Felix Salten
Die Geliebte Friedrichs des Schönen
Felix Salten

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Der Ernst des Lebens

(1902)

Der junge Gefangene trat so ungestüm in die Kanzlei, daß der Schreiber, der demütig über seinen Akten saß, erschrocken auffuhr, und die beiden Aufseher von der Tür her in das Zimmer sprangen, als gelte es, jemanden vor Gewalttat zu retten.

Nur der Direktor des Zuchthauses blieb ruhig hinter seinem Pulte sitzen, im Armstuhl zurückgelehnt, und blickte dem Sträfling entgegen, der jetzt dicht vor dem Schreibtisch angelangt war, seine Hände darauf stützte und sich verneigte.

»Ich muß mit Ihnen sprechen . . . ich halte das nicht länger aus . . . ich kann nicht . . .«

Der Direktor blieb bewegungslos. Er hatte stolze Beamtenaugen, die stets wie aus einem sicheren Gehege hervorspähten, prüfend und unnahbar. Mit diesen Augen blickte er jetzt nach den dreisten Händen, die sich auf 110 seinen Schreibtisch gestützt hatten, und sein altes, blankes Gesicht nahm dabei den Ausdruck gekränkter Mißbilligung an. Aber der junge Gefangene merkte nichts davon. Er bebte am ganzen Körper in einer außerordentlichen Erregung, die ihn – offenbar stärker als er – durchschüttelte, und der er das Sprechen erst mit großer Kraft abringen mußte. Er keuchte deshalb ein wenig und bemühte sich, seinen galoppierenden Atem, der ihm mit jedem Laut durchgehen wollte, zu bändigen: »Es ist . . . nämlich . . . also einfach . . . ewig hier sitzen, immerfort, . . . das kann ja gar nicht sein!«

Der Direktor fuhr fort, die aufgestützten Hände zu betrachten, und sagte mit einer kleinen, aber ungewöhnlich festen Stimme: »Ich dachte, Sie haben einen Wunsch . . .?«

Der Sträfling sah ihn betroffen an. »Einen Wunsch? . . . Ich will . . . Ja . . . es kann nicht unabänderlich sein, . . . ich meine für immer . . .«

Die kleine, feste Stimme sagte unvermittelt: »Den Mord haben Sie ja begangen, das Urteil ist rechtskräftig . . . Woran zweifeln Sie denn noch?« Diese Sätze klangen völlig rein. Jedes Wort fiel gleichsam 111 einzeln in das Zimmer wie Glaskugeln, die man nacheinander zu Boden wirft. Der Schreiber und die beiden Aufseher blickten fromm zur Erde, und es war, als habe jemand ein Kunststück ausgeführt.

Aber der Gefangene gestikulierte lebhaft und abwehrend. »Das ist albern, ganz albern! Da soll ich still sein? Lebenslänglich? Ist denn die Sache so einfach, was? Ist sie Ihnen so klar wie der helle Tag?« Und er deutete mit einer weit ausholenden Armbewegung zum Fenster hin, durch das die Frühlingssonne hereinkam.

Der Direktor hob den netten Bleistift, den er zwischen den Fingern gedreht hatte, ein wenig empor und sagte mild: »Sie dürfen hier nicht keck sein. Was wollen Sie also?«

Noch immer schaute der junge Mann durch das Fenster ins Freie. Er war vorhin, als er den hellen Tag anrufend zum Fenster geblickt hatte, plötzlich verstummt, wie vor einer Erscheinung. Jetzt stand er da, die Hände vor der Brust gefaltet, und flüsterte: »Herrgott, wie schön ist's draußen . . .« und obwohl er das nur ganz leise sagte, vernahmen es doch alle in der weiten 112 Amtsstube ganz deutlich und blickten rasch hinaus auf die Wiesen und auf den Wald, der blühend von ferne stand.

Es klang nicht witzig, sondern strafend, wie der Direktor nun zu reden anfing: »Hoffentlich haben Sie sich nicht vorführen lassen, um mir mitzuteilen, daß schönes Wetter ist.« Weil aber keine Antwort kam, schreckte er den Gefangenen aus der Versunkenheit mit dem Ruf: »Sie können gehen!«

Jetzt sammelte sich der junge Mann wieder, zog seine Jacke zurecht, strich sich über die Stirn und sagte aufwachend: »Gehen? Ich habe ja noch nicht . . .«

Der Direktor warf den Bleistift auf den Tisch: »Ich dachte, Sie wollten eine wichtige Aussage machen . . . für andere Dinge hab' ich keine Zeit.«

Der junge Mann senkte den Kopf und antwortete zögernd, halblaut: ». . . es weiß ja kein Mensch, warum ich es getan habe.«

Nun beugte sich der Direktor ein wenig vor und nahm eine feierliche Miene an: »Wollen Sie es vielleicht jetzt sagen . . .?« Und da er erkannte, daß der Jüngling, der fassungslos vor ihm stand, mit einem Bekenntnis rang, sprach er eindringlich: »Wenn 113 Sie glauben, daß ein bisher nicht bekannter Umstand geeignet wäre, Ihr Schicksal zu erleichtern, allerdings . . . wenn Sie Ihre unbegreifliche Tat jetzt erklären, vielleicht . . . ich kann das ja nicht vorher wissen.« Und dann setzte er nach einer Pause hinzu: »Ein junger Mann aus vornehmer Familie, unbescholten, sogar hoffnungsvoll . . . es ist natürlich rätselhaft . . . und dazu war der Professor Biber Ihr Freund, der Freund Ihres Hauses . . . Sie sollten schon um Ihrer Eltern willen . . .«

Der Gefangene zuckte bei diesen Namen; dann aber, als streife er etwas von sich ab, sprach er mit Entschiedenheit: »Er war niemals unser Freund! Niemals! Und mich hat er gehaßt. Aus Niedrigkeit, aus Neid.«

Der Direktor sagte mit erhobenem Zeigefinger: »Sie sollten doch nicht so über den Toten . . . gerade Sie . . . und übrigens, ein so berühmter Mann wie der Professor Biber . . .«

»Ja wohl! Er, der berühmte Mann, er, der gefeierte Arzt, der große Professor, der Mann der Arbeit . . . nennen Sie ihn doch wie Sie wollen . . . aber er hat mich beneidet und gehaßt. Schon wie ich ein kleinen Bub 114 war, schon damals . . . das heißt, damals hat es angefangen. Er war mein Hauslehrer. Ein armer Student. Alles Gute haben wir ihm erwiesen, und immer hat er uns gehaßt, mich und meinen Bruder, und eigentlich uns alle . . .«

»Damit dürfen Sie nicht kommen,« unterbrach ihn der Direktor kopfschüttelnd. »Sie haben einen unserer berühmtesten Aerzte niedergeschossen wie einen Hund; – einen hervorragenden, fast möchte ich sagen, einen unersetzlichen Mann.« Die feste kleine Stimme sprach das mit einem leichten Vorwurf gegen den Gefangenen und mit sehr viel Ehrfurcht vor dem Andenken des Ermordeten aus. »Und jetzt sagen Sie, er hat Sie gehaßt; ja, warum denn?«

»Ach, aus tausend Gründen! Wenn wir in den Prater fuhren, mein Bruder und ich, wenn wir ausgeritten sind, oder auf die Jagd gingen, immer war er wütend, und immer war er stolz darauf, daß er arbeitet und nicht auf die Jagd geht.«

Der Direktor lächelte zum erstenmal: »Deswegen also? Und das sollen wir Ihnen glauben? Ein so makelloser Charakter, wie der Professor war, ein solcher Ehrenmann . . .«

115 Der Gefangene stieß einen leichten Schrei aus: »Ehrenmann?« Und er trat wieder an den Schreibtisch heran: »Wissen Sie, daraus, daß er ein Ehrenmann war, hat er immer eine Beleidigung für andere gemacht. So ist er gewesen. Und dann: Das war einer von denen, die mit den Stiefeln in der Hand nach Wien gekommen sind, und die dann glauben, man darf gar nicht anders nach Wien kommen.« Der junge Mann sprach in heftiger Bewegung, aber er hatte einen ganz gesellschaftlichen Ton angenommen: »Sein drittes Wort war: Mit einem Gulden im Sack bin ich aus Bielitz nach Wien gekommen. Oder: Der Ernst des Lebens! Oder: Ich danke alles meiner Arbeit! Und solche Dinge; und das hat er mir jeden Tag wiederholt. Und wie er dann endlich Doktor wurde, und bei uns ein Souper war, ihm zu Ehren, und statt sich in seinem Toast an Papa zu wenden, hat er richtig alles noch einmal gesagt, das von dem Gulden, den er aus Bielitz mitgebracht hat, daß er alles sich selbst verdankt, das von der Arbeit, und vom Ernst des Lebens . . ., und ähnliche Geschmacklosigkeiten . . .«

116 »Hören Sie,« sprach der Direktor, »das sind lauter hochachtbare Gesinnungen.«

Eilig pflichtete der Gefangene bei: »Gewiß, gewiß! Nur soll man niemanden damit belästigen. Und überhaupt, was kann denn ich dafür, daß ich nicht . . .? Ah!« er unterbrach sich heftig, ». . . eine Hauslehrernatur ist er gewesen und ist es geblieben, als Professor und als Regierungsrat, und später, wie er dann selber in den Prater fahren konnte, hat er mich gehaßt um der Mühelosigkeit willen, mit der ich vom Anfang an alles hatte, und deshalb, weil ich – wie er sagte – diese Dinge als selbstverständlich nahm.«

Der demütige Schreiber wandte sich um, und maß den jungen Mann, der schlank und zwanglos in der Mitte des Zimmers stand, mit ehrfurchtsvollen Blicken. Der Direktor aber sagte scharfsinnig: »Aus alledem ersehe ich nur, daß Sie selbst einen langjährigen Haß gegen den Professor Biber hegten. Das verbessert Ihre Sache keineswegs.«

»O nein!« Der junge Mann legte die Hand auf das Herz und sah freimütig den Direktor an. »Was ich Ihnen jetzt sage, hab' ich selbst erst in jener Stunde erfahren . . . 117 damals, als es geschah. Da wurde mir alles auf einmal so klar wie ich es jetzt sage. Denn vorher hatte mich sein ganzes Wesen nur hie und da nervös gemacht. Ich fand ihn taktlos. Ich dachte manchmal, seine Manieren ließen zu wünschen übrig. Als ich erwachsen war, bereitete es mir oft geradezu ein Vergnügen, wenn ich mit ihm in Streit geriet.«

»Sie haben also von jeher mit ihm gestritten?«

Der junge Mann machte eine wegwerfende Handbewegung. »O nein, das waren nur so Wortgefechte. In aller Freundschaft.« Dann sagte er plötzlich mit großer Sachlichkeit: »Wollen Sie sich gefälligst besinnen, Herr Direktor, daß kein einziger von den Zeugen aussagen konnte, Professor Biber und ich seien verfeindet gewesen, oder hätten auch nur auf gespanntem Fuß miteinander gestanden.«

»Worüber haben Sie also mit ihm gestritten?«

»Ach, es war nichts. Vielmehr glaubte ich damals immer, es sei ohne Bedeutung. Wenn er mich elegant gekleidet sah, wurde er immer wütend. Was arbeitest du? fragte 118 er mich jedesmal. Nichts! sagte ich darauf. Und jedesmal wurde er ganz blaß vor Aerger. Nichts? Dann fing es eben an. Er fluchte über die Drohnen der Gesellschaft . . .«

»Wie sagte er?« forschte der Direktor interessiert, »die Drohnen . . .«

»Jawohl. Er liebte die Phrasen. Ich aber erklärte ihm, ich wolle niemals etwas arbeiten. Es machte nur Spaß, ihm zu erläutern, daß kein Mensch freiwillig arbeite, vielmehr, daß alle nur danach strebten, nichts tun zu dürfen. Ich meinerseits sei nun durch einen glücklichen Unfall so weit, und ich wolle das Leben genießen. Das sei einfach das Höchste, das Beste.«

Der Direktor blickte sich im Zimmer um und sagte feierlich: »Müßiggang ist aller Laster Anfang.«

»Ganz recht,« fiel der Gefangene ein, »das war sein drittes Wort, woher wissen Sie das? Und dann: der Ernst des Lebens . . .« Er hielt inne. »Der Ernst des Lebens . . . das ist es dann gewesen . . . Dieser Zwei-Kreuzer-Ausdruck war es . . .«

»Also deswegen?«

»Ich meine nicht das Wort allein, sondern 119 alles, was für ihn und für mich dahinter lag.«

Bei diesen Worten zog der Direktor die Uhr, blickte aufmerksam darauf nieder und sagte mit seiner kleinen, festen Stimme: »Sie müssen die Sache jetzt endlich erzählen – genau so, wie es sich zugetragen hat. Ich habe nicht so viel Zeit. Und überhaupt ist das ganze bisher einfach unverständlich.«

Es wurde still. Der junge Mann rieb sich die Augen und seufzte tief.

»Ich erinnere mich noch ganz deutlich. Am Abend vorher war bei uns ein großer Ball gewesen und ich hatte mit Clara getanzt . . .« Er schwieg.

»Wer ist das, Clara?«

». . . Ach, nichts, nichts! . . . Gehört gar nicht hierher . . . genug davon . . . Ich erwähne es nur, weil alles damit anfing. Ich wollte sie noch einmal auffordern, da wurde sie von ihrer Mutter geholt und mußte nach Hause gehen. Ich weiß es noch sehr genau, wie betroffen ich darüber war, weil ich mich eher erleichtert fühlte nicht länger tanzen zu müssen, und doch hatte ich es so sehr gewünscht.« Wiederum schwieg er eine Weile, dann sagte er: »Es war ein Moment so 120 großer Müdigkeit, wie ich keinen je erlebt hatte. Am nächsten Morgen ging ich aus. Spazieren. Eigentlich wollte ich reiten, aber ich fühlte mich wie zerschlagen. Und dann war da zwischen den Schultern ein Schmerz. Nein, kein rechter, wirklicher Schmerz, nur ein wehes Gefühl, bis tief hinein in die Brust, und eine leichte Bangigkeit dabei. Ich ging über den Graben, dann den Kohlmarkt hinauf und wunderte mich, daß ich nichts sehen und mich mit nichts anderem beschäftigen konnte, als mit dem Unbehagen da zwischen den Schultern. Dann fiel mir jener Augenblick von gestern abend wieder ein, und da ich eben nur zwei Schritte von Bibers Haus entfernt war, kam ich plötzlich darauf, daß es gut wäre, rasch einmal zu ihm zu gehen und mich untersuchen zu lassen. Ich dachte weiter an nichts, als ich die Treppe hinaufstieg.

Er empfing mich sogar recht freundlich, und mir wurde gleich wieder besser in seiner Nähe. So viel Vertrauen hatte ich zu ihm. Wir sprachen über unseren Hausball, denn auch er war dagewesen, wenn auch nicht lange. Er ging zeitlich schlafen oder wurde gerufen, das weiß ich nicht mehr. Ein paar Minuten plauderten wir so über Dinge, die 121 ich vergessen habe. Ganz genau aber erinnere ich mich an jedes Wort, an jede Silbe von dem einen Moment an: Er unterbrach mich unversehens und meinte spöttisch, es freue ihn zwar sehr, mich zu sehen, leider, leider aber verfüge er nicht so frei über seine Zeit wie ich, er sei ein Mann der Arbeit, könne sein Leben nicht genießen, so genußreich meine Gesellschaft auch wäre. Ich entschuldigte mich und erklärte ihm: Lieber Regierungsrat, ich bin gar nicht gekommen, Ihre Zeit zu stehlen. Es ist nur, weil ich mich ein wenig unwohl fühle.

Verlumpt, sagte er.

Möglich, erwiderte ich darauf, aber ich bitte, vielleicht schauen Sie mich doch einmal an.

Na, zieh dich aus! befahl er mir, und nahm sofort seine wichtige Professorenmiene an. Dann, als er mich abgeklopft und ausgehorcht hatte, schwieg er, setzte sich an den Schreibtisch und ich war gleich sehr bestürzt, als ich sein wütendes Gesicht erblickte.

Ja, was gibt's denn? Ich fragte das ganz schüchtern, und er wurde, vielleicht deshalb, brutal. Er suchte zum Scheine irgend etwas auf seinem Tische, hob Briefbeschwerer und 122 andere Dinge auf und stieß sie wieder heftig nieder. Unterdessen zog ich mich rasch an und wartete auf seine Antwort. Aber immer noch dachte ich nichts Schlimmes. Zuletzt stand ich wartend vor ihm, und da er meinen fragenden Blick sah, fuhr er mich an: Das sind nun die Folgen – ja wohl! Was denn für Folgen, lieber Regierungsrat? ich habe doch nichts getan. Er schlug mit der Faust auf den Tisch: Das ist es eben. Weil du nichts getan hast! Du fragst, was für Folgen? Nun, die Folgen des vornehmen Müßigganges, hja! – Ich versuchte einen Scherz: Ach, schimpfen Sie jetzt nicht, helfen Sie mir lieber, sagte ich lächelnd. Er wandte sich zornig ab und stieß hervor: Dir ist nicht mehr zu helfen. Und sehen Sie, Herr Direktor, – ich erschrak ein bischen, aber ich faßte mich gleich wieder, und ich glaubte ihm nicht. Vielleicht habe ich auch den Kopf geschüttelt und ihn damit gereizt, kurzum, er schrie mich an: Jawohl! Das ist der Müßiggang, die Arbeitsscheu! Aufgerieben hast du dich im sogenannten Lebensgenuß, verpraßt und verpfuscht! Nun begriff ich zwar, während er redete, daß ich recht krank sein müsse, aber ich begriff auch, wie unpassend es sei, 123 einem Kranken so harte Worte zu geben. Der Aerger faßte mich und ich erwiderte spitzig: Schreien Sie nicht so, ich kann mich ja noch bessern – wenn ich weiter nichts tun soll, als arbeiten und schäbige Kleider tragen, dazu ist's immer noch Zeit. Da wandte er sich voll zu mir und sagte mir plötzlich geradeaus ins Gesicht: Nein – es ist keine Zeit mehr – weil du höchstens noch drei Monate hast. Damit du's nur weißt.

Er hatte kaum noch zu Ende gesprochen, da hatte ich schon tausend Dinge durchdacht. Es ist ja wunderbar, wie blitzartig unser Gehirn in solchen Augenblicken oft arbeitet. Zu Anfang Juni wird es sein, dachte ich, und zugleich sah ich unser Landhaus, und sah mich auf der Terrasse liegen, und dachte an meinen Hochstand, wo ich immer Gemsen schoß, und an den Tennisplatz in unserem Garten, und ich sah meinen Bruder weggehen, während ich liegen bleiben mußte, ich sah es deutlich vor mir, wie er mir die Hand gab, und hörte ihn Servus sagen, und sah sein Raket, und dabei sah ich unsere Mutter, die verweinte Augen hatte, und zwischendurch hörte ich noch genau, was der Professor Biber soeben zu mir sagte. Ich wußte, daß ich 124 träumte, oder vielmehr, daß ich alles, was in seinen Worten lag, sofort unwillkürlich in lebendige Geschehnisse umsetzte. Es ist der Abschied, dachte ich bei mir, und ich schlug die Hände vor das Gesicht und begann bitterlich zu weinen.«

Der junge Gefangene schöpfte tief Atem und hielt den Blick ins Leere gerichtet. Als überlege er jetzt erst alles aufs neue, sagte er nachdenklich: »Er hatte mich acht Jahre, oder waren es zehn? Jedenfalls, seit meiner Kindheit hatte er mich nicht weinen sehen. Er muß mich sehr gehaßt haben, sonst hätte ihn das rühren müssen. Ich wenigstens war von meinen Tränen sehr ergriffen. Mir erschienen sie als etwas so Ungeheuerliches, daß ich einen Augenblick glaubte, ich habe alles von mir abgewendet durch dieses furchtbare Weinen. Dann aber ergriff mich so viel Angst, daß meine Zähne aneinanderschlugen.

Natürlich, sagte er, Tränen, Schluchzen, keine Spur von Männlichkeit, kein Halt, keine Seelenkraft . . . Ich dachte: im Juni wird es sein, und warum darf er es mir heute schon voraussagen – wie viele Stunden sind es von heute bis Anfang Juni? Drei Monate, das sind neunzig Tage oder 125 zweiundneunzig? Zweiundneunzigmal vierundzwanzig, dann kommt der Abschied von allen. Und während ich solche Gedanken hatte und noch tausend andere, hörte ich ihn sagen: Kein Herz – keine Seelenkraft – und gleich darauf fuhr er mich an: Weine nicht! Ich trocknete geschwind meine Tränen. Ganz plötzlich waren sie versiegt und gestillt. Er aber redete mich nun gütig an: Fasse dich, Paul, ich will dir jetzt nichts Böses sagen, du bist eben das Opfer deiner Erziehung.

Bei diesen Worten ergriff ich, mir selbst ganz unerwartet, den Revolver, der auf seinem Tische lag. Er mochte glauben, daß ich mich erschießen wollte. Aber über mich war eine merkwürdige Ruhe, geradezu eine Starrheit war über mich gekommen, die mich in Staunen setzte, der ich mich aber mehr und mehr hingab. Mir war, als stünde ich in einem eigenen, luftleeren, stillen Raum, absondert von ihm, der vor mir saß. Er blinzelte mich an. Ein wenig bewegt, aber auch ein wenig verächtlich, was ich sogleich bei mir feststellte.

Laß das gefälligst liegen, sagte er barsch und ärgerlich. Natürlich, das ist die ultima ratio – nicht wahr? Ich ersuche dich, leg' 126 das Zeug nieder, schrie er mich an, ich bin kein Freund von nobeln Szenen. Und sogleich fing er an, pathetisch zu werden. Sei ein Mann, rief er mir zu, sei endlich ein Mann! Hättest du den Ernst des Lebens jemals respektiert, du würdest jetzt dem Ende tapfer ins Auge blicken.

Schon wieder diese Phrasen, dachte ich. Aber ich muß es laut gedacht haben, denn er widersprach heftig: Das sind keine Phrasen. Es ist traurig, daß du jetzt noch so sprichst, wo dir die beleidigte Natur eine solche Lehre erteilt.

Ich aber lächelte, weil ich mir dachte, wie albern ist er, und weil es mich zwang, bei mir zu fragen: Wieso ist die Natur beleidigt? Wie kann die Natur beleidigt sein?

Sehr traurig, fuhr er mit erhobener Stimme deklamierend fort, daß du, statt dich mit der Wahrheit abzufinden, ihr entfliehen willst und zu dem da greifst.

Sie irren sich, sagte ich, und meine Stimme muß wohl sonderbar geklungen haben, denn er sah mich an, wie jemanden, den man zum erstenmal erblickt. Sie irren sich, mein lieber Regierungsrat. Ich will mich nicht erschießen.

127 Schön, dann leg' dieses Zeug da fort, redete er mir jetzt freundlich zu. Leg' es fort und setze dich, wir wollen einmal wie zwei Männer miteinander sprechen. Komm', Paul.

Einen Augenblick erreichte seine Güte mein Herz, dann aber beharrte ich auf meinen Gedanken: Wie konnten Sie nur glauben, fragte ich ihn, daß ich auch nur einen Tag freiwillig hingebe von den drei Monaten, die mir noch übrig bleiben, auch nur eine Stunde? Denken Sie doch, drei kurze Monate – bis Anfang Juni!

Mein lieber Paul, beruhige Dich!

Ich bin ganz ruhig, sagte ich, und stand ihm dabei gegenüber, so wie ich jetzt vor Ihnen stehe. Er im Sessel, wie jetzt Sie, Herr Direktor, und ich vor ihm, zwischen uns beiden der Schreibtisch. Und ich war auch ganz ruhig. In mir war alles leer. Nur das eine Wort Sterben tönte immerzu in meinem Kopfe wie eine Glocke. Darüber hinaus aber ging mein Denken ganz von selbst, ganz unabhängig von meinem Willen, wissen Sie, wenn Sie einen Stich in die Ader erhalten, das Blut strömt und strömt und überrieselt Sie vollständig und färbt Ihre Wäsche, die 128 Kleider, so geschah es mir. Irgendwo war eine Ader geöffnet worden, und da strömten die Gedanken eben hervor, und strömten und waren nicht zu stillen, und ich blieb machtlos, noch mehr, sie beherrschten mich gänzlich, überrieselten meinen Willen, färbten meine Handlungen – ich horchte nur, sah nur zu, erstaunt, neugierig. Ja, so war es. Sie werden mich jetzt lehren, sagte ich, wie man dem Tod mutig ins Auge schaut. Sie werden mich lehren, mein teurer Regierungsrat, wie ein Mann, der den Ernst des Lebens kennt, sich tapfer abfindet, und so weiter!

Ich bitte dich, Paul, laß deine Späße beiseite! Er schrie das mit einer Stimme, die ein wenig zu krähen anfing. Ich hatte diese Ermahnung und diesen krähenden Ton in Kinderzeiten oft von ihm gehört und ich erinnerte mich sogleich daran.

Sie waren mein Lehrer, bester Regierungsrat, sagte ich langsam, Sie werden mir diese letzte Lektion schon noch geben müssen, und zwar auf der Stelle.

Sprich endlich vernünftiger oder . . .

Ich ließ ihn nicht zu Ende kommen und fuhr fort: Freilich müssen Sie rascher damit fertig werden als ich. Erstens weil Sie es 129 ja gewiß besser verstehen, und zweitens, weil ich nicht drei Monate warten kann.

Zum Donnerwetter, das Geschwätz, krähte er mir dazwischen, was meinst du eigentlich?

Ich meine, sagte ich, daß Sie in einer Viertelstunde sterben müssen.

Er sprang auf. Bist du wahnsinnig geworden?

Aber ich hob den Revolver und zielte auf ihn. Halt! rief ich so energisch, daß er stehen blieb, ohne sich zu rühren. Ich schieße, sobald Sie nur einen Finger bewegen! Ich gebe Ihnen eine ganze Viertelstunde.

Willst du mich ermorden? stotterte er.

Ich entsinne mich des merkwürdigen Umstandes, daß ich bei diesen Worten dachte: was für lächerliche Ausdrücke er doch jedesmal gebraucht. Zu ihm aber sagte ich: Es tut mir leid, ich hätte Ihnen mit Vergnügen eine halbe Stunde gegeben, aber mein Leben ist selbst so kurz, und da kann ich mich hier nicht so lange aufhalten.

Paul, laß dir sagen . . . hör mich . . . aber weil er die Hand ausstreckte, rief ich wieder: Ich schieße! Dann fuhr ich gelassen fort: Sehen Sie, mein Teuerster, Sie sind mit 130 mir im gleichen Falle. Plötzlich hat Sie da eine schwere Krankheit ereilt, und in einer Viertelstunde müssen Sie sterben, wenn der Zeiger dort auf Halb steht – so wie ich in drei Monaten sterben muß.

Er begann zu schreien, allein ich hielt ihm den Revolver vor das Gesicht, daß er vor der Mündung des Laufes verstummte. Schonen Sie sich, ermahnte ich ihn. Sie dürfen nicht schreien, nicht klingeln, sich nicht bewegen, sonst kann der Tod sofort eintreten. Ja, selbst wenn jetzt jemand unversehens diese Türe da öffnet, dann sterben Sie augenblicklich. Sehen Sie, von solcher Art ist Ihre Krankheit. Und weil er gänzlich erstarrt vor mir stand, setzte ich noch hinzu: Also fassen Sie sich! Raffen Sie den Ernst das Lebens zusammen, ordnen Sie Ihre Angelegenheiten, kurz, benehmen Sie sich so, wie sich nach Ihrer Meinung ein echter Mann benimmt. Ich will ein Beispiel haben. Ich muß eines haben! Ich gestehe, daß ich in diesem Moment einen unaussprechlichen Triumph empfand. Aber in Wirklichkeit dachte ich nicht daran, ihn zu erschießen. Ich fühlte weder Zorn noch Rachelust, sondern nur Befriedigung. Allein, er reizte mich, indem er mir mit schrecklichen 131 Geberden zurief: Willst du zum Mörder werden?

Da kam mir zum erstenmal der Zorn: Sind Sie vielleicht nicht zum Mörder an mir geworden?

Paul! schrie er beinahe bittend, ich habe dich doch nicht krank gemacht. Ich bin ja nicht schuld daran . . .

Ist es zu glauben, dachte ich bei mir, daß er so dumm sein kann? Und ich bemühte mich, ihm alles zu erklären: Von meiner Krankheit ist hier nicht die Rede. An der ist nichts gelegen. Wer aber gab Ihnen das Recht, mein ganzes künftiges Leben zu vergällen, und wenn es auch nur mehr drei Monate, ja, wenn's auch nur drei Tage mehr sind? Ich hätte gelitten, aber ich hätte gehofft, und ich wäre ahnungslos und fröhlich geblieben mit den anderen. Nur ein bischen krank bin ich, das hätte ich mir gedacht, aber bis zum Sommer werde ich gesund sein. Und vielleicht wäre ich dann eines Tages in Meran oder in Kairo gestorben, ohne es zu wissen, gerade in einem Moment, in dem mir am wohlsten gewesen wäre.

Ich habe dir die Wahrheit gegeben, sagte er, jedoch, es klang nicht mehr so pathetisch 132 und nicht mehr so zuversichtlich wie vorhin.

Macht Ihre Wahrheit gesund? fuhr ich ihn an. Habe ich Wahrheit verlangt oder Hilfe? Hilft Ihre Wahrheit? Und weil er schwieg, sagte ich unter dem Zwang eines neuen Gedankens: Vielleicht wäre das Sterben mit Qual zu mir gekommen. Vielleicht hätte eine dunkle Stimme mir in der letzten Stunde enthüllt, daß es zu Ende geht. Aber das wäre dann eben die letzte Stunde gewesen. Verstehen Sie? Verstehen Sie die Barmherzigkeit, die darin liegt? Und begreifen Sie jetzt endlich, was Sie mir getan haben? – Eine unermeßliche Traurigkeit erfüllte mich, und sinnend sprach ich weiter: Vielleicht sind wir in der schweren Stunde so voll Bereitwilligkeit, so müd' und satt des Daseins, daß uns die Todeskunde nicht mehr allzusehr schmerzt. Wissen Sie etwas darüber? Sie! Sie aber haben mich, jung, ahnungslos und frisch, wie ich zu Ihnen hereingekommen bin, aufs Sterbebett geworfen! Für drei lange Monate, für mein ganzes Leben!

Nun bemerkte ich, wie er blaß wurde. Voll Eifer begann er zu sprechen: Höre mich an, Paul, es ist möglich, daß ich es dir nicht hätte 133 sagen sollen, . . . wenigstens nicht so schroff . . . aber wir Aerzte, . . . und dann . . . ich kenne dich von klein auf, . . . . ich dachte, ich bin es dir schuldig . . . . vielleicht glaubte ich, . . . . siehst du, . . . . vielleicht glaubte ich, du würdest jetzt, . . . . aber es gibt Umstände . . . . .

Mir fiel plötzlich ein Schleier von den Augen: Gar nichts wollten Sie, unterbrach ich ihn, ganz gedankenlos haben Sie es gesagt, um sich wichtig zu machen, ja, um sich wichtig zu machen; in Ihrer Roheit haben Sie es gesagt, aber reden wir nicht davon. Die Zeit vergeht. Sie haben nur noch acht Minuten.

Ich wiederhole, Herr Direktor, daß ich immer noch nicht daran dachte, ihm wirklich etwas zu tun. Ich war in meiner Starrheit mehr und mehr versunken und sprach ganz automatisch. Ich hörte mir selbst dabei zu und begann nur, ihn immer deutlicher zu sehen. Wenn ich es genau ausdrücken soll, mich fesselte unsere Unterredung, sie interessierte mich aufs äußerste, aber eigentlich ganz objektiv, und was ich selbst vorbrachte, setzte mich in Erstaunen. Ich vernahm es immer nur mit dem Ohr, wenn ich es schon 134 ausgesprochen hatte, und war stets auf meine Worte und Einfälle begierig.

Plötzlich versuchte er, auf mich loszuspringen, und das störte mich sehr. Ich wurde wütend: Stehenbleiben! schrie ich ihn an, ich scherze nicht! Er blieb wie gebannt. Paul, keuchte er mir ins Gesicht, bedenke, was du tun willst!

Es ist bedacht, erklärte ich. Ich will sehen, wie ein Mann dem Tod ins Auge blickt.

Paul, flehte er mich an, besinne dich, denke, welche Schande du über deine armen Eltern bringst!

Denken Sie, welchen Kummer ich in drei Monaten über sie bringen muß, da zählt die Schande nicht.

Er drohte mir: Paul, du wirst gehenkt werden! An den Galgen kommst du!

Ich schüttelte den Kopf: Man müßte sich beeilen, wenn er mich noch erschrecken soll.

Ein Verbrecher wirst du! Ein Verbrecher!

Das war mir zu albern. Sehen Sie denn nicht endlich ein, daß Sie mich von allen Gesetzen frei gemacht haben? Begreifen Sie denn nicht, daß mir nun alles erlaubt ist?

Nun erst befiel ihn verzweifelte Angst. Bisher hatte ihn die Sache aufgeregt, aber er 135 hatte nicht daran geglaubt. Ich weiß das. Jetzt aber begann er daran zu glauben und sich zu fürchten. Lieber Paul, flüsterte er, und seine Stimme klang gebrochen. Ich appelliere an dein Gewissen. Jawohl, an dein Gewissen, das doch über alles gehen muß. Sieh mich an . . . du weißt, wer ich bin . . . ich will dir nicht sagen, daß ich noch jung bin, Paul, auch du bist jung, und trotzdem . . . aber bedenke den Wert meines Daseins . . . ich . . . ich bitte ja nicht für mich . . . nein, durchaus nicht für mich, . . . also es ist nicht meinetwegen, obwohl . . . mit achtunddreißig Jahren . . . aber denke daran, welche Dienste ich der Wissenschaft, der leidenden Menschheit – der Menschheit, der Menschheit . . . Er sagte dreimal Menschheit und geriet ins Stammeln.

Mich geht die Menschheit nichts mehr an, sagte ich kalt. Ihre Dienste wird ein anderer verrichten.

Ein Rettungsgedanke schien ihm aufzuleuchten. Paul, um Gottes willen – ich kann mich geirrt haben, warte noch –

Wieder schnitt ich ihm das Wort ab. Das hätten Sie jetzt nicht sagen sollen, gerade das nicht! Uebrigens, Sie sind Ihrer Sache 136 sicher – das wissen Sie so gut wie ich! Sprechen wir nicht mehr davon – Sie haben nur noch sechs Minuten.

Was nun geschah, trug sich in vier Minuten zu, denn ich gestehe, daß ich ihn zwei Minuten vor der Zeit getödtet habe.

Er begann plötzlich zu kreischen. Sein Gesicht verzerrte sich. Er wurde grün und schlotterte an allen Gliedern. Er weinte und ich war erschüttert davon. Ein entsetzliches, ein pfeifendes, gebrochenes, wortloses Weinen; und so geschwind weinte er. Dann ging seine Stimme in ein Geheul über, heiser und klagend. Belästigt wollte ich die Waffe auf den Tisch schleudern und fortgehen. Ich dachte, man muß draußen glauben, ein Hund wird hier geprügelt. In dieser Sekunde schrie er mich an: Du Hund! Ich fuhr zusammen, aufs Tiefste bestürzt. Aber er hatte die Sprache wieder erlangt. Du Hund! brüllte er. Du Bube! Du elendes Nichts! Du Geck! Du verdammter Müßiggänger du! In mir wurde es ganz still. Ich hielt ihm den Revolver vor das Gesicht, aber nur zur Abwehr gegen den Schimpf, den er mir entgegenschleuderte. Dabei sehnte ich mich weit weg aus seiner Nähe. Und er sprach immer 137 fort, mit enormer Schnelligkeit, immer maßloser, immer unflätiger. Mir aber wurde es auf einmal offenbar: Nur aus Haß hat er mir vorhin die Wahrheit gesagt. Nur aus einer alten, angesammelten Abneigung hatte er mich so an mein Grab gestellt, und mit der Schadenfreude eines auf langer Lauer gelegenen Neides. Die Jahre, die ich mit ihm verlebt hatte, standen jetzt erhellt vor mir. Alles wachte in mir auf: Der Gulden aus Bielitz, das Souper nach seiner Promotion, und bekam eine neue, eine richtige Bedeutung. Mir fiel jetzt der höhnische Blick ein, den ich abends vorher, als ich auf unserem Balle an ihm vorbeigetanzt war, von ihm aufgefangen. Er tanzte niemals. Dabei sprang plötzlich die Walzermelodie von gestern in mir auf, und drehte sich laut in meinem Kopf, daß ich sie mitsummen mußte. Ich sah, wie er einen entsetzten Blick nach der Uhr warf, wie er dann unvermittelt die Hände gegen mich faltete, und konnte mich des Walzers nicht erwehren. Einige Sekunden standen wir uns so gegenüber, und ich fürchtete mich vor ihm. Er rollte die Augen, schnappte nach Luft, die Tränen liefen ihm noch über die Wangen, aber wie eine Flamme 138 schoß der Haß aus seinen Augen, und versengte mein Mitleid. Nun belebte ihn ein neuer Einfall.

Schieß' nur! Schieße! heulte er auf. Aber das sag' ich dir: Dein Blut wirst du ausspeien Tag um Tag und das Fieber wird dich ausbrennen und der Atem wird dir vergehen und deine Lunge wird dir verfaulen, ja, und spüren wirst du es, am Geruch wirst du es spüren, manchmal, und langsam, langsam wirst du ersticken unter solchen Qualen.– oh, ich kenne das, ich kenne das sehr gut – hundertmal wirst du sterben, wirst in Ohnmacht sinken, mit eisigem Schweiß auf der Stirne, wirst wieder erwachen. Warte, ich will es dir ganz genau sagen, wie du sterben wirst – von unten herauf; weißt du, mit klarer Besinnung, und hören wirst du, noch lange hören, wenn sie schreien: er stirbt, er stirbt . . .

Ich schoß. Nur um es nicht mehr hören zu müssen, was mir bevorstand, schoß ich, und rannte aus dem Zimmer, als ich ihn vornüber stürzen sah.«

Der junge Gefangene blickte mit verstörten Augen umher, als käme er eben erst wieder zu sich. Der Schreiber und die beiden 139 Aufseher waren nach und nach ganz nahe herangetreten und nun standen sich alle dicht um den Schreibtisch beisammen. Alle schwiegen.

Der Direktor drehte den netten Bleistift in den Händen und blickte unverwandt darauf nieder. Auf den Zehenspitzen begaben sich die Aufseher und der Schreiber zu ihren Plätzen zurück.

Dann begann der junge Mann wieder zu sprechen: »Das Gerichtsverfahren, meine Haft, meine Verurteilung – ich bekenne, es war mir eher eine Zerstreuung, als ein Schrecken. Ich sehe ein, daß das schlecht ist, aber ich sagte mir, das hättest du alles niemals kennen gelernt. Ich nahm es als ein unerhörtes, als ein seltenes und spannendes Abenteuer, eingesperrt, bewacht, verhört zu werden. Ich interessiere mich für die Menschen, die ich da kennen lernte. Das alles schien mir geeignet, mir über die schlimme Angst hinwegzuhelfen. Und am Tage half es auch. Nur des Nachts . . .« Er senkte den Kopf.

»Ja, und dann,« fügte er leise hinzu, »dann glaubte ich auch, es sei nur gerecht, wenn mein Tod mit so viel Aufsehen verbunden 140 wäre. Dieser ganze Aufwand an Interesse befriedigte mich und schien mir bei meinem Scheiden aus dem Leben angemessen. Auch hatte ich vor niemandem mehr Angst, ich war in meinem Sinn all diesen Strafen und Bestrafungszeremonien entrückt; wie man zu sagen pflegt: unerreichbar für die irdische Gerechtigkeit.«

»Was wollen Sie jetzt?« fragte der Direktor, und wie aus einer Verschanzung hervor spähten seine unnahbaren Beamtenaugen nach dem Gefangenen.

Der schlug die Hände zusammen und preßte sie gefaltet vor die Lippen: »Um Gottes willen! Drei Monate habe ich den Tod erwartet und sie sind verstrichen. Ein halbes Jahr verging und ich blieb am Leben. Jeder neue Tag, der heraufkam, fand mich bereit und gefaßt, aber jeder Monat, der vorüberging, ließ die Lebenshoffnung in mir aufwachen. Und jetzt bin ich seit drei Jahren hier, und ich fühle es, daß ich nicht sterben werde.«

»Warum?« so fragte die kleine, feste Stimme, »warum geben Sie die Motive Ihrer Tat jetzt erst an?«

»Begreifen Sie mich,« flehte der junge Mann. »Damals glaubte ich, mir bleiben 141 nur noch wenige Wochen, damals spielte ich mit dem Geheimnis, aber in meiner letzten Stunde, da wollte ich es sagen. So hatte ich mir's vorgesetzt und ließ alle nach den Gründen forschen, ob ich hatte stehlen wollen, ob eine Frau im Spiele war. Und damals glaubte ich: lebenslänglich, das heißt für mich ein paar Monate. Heute aber, heute weiß ich nicht mehr wie lange, wie viele, viele Jahre das Wort einschließt. Eins aber weiß ich, daß ich unfähig bin, es zu ertragen.«

»Eine Eingabe könnte gemacht werden« sagte der Direktor zögernd, »wenn Sie es verlangen.«

»Ich verlange es! Ich verlange es unbedingt! Man muß mich umbringen oder freilassen.« – Er wandte sich dem offenen Fenster zu, durch das die Frühlingssonne hereinkam, und der Duft frischgemähter Wiesen. Mit ausgebreiteten Armen stand er da.

»Führen Sie ihn ab,« sagte der Direktor und der Schreiber begann sofort wieder, demütig über seine Akten gebeugt, zu arbeiten.

 


 


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