jetzt wieder?« erkundigte sich Liebhardt.

»Beten tut sie!« erklärte Annerl.

»Lassen Sie s'. Ihr ist halt immer so bang. Da kann man nix machen. Was wollen S' denn überhaupt von ihr?«

Der Kunstgärtner setzte ausführlich auseinander, was für ein Glück bevorstehe; und Herr Schober glaubte jetzt mit seinen Erhebungen beginnen zu müssen. Aufs Geratewohl fragte er: »Seit wann ist sie denn verwittwet?«

204 Annerl bellte ihn an: »Verwittwet? Die war ja nie verheiratet! Ein kleines Kind hat s' einmal g'habt, so viel ich weiß, aber ein' Mann hat sie nicht g'habt, niemals . . .«

»Ein Kind . . ?« sagte Herr Schober gedankenlos.

Liebhardt zuckte die Achsel: »Mir scheint, ja . . . ich hab' einmal was reden g'hört davon.«

»Was g'hört?« Annerl ereiferte sich. »Wenn S' was wissen wollen, fragen S' nur mich. Mir hat sie oft genug erzählt davon . . . alles hat s' mir erzählt . . . Gelten S' ja?« wandte sie sich jetzt zur Barbara. Die aber saß ganz still da und hatte ihre offenen, tränenden, erloschenen Augen auf die blühenden Fuchsien gerichtet.

»Das mit dem Kind, was?« rief Annerl lauter.

»Hellichter Tag ist . . .« sagte Barbara mit ihrer zitternden, wie im Schluchzen umkippenden Stimme und starrte vor sich hin.

Annerl kümmerte sich jetzt nicht mehr um sie. »Ein Fiakerkutscher war er,« erzählte sie Herrn Schober, »nämlich der Vater von dem Kind, und wie dann die Franzosen 205 'kommen sind, haben s' ihn zu die Soldaten g'nommen.«

»Die Franzosen?« Herr Schober lachte. »Nach Wien sind doch keine Franzosen 'kommen . . .«

»Aber ja!« Annerl bellte lauter und höher. »Sie hat mir's ja erzählt, ich werd's doch wissen. Das Kind war noch gar nicht auf der Welt, wie er hat fortmüssen.«

»Wer?«

»Der Fiakerkutscher . . . er hat s' ja heiraten wollen, aber bei Aspern ist er g'fallen, verstehen S'?«

»Bei Aspern . . .« wiederholte Herr Schober für sich, und begriff:

Das weiß man aus der Schule . . . Weltgeschichte . . . Napoleon . . . Schlacht bei Aspern . . .

Annerl fuhr indessen fort: »Ja . . . und ein Jahr drauf ist das Kind g'storben, nur ein paar Monate ist es alt g'wesen. Da . . . . schaun' S' her, wenn Sie's nicht glauben.«

Dann schwenkte sie ihren verbogenen Körper zum Schubladkasten, zog ein Fach heraus und hielt ein paar vergilbte Papiere in der Hand.

206 Der Magistratsbeamte las: . . . der neunzehnjährigen, unvermählten Barbara Liebhardt, daselbst geboren ein Knabe . . . getauft Anton . . .« und er lächelte: »Das ist sehr gut. Da seh' ich wenigstens, daß die G'schicht mit dem Alter stimmt. Ganz genau stimmt's.« Er war mit seinen Erhebungen sehr zufrieden.

Das kleine Annerl hielt die Papiere jetzt der alten Barbara vor das Gesicht: »Der Totenschein . . .« bellte sie freundlich; »von Ihr'm Kind der Totenschein, gelten S' ja?«

Barbara lächelte eine Sekunde das vergilbte Blättchen an. Dann schaute sie wieder erwartungsvoll auf Herrn Schober, als sei sie auf eine neue Verbeugung begierig. Gleich nachher aber fiel ihr kleiner verschrumpfter Kopf gegen die Lehne, und es war, als verschwimme alles vor ihren erloschenen, wunden Blicken, die Menschen und die Blumen am Fenster und der helle Tag draußen und die Fernen der Vergangenheit.

Herr Schober meldete am nächsten Tag dem Bürgermeister: »Das Alter von hundertvierzehn Jahren ist richtig, wie ich genau erhoben habe. Denn wie ihr Kind gestorben ist, war sie zwanzig Jahre alt.«

207 »Was für ein Kind . . .?« fragte der Bürgermeister.

Schober berichtete, was er wußte, mit großer Exaktheit. »In der Schlacht bei Aspern,« sagte er, »in der Napoleon vom ruhmreichen Erzherzog Karl besiegt wurde, ist der Kindesvater gefallen. Das Kind selbst ist 1810 gestorben. Damals war die Barbara Liebhardt zwanzig, folglich zählt sie heute hundertundvier . . .«

»Ja, mein lieber Freund,« sagte der Bürgermeister, »was glauben Sie denn eigentlich? Sie werden mir doch nicht zumuten, daß ich so Einer, die ein lediges Kind hat, extra noch zum Geburtstag gratulier' . . .«

Herr Schober stammelte: »Aber das Kind ist ja tot, beinah' hundert Jahre lang ist es schon tot . . .«

Da erhob der Bürgermeister seine schallende, populäre Stimme: »Ob das Kind tot ist oder lebt . . . die Mutter ist ein gefallenes Mädchen, weiter nichts; verstehen Sie? Eine Gefallene! Das sollte doch ein städtischer Beamter wissen, daß wir nicht für die freie Liebe da sind. Merken Sie sich das. Wir sind da, um die Sittlichkeit in der Bevölkerung, die Frömmigkeit und die Treue zu 208 unserem angestammten Herrscherhause hochzuhalten.« Und weil er sah, wie Herr Schober erbleichte, wurde er wieder gemütlich: »Aber, was ist Ihnen denn da eing'fall'n, Freunderl? . . . . ein Madl, die mit ein' Fiaker ein Kind g'habt hat . . . sind S' doch gescheit . . .«

 

In einem auffallend gemessenen Schreiben machte der Magistratsbeamte Schober dem Kunstgärtner Liebhardt die Mitteilung, »daß infolge des durch die geflogenen Erhebungen bekannt gewordenen Lebenswandels der Barbara Liebhardt von einer Teilnahme an der Feier des hundertvierzehnten Geburtstages derselben amtlicherseits Abstand genommen werden müsse«.

Der Kunstgärtner bekam einen Wutanfall: »So ein Frauenzimmer, so ein nichtsnutziges,« rief er aus, »was die einem für Schand' macht! Der muß man doch einmal sagen, wieviel es g'schlagen hat.« Er begab sich gleich im ersten Zorn zur alten Barbara, aber wie viel er auch sprach und erklärte, es war vergebens. Sie verstand ihn nicht.

 


 


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