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Die Pharisäer und der göttliche Knabe

Eine Legende

Vor der Hütte seiner Eltern saß der heilige Knabe und hatte feuchten Ton vor sich. Und wie Gott der Vater aus Ton den Menschen geformt, so bildete und formte der Knabe allerlei Gestalten. Vögel bildete er nach, kleine und große, Vögel des Himmels, die am wenigsten erdgeboren scheinen unter allen Geschöpfen. Er formte sie treu und stellte sie in einer Schar um sich her. Und so eifrig beschäftigte er sich in seinem Formen und Bilden, daß er nicht sah, noch hörte, was um ihn vorging.

Da kamen aber drei Männer des Weges, ehrwürdige Greise in weißen Bärten und langen Gewändern, Schriftgelehrte und Gesetzesausleger. Ein Pharisäer war auch darunter. Ihre Augen blickten streng und finster. Sie sprachen gerade davon, wie in dem Volk von Israel die Religion der Väter gering geachtet werde in diesen Zeiten und wie Unglauben und Unbotmäßigkeit um sich greifen bei hoch und niedrig. Ein heftiger Zorn wallte in ihnen auf über die beginnende Gottlosigkeit der Menschen, denn sie fühlten sich ganz eigens bestellt als Hüter der heiligen Religion.

Da sahen sie das Spiel des Kindes vor sich. Und sie prallten zurück, alle drei, wie vor einer giftigen Schlange. Der Tag war nämlich ein Sabbat, und der älteste von den Dreien streckte seine Arme gegen den Himmel aus und rief: »Sei uns gnädig, Herr Gott Zebaoth.«

»Wessen ist das Kind«, schrie der andere, »das also den Sabbat schänden darf auf offener Straße.«

Bei diesem Geschrei entstand in der Hütte eine Bewegung. Der Zimmermann Josef drückte sich hinter eine Wand, er hatte Furcht vor den Männern des Gesetzes und mochte mit ihnen nichts zu tun haben. Auch die Mutter Maria erschrak. Ihr bangte um den Sohn. So trat sie unter die Türe des Hauses, bereit, ihr Kind zu schützen vor den fremden Männern. Sie war jung und schön und sie fürchtete sich nicht.

Nur blaß war sie geworden vor Bangnis, und wie eine hohe Lilie am braunen Zaun des Gartens, so stand ihr Antlitz zwischen den dunklen Pfosten des Hauses.

»Weib!« schrie der Pharisäer. »Fürchtest du nicht die Rache des Himmels, daß du deines Buben Sünde mit ansiehst vor deinen Augen? Eine Mutter wie du ist eine Schande und ein Fluch für Israel.«

Da richtete sich das schöne Weib hoch auf.

»Schmähe nicht mein Kind«, rief sie. »Soll das Kind ein Sünder sein, wie willst du dann bestehen?«

»Sie lästert Gott«, rief der Pharisäer. Und mit rotem zorngeschwollenen Gesicht trat er nahe an den Knaben, der mit großen Augen ruhig zu ihm aufblickte: »Mann«, sprach der Knabe, »willst du meiner Vögel einen haben?«

Da geriet der Pharisäer vollends außer sich. Er erhob den Fuß und einen Augenblick zögerte er. Sollte er die sündhaften, tönernen Gebilde vernichten, oder war es nicht besser, den Knaben selber zu zertreten, den Sabbatschänder! In seinen Zornesaugen war der schöne Knabe zur giftigen Kröte geworden, die den Garten Gottes besudelte. Aber das Kind lächelte und klatschte in die Hände. Und siehe, seine Vögel spannten die Flügel aus und erhoben sich. Unter jauchzenden Rufen stiegen sie empor zur goldenen Sonne.

Der Knabe lächelte. Und seine Mutter eilte herbei und schloß ihn in die Arme und küßte ihn mit Inbrunst.

Der Pharisäer aber und seine Genossen machten staunende Gesichter.


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