Felix Salten
Die Geliebte Friedrichs des Schönen
Felix Salten

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Der Sänger vor dem König

(1907)

Für das Hofkonzert waren die Stuhlreihen in dem großen Saale hergerichtet, den man die Blaue Adler-Kammer nannte.

Der König trat herein, und der Sänger, der schon neben dem Klavier bereit stand, verneigte sich tief.

Der Sänger hatte eine wuchtige Grenadiergestalt mit breiten Schultern. Er war etwa vierzig Jahre alt und im Auslande seit langem berühmt.

Der König war ein Jüngling von zweiundzwanzig Jahren, dünn, schmalschulterig und biegsam. Und er regierte erst seit zehn Monaten.

Voll Aufregung war der Sänger dagestanden und hatte diesen Augenblick erwartet, hatte mit leeren Blicken in den Saal geschaut, in dem die ganze Gesellschaft der Ankunft des Königs harrte. Das leise Rauschen 178 seidener Kleider und geflüsterter Gespräche hatte auf den Sänger wie eine höfliche, aber furchtbare Drohung gewirkt und seine Erregung von Sekunde zu Sekunde gesteigert. Er dachte an gar nichts, denn die Beklommenheit füllte ihn derart aus, daß für Gedanken kein Platz übrig blieb. Er rang mit seinem Herzklopfen, hüstelte hinter geschlossenen Zähnen und befühlte mit kleinen, zaghaften Griffen seinen ausgeschnittenen Hemdkragen, ob der ihn nicht beengen werde, betastete dann heimlich seinen Frack und die Weste, ob da alles in Ordnung sei. Er spürte, wie ihm an der Stirn, dicht unter den Haaren, heiße Tropfen ausbrachen; und es fiel ihm ein: Darf ich mir denn vor dem König das Gesicht abwischen . . . mein Taschentuch hervorziehen und mich abtrocknen . . . vor dem König? Darüber grübelte er und sagte sich mit einem mutlosen Versuch, sich aufzumuntern: Warum denn nicht . . .? wenn ich schwitze! Dann aber überhäufte er sich wegen dieser Eigenschaft, jedesmal in Schweiß zu geraten, mit bitteren Vorwürfen; und war am Rande der Verzweiflung.

Da kam der König herein; er ging wie auf den Zehenspitzen, ganz behutsam, mit 179 einer schonungsvollen Hoheit, als wünsche er dringend, daß niemand vor ihm erschrecke. Sein junges Gesicht war ganz verschlossen, und seine grauen Augen schauten wie verdeckt, als spähten sie hinter einer Schutzwehr nach den Leuten. Um seinen frischen Mund, den der kleine goldblonde Schnurrbart noch nicht beschatten konnte, war Schüchternheit und Uebermut zugleich, und ein studierter Ernst.

Dem König voran schritt der Oberhofmeister, ein Kavalier mit schneeweißen Haaren und mit einer engen Brust, die eingesunken schien unter der schweren Goldstickerei und den vielen Orden. Hinter dem König schritt sein erster Adjutant, ein schöner, hochgewachsener General. Aber diese beiden gingen nicht wie Menschen, die für sich selber gehen, zu eigenem Zweck, und nicht wie Männer, die persönlich ins Zimmer kommen; sondern es war in ihren Mienen und in ihren Bewegungen die Andeutung, daß sie eigentlich nicht vorhanden seien, daß sie nur als Begleiterscheinungen eines Ereignisses irgendwie wahrgenommen werden konnten. Es war die Kunst ihres Ganges, daß sie nur die einzige Wirkung hervorbrachten: der König naht.

180 Während der König sich setzte und den Sänger aus seiner tiefen Verbeugung emportauchen sah, dachte er: Alle halten sie das Notenblatt mit beiden Händen vor dem Magen, die Herren und die Damen, welche singen. Ich erinnere mich, daß schon mein Großvater darüber gesprochen hat; und einmal hat er diese Leute kopiert. Das war im vorletzten Jahr seiner Regierung. Wir haben alle sehr gelacht, wie er das getan und wie er die Augen verdreht und den Mund aufgerissen hat.

Jetzt war das feine Geräusch des achtsamen Niedersetzens der Gesellschaft, des Stühlerückens und Kleiderraschelns vorbei, und die tiefe Stille des Saales lag jetzt vor dem Sänger wie ein unermeßlicher Abgrund, in den er seine Stimme schleudern, den er mit seiner Stimme ausfüllen mußte. Er verschleierte, heftig blinzelnd, die Angst seiner Blicke, hörte, wie ihm die dünnen, jammernden Klaviertöne voranliefen, riß noch den letzten Atemschluck in seine Brust und warf sich ins Bodenlose. Der König dachte: Richtig, verdreht auch der wieder die Augen. Kann man denn nicht anders singen . . .? Und immer die Noten vor dem Magen . . .? 181 Vielleicht geht es wirklich nicht anders . . . Aber er schaut ja die Noten gar nicht an . . . er weiß ja alles auswendig . . . wahrscheinlich könnte doch einmal einer was vergessen . . . das wär' dann eine schöne Blamage, wenn er keine Noten bei sich hätte.

Der Sänger dachte unter der Arbeit seines Liedes, in einem Denken, das ganz bedeckt und überflutet war vom Singen: Ich zittere ja . . . das ist entsetzlich . . . ich habe keinen rechten Glanz im Ton . . . Herrgott, es muß gehen . . . mit diesem Lied hab' ich immer noch den meisten Erfolg gehabt . . .

Der König dachte: Das hat der Onkel Friedrich Eberhard immer gesungen . . . ich grolle nicht . . . ein ganz hübsches Lied ist das . . . o ja, . . . diese Stelle da ist sogar sehr hübsch . . . der Onkel Friedrich Eberhard hat bei dieser Stelle immer so gezogen und getrillert . . . wirklich, es ist ganz gut, dieses Lied . . . aber übertrieben . . . alle diese feinen Konzertlieder sind so übertrieben . . . Und wie der Mensch die Augen verdreht . . .

Der Sänger gewann ein ruhiges Atmen: es war doch nur die große Ausregung, dachte er . . ., schließlich, kein Wunder, zum erstenmal vor dem König . . . na ja . . .

182 Der König betrachtete ihn: . . . ein Riesenmensch ist das . . .  meiner Schätzung nach muß er um zweieinhalb Zentimeter größer sein als mein Türsteher. Mindestens um zweieinhalb . . . wenn's nicht drei Zentimeter sind . . . Ich glaube nicht, daß ich mich irre . . . ich habe ein sicheres Augenmaß . . . Er schwitzt . . . schrecklich wie der Mensch schwitzt . . . das kann ich nicht leiden . . . aber, ich grolle nicht . . . Das sollte ich ihm eigentlich nachher sagen: Sie schwitzen, aber ich grolle nicht. Aber das darf ich wohl kaum. Schade.

Der Sänger begann ein Trinklied, und mit dem ersten Ton spürte er: Jetzt hat meine Stimme den rechten Glanz, jetzt los . . .!

Der König horchte auf: Ah, das ist ein fröhliches Stück . . . das ist recht . . . Und eine schöne Stimme hat der Mensch . . . eine sehr schöne Stimme . . . nun, er ist ja ein großer Künstler, wie es heißt . . . Der Graf Marberg hat auch eine schöne Stimme, aber ich glaube, er ist kein Künstler . . . genau weiß ich es nicht . . . ich weiß eigentlich nicht recht, woran das liegt, und wo da der Unterschied steckt.

Der Sänger schaukelte seine volle Kraft 183 in seiner Stimme, ließ sie emporschnellen und schmetterte den Schluß wie einen Jubelschrei zur Decke, und seine innerste Regung war: Gott sei Dank!

Der König dachte: Er sieht wie ein Leibkutscher aus, wenn man's genau nimmt. Aber das zuletzt hat er sehr brav gemacht . . . Und er applaudierte.

Der Sänger begann ein Frühlingslied, strömenden, wiegenden, blühenden Gesang, und der König horchte. Er dachte ein paar Sekunden gar nichts, er fühlte diesen Gesang in seinem Herzen, und wurde um einen Schatten ernster; seine Jugend begann bei diesem Klang hervorzuquellen, begann sich zu regen, wie ein Schlafender, der geweckt wird: Diese Stimme, dachte er, ist wie auf dem Land . . . es ist beinahe so, als ob die Fenster offen stünden, und als käme ein Frühlingswind herein . . . Das erinnert mich . . . nein wirklich, das erinnert mich an den Wald, wenn ich vortags auf den Auerhahn gehe . . . bergauf . . . das erinnert mich an weite Felder in der Sonne, wenn man so drüber reitet, und die Erde, die aufspritzt, die riecht so feucht und so gesund . . . nein wirklich . . . das ist ein Künstler, jetzt weiß 184 ich es . . . und er verdient es schon, daß er ganz allein da eingeladen ist, und daß sonst niemand heute singen darf . . . Ich werde morgen lieber den Vortrag vom Handelsminister absagen und nach Kirchberg auf die Jagd fahren . . .

Der Sänger hatte nun alle Furcht verloren. Er umfing den schimmernden Saal mit berauschten Augen: Diese Pracht hier, war der Text, den er plötzlich in seiner Seele dachte: die Prinzessinnen und Prinzen da . . . und Seine Majestät . . . Wenn mir das wer gesagt hätte, wie ich noch da draußen in den Gassen von Krumpendorf barfuß herumgelaufen bin, oder wie ich später Schankbursch war . . . wenn mir das wer gesagt hätte, daß ich's einmal so weit bringen werde . . .

Der König horchte schärfer in das Lied hinein: Da ist auf einmal etwas in dieser Stimme . . . ich weiß nicht . . . wie Blech . . . so etwas wie von einem ordinären Menschen, und als ob er sich vor mir patzig machen wollte . . . nein . . . das gefällt mir nicht . . . . wer weiß übrigens, was dieser Mensch früher gewesen ist, bevor er Sänger wurde.

185 Es kam ein Liebeslied und der Sänger begann seine Leidenschaft zu entfalten. Der König schlug die Augen nieder: Wie peinlich ist das . . . diese überspannten Sachen . . . und warum tut er denn so, als ob er das alles jetzt wirklich glauben würde, und als ob das sein Ernst wäre, und als ob er jemanden damit meinen möchte, irgendeine Dame . . .? wie peinlich . . . Der König sah den Sänger an: Mein Gott . . . ganz verliebte Augen macht er, und wackelt mit den Schultern und schneidet Gesichter . . . das ist indiskret . . . das kommt ja beinahe so heraus, als ob er mir da seine geheimsten Erlebnisse erzählen würde . . . er sollte sich schämen . . . einfach ekelhaft . . . Der König schlug die Augen nieder, und es schien, als leide er: Ich finde, ein Mensch, der Manieren hat, darf in dieser Art nur vor seiner Geliebten singen . . . oder vor seiner Frau . . . warum muß ich denn gerade jetzt zu solchen Sentimentalitäten aufgelegt sein . . .? und selbst wenn ich es wäre, und möchte zufällig an eine Dame denken, die ich gern habe, dann würde ich mich doch vor dem Menschen da genieren . . . dann hätte ich doch das unangenehme Gefühl, als ob er mich zwingen 186 wollte, mit ihm gemeinsame Sache zu machen . . . oder als ob er sich erlauben möchte, vor allen Leuten meinen Zustand zu schildern . . . Ich finde, solche übertriebene Lieder müßte einer ganz einfach heruntersingen . . . mit Anstand . . . mit Reserve . . . »da, meine Herrschaften, ist das Lied, so und so . . . und da geb' ich noch die nötige Wärme her in meiner Stimme . . . aber sonst bin ich ein Herr im Frack, der in guter Gesellschaft singt . . .« Aber was der macht, das ist einfach zudringlich . . . eine unpassende Vertraulichkeit . . . Wenn das die Kunst sein soll, nun, dann danke ich bestens . . .

Der König war jetzt gefaßter, hob wieder den Blick und betrachtete den Sänger: Vielleicht weiß er gar nicht, wie sehr er sich verrät . . . dieses Wirken mit den Augen, das hat er von den Italienern . . . und dieses Wiegen im Kreuz, das machen die Kunstreiter . . . nun, der muß es schön getrieben haben in der Welt . . . das sieht man ja, wenn er die Augenbrauen hebt und wenn er seine Nüstern bläht, wie der gewohnt ist, mit den Weibern anzufangen . . . und dieser Mund . . . was ist da für eine Unmenge von Erinnerungen in dem Zug um den Mund 187 angesammelt, Erinnerungen an Genüsse, an heimliche Freuden . . . da ist schon nichts Heimliches mehr dran . . . und diese dicken Ohrläppchen . . . ich weiß nicht, warum ich ihm an seinen dicken Ohrläppchen alle möglichen Schwelgereien und Laster anmerke . . . Wo mag der schon überall in der Welt herumgekommen sein . . . und was für Weiber mag der schon kennen gelernt haben . . . aus allen möglichen Klassen . . . Natürlich, die Frauen sind ja unberechenbar in ihren Launen . . . Es müßte ganz interessant sein, mit dem einmal über seine Abenteuer zu reden . . . Der sagt gewiß alles . . . er sagt ja schon alles, wenn er so dasteht und singt . . . erst gar, wenn er spricht . . . Dabei kommt er sich gewiß riesig nobel vor mit dem Brillantknopf im Hemd, und mit dieser Umlegkragen-Eleganz, und mit diesen kleinbürgerlichen Bewegungen . . .

Der Sänger fing darauf ein Wanderlied an. Er fühlte sich durchpocht bis in die Fingerspitzen von dem wundervollen Rhythmus, er fühlte seine Lebenslust entzündet, fühlte alle seine Kräfte, die von Jugend auf in ihm gewachsen waren. Er spürte in dieser Sekunde den ganzen Weg, den er durchmessen, 188 und der ihn bis hierher geführt hatte, durch Glanz und Heiterkeit und Liebe und Ruhm, von tief unten bis hier herauf. Und er stand da, mit einer unwillkürlich einfachen Schönheit in seiner Haltung, beinahe gebieterisch, und seine Augen flammten in den Saal: Das ist nun einmal nicht anders . . . ihr seid ja alle viel mehr sonst als ich, Prinzen und Prinzessinnen und der König, aber jetzt werfe ich meine Stimme wie einen Mantel über euch alle zusammen, und decke euch zu, und hebe euch darin auf, und vermische euch so durcheinander, daß die Unterschiede zwischen euch zerstäuben, und daß ihr mein werdet . . .

Der König dachte: Es ist abgemacht, ich lasse mir morgen keinen Vortrag halten, sondern fahre nach Kirchberg auf die Jagd . . . übrigens ist es nicht die Jagd allein . . . ich muß in den Tannenwald, bergauf . . . und überhaupt, ich bin sehr glücklich. Ich weiß im Augenblick selber nicht, warum. Wahrscheinlich ist es diese Stimme, und der Mensch da ist bei alledem doch ein Künstler . . . Gewiß, es kann nur diese Stimme sein . . . Gott ja, er mag von ganz niedrigen Leuten stammen . . . oder vielleicht gerade deshalb . . . in seiner Stimme ist etwas, 189 das erinnert mich an meine Bauern . . . so singen die Bauernburschen, natürlich nur manchmal . . . Ja, . . . und wenn ich ihn ansehe, dann bewegt er die Schultern gerade so wie die Bauern, oder manchmal wie die kleinen Leute in der Stadt, wenn sie berauscht und fröhlich sind . . . und ich lese in seinem Gesicht wie in seinem Gesang etwas von ihrer Güte, von ihrer Frechheit und von ihrer Dummheit . . . und wie sie schlau sein können . . . mir kommt der Mensch so vor, als hätte ihn mein ganzes Volk zu mir hergeschickt, als sei er aus dem Gewühl da unten aufgetaucht . . . nein wirklich, als hätten diese Hunderttausende ein einziges Gesicht angenommen und eine einzige Stimme, damit ich sie besser erkennen kann . . . interessant, was man sich so denkt . . . aber, ein großer Künstler, nein wirklich . . .

 

Zuletzt wurde der Sänger dem König vorgestellt, und während er sich aus seiner tiefen Verbeugung erhob, überlegte der König: Was soll ich ihm denn sagen? Wie er dann 190 dem Sänger in das feste, glatte Antlitz sah, dachte er: Warum macht er denn jetzt auf einmal diese Komödiantenmiene . . .? Und warum spitzt er so süß den Mund . . .? Will er denn mit mir kokettieren . . .? Und der König stand mit einem Ausdruck von Schüchternheit in den Augen vor dem Sänger. Endlich sagte er: »Sie haben eine sehr schöne Stimme . . .«

»O, Majestät . . .« hauchte der Sänger.

Gequält sprach der König weiter: »Es war ein genußreicher Abend für mich . . .«

»Majestät, diese Gnade beglückt mich tief . . .« Der Sänger drohte zu zerfließen und der König versuchte schnell abzulenken: »Sie scheinen eine vortreffliche Schule genossen zu haben . . .«

Der Sänger verdrehte die Augen: »Majestät, ich vergöttere meinen Lehrer . . .«

Der König dachte: Er ist gewiß ein Künstler, aber ich kann mit ihm nicht sprechen . . . ich rede Unsinn . . . und ich werde noch etwas Taktloses sagen . . . genug!

Er nickte kurz. Ein mühsames Lächeln flog über sein junges, befangenes Gesicht: »Ich danke Ihnen.«


191 Nachher saß der Sänger im Gasthaus und unterhielt sich mit seinen Freunden: »Es war ein großer Triumph . . . Ja, das war es . . . der König, wollt ihr wissen? . . . Reizend, sage ich euch, ein reizender junger Mann . . . aber schließlich, ein Mensch, wie wir alle, wie ich und du, nicht wahr? . . . und von Kunst . . .? Wißt ihr, was er mir gesagt hat? . . . Unter uns . . . Kinder, ganz unter uns: ich muß eine gute Schule gehabt haben . . . Was meint ihr? Und dafür gibt man nun sein Bestes hin . . . sein Heiligstes!

 


 


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