Felix Salten
Die Geliebte Friedrichs des Schönen
Felix Salten

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Ein Tag

(1896)

In Ischl, auf der Esplanade. Es ist Mittag und die Kurkapelle spielt. Viele Menschen gehen auf und nieder, sitzen auf den Bänken, stehen in Gruppen plaudernd beisammen. Zwei alte Herren sitzen an einem der kleinen Tische vor dem Café. Der eine von ihnen, Robert, noch ziemlich frisch, aufrechte Haltung, vielleicht ein wenig zu jugendlich gekleidet. Der andere, Ferdinand, hat ein gütiges Greisenantlitz, weiße Haare, viel Noblesse und eine leichte Traurigkeit in den Augen.

Robert (einem jungen Mädchen nachblickend, das eben vorübergeht): Donnerwetter, die ist hübsch!

Ferdinand (ihr gleichfalls nachsehend): Ja, ich kenne sie schon, die hat so viel Musik in ihren Bewegungen. Reizend ist sie! 146

Robert: Sie ist vom Theater hier? Nicht wahr?

Ferdinand: Ja, ich glaube.

(Kleine Pause. Sie blicken in das Gewühl, das an ihnen vorüberströmt.)

Robert: Ueberhaupt . . . was?

Ferdinand: Ja – es ist wundervoll! Diese schönen, schönen Menschenkinder, die man da beisammen sieht.

Robert: Weißt du nicht – hat sie ein Verhältnis?

Ferdinand (überhört das): Ich werde immer traurig, wenn ich so hier sitze, und das viele frische Leben ringsherum spüre . . .

Robert (lächelnd): Hast du noch nicht genug?

Ferdinand: Nein, (seufzend) nein! – Das ist ja das Entsetzliche, daß man nie genug hat, nie, daß man innerlich nicht müd' wird in dieser Welt . . .

Robert: Innerlich – das hilft freilich wenig. Bei der Kleinen da, schon gar nicht. Da darf man auch äußerlich nicht müde sein.

Ferdinand: Ach, ich denke gar nicht an die allein. Was ist sie mir? Auch nur eine Botschaft, daß es jetzt vorbei ist. 147

Robert: Aber doch auch eine Botschaft, daß es einmal war, nicht?

Ferdinand: Jawohl. Dieser ganze Sommermorgen, der mein altes Herz hier umgibt, ist eine Botschaft davon. Da, schau die Traun an, die da vorbeifließt, geradeso wie früher. Mir ist, als müßte ich aufstehen, an das Geländer treten und den Fluß hinunterschauen, ob ich nicht meine Jugend irgendwo noch auftauchen sehe, die er mit sich fortgetrieben.

Robert: Unsere Jugend, wo ist die schon?

Ferdinand: Und die Berge da mit den dunklen Wäldern, mit den grünen Wiesen, die weißen Wege – alle zusammen – so treulos stehen sie da in ihrer Schönheit – ich hab' sie nicht mehr – ich sehe die Gipfel, auf denen ich einst gestanden, ich blicke hinauf zu den Spitzen, die ich einst erklommen, und die mein Fuß nun nie wieder betreten wird – und ich nehme Abschied von ihnen, für immer.

Robert: Das wäre noch das geringste. Wenn ich sonst alles noch hätte . . .

Ferdinand: Mir ist das nicht das geringste. Mir ist alles ein Ganzes. Alles 148 fließt mir zusammen in eine einzige Erinnerung an den Besitz. Besessen hab' ich diese Natur einstmals, in den Höhen und in den Tiefen, die Berge und die Wälder, und den Sonnenschein, und den blauen, fröhlichen Himmel, und die Frauen und die Liebe, und Arbeit, und alles, alles, alles zusammen. –

Robert: Ja, du! Du hast genießen können!

Ferdinand: Darüber bin ich heute noch froh. Das Gefühl davon ist jetzt mein einziger Besitz.

Robert: Man sollte nicht alt werden – oder wenigstens vergessen können.

Ferdinand: Vielleicht wäre das gut. Aber ich, ich lasse mich hier immer fortreißen, ich tauche immer wieder unter in Vergangenheiten, und besonders hier . . .

Robert: Ja, hier! Hier geht's mir auch merkwürdig.

Ferdinand: Hier in Ischl ist man aus seiner Großvaterstube herausgerissen und förmlich ausgesetzt; vom Ofen weg wieder mitten in den Sommer, in die Jugend hinausgeschleudert. Im Winter spinnen wir uns doch ein. Das Spiel, die Kinder, ein bischen Theater – aber hier, in Ischl, da sitze ich, 149 und wie die Leute vorbeigehen, ist es mir, als ob mein Leben, meine Jugend, vor mir defilieren würden, als gingen alle glücklichen Stunden von einst festlich geputzt, mit lachenden Gesichtern, an mir vorüber und grüßten mich, und diese lächerliche Musik dort drüben spielt dazu auf, wie sie mir ehemals zu meinen frischen Tagen aufgespielt hat.

Robert: Ach ja, ehemals . . .

Ferdinand: Wenn ich daran denke, wie ich einst hierher gelaufen bin, von oben, von Reiterndorf herunter. Da bin ich zeitlich schon im Wald gewesen, hab' dort studiert oder gearbeitet. Dann kam ich vollgesogen von Gedanken, Plänen, Hoffnungen daher, jeder Schritt ein Einfall, jeder Blick ein Erlebnis, eine Bereicherung, und dieses herrliche körperliche Gefühl von Kraft, das einen durchdringt. Ach ja, – ich weiß es noch, ich weiß es noch, wie wenn es heute wäre. Wie ich in den Menschenschwarm eingedrungen bin, wie mir die Luft geschwängert schien von köstlichen Verheißungen. Da waren mir die Dinge nicht die Dinge an sich; hinter allen war etwas, etwas Geheimnisvolles, etwas Wunderbares, etwas, das für mich bestimmt schien . . . 150

Robert: Ueberhaupt – Ischl! Es ist ein merkwürdiger Boden. So recht ein Ort, um jung zu sein – –

Ferdinand: Das hab' ich erprobt. Ischl ist der Ort, wo ich am glücklichsten gewesen bin, und – allerdings nur einen Tag – am unglücklichsten.

Robert: Einen Tag unglücklich, sagst du?

Ferdinand: Ja – –

Robert: Bei mir ist's umgekehrt. Ich war nicht oft da, war also nicht in der Lage, das eine oder das andere zu sein, aber einen Tag lang war ich hier glücklich, sehr, sehr glücklich!

Ferdinand: Sei froh, daß der eine Tag glücklich war. Mir dämmern die vielen frohen Stunden ineinander – ich kann sie jetzt nur mehr schwer absondern, – wie auf einen lichten Schein blicke ich auf sie zurück; aber dieser eine Unglückstag, der hebt sich dunkel von ihnen ab, der steht noch immer deutlich vor mir . . .

Robert: Was war's denn? Weiß ich davon?

Ferdinand: Nein, du weißt nichts. Ich kannte dich damals noch gar nicht, und 151 nachher hab' ich dir nichts davon erzählt. Sonderbarerweise hab' ich mich immer gescheut, davon zu sprechen . . .

Robert: Was war's denn?

Ferdinand: Nichts. Eigentlich ein Nichts, oder sehr viel. Es war eine Empfindung – sie tut mir heute noch weh . . . Damals . . . es war die große Liebe – ich habe dir oft von ihr gesprochen –

Robert: Ja, – ich lernte dich ja das Jahr darauf kennen. Du warst noch tief im Abschiedsschmerz drinnen . . .

Ferdinand: Ganz recht, ja, ja, als ich dich traf, da war alles vorbei . . .

Robert: Damals hast du mir ja manches erzählt, aber nichts von Ischl . . .

Ferdinand: Nein, von Ischl nichts. Aber in Ischl, an jenem Tag, das war der Anfang vom Ende – die Todesbotschaft unserer Liebe . . .

Robert: Nun – willst du's erzählen?

Ferdinand: Ach nein! Es läßt sich gar nicht erzählen, es war nichts – – Wir hatten uns am Morgen gesehen, beim Frühstück, in ihrem kleinen Garten da droben im Egelmoos. Ein Tag wie heute. Dann mußte ich auf die Bahn, meine Eltern kamen an. 152 Als ich mittags zu ihr kam, war sie zerstreut, nervös, und ihre Augen – nie vergesse ich diese Augen – so viel Lüge war auf einmal in ihren Blicken, so viel schlechtes Gewissen. Sie sagte mir, sie habe für nachmittag mit ihrer Freundin eine Partie verabredet. Mich überfiel das Mißtrauen plötzlich, wie ein Fieber. Nie vorher war ich mißtrauisch gewesen, auf einmal – ihr ganzes Wesen ergriff mich so stark. Ich verbat ihr den Ausflug. Sie hatte zuerst gesagt, es läge ihr nichts daran, sie wolle nur fort, weil sie dachte, ich müsse bei meinen Eltern bleiben.

Robert: Warum bist du nicht mit ihr?

Ferdinand: Da waren verschiedene Komplikationen, ich weiß das nicht mehr so genau – ich glaube, aus irgend einem Grund konnte ich zu dieser Freundin nicht gehen . . . Sie versprach mir, zu Hause zu bleiben, und ich ging zu meinen Eltern, um zu speisen. Als ich zurückkam, war sie fort – fort – sie blieb den ganzen Tag, bis spät abends. Ich suchte sie, atemlos, voll Wut. Ich war in Strobl, ich war in Steinkogel, überall verstört, ruhelos, gequält . . . zuletzt bei ihr, wo ich lange warten mußte. Dann kehrte sie 153 heim mit leuchtenden Blicken, aufgeregt und befangen, schuldbewußt und doch bebend von einem verhaltenen Glücksgefühl. Ich spürte das. Entschuldigungen, Ausflüchte, eine Geschichte voll Widersprüche, Widersprüche, denen man nicht nachgehen kann – du kennst das ja. Bei solchen Anlässen verflüchtigt sich jedes Wort, jeder logische Satz. – – Endlich, wie das immer ist, beruhigte ich mich; nicht durch die Beteuerungen, sondern an mir selbst, an meiner eigenen Unlust, etwas Schlimmes zu glauben. Aber abends, da geschah es. (Leiser.) Sie war an meiner Schulter eingeschlafen, erschöpft von der Luft, von Abendhauch, von weiß Gott was! Ich wollte fortgehen und weckte sie. Ich hob sie leise auf und küßte ihren Mund. Da erwachte sie halb, und wie traumumfangen sprach sie – (hält inne).

Robert: Nun, was?

Ferdinand: Sie sprach . . . ach, das ist egal. Einige Worte, die sich auf irgend einen Platz bezogen, auf dem wir beide nie gewesen, auf eine Situation, in der sie sich mit mir nie befunden haben kann.

Robert: Sie hat eben geträumt . . .

Ferdinand: Das sagte ich mir auch.

154 Aber es war ein Traum von wirklichen Geschehnissen, es war wie ein Geständnis – – ich weiß das.

Robert: Woher?

Ferdinand: An ihrem tiefen Erschrecken hab' ich das erkannt, als ich ihr ihre Worte wiederholte. Natürlich schob sie alles auf den Traum, natürlich war ich wehrlos dagegen. Aber von da an war ich nicht mehr so bewußtlos glücklich. Und seit damals hat es angefangen . . .

Robert: Und hast du später erfahren?

Ferdinand: Nie! Sie hat mir zuletzt Geständnisse gemacht, aber du weißt ja, die Frauen gestehen nur Dinge, deren sie überführt worden sind. Was damals geschehen, hab' ich nie erfahren, (versunken) werde ich nie erfahren – – und es ist merkwürdig – das hat mich lange, sehr lange gequält. Dieser Tag hat mich noch geschmerzt, als ich meine Liebe längst schon überwunden hatte, fast möchte ich sagen, ich fühle heute noch etwas von jenem dumpfen Wehgefühl.

Robert: Ja, ja – wenn man alles wüßte . . .

Ferdinand (nickt).

Robert: Mein Tag . . . 155

Ferdinand: Ja, dein glücklichster Tag – warum hast du mir ihn nicht schon längst erzählt?

Robert: Ich war damals nicht einmal so glücklich, wie jetzt in der Erinnerung daran. Jetzt weißt du, jetzt entzückt mich dieses schnelle Siegen der Jugend, diese herrliche Fähigkeit der jungen Menschen, alles in einen Tag zu drängen, Anfang, Höhepunkt und Ende einer Liebe. Damals . . . damals hab' ich's als etwas Selbstverständliches genommen. Aber heute – (lacht) heute ist das Erobern nicht mehr so leicht.

Ferdinand: Warum hast du mir nichts erzählt . . .?

Robert: Damals, als wir noch mehr von dergleichen Dingen sprachen, war's mir nicht der Mühe wert. So kleine Abenteuer bedeuten doch nichts – mir war es auch nichts. Nur heute, da in dieser Sonne, fast genau an derselben Stelle, an der es passierte, tritt es lebendig vor mich hin, und wahrscheinlich schöner, als es in Wirklichkeit war.

Ferdinand: Erzähle; ich komme auf andere Gedanken.

Robert: Es geht mir wie dir, es ist fast nichts zu erzählen. Es war ein Jahr, bevor 156 ich dich kennen lernte. Ich kam hier durch, auf der Rückreise nach Wien . . .

Ferdinand: Wann?

Robert: August oder Juli, oder anfangs September, ich weiß es wirklich nicht mehr genau. Ich saß hier und frühstückte. Da kam ein Mädchen vorbei, wunderschön – ich kann nicht so beschreiben wie du, kurz der Blick, mit dem wir uns ansahen – wie man sagt: es hat gezündet. Ich auf und ihr nach. Sie merkt das und geht über die Brücke. Drüben am anderen Ufer habe ich sie angeredet. Ich kann dir das nicht so erzählen. Es war alles ganz selbstverständlich, wie bei alten Bekannten. Im Walde küßten wir uns, dann mußte sie nach Hause – sie war so ängstlich. Ich glaube, sie war entweder jung verheiratet, oder noch gar nicht, jedenfalls aus guter Familie. Die Angst, die sie hatte, gesehen zu werden, teilte sich mir mit. Ich wurde ganz nervös davon; aber zugleich erhöhte das auch den Reiz für mich. Das ganze wurde dadurch auch abenteuerlicher. Gleich nachmittag – sie mußte nach Hause – erwartete ich sie beim Aufgang zur Schmalnau. Ich fürchtete, sie werde nicht kommen, und ich hatte Sehnsucht, als hätte ich sie von je geliebt. Sie 157 kam, und auch sie hatte sich nach mir gesehnt. Wir gingen wieder in den Wald. So toll stürzten wir einander in die Arme – als hätte man uns den Wunsch vieler Jahre endlich erfüllt, so toll – (lacht) daß ich sie mit meiner Nadel stach – (lacht vor sich hin). Ich höre sie noch: Bitte, Kind, gib die Nadel fort, du stichst mich . . .

Ferdinand: Was?

Robert: Warum erschrickst du so?

Ferdinand (nach einer Pause): Weißt du, was Hermine damals aus dem Schlaf zu mir gesagt hat? – »Bitte, Kind, gib die Nadel fort, du stichst mich . . .«

Schweigen.

Robert: Du . . . ich . . . wenn ich . . . das gewußt hätte . . .

Ferdinand (steht auf): Laß nur – ich danke dir.

Robert: Du gehst fort . . . ?

Ferdinand: Ein bischen. Aber ich komme bald und dann erzählst du mir weiter . . . (Pause) oder nein – dann sprechen wir von etwas Anderem. (Er geht.)

 


 


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