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Eine Kriegserinnerung

Doch nicht vom letzten Krieg ist sie, sondern vom vorletzten, an den ich mich lieber erinnere und zwar darum, weil ich damals jung war und selber daran teilnehmen durfte. Aber freilich, diese Teilnahme war – nun sagen wir – gerade keine gewöhnliche.

In der Gegend zwischen Jagst und Tauber, im einsamsten, verstecktesten Talwinkel – in Hinterwinkel mit einem Wort – inmitten kindlicher Ahnungslosigkeit, erlebte der Knabe dieses Stückchen Zeit- und Kriegsgeschichte, dieses unvermutete und seltsame Hereinragen des großen Krieges in die Weltabgeschiedenheit seines stillen Dörfchens, gar nicht weit – und das ist vielleicht das Allermerkwürdigste – gar nicht weit von Aschhausen, dem Stammschloß der Grafen von Zeppelin.

Es war ein sonnig-goldener später Oktobertag, ein Tag, wo die Sommerfäden durch die warme Luft fliegen, wo die Kirschbäume mit goldiggelben und blutroten Blättern eine unerwartete märchenhafte Blütenpracht zu entfalten scheinen im hellen Glanzlicht der Herbstsonne.

Und es war ein Sonntag. In einem einsamen Wiesengrund, zwischen rotbraunem Buchengehölz, weideten, hierhin und dorthin zerstreut, rote und gescheckte Kühe, und um ein Hirtenfeuer am Rand des Gehölzes stand und kauerte ein Häufchen Dorfknaben.

Ganz nahe, einen Hügel hinauf, lagen die Häuser eines ärmlichen Dorfes mit der Kirche zuoberst.

In dem Kreis der Knaben schlugen die ersten roten Flammen hell empor, denn sie hatten aus dem Gehölz einen großen Haufen dürren Reisigs zusammengetragen. Vorher hatten sie auf abgeernteten Äckern einzelne zurückgebliebene Kartoffeln mühsam ausgescharrt; die wollten sie in der Asche braten.

Unterdessen sprachen sie vom Krieg. Man sprach von nichts anderem. Gerade am Tage vorher war eine Todesnachricht ins Dorf gekommen und hatte die kleine Einwohnerschaft aufs schmerzlichste aufgeregt. Die Mutter und die Schwestern des Gefallenen und seine Verlobte vor allen waren in laute Klage ausgebrochen.

Viele Reden konnten sie nicht machen, diese armen Knaben. Es fehlten ihnen alle Vorstellungen. Und es fehlten ihnen die Worte. Sie berieten aber, ob der Krieg wohl so lange dauern werde, bis sie selber groß genug seien, um auch mitzuziehen wie ihre großen Brüder. Und es blitzte aus ihren Augen, ungewöhnlich.

Ich stand unter den Knaben und es ging mir wie den andern; ich wußte mir nichts Klares zu denken. Ich machte mir dennoch Bilder vom Krieg. Die Franzosen stellte ich mir vor wie Menschenfresser. Ich hatte etwas von Afrika gehört. Der Name »Turkos« war mir im Ohr geblieben. Ich dachte mir eine Art menschlicher Ungeheuer, mit blutigen Augen, mit Schaum vor dem Munde. Die gräßlichen Unholde brachen über die Grenze wie über eine hohe Mauer hinweg und fielen in unsere wehrlosen Dörfer ein, um zu brennen und zu morden und die kleinen Kinder am Spieß zu braten. An ihrer Spitze sah ich Napoleon. Oder hieß er Garibaldi? Ich wußte es nicht recht. Jedenfalls war es ein Scheusal.

Mit solchen seltsamen Vorstellungen innerlich beschäftigt, stand ich schweigend in dem Haufen und sah gedankenvoll in die lodernde, züngelnde Flamme.

Plötzlich geschah ein lauter Ausruf. Am Kirchturm, am Kirchturm, was ist das? Alle Blicke wendeten sich nach der Kirche. Und dort, an der Turmspitze, an den Beinen des frisch vergoldeten Hahns, sahen wir etwas angebunden und konnten uns in unserem Erstaunen gar nicht erklären, wie das dahingekommen sein mochte, ein merkwürdig fremdes Ding, von gelblichweißer Farbe, von der Gestalt eines großen, hochaufgebauschten Bettkissens. An einem Seile hings, und daran zerrte es, nach allen Seiten ausbiegend und auf und nieder baumelnd, als ob es sich mit Gewalt wieder losreißen wollte.

»Das holen wir!« rief einer. Und davon gings über Hecken und Gräben, in hellem Lauf nach der Kirche.

Und die Turmtreppen hinauf, die halsbrecherischen, immer höher in dem dunklen Bauch, zwischen dem wurmstichigen Gebälk, an den Glocken vorüber, die ein ängstliches, tiefinnerliches Summen von sich gaben bei unserem Gepolter und Geschrei. Und immer höher, einer über den andern vordrängend, an steilen Leitern empor, das letzte Gebälk hinaufklimmend, wo die Eule vom Nachmittagsschlummer auffuhr und davonfauchte.

So erreichten wir, ganz außer Atem, die oberste Dachluke, wo die Schieferdecker hinauszuschlüpfen pflegten, wenn es an der Turmspitze etwas auszubessern gab. Mit zitternder Hast wurde die Luke aufgerissen. Und da sahen wir das Ding näher, ganz nahe. Aber wir konnten es nicht erreichen. Es hing noch ziemlich hoch über unseren Köpfen. Und da baumelte es hin und her, wie tänzelnd, und spottete unser.

»Wir müssen eine Sense holen!« rief einer.

Das war schneller gesagt als getan. Wir brauchten Geduld. Wer wir konnten uns unterdessen die geheimnisvolle, rätselhafte Erscheinung etwas näher ansehen, und wir gewahrten, daß sich an dem aufgebauschten, kissenförmigen Körper noch ein kleinerer befestigt fand, ein Ding wie ein Tabaksbeutel, das schwer niederhing. Und auf dem Kissen entdeckten wir große, blutrote Buchstaben; wir buchstabierten sie zusammen, wir lasen: METZ.

Das Wort schien uns nicht ganz unbekannt, es mußte mit dem Krieg zusammenhängen. Unsere jungen Herzen schlugen höher.

»Die Sense, die Sense!« schrie es aus unseren Kehlen; wir ahnten etwas Großes, etwas Unerhörtes.

Und endlich kam die Sense. Mit Mühe brachten wir sie durch die Luke. Der sie handhabte, wollte in besinnnngsloser Aufregung das Seil durchschneiden, das, um die Beine des Gockelhahns geschlungen, unsere Beute fesselte. Aber ich schrie wie außer mir, er solle anhalten. Wenn er schneide, flöge die ganze Herrlichkeit wieder auf und davon. Denn ich sah, daß das Ding leicht war wie Luft.

Aber was tun?

»Stoß ihm die Sense in den Bauch,« schrie einer, »stoß, vielleicht sitzt der Napoleon drin!«

Das geschah. Die Sensenspitze riß dem seltsamen Vogel aus Metz ein Loch in den Leib und augenblicklich schrumpfte er zusammen. In wenigen Minuten hatte er seinen letzten Atem ausgehaucht und hing schlaff und tot an seinem Seil.

Er rührte sich nun nicht mehr.

Und da schnitten wir ihn los.

Aber wir benahmen uns ungeschickt in unserer Hast, wir brachten ihn nicht zu uns herein. Er glitt uns aus und rutschte das Turmdach hinunter.

Wir selber konnten nicht so rasch folgen. Wir brauchten eine geraume Zeit. Als wir endlich unten im Kirchhof ankamen, sahen wir unsere Eroberung bereits in anderen Händen. Ein Haufen größerer Burschen hatte sich des entseelten Ballons bemächtigt und einer schnitt gerade mit seinem Taschenmesser den Beutel auf, der daran hing. Und das war wie ein halbflügges Nest. Die Vögel flatterten heraus und fielen zu Boden – eine ganze Anzahl beschriebener Papierchen in allen Farben, in blaßrot und zartem Blau und Zitronengelb und rosig angehauchtem Grau wie Fliederblust und Malvenblüten, und ein Duft von tausend Wohlgerüchen ging davon aus.

Unterdessen kamen von allen Seiten Leute herbei; auch die Frau Pfarrer und ihre erwachsene Tochter traten am dem Hause und näherten sich. Man machte Platz. Die Pfarrerstochter interessierte sich für die Papiere; sie konnte Französisch.

Es waren Briefe.

Die Eingeschlossenen von schrieben an ihre Verwandten. Fräulein Hedwig las und übersetzte. Und da war von nichts die Rede als von herzlieben Müttern und Schwestern, von heißgeliebten Bräuten, die in der Ferne trauerten und verzweifelten, Worte des Trostes und der Ermunterung, Worte heiliger Zärtlichkeit, Worte sorgender Liebe.

Ich stand und lauschte.

Das Hirtenbüble im Hinterland staunte. Es hatte sich Krieg und Feinde ganz anders vorgestellt.

Aber ein kleines Hirtenbüble aus Hinterwinkel ist ja nicht berufen, über die großen Fragen des Daseins Bescheid zu wissen.


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