Felix Salten
Die Geliebte Friedrichs des Schönen
Felix Salten

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Feiertag

(1898)

1.

Er kommt aus den engen Straßen der inneren Stadt heraus und geht über den weiten Platz, an der Kirche vorbei. Schön und feierlich steht sie da und hebt ihre beiden Türme wie zwei Schwurfinger zum Himmel. Der Himmel aber schimmert im Glanze der Abendsonne; er ist hellblau, und die vielen Wolken fangen an ihren Rändern die Sonnenstrahlen auf und funkeln wie feuerrotes Gold. Rings um die Kirche sind zahllose Menschen versammelt. Sie strömen von überall herzu, sitzen in den Tramwaywagen, halten dicht gedrängt die Omnibusse besetzt, wimmeln auf dem Trottoir, auf dem Fahrtweg der Kirche zu und umgeben sie dort, zu einer dunklen Masse bereinigt, wie eine niedere Hecke.

84 Er geht über den weiten Platz, vorbei an dieser lebendigen Umfriedung, und hört das Glockenläuten, das von den Türmen herabkommt. Die milde Luft ist ganz erfüllt vom Schall der Glocken. Die Häuser mit den blendenden Sonnenreflexen in allen Fenstern, die Wolken am Himmel oben und drunten die Menschen verharren ruhig, wie in gemeinsamer Aufmerksamkeit. Ueber den Köpfen der Menge sieht er rote und blaue und weiße Fahnen flattern, die sich vorwärts bewegen. Langsam wandeln sie dort durch die Masse mit goldblitzenden Kreuzen, mit goldenen Stickereien auf schwerer roter und blauer und weißer Seide. Quasten an prächtigen Schnüren baumeln hernieder von ihnen, bunte Bilder füllen mit vielen Farben ihren Grund, sie schwanken und senken sich und erheben sich wieder, manchmal steigt eine mit einem Ruck hoch aus den anderen empor und läßt die schweren Falten sich bauschen. Paukenwirbel donnern ganz leise und der dünne Blechklang von Posaunenstößen dringt herüber, im ungeheuren Geläute machtlos verblasen. Alles scheint in Stillstand versunken, die Wolken am Himmel mit den glühenden Rändern, die Menschen dort, nur 85 der Glockenklang ist in Bewegung und die Fahnen, die ihren Zug um die Kirche herum vollenden.

Er geht vorbei, die Straße entlang, die nach Hause führt, blickt noch einmal zur Prozession hinüber und nimmt die Glockentöne mit, die ihm folgen. Er atmet die sanfte Luft ein, deren Wärme beschwichtigt, deren Duft das Blut erregt, und er hat das Gefühl, inmitten großer Vorbereitungen dahinzuschreiten. Ein sachtes Erwarten regt sich in ihm, geht neben seiner Vernunft einher, läßt sich nicht abweisen und gibt ihm Wachsamkeit nach innen und außen.

Dann kommt er mit langsamen Schritten bis zu der Gasse, in der er wohnt. An der Ecke ist ein Wirtshaus für geringe Leute. Vier kleine Fenster, mit weißen Buchstaben bemalt, eine niedere Glastür über einigen Stufen, rote Vorhänge und weiße Buchstaben: »Wein – Bier.« An der untersten Stufe steht der Kellner. Die eine Hand klimpert rückwärts im ledernen Geldsack mit kleiner Münze, die andere hält eine Zigarette. Der Kellner hat ein bleiches Gesicht, so fahl wie seine Serviette, er ist dumm frisiert, und wie er den Kopf neigt, um zum Himmel 86 hinauf zu blicken, sieht man den Abteil, der ihm wie ein weißes Schnürchen quer über den Kopf bis tief ins Genick läuft.

An ihm vorbei geht er und schaut, ohne zu wissen, warum, auch zum Himmel empor, wo es grau zu dämmern beginnt. Dann hört er hinter sich, wie die Türe zum Gasthaus zugeschlagen wird. Dann hört er Doppelschritte rasch ihm nachkommen. Er dreht sich um und läßt die beiden vor. Es ist Marie, die im selben Hause wohnt wie er, und ihr kleiner Bruder. Sie hält einen Krug Bier und der Bub Speisen in zwei Tellern, die übereinandergestürzt sind. Sie ist schlank und fein. Er sieht, wie ihre siebzehnjährigen Formen sich unter der hellblauen Satinbluse regen. Ihre blonden Haare trägt sie wie eine Krone, und da sie an ihm vorbeigeht, senkt sie die Augen tief zu Boden. Er betrachtet ihre weiße knappe Stirne, ihren innigen Mund. Der kleine Bruder hat ein fröhliches Gesicht und blonde Haare, die munter emporstehen. Er ist baarhaupt und trägt die Eßschüssel wie ein Page. Eben sagt er: »Nein, ich geh' mit'n Vater, er hat's g'sagt.« Und Marie antwortet: »Von mir aus.« Wie er ihnen dann folgt, ist er voll Aufmerksamkeit 87 für ihren Gang. So viel Leichtigkeit ist in ihren Schritten und so viel musikalische Anmut in den Bewegungen ihres Rückens, ihrer zarten Hüften, und oben, wie der Kopf sich leise wiegt; alles zusammen ein gleichmäßiger Rhythmus: Mizzi–Mizzi. Ihr weicher Name schmiegt sich im Takt dazu. Der kleine Bruder sieht sich einmal um mit einem raschen, unmerklichen Lächeln, dann schaut er von unten herauf die Schwester an.

Auf der anderen Seite der Straße, seinem Hause gegenüber, ist der Laden des Kohlenhändlers. Ein niederes Türchen führt in das schwarze Kellergewölbe. Draußen auf der Straße steht ein Handwagerl. Dort hinauf ist der müde Hund gesprungen, der es ziehen muß, und liegt in sich verkauert da. Die Frau des Kohlenhändlers hält ein kleines Kind am Arm, das mit beiden Händchen zum Hund herabstrebt. Die Frau merkt es nicht. Sie steht auf dem Fahrtweg und plaudert mit einem Weib. Der Kohlenhändler lehnt mit seiner blauen Schürze in der Türe. Sein Gesicht ist voll Ruß, sein dunkler Bart zerzaust. Sein rechtes Auge ist erloschen, das linke klein und verkniffen. Zu seinen Füßen, abgekehrt von der Straße, auf den Stufen 88 sitzt seine Tochter und strickt. Man sieht nur das kleine dünne Köpfchen mit dem roten Band.

Er erwidert den Gruß des Kohlenhändlers und hört dann, wie vor ihm Marie »Gu'n Abend!« sagt. Sie sagt es zu einem hübschen jungen Herrn, der in der Mitte der Straße steht und zum ersten Stock hinauf redet. Aus dem Fenster schaut eine junge hübsche Frau herunter. Sie ist schwarz und üppig, sie hat dunkle, lachende Augen, einen roten Mund und viele kleine Löckchen um die Stirne. Sie lächelt ihrem Manne zu und grüßt Marie. Der Mann hat einen stark aufgedrehten roten Schnurrbart. Er ist kurzhalsig und hat leuchtend gesunde Wangen. Er trägt einen gelben kurzen Ueberzieher. Wie er durch ihr Gespräch durchschreitet, hört er sie von oben sagen: » . . . und bring' auch Butter mit, ja?« und während er ins Haustor tritt, vernimmt er, wie der Mann feierlich entgegnet: »Gewiß, Melanie!«

Im Flur steht ein junger Fleischhauergeselle mit weißer Jacke und Lodenhut. Er hat große, blaue Augen, ein gutmütiges Lächeln unter dem kleinen, blonden Schnurrbart. Jetzt wartet er auf ein Dienstmädchen, 89 raucht seine Virginia und blickt aufmerksam die Treppe hinauf. Droben im ersten Stock geht Marie. Er geht ihr nach, bis er bei seiner Tür ist, im zweiten Stock. Während er den Schlüssel sucht, horcht er, wie sie höher steigt, und hört ihren kleinen Bruder lachen. Sehr rasch kommt eben die Lehrerin nach Hause, die auf demselben Gang ihm gegenüber wohnt. Nur flüchtig sieht er sie an sich vorüberhuschen, sieht schmale, fest aufeinandergepreßte Lippen und fühlt sich von zwei heißen, fragenden Augen gestreift. Er lauscht noch einen Augenblick nach oben und tritt dann in seine Wohnung.

 
2.

Vor dem Einschlafen fallen ihm plötzlich die heißen, fragenden Augen ein, er fühlt sich berührt von ihnen, wie von einer heftigen Sehnsucht, die an ihm herumtastet. Bedauern regt sich in ihm und steigert sich bis zur Reue, als hätte er ein inständiges Bitten abgewiesen. Er legt sich in den Kissen zurecht, streckt die Glieder und spürt in allen 90 Gelenken die schmerzende Müdigkeit junger Frühlingstage. Dabei denkt er an den Hund, den er unten auf dem Handwagen gesehen. Er erinnert sich seiner erschöpften, kummervollen Augen, und aus der halb schon beruhigten Reue stürmt ein ungeheures Mitleid in ihm herauf, das ihn beinahe zum Weinen bringt. Das Glockengeläute, das vorhin seine Ohren erfüllte, wacht wieder auf und umgibt ihn mit tiefem Brausen. Dies ist die Nacht, denkt er, in welcher Faust jenen Selbstmordversuch machte . . . und er verfällt in ein riesiges Staunen über den Ausdruck »Selbstmordversuch«. Das Wort erscheint ihm völlig neu und, besonders im Zusammenhang mit Faust, unbegreiflich. Dann schließt er die Augen und sieht Mariens Antlitz mit der Krone aus goldenem Haar, und sieht rote, blaue und weiße Fahnen mit goldenen Kreuzen, und sieht Mariens kleinen Bruder, der den Teller wie ein Page trägt, und auf dem Teller steht ganz winzig klein der junge, hübsche Herr mit dem gelben Ueberzieher, er ist kurzhalsig, hat gesunde rote Wangen und sagt feierlich: »Gewiß, Melanie . . .« 91

 
3.

Der Morgen ist strahlend schön. Dunkelblau und hochgewölbt glänzt der Himmel über allen Dächern. Die Luft ist noch ganz unverbraucht, durchsichtig und erfüllt von einem zarten Duft, wie von einem Hauch der Freude.

Er steht frohgelaunt am Fenster und fühlt sich ganz ermuntert von der heiteren Pracht des Morgens. Er sieht das Sonnenlicht in hellen Fäden auf der Straße und auf den Häusern liegen. Ihm ist, als sei die goldene Krone auf dem Haupte der Marie daran Schuld, als sei ihr Haar, aufgelöst, über diesen Morgen hingebreitet.

Der junge Tag ist blond, wie die junge Marie, sagt er zu sich.

Drüben der Kohlenhändler schließt den Laden. Seine Frau steht sonntäglich angezogen auf der Straße. Sie hat einen kleinen Hut mit einer roten spitzen Feder, der sitzt auf ihrem großen alten Kopf, als habe das bischen Humor, das in dieser trübseligen Gestalt noch irgendwo verborgen lag, sich aufgemacht und sei da hinaufgestiegen. Die Frau zieht 92 ein bestürztes Gesicht, hält den Hals unbeweglich wie in Angst, alle Leute könnten ihr das bischen heimliche Wünschen anmerken, nun sie es, sichtbar geworden, auf ihrem Scheitel sitzen hat. Sie hält das geputzte Kind auf dem Arm. Das andere kleine Mädchen hat sein Strickzeug wieder. Sein dünnes Haar ist fest an den Kopf geklebt. Das kurze Zöpfchen noch strammer geflochten. Es trägt den Sonnenschirm seiner Mutter wie ein kostbares Gut, das man sich lange gewünscht und nun endlich in seine Gewalt bekommen hat. Der Kohlenhändler ist gewaschen, sein Bart gekämmt, und er hat einen Zylinder auf. Während er den Laden schließt, fährt der Hund wie toll vor Freude umher. Die ganze Familie ruft ihn an. Man befiehlt ihm, ins Gewölbe zurückzulaufen – umsonst. Er wedelt und bellt und springt an allen empor. Endlich tut das kleine Mädchen, als ob es selbst hinabsteigen wollte. Wie der Blitz schießt der Hund ihm nach und voran. Das Mädchen springt rasch wieder auf die Straße, der Kohlenhändler klappt eilig den Laden zu, und man hört nur, wie das getäuschte Tier aufheult. Dann gehen alle fort. Das kleine Mädchen sieht zum Fenster empor, mit koketten, wissenden 93 Augen. Ganz unwillkürlich erwidert er den Blick, wie man den eines Weibes erwidert. Das kleine Mädchen lächelt.

Er hört den Hund kläglich winseln und tritt vom Fenster weg. Eifrig kleidet er sich an und geht die Treppe hinunter. Auf dem Korridor begegnet er die Lehrerin. Sie fliegt wieder an ihm vorbei. Er forscht in ihren Augen; ein heiterer, harmloser Blick sieht über ihn hinweg. Das verblühende Gesicht scheint erfrischt und ihre schlanke Gestalt jugendlich-biegsam. Unten beim Tor hält ein Wagen. Er vermutet, daß ihn das junge Ehepaar aus dem ersten Stock gemietet habe. Der hübsche Fleischhauer ist in ein Gespräch mit dem Kutscher vertieft. Er trägt heute einen dunklen Anzug und einen schwarzen steifen Hut mit einem Rekrutenbukett. Sein Nacken glänzt breit und rosig frisch. Er wiegt den Kopf, daß die farbigen Papierblumen auf dem Hute rascheln und die Silberfäden zittern. Mit kraftvollen Bewegungen klopft und streichelt er die Pferde.

Dann kommt das junge Ehepaar herab und steigt in den Wagen. Die üppige Frau hat ein paar Maiglöckchen ganz vorne am Busen. Sie schaut mit ihren lächelnden 94 Augen zufrieden umher, setzt sich im Wagen zurecht, und der junge Mann nimmt mit einem wichtigen Ausdruck in dem gesunden Antlitz neben ihr Platz. Gleich darauf fahren sie davon. Er will Marie sehen, und wartet. Ihr Bruder läuft zum Tor hinaus, eine Botanisierbüchse umgehängt. Der Fleischhauer spricht jetzt mit einem kleinen Dienstmädchen. Sie ist nicht mehr jung und ganz mager, aber er steht dicht vor ihr, leicht vorgebeugt und lacht sie mit seinen gutmütigen blauen Augen an, während er verlegen und erregt flüstert. Sie steht ruhig da und blinzelt prüfend zu ihm auf. Dann geben sie sich flüchtig die Hand, und das Dienstmädchen raschelt mit ihren neugebügelten Röcken die Treppe hinan.

Er wartet und wartet, bis ein helles, freudiges Glockenläuten sich von allen Türmen in die Straßen herabschwingt. Dann geht er fort, die sauberen weißen Straßen entlang, schreitet unter den vielen Spaziergang gern dahin. 95

 
4.

In der großen Kirche steht er ganz rückwärts an der Türe. Das helle Sonnenlicht flutet zu allen Fenstern herein, daß die gemalten Scheiben in tausend reichen Farben glühen. Wie blasse Funken schimmern die vielen brennenden Kerzen auf dem Altar, aus grünem Blattwerk, aus goldenem Zierrat. Er sieht tonsurierte Priesterköpfe sich neigen und bewegen. Feine leichte Rauchwolken steigen auf und fliegen hoch empor, bis in die Sonnenstrahlen hinein, die auf den Pfeilern liegen. Ein leises Hallen geht durch die Kirche von vielen vorsichtigen Schritten, von unterdrücktem Husten, und das Murmeln der Gebete läuft an der gewölbten fernen Decke hin. Er hält die Augen zur Erde gesenkt und schaut das Gefüge der bunten Steinfließen an. Da verdeckt ihm ein blaues Kleid die Zeichnung des Bodens. Er blickt auf und erkennt Marie, die still an ihm vorüber zur Tür hinaus geht. Die goldene Krone ist in einem hellen Blumenhut verborgen. Aber an beiden Seiten über die Ohren quillt das blonde Haar. Ihre Lippen sind nachdenklich halb geöffnet. Die Zähne 96 schimmern feucht hervor, und ihre braunen Augen bleiben einen Augenblick an ihm haften, Dann ist sie verschwunden. Er möchte fort und ihr nach. ». . . mein schönes Fräulein, darf ich es wagen!« fällt ihm flüchtig ein und die Frage, ob sie wirklich Marie heiße. Da setzt die Orgel ein. Ihr dröhnender Gesang erfüllt die ganze Kirche. Er bleibt stehen, atmet diese Musik ein, die alle Wünsche bändigt. Eine Erregung wie von leidenschaftlichen guten Vorsätzen überfällt ihn. Er senkt das Haupt bei diesen Klängen, die auf ihn niederströmen und in seinem Ohre vibrieren, als bebten sie vor ihrer eigenen Kraft.

 
5.

Durch stille Gassen geht er am Nachmittag in den Prater. An alten Palästen vorbei, auf deren Portalfiguren die Tauben sitzen und girren, an Gärten und Häusern voll Ruhe und Sonntagsfrieden. Unten beim Augarten kommt er durch eine leere Straße. Ganz abseits und wie verarmt liegt sie mit trübseligen Fronten da. Er schreitet mitten 97 über die Fahrbahn in der Sonne. Irgendwo in der Ferne spielt ein Werkel und der leiernde Walzertakt dringt störend in sein Denken, mischt sich mit zudringlicher Melodie in seine Vorstellungen. Marie fällt ihm ein mit ihren zarten Schultern und den sanft gerundeten Hüften. Er sieht ihr junges Gesicht leicht zurückgeneigt und gerötet, und er nimmt sie mit sich in den Walzer hinein. Vor seinen Blicken schwebt der lichte Blumenhut und das blaue Kleid und der halbgeöffnete Mund. Dann ist ihm, als käme der Walzer aus dem Schwung ihrer Lippen hervor. Er erkennt ihn; eine wehmütig-süße Weise von Lanner. Er schließt die Lider so weit, daß er nur den weißen Bodenstreifen dicht vor seinen Füßen sieht. Die arme Straße verschwindet, und er gibt sich einer glücklichen Sehnsucht hin nach diesem jungen Mund mit den schimmernden Zähnen und den sanften braunen Augen, die darüber wachen. Ein Verlangen, das er ganz in seiner Gewalt hat und dem er sich anvertraut, weil die stillen Schmerzen, die er dabei empfindet, ihm angenehm sind. Ein röchelnder Husten schreckt ihn auf. Aus einem Fenster sieht ein dicker Mann in Hemdärmeln heraus und 98 raucht. Er hat ein dunkelrotes, schwammiges Gesicht und blickt mit stumpfen Augen auf das ereignislose Pflaster herab.

Er beschleunigt seinen Schritt. Ihm ist der Mann widerwärtig, der als Zuschauer von Nichts im Fenster liegt, und die Straße entmutigt ihn mit ihrer trostlosen Armut und der Walzer, der ihn verfolgt, macht den Tag so leer und klingt wie mißglückte Freude.

 
6.

Bei den Praterviadukten steht er wie vor drei großen Türen, unentschlossen, welchen Weg ins Freie er nehmen solle. Er blickt die große Allee hinunter, wo die Wagen in dichten Reihen auf- und niederfahren, und eine glänzende Staubwolke träg über dem Gewühl lastet. Dann sieht er eine Hannakin an, die mit Soldaten im Gedränge dahergeht. Wie in einem großen Erlebnis schreitet sie mit ihrer gesunden Fröhlichkeit einher. Jegliches Denken ist ausgelöscht auf diesem Gesicht, nur der Wille zur Freude lacht darauf, offenherzig und entschlossen. Sie zieht die 99 Soldaten wie einen Dienerschwarm hinter sich nach. Und er folgt ihnen. Da findet er sich in einem Getümmel von Geräuschen. Schmetternd stürmen über die Köpfe der Menge Melodien gegeneinander, zerstoßen sich und lösen sich auf; abgerissene, kreischende Worte irren in einsamer Großartigkeit umher, schlagen ohne Zusammenhang mit anderen an sein Ohr. Die Luft ist erfüllt von dem Geruche vieler Menschen, von dem Duft nach aufgewühlter Erde und nassen Steinen, von Speisendampf und Bierdunst. Er fühlt die körperliche Nähe all' der Menschen ringsum, und all' derer, die er nicht sieht, die überall hier versammelt sind und sich vergnügen, und wie tags vorher beim Klange der Glocken meint er jetzt inmitten großer Vorbereitungen dahinzuschreiten. Ein dringendes Erwarten regt sich wieder in ihm, macht ihn bereitwillig und treibt ihn an, beständig etwas zu suchen. Er weiß nicht, was. Einmal ist ihm, als sähe er den lichten Blumenhut. Er sieht Mariens Gestalt, geschmiegt an einen hochgewachsenen, jungen Offizier, der, seinen Arm in den ihren geschoben, sie mit sich fortzieht. Er drängt nach, und da ist sie verschwunden. Später steht er 100 vor dem Ringelspiel draußen unter den Gaffern, hört dem gellenden Orchestrion zu, und dann erblickt er auf einem weißen Schaukelpferd das blaue Kleid vorüberkreisen. Es kommt wieder und wieder, er glaubt, Mariens Gesicht zu erkennen, hochgerötet und wie bewußtlos. Oft jagt sie an ihn vorbei. Das Mädchen hat seine Arme um den Hals des Pferdes geschlungen, hält ihn zärtlich umklammert und gibt sich inbrünstig dem schwindelnden Drehen und der befeuernden Musik hin. Endlich hält das Spiel still. Als er sich aber durchgedrängt hat, da sind die Wagen leer und die Pferde stehen mit entseelten Glasaugen verlassen da. Eine ängstliche Besorgnis um Marie faßt ihn, als sei sie ihm anvertraut gewesen und er habe ihrer nicht Acht gehabt. Mit Eile wendet er sich den Viadukten zu.

 
7.

Aus der inneren Stadt heraus kommt er wieder auf den weiten Platz, auf dem die Kirche steht. Ganz menschenleer und ruhig 101 ist es hier. In der Parkanlage sind die Knospen auf allen Sträuchern und Bäumen aufgegangen, zeigen ihre zartgrünen Spitzen, als benützen sie den stillen Tag, um ihre blühende Arbeit zu verrichten. Er setzt sich auf eine Bank und denkt an Marie und verfällt in Träume und spinnt Erlebnisse aus. Draußen auf dem Lande ist er mit ihr in einem Garten, der voll lichter Blüten prangt, und er küßt sie, rückwärts auf den Nacken, dicht unter den ersten goldenen Haaren, die sich locken. Und dann führt er sein Denken in lange umständliche Begebenheiten, wo sie ihn betrügt und er ihr Vorwürfe macht. Ein kompliziertes Verfahren erfindet er, wie er ihr hinter alle Schliche kommt, und dann mit den unwidersprechlichen Beweisen vor sie hintritt und ihr sagt: »Marie, du hast mich betrogen!« Ganz laut sagt er das. Dann aber stürzt er sich gleich in ein anderes Ereignis. Beide sind verzweifelt, weil sich die Folgen ihrer Liebe nicht mehr verhehlen lassen. Sie weint an seiner Schulter, und er fühlt, wie ihr Leib vor Angst und Schmerz zittert. Er fährt ihr über das Haar mit der Goldkrone und tröstet sie in ihrem Jammer, und der Augenblick von heute morgen in der Kirche 102 fällt ihm ein: ». . . mein schönes Fräulein, eine glückliche Erinnerung, die weit, weit zu[rückliegt, . . .] darf ich es wagen? . . .« und das ist ihm jetzt wie eine glückliche Erinnerung, die weit, weit zurückliegt.

 
8.

Wie er in seine Straße einbiegen will, hört er ein furchtbares Geschrei aus dem kleinen Wirtshause. Brüllende Männerstimmen, Frauenkreischen, das Klirren gebrochener Scheiben. Die Tür wird aufgerissen, ein Knäuel kämpfender Menschen stürzt heraus. Er erkennt den Kellner, der mit zerrissenem Kragen und zerrauftem Haar um sich schlägt. Näher kommend, sieht er den Fleischhauer, dunkelrot im Gesicht, wie einen Riesen dreinschlagen. Sein schwarzer Hut fliegt in die Luft und fällt mitten auf die Straße. Das Dienstmädchen trippelt weinend und heulend um die Raufenden. Da plötzlich ein Aufschrei: »Jesus Maria!« Er sieht den Fleischhauer taumeln, mit den Händen in die Luft greifen. Ein Blutstrahl schießt ihm vorn aus 103 dem Hals. Er sieht das rote, junge Männerantlitz tödtlich erbleichen, sieht noch für einen Augenblick die hübschen blauen Augen angstvoll zum Himmel aufgeschlagen, dann stürzt der Bursche zusammen. Die anderen beugen sich über ihn; einer läuft wie rasend davon; ein anderer ruft: »Halt's ihn auf!«

Er wendet sich und geht wieder die Straßen zurück, die er gekommen. Die Laternen sind jetzt angezündet. Singende Menschen gehen gruppenweise und einzeln umher. Am Himmel lagern trübe Wolken, hängen schwer herab, wie abgerissene Draperien, wie verwüstete Dekorationen nach einem Feste.

 
9.

Es ist spät, und er steht beim Haustor und wartet auf Marie. Er möchte sie noch sehen. Sie ist vielleicht schon zu Hause, aber er wartet. Ihr kleiner Bruder kommt eilig daher und verabschiedet sich von einem Kameraden, der weiter lauft. Wie er an ihm [vorübergeht, sieht er aus der Jackentasche] 104 Frühlingsblumen herausragen. Zusammengestopft hängen sie büschelweise beisammen, welk und erschöpft, mit erloschenen Farben. Der kleine Bruder macht ein scheues Gesicht und hastet die Treppen hinauf. An seinen Hut ist ein weißer Schmetterling gespießt. Der zuckt noch matt mit den Flügeln und krümmt den schmalen Leib.

Dann fährt ein Wagen vor. Die junge Frau steigt aus und wartet. Ihr Mann mit den roten Wangen springt behende nach. Er nimmt sie zärtlich unterm Arm, sie lehnt sich an ihn, winkt ihm mit ihren lächelnden Augen zu, ihre vollen, roten Lippen beben und beide gehen ins Haus. Dann wird das Tor geschlossen.

Er geht ein paar Schritte auf und ab.

Drüben beim Kohlenhändler tönt Jammern und lautes Weiberkreischen. Man hört dumpfe Schläge aus dem Kellerladen, eine wütend brummende Männerstimme, Kinderweinen. Dann noch ein wüstes Poltern.

Er geht wieder zum Tor und will läuten.

Noch ein Wagen kommt, und Marie steigt aus. »Gute Nacht!« sagt eine tiefe Stimme aus dem Coupé und man sieht goldene Knöpfe im Finstern blinken. Marie steht 105 beim Haustor, sie winkt und winkt. Der Wagen fährt davon.

Er läutet rasch.

Marie steht da und blickt dem Wagen nach. Ihre Augen glänzen, ihre Wangen sind von tiefer Röte überflogen, der lichte Blumenhut ist zerknittert. Er steht dicht bei ihr und fühlt, wie ihr Leib zittert. Sie sieht ihn an und erkennt ihn nicht. Ihr ganzes Wesen ist aufgelöst und wie in Trunkenheit erhöht. Ganz fremd ist sie ihm, und es scheint, als sei sie nur zufällig aus einem anderen Leben hierhergeweht an das Tor, neben ihm, aus jenem Leben, das ringsum in den Straßen verklingt. Das Tor wird geöffnet. Er tritt beiseite und läßt sie allein die Treppen hinaufgehen. Dann läutet er, und eben, als aufgeschlossen wird, kommt die Lehrerin eilig heran und schlüpft hinter ihm ins Haus. Die Treppen hinanschreitend, fühlt er beim schwachen Schein des Zündhölzchens die fragenden Augen groß auf sich gerichtet. Droben auf dem Gang läßt er das Licht verlöschen. »Pardon!« sagt er, streckt die Hand aus, und begegnet einer heißen trockenen Hand. Er zieht sie an sich, hält die schlanke Gestalt im Arm und küßt wie sinnlos die 106 zusammengepreßten Lippen, die sich schweratmend öffnen. »Nicht!« flüsterte es leise. Sie entwindet sich ihm, und er steht allein im Finstern.

Mit klopfendem Herzen tastet er in seine Wohnung. Der Mondschein liegt silbern auf der Diele. Ermattet und mutlos fällt er in die Kissen.

Traumlos kommt der Schlaf und führt ihn zu neuen Tagen.

 


 


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