Felix Salten
Die Geliebte Friedrichs des Schönen
Felix Salten

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Die Wege des Herrn

(1908)

Der Hund lag in der Ecke und schlief.

Dort gehörte ihm ein alter Scheuerlappen, den kratzte er immer erst mit den Pfoten zurecht, stieß mit der Nase Falten hinein, und hatte er dermaßen sein Bett bereitet, dann ließ er sich schwer darauf niederfallen.

Vor Zeiten war er allerdings in der Stube drinnen auf das Sopha gesprungen. Dieses hohe, weiche und federnde Lager hatte ihn dermaßen entzückt, daß er in schwelgerischen Seufzern hinzuschmelzen drohte. Allein sein Herr hatte ihn mit Fußtritten aus diesem Paradiese verjagt und ihn das zweitemal durchgeprügelt. Daraus entnahm er, daß es doch ein trügerisches Glück sei, so hoch und weich zu liegen, und daß kein Hund einer solchen Sache sich vermessen dürfe, ohne nach kurzer Freude in tiefen Jammer zu stürzen.

162 Nach und nach hatte er sich mit dem Scheuerlappen begnügt.

Wäre er etwa eine starke Natur gewesen, er hätte das bischen Prügel nicht gescheut. Sein Herr wäre es müde geworden, ihn wieder und wieder herunterzujagen, und der Hund hätte sich den Platz auf dem Kanapee ertrotzt. Aber er besaß keine nennenswerte Willenskraft; seine Sanftheit hinderte ihn, sich aufzulehnen, seine Friedensliebe lockte ihn, sich zu unterwerfen; sein Rückgrat war außerdem gegen Tritte oder Peitschenhiebe zu sehr empfindlich. Es tat ihm schon weh, wenn er die Hand des Herrn nur über sich ahnte; ja selbst, wenn er irgendwann dieser Hand sich erinnerte, empfand er die Prügel schon in den Knochen; und er konnte Schmerzen nicht ertragen.

So hatte er es in seinem Leben nur bis zum Scheuerlappen und bis zu jenem Platz in der Ecke gebracht; aber er war zuletzt ganz zufrieden damit. In dem Scheuerlappen hing immer noch ein vertraulicher Geruch nach Spülwasser, nach Fett und allerlei Bratensaft, wodurch angenehme Träume lebhaft gefördert wurden.

Er lag also jetzt in seiner Ecke und schlief.

163 Es war durchaus und in allen Stücken ein gewöhnlicher Hund, wie es deren viele gibt. Er war nicht schöner als die anderen und nicht häßlicher, nicht gescheiter und nicht dümmer. Und es war jetzt so weit mit ihm gekommen, daß er schon anfing zu altern. Er hatte nicht mehr die volle Fröhlichkeit seiner Jugend, sondern es kamen jetzt Tage, an denen er verstimmt und reizbar wurde. Kleinigkeiten griffen ihn jetzt an, die früher spurlos an ihm vorbeigestrichen waren. Ein Fußtritt, ein Hieb konnten ihn jetzt stundenlang schwermütig machen; selbst ein gelinder Klaps brachte ihn dauernd aus der Fassung, weil er jetzt immer gleich erschrak, und weil der Schreck ihm Uebelkeiten verursachte. Es kam auch vor, daß er sich gelegentlich sehr müde fühlte, die Glieder taten ihm weh; sein Kreuz und seine Beine versteiften sich plötzlich; sein Atem flog nicht mehr so leicht wie sonst. Wenn er durch die Straßen lief oder sich im Zimmer umhertummelte, dann schlug ihm das Herz oft bis in die Augen hinein und das erfüllte ihn mit einer furchtsamen Traurigkeit.

In solchen Stunden kam er zu seinem Herrn geschlichen, setzte sich ganz nahe heran, 164 war demütig, zeigte sich auffallend brav und bettelte um ein Zeichen der Gunst. Es war nämlich in ihm, als ob sein Herr es sei, der diese Schmerzen und Beklemmungen über ihn verhängt habe, und als könne sein Herr diese Trübseligkeit auch wieder von ihm hinwegnehmen.

Während er jetzt in der Ecke lag, tönte ein Pfiff und drang in seinen Schlummer, so glatt und scharf, wie etwa ein Messer in Butter eindringt. Sein Traum war entzwei geschnitten.

Augenblicklich sprang der Hund auf und wedelte um ein paar schwarze Schuhe herum, die sich gegen die Türe zu bewegten. Er verehrte diese Schuhe, die an den Füßen des Herrn steckten, aber er verehrte sie auch dann, wenn sie des abends oder sonst einmal leer im Vorzimmer standen. Dann beroch er sie im Vorbeigehen, und wedelte immer, sowie er sie erkannte.

Diesen Schuhen folgte er jetzt. Sie bewegten sich knarrend die Treppe hinunter, gingen langsam zum Haustor hinaus, auf die Straße. Der Hund bemerkte, daß er heute keinen guten Tag habe. Er fühlte sich matt, sein Kopf war umnebelt, und es hatte ihm 165 jedenfalls geschadet, daß er so jäh aus dem Schlaf gerissen werden war. Er war gestern wieder mit seinem Herrn ausgewesen und hatte wieder den ganzen Weg hin wie zurück dem Omnibus nachlaufen müssen, mit dem sein Herr fuhr. Derartige Mühsal ertrug er jetzt nicht mehr wie sonst. Es lag also noch von gestern her in ihm.

Wäre er nun ein willenstarker Hund gewesen, er hätte dieses stundenlange entsetzliche hinter einem Wagen Herstürzen und Springen niemals auf sich genommen. Er wäre eben gleich das erstemal umgekehrt, allein nach Hause gelaufen, hätte sich wohl auch auf eigenen Wegen nach eigener Lust vergnügt und wäre erst dem Futter zuliebe heimgekehrt. Sein Herr hätte gemerkt, daß dies kein Hund sei, den man hinter dem Omnibus einherlaufen läßt, keiner, der sich in solche Zumutungen fügt, und er hätte bald aufgehört, das von ihm zu verlangen. Er hätte sich entschieden, entweder dem Hund zuliebe zu Fuß zu gehen oder ihn gar nicht mitzunehmen, wenn er mit dem Omnibus fahren wollte.

Davon war aber keine Rede, sondern der Hund ergab sich auch hier ohne Zaudern in 166 den Willen des Herrn. Mehr noch: wenn ihm der Herr in den geheimnisvollen, rollenden Kasten entschwand, erschrak der Hund, weil er meinte, er werde derart bestraft. Er rannte dem Wagen nach und hatte dabei nur die eine Sehnsucht, der Herr möge ihm wieder gut sein, möge sich ihm wieder zeigen. Wenn dann der Herr endlich zu ihm niederstieg, feierte der Hund dieses Ereignis als eine Versöhnung und fühlte sich reich belohnt.

Jetzt trabte er auf der Straße hinter den schwarzen Schuhen drein. Ihm war dieses Gehen schon mühsam, und er flehte mit vielem Schweifwedeln die Schuhe an, flehte an ihnen empor, es möchte nicht wieder wie gestern geschehen. Aber es geschah wie gestern. Ein Omnibus fuhr vorbei, der Herr schwang sich hinauf und pfiff dem Hund, der das Entsetzliche ohnehin schon gewahrt hatte. Er nahm sich zusammen und lief dem Wagen nach, und in den ersten Minuten war seine Müdigkeit beinahe verschwunden. Warm, frisch und vergnügt fühlte er sich. Wenn einer ihn so laufen sah, und wenn es einer war, der nicht bloß die Gesichter der Menschen in den Straßen beobachtet, sondern gewohnt ist, auch in den Mienen der Pferde 167 und Hunde zu lesen, dann konnte er bemerken, daß der Hund jetzt mit einem stillen, freundlichen Ernst im Antlitz diesem Wagen folgte. Er glich etwa einem alten Unteroffizier, der hinter seiner Kompagnie einhermarschiert, staubig, durstig, aber mit einem Angesicht, das ganz erfüllt ist von der Notwendigkeit des Marschierens, ganz zugeschlossen und befriedigt in dem Bewußtsein einer ruhig und vertrauensvoll geübten Pflicht.

Der Hund sah andere Hunde auf der Straße umherspringen, spielen und in sorglose Genüsse vertieft. Er hörte sich angerufen, eingeladen, auch manchmal verhöhnt oder beschimpft. Ein junges Paar fegte vorbei, und beide, sie wie er, sahen ganz aufgelöst aus vor Erwartung des Glücks. Jetzt sprang ein weißes Pudelweibchen dem Hund zur Seite, war ungemein liebenswürdig und sagte ihm, daß er ihr gleich auf den ersten Blick gefiele. Er solle mit ihr kommen, es sei nicht klug von ihm, sich hier zu plagen, indem er dem Wagen nachrannte. Gleich hier in der Nähe sei ein großer Platz mit vielen Rasenflächen und grünen Bäumen. Der Hund senkte den Kopf, legte die Ohren zurück, lief weiter und gab ihr keine Antwort. Deshalb verließ sie 168 ihn. Es hätte ihm freilich gefallen, auf einer Wiese mit dieser hübschen Person zu spielen Sie war so zärtlich, und außerdem roch sie so vortrefflich. Aber nicht einmal die Möglichkeit, sich so was zu erlauben, fiel ihm ein. Was waren das überhaupt für Hunde, die da herumvagierten, nur an ihr Vergnügen dachten, nur genießen wollten und immer nur genießen! Sie würden schon sehen, wie weit sie damit kommen. Nur, daß es dann zu spät sein wird.

Bald mußte er diese Gedanken aufgeben, denn die Zunge hing ihm heraus, auch flog sein Atem heiß und schmerzend über den trockenen Gaumen. Ihm schien, als fahre der Wagen heute schneller als sonst, denn er konnte nur mit Mühe folgen.

Als sie in eine große Straße einbogen, tauchte der Omnibus in einen Tumult vieler anderer Wagen, die kreuz und quer fuhren. Jetzt mußte der Hund auch noch scharf aufpassen, daß er seinen Herrn nicht verlor, daß er selbst nicht unter irgendwelche Räder gerate, und daß kein Pferd ihn zertrat. Er konnte jetzt nicht mehr mit gesenktem Kopf laufen, was ihm viel bequemer war, sondern er mußte aufschauen, den Hals recken, mußte 169 das gelbe Blech des Omnibus mit den roten und schwarzen Zeichen darauf im Auge behalten, und das machte ihn nur noch schneller müde.

Es ging weiter und weiter, und da die Straße sehr breit war, hatte sie in ihrer Mitte keinen Schatten. Die Sonne brannte auf dem Pflaster. Der Hund fühlte, wie die Glut von oben her in seinen Rücken, in seine Stirn und in seine Lunge drang, und wie sie vom Boden her an seinen Pfoten emporstieg. Ein jäher Schwindel begann sich in ihm zu drehen, und seine Augen wurden davon umschleiert. Er mußte stehen bleiben, und kaum hatte sich diese wirbelnde Bangigkeit halb verzogen, da schmetterten dicht hinter ihm Pferdefüße auf die Steine, daß er den Luftzug pfeifend über sein Kreuz streichen fühlte. Wehleidig, als sei er schon getroffen, knickte er einen Moment lang in die Hinterbeine, tat dann entsetzt einen fassungslosen Sprung und rettete sich mit knapper Not auf das Trottoir.

Dort wurde er so schwach vor nachträglichem Erschrecken, daß er sich niedersetzen mußte. Nun schaute er gequält, mit aufgerissenen Augen die Straße hinunter, wie der 170 Wagen, der seinen Herrn barg, immer weiter und weiter sich entfernte. Die Furcht riß ihn wieder auf. Er sprang dem gelben Blech nach, das in der Sonne blendete. Er lief rascher, als er diesen Tag gelaufen war, dabei fühlte er aber den Boden nicht mehr, denn seine Füße waren wie aus Holz geworden.

Immer weiter rollte der Wagen, immer verwirrender wurde das Getümmel auf der Straße, und jetzt öffnete sie sich zu einem großen Platz, von dem aus viele andere Straßen nach allen Richtungen ins Weite strebten. Der Wagen war schon auf diesem Platz, aber der Hund hatte ihn noch nicht erreicht. Er sah nur, wie das gelbe Blech in diesem Gewirre zu verschwinden drohte, und wollte seine Eile verdoppeln. Da brach aber ein neues Unglück über ihn herein, denn er wurde mit einem Male von Leibschmerzen befallen, die ihn zusammenkrümmten und gänzlich entkräfteten. Es war unmöglich, ihnen zu widerstehen. So lief er denn, all den Pferden zu entwischen, abseits, fand einen geborgenen Platz und ergab sich seinem Drang genau in der Sekunde, in der er von ihm vollständig überwältigt wurde. Mit 171 schuldbewußter Miene, mit reueerfüllten Augen hockte er da, unruhig, hastend und trieb mit dem Krampf seiner Seelenangst den Krampf seines Leibes zur Eile. Endlich zog dieser Schmerz an ihm vorüber, ja er fühlte sich sogar besser als vorher; auch war er ein wenig ausgeruht. Nun stürzte er sich mit leidenschaftlichem Eifer in die Brandung dieses Platzes. Aber da kreuzten viele solche gelbe Wagen, sie verwirrten ihn, er war erschrocken, wandte sich nach allen Seiten, doch überall rollten diese gelben Wagen, kamen ihm entgegen, verschwanden unter anderem Fuhrwerk, entfernten sich und glichen einander zum Verwechseln. In jeder Straße, in die er von diesem Platz aus hineinschauen konnte, fuhren solche Wagen davon und zeigten verlockend, täuschend, peinigend dieses gelbe Blech mit den roten und schwarzen Zeichen darauf.

Er drehte sich gefoltert drei-, viermal um sich selbst und jammerte leise auf. Dann rannte er plötzlich in die nächste Straße hinein, der sein Blick eben zugewendet war, als er sich nicht mehr drehen konnte.

Und in der Ferne zog ein Wagen gleichmütig dahin.

172 Der Hund spürte, daß er ihn nicht einholen werde. Er lief aus allen Kräften, aber der Zwischenraum blieb derselbe. So war er schon froh, daß er das gelbe Blech wenigstens im Auge behielt.

Manchmal hielt der Wagen an, und dann zuckte in dem Hund die Hoffnung, jetzt komme der Herr und das Elend sei zu Ende. Aber die Leute, die ausstiegen, gingen einfach weg, ohne zu pfeifen oder zu rufen; sie waren fremd.

Und der Wagen fuhr weiter. Der Hund merkte, daß er überhaupt nicht mehr laufen konnte. Er galoppierte ein paar Sprünge, blieb stehen, wedelte schwach, sprang wieder, während ihm war, als ob seine Beine in den Gelenken brechen wollten.

Die Straße wurde stiller und stiller, die Häuser wurden niedriger und niedriger. Lang hingestreckte Gartenmauern kamen, zuletzt nur noch auf der einen Seite kleine, ebenerdige Hütten, auf der anderen Seite der Straße dehnte sich freies Feld, Schuttäcker waren da und Bauplätze.

Dem Hund pochten die Schläfen und ihm war manchmal, als käme ihm das Blut aus den Augen geschossen. Dabei zerrissen ihm 173 wütende Stiche die Brust, so oft er die Luft einzog. Jetzt war sein Gehen nur mehr ein Vorwärtstaumeln. Da sah er, wie der Wagen stehen blieb. Der Wagen fuhr nicht mehr, er stand und ließ sich einholen. Mit jedem Schritt kam der Hund ihm näher.

Nun wollte er sich hier gleich in den Staub legen, wollte hier den Herrn erwarten, denn er konnte nicht weiter. Aber der Herr kam nicht. Der Hund verstand es so, daß der Herr von ihm forderte, er solle bis zum Wagen kommen. Wedelnd schlich er heran, mit einbrechenden Beinen, den Bauch nah am Boden.

Da war der Wagen erreicht. Der Hund hob die trockene Nase und schnupperte, aber lauter fremde Gerüche flogen ihm vom Trittbrett her entgegen. Der Wagen war leer.

Er setzte sich gequält, gab einen Laut der Ungeduld von sich, als bäte er, es nun genug sein zu lassen.

Plötzlich sprang er auf, wandte sich ab, rannte in wankenden, kurzen und harten Sprüngen quer über die Straße in das Feld. Er stand im Gras still und zitterte. Hier war Sonne und Verlassenheit und Pfadlosigkeit. Ein kleiner Misthaufen lag grau im 174 grünen Rasen. Dem Hund wehte irgendeine Erinnerung an seinen Scheuerlappen durch den Sinn, er kroch zu dem Misthaufen, und wie ihn die Gerüche alter Knochenreste, faulenden Staubes umfingen, wurde ihm übel, und er ließ sich schwer auf den Schutt fallen. Geduldig lag er da. Er sah mit einem Mal die Hunde, die in unbekümmertem Genießen durch die Straßen zogen, er sah sich selbst und das weiße Pudelweibchen auf einer Wiese spielen. Dann sah er den Herrn, sah einen der schwarzen Schuhe über sich und fühlte den jähen Schmerz, als ob ihn der Absatz in die Flanken treffe. Ein Schauer hob ihn noch einmal. Dann streckte er alle Viere von sich und wurde langsam kalt.

 


 


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