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Die Frau mit den zwei Geköpften

Karl von Burgund, der zuerst der Schreckliche hieß, ehe er dann der Kühne genannt wurde, tat sich nicht wenig darauf zugute, ein ebenso strenger und unbeugsamer Richter zu sein, wie ein unversöhnlicher Feind, ein unerschrockener Krieger und ein rauher und gewalttätiger Herrscher, und das allezeit seines stolzen Lebens, bis ihm die groben ungeschlachten Schweizer Bauern bei Murten und bei Grandson ein Bein stellten und bei Nanzig das Genick brachen am Dreikönigstag des Jahres 1477.

Damals meinten die Leute, die Welt müsse untergehen. Vielmehr die ganze Welt wollte erst an den Tod des Fürchterlichen gar nicht glauben. Er wurde nämlich während ganzer drei Tage nicht aufgefunden unter den Tausenden von Toten auf dem gefrorenen Blachfeld draußen vor der Stadt. Er lebte sicher noch, denn wie sollte der tot sein, vor dem eine ganze Welt noch immer zitterte.

Fast alle, der portugiesische Leibarzt Lupi, der Graf Olivier von der March, der Herr von Château-Guyon, der Graf von Campobasso, der Prinz Philipp von Baden und andere, die ausgesandt wurden, ihn zu suchen, oder aus eigenem Antrieb sich diesem Dienst hingegeben hatten, kamen zurück mit verstörten Gesichtern. Mehrere hatten den Herzog gesehen, wie er auf seinem schweren schwarzen Gaul Moreau mit verhängten Zügeln durch den Winternebel dahingerast in der Richtung auf Mirecourt, und sie fanden bei allem Volk kaum einen Zweifler.

Nur zwei ließen sich nicht abwendig machen, der Graf Adolf von Cleve, der treue Freund, und der Narr des Herzogs, genannt Louis Onzième. Wie ein schnuppernder Jagdhund war der Zwerg im roten Schellenkleid immer vor dem Grafen her in dem eiskalten Nebel des winterlich starren Gefildes zwischen unzähligen Leichen und gefrorenen Pferdeäsern. Und dann tat er plötzlich einmal einen schrillen Pfiff. Der Graf Adolf eilte hinzu, da lag vor dem rotberockten Knirps, im gefrorenen Wassertümpel, eine nackt ausgeraubte Leiche mit dem Gesicht nach unten. Dieses Gesicht zeigte sich zur Hälfte abgefressen von Wölfen oder Hunden; die andere Wange aber, als der Graf von Cleve den Kopf sorgfältig herauslöste, schürfte sich los von den Knochen als verwachsen mit dem Eis, der Schädel klaffte von einer tiefen Säbelwunde über der linken Schläfe.

»Ja, Freundchen Adolf,« grinste der Narr Louis Onzième in seiner kichernden Art, »ja, es ist der Gevatter, Gott und wahrhaftig. Er hat seine Krone verloren, und da haben die Nichtnarren ihn nicht wiedererkannt. Aber wie es bei dem großen Heiden Achilles nicht richtig stand um seine Ferse, so bei dem größeren Karl um seine große Zehe und ihren Nagel, und diese Zehe hat den armen Tropf mir jetzt verraten. Sein Narr Louis Onzième hat aber nie bei Lebzeiten des Gevatters jemand etwas verraten von diesem einzigen häßlichen Fehler des großen Fürsten.«

Und also dieser Herzog, als er noch lebte in der Fülle seiner stolzen Kraft, liebte es ein wenig, den lieben Herrgott zu spielen, da er einmal den Kaiser nicht spielen durfte, wonach ihm die Seele stand.

Er pflegte Recht zu sprechen ohne Umschweife und in selbsteigener Person wie die alten Könige, mit denen er sich in Gedanken gern verglich, wie vergeblich er sich auch bemühte, dem Namen nach in ihre Reihe gestellt zu werden, er, der sich für einen Kaiser nicht zu gering hielt. Und wenn er auch das Grauenhafte nicht mit kalten Scherzen würzte und den Henker seinen lieben Gevatter nannte, wie sein spaßhafter Vetter Ludwig von Frankreich mit dem Herrn Tristan tat, der dem König folgte wie dem Menschen sein Schatten: so war doch sein Herz, und er rühmte sich dessen, hart wie der vielbeschriene Diamant von der Größe einer Kinderfaust in der Agraffe seines Hutes, und wie dieser Stein kalte Blitze schoß, nicht anders tat der funkelnde Blick seines Auges, wenn der Zorn die dicke Pulsader seiner Schläfe schwellte.

Schon in den ersten Tagen seiner Regierung offenbarte sich grauenerregend sein Wesen, während noch die Leiche des Herzogs Philipp, den sie den Guten nannten, im Rittersaal seiner Burg zu Brügge aufgebahrt lag und Karl seine Tränen kaum getrocknet hatte.

Der Bastard von La Hamaide, der Sohn des Grafen Johann von La Hamaide, souveränen Herrn von Condé, hatte im Zorn einen Priester erschlagen, einen Kanonikus von St. Jakob, und Karl, dem jeder Geistliche für heilig und unverletzlich galt, verdammte den turbulenten jungen Mann zum schmachvollen Tode. Vergebens bat der alte Graf und Kämmerer, der dem verstorbenen Herzog nahegestanden wie keiner, und baten mit ihm sechs der vornehmsten Edelleute von Flandern fußfällig um Gnade; vergeblich umklammerte die Herzogin-Mutter und Maria von Burgund, Karls eigene Tochter, flehentlich die Knie des strengen Fürsten: Karl blieb bei seinem Spruch. Und der blondlockige La Hamaide, der Abgott aller Frauen von Brügge, ja Karls eigener Liebling bis jetzt, wurde auf dem gemeinen Schinderkarren und in Fesseln zum Richtplatz vor die Gräben der Stadt geführt und enthauptet, und sein Leib wurde in vier Stücke zerhackt und aufs Rad geflochten.

Ein Grausen ging durch die Bewohnerschaft von Brügge, für die doch solche Schauspiele damals nichts Seltenes bedeuteten. Denn das Volk, an Ehrfürchtigkeit gewöhnt, begreift es nicht, daß man seine Vornehmen, die ihm für unantastbar gelten, behandelt wie das schlechte Gesindel. Der Graf von La Hamaide, der Vater des Gevierteilten, aber ließ durch Schergen sein steinernes Wappen über dem Portal seines Stadtpalastes zertrümmern, zur eigenen Bekräftigung seiner Schmach, und dann wandte er der Stadt und dem Fürsten den Rücken und zog sich auf seine Besitzungen zurück, die Seele voll tödlichen Grolls.

Noch größeres Aufsehen aber erregte ein Urteil Karls im folgenden Jahre, das hier eingehend erzählt werden soll.

 

Da saß zu Middelburg sein Statthalter über Zeeland, ein Herr Thibaut von Uzy, Vizgraf von Rubempré. Dieser hatte dem verblichenen Herzog Philipp in mehreren Feldzügen gedient, und durch eine schwere Verwundung am Knie in der Schlacht von Montlhéry zum Tragen der schweren Rüstung und längeren Verweilen zu Pferd unfähig geworden, erhielt er, noch in den kräftigsten Jahren, von Herzog Philipp die genannte Statthalterschaft, in welcher er von Karl bestätigt wurde.

Herr von Uzy wohnte, da das alte Statthaltereigebäude dazu nicht genügend Bequemlichkeit bot, am Markt in dem stattlichen Hause eines Bürgers und Kaufmanns namens Mynheer Vandenhoeck, der allen Grund hatte, mit der Welt und ihren Einrichtungen zufrieden zu sein. Denn nicht nur, daß ihn das Glück in seinem Handel mit Muskat und anderen indischen Gewürzen von Jahr zu Jahr mehr begünstigte, es waltete zugleich in seinem Hause eine junge Frau von blütenheller Schönheit, um die ihn mancher noch mehr beneidete, als um seinen wachsenden Wohlstand. Doch diese Schönheit der Frau Barbara sollte sein Verderben werden, so daß auch ihre strenge Tugend, die jedermann ihr nachrühmte und woran die Arme sich klammerte wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm, ihr und ihres Eheherrn furchtbares Schicksal nicht abwenden konnte, sondern den Handel erst recht schlimm machte.

Denn die rosig schimmernde Jugend des blonden Frauchens in erst beginnender fleischlicher Fülle und bescheiden gekleidet in zarte Sanftheit und Güte, stach dem Herrn Vizgrafen mit dem steifen Knie von der ersten Begegnung an (er hatte bis jetzt nur die braune Sorte gekannt mit matter Tönung) derartig in die Augen, daß er von Stunde an den Blick nicht mehr von ihr wendete und ihr um den Weg ging, wo er nur konnte, und sie umkreiste und umschnurrte nicht anders als ein verliebter Kater, der zur Nachtzeit um die Lichtmeß über mondhelle Dachgiebel einer weißen Katze nachschleicht.

Und da Mynheer Vandenhoeck die ganze Woche, wie sich denken läßt, mehr in seinem Kontor über den großen dicken Büchern saß, als an der Seite seines blonden Gesponses, was sich für einen Mann seines Kalibers auch kaum geschickt hätte, so fand der Herr Gouverneur Gelegenheit genug, die stille Frau allein zu treffen und sie zu überraschen, an Vormittagen und an Nachmittagen, an ihrem zierlichen Webstuhl oder Stickrahmen, vor ihren Linnentruhen oder Zinnschränken, an ihrem Betschemel auch und bei hundert anderen Verrichtungen. Und fand sie dennoch nie allein, sondern immer ihr Töchterchen um sie herum, ein dreijähriges Kind in hellblauem Kleidchen und einer ebensolchen Schleife in den Locken, die glänzten fast wie weiße Seide.

Im Anfang fand er dies nicht einmal unangenehm, denn er konnte so damit beginnen, dem Kind auf seine Weise schön zu tun, und von dieser Einleitung allmählich zu dem verliebten Geplänkel mit der Frau übergehen. Aber dem Letztersehnten kam er dennoch, und auch durch Monate hindurch, um kein Haar näher, wie er auch jenes Geplänkel, als erfahrener Waffenheld und kunstreicher Fechter, in allen Ausweichungen und Variationen durchführte und seine Ausfälle und Kühnheiten mit geschickten Finten und Zurückweichungen erfinderisch wechseln ließ.

Aber ob er schmeichelte und schmollte, oder stürmte und drohte, kurz: auf welche Weise er angriff, er traf nirgends auf eine schwache Seite der trotzigen Festung, die aber gar nicht trotzig tat, sondern stets gleich sanft und ruhig und freundlich verharrte, als ob sie nicht im entferntesten eine Belagerung und Berennung zu bestehen hätte, womit sie, ohne es zu wollen oder zu beabsichtigen, ihren Bedränger erst recht zur Hartnäckigkeit steifte.

Dann machte er den Versuch, und oft wiederholte er ihn, die Blauaugen und Wächter der Umzingelten unversehens zu bestechen und zu gewinnen durch kostbare Stoffe in Seide und Brokat und seltene Kleinodien von Gold und Perlen und edlem Gestein, doch vergeblich, es wurde ihm alles ausgeschlagen.

Aber mit dem Widerstand, den er erfuhr, wuchs ihm der Wille, und mit der Raserei seines heftigen Begehrens verbündete sich der Groll gekränkter Eigenliebe im Herzen des Krieg- und Sieggewohnten, der sich wahrlich schmeicheln durfte, des öfteren stolzere und gefährlichere Bollwerke im Handumdrehen genommen zu haben.

Dieses Bewußtsein nützte ihm indes gar nichts, und er mußte erfahren, daß er immer wieder abprallte mit seinem Anrennen, und die schlauesten Unterhandlungen sich ergebnislos hinzogen ins Unabsehbare.

Wenn wenigstens die dumme Hilfstruppe nicht gewesen wäre, dieses Kind von drei Jahren mit der albernen blauen Schleife im Seidenglanz seiner hellen Locken, das nun schon zweimal, wenn er vom vergeblichen Parlamentieren zum kecken Handstreich übergehen wollte, durch seine erschreckten Schreie ihm alles verdarb, dergestalt, daß der stolze Ritter des Goldenen Vlieses (er trug dieses Ruhmeszeichen seiner kriegerischen Verdienste stets um den Hals) vor den herbeigelaufenen Mägden all seinen Geist zusammenpacken mußte, um seine weltmännische Haltung nicht zu verlieren und den Schein zu retten.

Hätte der Statthalter nicht zusammen mit der Schönen in einem und demselben Hause gewohnt, wäre es vielleicht nicht zum Schlimmsten gekommen, und er hätte es mit der Zeit wohl vermocht, sich das verzweifelte Unternehmen aus dem Sinn zu schlagen. So aber mußte er der blonden Frau Barbara, auch wenn er sie nicht aufsuchte, immer wieder im engen Aneinander begegnen, wobei der böse Stachel mit dem Doppelhaken der Begierde und verletzten Eitelkeit sich jedesmal tiefer und schmerzlicher in sein Fleisch eindrückte.

Und was als Schlimmstes hinzukam: er konnte, ohne sich bei dem etwas eitlen Hausherrn dem unschönen Verdacht hochmütiger Gespreiztheit auszusetzen, sich dessen häufigen Einladungen an seinen Tisch nicht entziehen. Hier aber saß er an der Seite der jungen Frau, und wenn es dann gelegentlich geschah, daß diese in ihrer allzu harmlos bürgerlichen Art mit ihrem Ellenbogen den seinen flüchtig berührte, ohne sich dessen vielleicht auch nur bewußt zu werden – darauf zu schwören, wird von niemand verlangt – dann zuckten durch das Hirn des Vizgrafen sofort die schwefeligen Blitze des allergiftigsten Verdachts, und seine weitgeöffneten schwarzen Augen nahmen einen, fast möchte man sagen: teuflischen Ausdruck von Genugtuung an.

Wie berechtigt oder unberechtigt nun in solchen Augenblicken die heimlichen Schlußfolgerungen seines Gehirns sein mochten, das wie jedes andere Gehirn sich seine Vernunftschlüsse mehr von der Herrschaft der Triebe als von der kalten Logik diktieren ließ: so oder so mögen die gedachten winzigen Vorkommnisse nur allzu schwer gewogen haben in der Schale, auf deren Sinken oder Steigen der Preis dreier Menschenleben stand.

Denn wenn Herr Thibaut von Uzy sich ohnedies schon tief verbissen hatte in den Köder, den sein Schicksal ihm vorhielt in Gestalt der blonden Frau Barbara, so verbiß er sich jetzt doch noch tiefer, ohne recht mehr sagen zu können, ob aus Liebe oder aus Ingrimm. Denn seine Leidenschaft, oder was man so nennt, würgte an ihm, daß er manchmal gar zu ersticken drohte. Und wenn er seinem Würgengel ins Gesicht sah, so war dies bald das feurige Antlitz der roten Begierde, bald die verzerrte Fratze der blassen Wut. Und das eine Gesicht, mit dem feuerfarbenen Blick der Hölle, versengte ihm das Mark in den Knochen, und das andere, das blasse Medusenhaupt, überrieselte ihn mit eisiger Kälte, daß seine Glieder schlotterten.

Die witzigen und mehr oder weniger feinen Mittel hatte der Vizgraf mit dem letzten Rest seiner Geduld längst vergeblich ausgegeben; so blieb ihm nichts übrig, als zu einem plumpen zu greifen, zu einem ganz plumpen, von dem er dennoch hoffen konnte, da er über Macht verfügte, daß es ihn ans Ziel bringen werde.

Da ging denn eines Morgens ein unglaubliches Gerücht durch die Stadt. Es hieß, der reiche Kaufmann Mynheer Vandenhoeck sei am Abend zuvor von den Schergen des Statthalters ergriffen und in den untersten Kerker des Turmes geworfen worden. Über das Verbrechen, dessen man ihn anklagte, wußte zunächst niemand etwas. Doch wurden die Bürger zu Middelburg bald aufgeklärt. Der Statthalter selber sorgte dafür, und bald wußte die ganze Stadt, was sie wissen sollte: daß dem Herrn Vizgrafen von Rubempré Dokumente in die Hände gespielt worden seien, die den Bürger Vandenhoeck eines geheimen Komplotts mit den Rebellen und Aufrührern von Lüttich überführten, die im Sold des schlimmen Lutz, nämlich des elften Ludwig von Frankreich, standen, in dessen Dienst und Auftrag sie dem Herzog Karl, dem Kühnen, die böse Suppe einbrocken sollten, an welcher er dann eines Tages auch fast erstickt wäre.

Niemand konnte sich unter den Beschuldigungen etwas Besonderes und Greifbares denken, aber der Name Lüttich allein genügte, die Leute mit Grauen und Schrecken zu erfüllen. Man kannte nur zu gut das entsetzliche Schicksal der Lütticher. Alle Welt war voll von den Erzählungen der schauderhaften Züchtigung dieser Stadt durch den Herzog Karl unter den eigenen Augen Ludwigs, des französischen Königs, und ihm zum grausamen Spott, der allein die Lütticher zu ihrer erneuten Empörung aufgereizt hatte.

Und also, darauf baute der Gouverneur, brauchte es nur dieses Namens, um alle Münder stumm zu machen.

Außerdem hatten alle Arme vollauf zu tun, und der Statthalter durfte sich mit hämischer Freude beglückwünschen, zur Ausführung seines Streiches den glücklichsten Augenblick gewählt zu haben. Sogar die Macht der Elemente schien in seinem Bunde. Er vergaß nur, daß so oft der launische Zufall, gerade wenn er den Menschen mit ungewöhnlicher Gunst überhäuft, erst recht auf sein Verderben sinnt.

Aber einstweilen kümmerte sich, wie Herr von Uzy richtig ausgerechnet, keine Seele um den Kaufmann Vandenhoeck und vergaß jedermann dessen privates Schicksal über dem viel furchtbareren Schicksal des ganzen Landes. Denn es hatte zu Vlissingen das tobende Meer seine Dämme durchbrochen und drohte alles zu verschlingen, Acker und Wiesen und Wohnungen, Menschen und Vieh.

Nicht nur Mynherr Vandenhoeck schien vergessen, sondern auch die schöne Barbara, seine arme Frau, die einsam in ihrer Kammer weinte und jammerte, indes ihr Töchterchen verständnislos und verstört in einer Ecke kauerte. Groß war ihr Weh, aber fast noch größer ihre Angst und Beklemmung vor dem, was ihr jeden Augenblick bevorstand. Denn sie zweifelte nicht, daß er über kurz oder lang vor ihr erscheinen werde, der Böse, der Arglistige, der Fürchterliche.

Und dann stand er vor ihr, angetan mit dem goldgestickten violetten Talar, die reich gewirkte und edelsteingeschmückte Kette des Goldenen Vlieses über der Brust. So stand er vor ihr und betrachtete sie befriedigt. Sie machte sich stark, sie richtete zuerst das Wort an ihn.

»Die Scham gebot Euch nicht,« sprach sie mit Beben, »dieses Zeichen abzutun,« – sie deutete auf das Goldene Vlies – »Ihr habt die Stirne, mit diesem Schild der ritterlichen Ehre vor mir zu erscheinen?«

»Darüber, schöne und angebetete Frau,« versetzte er lachend und zugleich mit einem begehrlichen Blick in seinen großen dunklen Augen, »darüber hat allein mein Herr und Meister zu entscheiden, der auch dieses Ordens Meister ist; wollt Ihr ihm vorgreifen, dem Furchtbaren, sanfte Frau Barbara?«

Sie wendete sich entsetzt von ihm ab.

»Aber über Eure eigene Angelegenheit«, fuhr er mit weicherer Stimme fort, »liegt auch bei Euch allein die Entscheidung, und wenig kostet es Euch, Ihr wißt es wohl, daß Euer Eheherr noch von dieser Stunde an frei sei wie der Vogel in der Luft, trotz ...« – er zögerte und beobachtete lauernd die Frau – »trotz seines Todesurteils, das seit einer halben Stunde unterzeichnet ist.«

Frau Barbara stieß einen Schrei aus, das Kind in der Ecke lief heulend an ihre Röcke. Der Statthalter verharrte eine Weile in unheimlichem Schweigen.

»Liebe Frau Barbara, schönste Frau,« begann er dann plötzlich sanft und schmeichlerisch, »ist es nötig, Euch von meiner Liebe zu reden? Ihr kennt sie nur zu gut, die wilde Leidenschaft, die am Mark meiner Knochen zehrt. Ich bin es, der um Gnade bittet vor Eurem harten Sinn, ich, der Richter, ich bin der Flehende, laßt Euch erweichen, grausame Schöne.«

Und wahrlich, er hatte sich ihr zu Füßen geworfen, der Stolze, und suchte ihre Knie zu umklammern. »Ihr werdet mich nicht verschmähen, schöne Angebetete,« rief er mit Hingerissenheit. »Nein, Ihr werdet nicht. Ich bin auch Euch nicht gleichgültig. Ich habe es öfters gefühlt, wenn ich an Eurer Seite saß, am Tisch Eures Gatten, und Euer Ellenbogen dem meinigen begegnete. Oh, es wäre nicht so weit mit mir gekommen, ohne solche leise Zeichen eines heimlichen Einverständnisses.«

Sie wich zurück, zitternd und zum Tode erschrocken. Er solle sie nicht berühren, sie müßte ihre Mägde rufen. Und da stand er auch schon wieder hochaufgerichtet vor ihr.

»Ihr selber verurteilt ihn zum Tode,« sprach er hart.

»Herr Ritter,« stotterte sie unter heißen Tränen, »ich habe es aus Eurem eigenen Munde, daß die Ehre über das Leben geht.«

»Da war von Männern die Rede,« knirschte er, »komme mir nicht mit solchen Albernheiten. Denke lieber, daß du deinem armen Kinde da seinen Vater erhalten solltest.«

Nun richtete sie sich hoch auf, indem sie ihre Hände fest um den Blondkopf des kleinen Mädchens preßte. Dieses Wort habe er nicht überlegt, es müsse ihr erst recht verzehnfachte Kräfte geben.

»Amen,« bestätigte er höhnisch und wollte sich zum Gehen wenden.

Aber da schlug sie hin zu seinen Füßen, händeringend, ihr Kind vor sich zwischen ihren Armen. Aber unter seinem eisigen Blick erstarb ihr das Wort auf der Lippe. Das Ungeheuer seiner Leidenschaft hatte wieder einmal das Gesicht gewechselt, und statt mit dem Antlitz der roten Begierde starrte es sie an mit der verzerrten Grimasse der blassen Wut.

Und nur noch eine kleine Bitte wagte sie, für sich und ihr Kind: den Verurteilten noch einmal sehen zu dürfen. Vielleicht schimmerte ihr daraus etwas wie eine letzte Hoffnung entgegen.

»Gut, du sollst ihn wiedersehen,« stieß er unheimlich hervor, indem er das Gemach verließ.

Sie selber erschrak darüber. Und doch hatte sie nicht im entferntesten eine Ahnung von der grauenhaften Gnade, die ihr damit zugesagt worden.

 

Wie jederzeit die hervorstechendsten Eigentümlichkeiten der Herrscher, besonders wenn sie lasterhafter Natur sind, mehr oder weniger auf ihre Diener abfärben, am meisten auf diejenigen unter ihnen mit etwas fragwürdigem Menschenwert, so stand es auch bei denen, die von Herzog Karl abhingen; auch er machte sozusagen Schule durch das, was ihn am auffallendsten von seinem Vater und Vorgänger, dem Herzog Philipp, unterschied. Und so mancher, der das imposante und wahrhaft großzügige Herrscherwesen in diesem Fürsten am wenigsten zu erfassen vermochte, suchte es ihm doch in dem einen Punkt gleichzutun: in seiner unweigerlichen grausamen Härte.

Zu Dutzenden wuchsen um ihn herum die Karikaturen burgundischer Holofernesse auf. Einige davon haben sich auch für immer ins Gedächtnis der Menschen eingebohrt, wie jener entsetzliche Peter von Hagenbach, von dem die Stadt Breisach überm Rheinstrom noch lang ein Liedlein zu singen wußte, und der dann auch zuletzt vor dem finsteren Breisacher Münster auf dem Rad geendet hat. Der Herr von Uzy, Vizgraf von Rubempré, gehörte mit zur Gilde. Und er vergaß nicht, der schönen Frau Barbara am anderen Morgen den Geleitsbrief zustellen zu lassen, der ihr und ihrem Kinde den Kerker des unglücklichen Gatten öffnen sollte.

Und so machte sie sich mit ihrem Töchterchen und diesem Brief unverweilt auf den Weg nach dem Turm. Und unverweilt und mit großer Bereitwilligkeit öffnete ihr der Schließer, und schritt dann voraus nach dem dickummauerten Verlies des armen Mynheer Vandenhoeck, und führte Mutter und Tochter vor einen schwarzen Sarg, und darin lag der Gatte und Vater, das abgeschlagene blutige Haupt mit den erstarrten Händen vor sich auf der Brust haltend.

Das war des Vizgrafen letzter Witz. –

Während dieser Vorgänge hielt Karl von Burgund zu Brügge Hochzeit mit seiner zweiten Frau, Margret von York, der Schwester König Eduards von England. Da, mitten in die prunkvollen Feierlichkeiten hinein, zwischen Tanzen und Bankettieren und Wasserfahrten auf phantastisch aufgeputzten Schiffen, zwischen unzähligen Turnieren und Mysterienspielen mit der ganzen Stadt als Theater: da traf plötzlich den Herzog die Hiobspost von den durchbrochenen Deichen und ungeheuren Verheerungen des entfesselten Elements in seiner Provinz Zeeland.

Und die unheilvolle Botschaft zu vernehmen und sich aufs Pferd zu schwingen und fortzusprengen in gestrecktem Galopp, war für den Herzog eins und dasselbe. Denn so konnte ihn, zum Schlimmen wie zum Guten, sein portugiesisch gemengtes Blut jählings hinreißen, das ihn zwang, seine kurzgemessene Laufbahn gleich einem roten Kometen zu durchrasen, ein Todbringer seinen Völkern, vom strahlenden Anbeginn an bis zum Tag seines grauenhaften Untergangs, in dessen Abgrund er die Welt mit hineinzureißen drohte, die wunderliche Welt, die ihm, dem Königlichen (der sich für einen Kaiser nicht zu gering hielt), um keinen Preis den Namen eines Königs geben wollte, den sie doch so vielen armen Tröpfen nicht verweigerte.

Und so raste er jetzt. Diesmal, um zu raten und zu helfen. Und er spornte seinen schwarzen Berberhengst, dem bald der Schaum wie große Schneeflocken vom Gebisse stiebte und von den Flanken, zu gestrecktestem Galopp über die frostharte Ebene, die bleiche Februarsonne zur Seite, unbekümmert, ob das edle Tier triefte von Schweiß und Blut, und unbekümmert auch, ob sein Troß ihm folgen könne oder nicht.

Denn wie ein Vater für sein jüngstes Kind, hegte er für sein Zeeland, die jüngste seiner Provinzen, eine zärtliche Vorliebe.

Schon kurz nach Mittag hielt er vor dem Wasserlauf, der die Wester-Schelde genannt wird. Ohne Besinnen warf er sich in den ersten Kahn, mit den wenigen, die ihm nahegeblieben, darunter Herr Philipp von La Clyte, genannt Herr von Comines, und gegen die zweite Nachmittagsstunde landete er im Hafen zu Vlissingen.

Zu seinem Glück, wenn das Wort hier nicht wie grausamer Spott klingt, war der Statthalter der Provinz, Herr von Uzy, noch rechtzeitig vor dem Herzog eingetroffen, trotz seiner bewußten Geschäfte zu Middelburg; es möchte ihm sonst ein wenig gnädiger Empfang zuteil geworden sein von seinem etwas kurz geratenen Herrn mit dem viereckig braunen Gesicht.

Dergestalt also fügte es sich, daß drei Tage darauf Karl von Burgund mit seinem Gefolge zu Middelburg erschien, um auch hier, so gut es gehen mochte, die Gemüter zu beruhigen. Bei derartigen Gelegenheiten zeigte sich Karl gern väterlich gegen sein Volk und erwies oft den Geringsten eine große Leutseligkeit. Besonders drang er darauf, der in Trank und Speise sich mäßiger hielt, als je ein Sterblicher, daß zur Tafelstunde jeder vor ihn gelassen werde, der in Sachen der Gerechtigkeit ein Anliegen an ihn habe.

Und da geschah es nun, als Karl zu Middelburg im Hause des Mynheer Vandenhoeck bei seinem Statthalter speiste, zusammen mit Herrn von Comines, dem Oberkämmerer und Anführer seiner Leibgarde und mehreren seiner Kriegshauptleute, daß plötzlich im Vorsaal, wo das Dienervolk wirtschaftete, ein lauter Lärm entstand, aus dem vernehmlich eine erzürnte Frauenstimme hervorklang.

Das geschah in dem Augenblick, als der Mundschenk des Herzogs seinem Herrn auf silberner Platte den goldenen Mundbecher darbot. Er hatte ihn vor Karls Augen mit klarem Wasser gefüllt und dann vorsichtig drei gezählte Tropfen des roten Weines von Beaune hineinperlen lassen; denn nie trank Karl anderes Getränk, so sehr mißtraute er seinem heißen, portugiesisch gemengten Blute.

Karl hatte den Becher schon ergriffen, da wurde er aufmerksam und erkundigte sich nach der Veranlassung zu dem befremdenden Auftritt. Man erstattete ihm Bericht, eine Tolle habe sich in den Saal drängen wollen. Aber dem Herzog war ein verdächtiges Erbleichen seines Statthalters nicht entgangen, und indem er, ohne getrunken zu haben, den Becher auf die Silberplatte zurückstellte, erklärte er schroff und mit bedenklichem Stirnrunzeln, wie er es nicht liebe, daß man diejenigen für toll erkläre, die vielleicht Schutz und Gerechtigkeit bei ihm suchten. Darauf befahl er, die Abgewiesene vor ihn zu bringen.

Und dann konnte es wirklich scheinen, als ob man es mit einer Tollen zu tun habe. Denn die Eintretende, und sie war niemand anders als Frau Barbara, aber tief verhüllt in schwarze Witwenschleier, warf sich nicht dem Herrscher zu Füßen, wie jedermann erwartete und das höfische Gesetz es heischte, sondern blieb aufgerichtet und regungslos, gleich einem schreckhaften schwarzen Gespenst, drei Schritte vor Karl stehen. Sie erklärte, sie komme nicht als Bittende, sondern als Anklägerin. »Gnädiger Fürst,« sprach sie dann, »seht ihn nur an, Euren Statthalter, ist er nicht bleich wie das böse Gewissen selber? Da braucht es von meiner Seite wenig Worte.« Und sie erzählte kurz, was ihr und ihrem Eheherrn von dem Vizgrafen von Rubempré zugefügt worden.

Dieser wagte mit keinem Wort seiner Anklägerin zu widersprechen, und jedermann gewann die Überzeugung, daß die Frau die Wahrheit rede. Sie sprach ganz leidenschaftslos und mehr wie jemand, der ein Gebot der Pflicht erfüllt, als aus der Verzweiflung eigenen Schmerzes.

Aber so kurz sie sich faßte, Karl ließ sie dennoch nicht ausreden. Schon zeigte sich an ihm das böse Zeichen, die dickgeschwollene Ader an der Schläfe. »So mir Sankt Jörg,« schwur er, »es ist höchste Zeit, daß ich erfahre, ob ich bei einem Ritter meines hohen Ordens oder bei einem Schurken zur Tafel sitze.« So furchtbar wirkte der Zornausbruch des Fürsten, daß der nervöse Herr von Comines, mit dem feinen Gesicht mehr eines gelehrten Klerikers als eines Lagergenossen, unbehaglich auf seinem Stuhl rückte an der Seite des barschen Herrn.

Und was Frau Barbara nicht getan hatte, das tat jetzt der Vizgraf von Rubempré: er stürzte dem Herzog zu Füßen, und indem er alles eingestand, bat er um Gnade, mit dem Versprechen, an der Frau und ihrer Familie alles gutzumachen, was nur in seiner Macht stehe, ja die Gekränkte zu seiner Ehefrau zu erheben, wenn sie anders einwillige, was doch wahrlich in Anbetracht des großen Standesunterschieds sich als eine fast ungeheuerliche Sache darstellte.

Das sei das Geringste, was er tun könne, erklärte ihm der Herzog scharf, endgültigen Urteilspruch sich vorbehaltend; aber nun solle er sich hinwegheben, und bevor er volle Genugtuung geleistet, möge er es nicht wagen, seinem Fürsten wieder vor die Augen zu treten.

Und nachdem er dem jüngsten seiner Hauptleute den Befehl erteilt, die Dame in ihre Wohnung zu geleiten, hob er die Tafel auf – des Trunkes hatte er vergessen –, stieg mit seinem Gefolge zu Pferd und ritt zurück nach Vlissingen, um noch einmal an dem Unglücksort und überall im Land nach dem Rechten zu sehen. Drei volle Tage verweilte er noch auf dem Schauplatz der schrecklichen Verheerungen.

 

Diese Zeit benutzte Herr von Uzy eifrig, um sich mit den beiden beleidigten Familien endgültig auszusöhnen. Ein übriggebliebener Bruder des enthaupteten Vandenhoeck, zu Goes, ebenfalls Kaufmann seines Zeichens, ließ sich durch die gebotene Abfindungssumme leicht befriedigen; aber ganz unüberwindlich schienen die Schwierigkeiten, die Frau Barbara den Unterhandlungen des Vizgrafen entgegensetzte, obwohl ihr anderer Schwager, der Mann ihrer einzigen Schwester, den Freiwerber des Statthalters machte und sich als dessen eifrigster Anwalt erwies.

Auch schienen ja die Vorteile des Handels für die Familie verlockend genug. Der Gouverneur hatte einen Ehekontrakt verfertigen lassen, kraft dessen er der Frau Barbara, auch für den Fall der Kinderlosigkeit ihrer Ehe mit ihm, alle seine Ländereien und bedeutenden Einkünfte bis auf den letzten Heller vermachte. Aber Frau Barbara erklärte ihre Einwilligung für unmöglich. Denn würde sie nicht, wenn sie den Statthalter heiratete, vor aller Welt als seine Mitschuldige erscheinen?

»Was heißt vor aller Welt?« rief ihr Schwager aus. »Die Welt muß man urteilen lassen wie sie kann und mag. Sie sieht von allem einzig den äußeren Schein. Nur darauf haben wir zu achten, ob wir mit unserem Tun vor Gott und dem eigenen Gewissen bestehen können. Daß wir in einer Sache ein reines Gewissen haben, darauf allein kommt es an.«

Dieser Schwager zweifelte nicht, damit den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben. Aber in Wahrheit hatte er, der Ahnungslose, nur einen wunden Fleck in der Seele seiner Schwägerin berührt, den wundesten.

Denn gerade das gute Gewissen fehlte ihr. Und es gab da etwas, was sie sich selber lange nicht hatte eingestehen wollen, was ihr aber immer deutlicher geworden war und was sie nun bei sich im Innern ihre heimliche Schmach nannte, ein Etwas, das ihr auf der Seele brannte wie eine unsichtbare eitrige Wunde. Sie hatte ihrem unglücklichen Gatten nur äußerlich die Treue gehalten. Nicht aus der Reinheit ihres Herzens, nur aus anerzogenem Hausfrauenstolz und dem starken Bewußtsein von christlicher Gesetzespflicht, war sie in dem Kampf mit dem Verführer die Siegerin geblieben. Und Herr von Uzy, Vizgraf von Rubempré, der nicht mit Unrecht sich selber eine große Kenntnis der Frauen zusprach, hatte sich also nicht getäuscht, ja Frau Barbara hatte sich ihm schon zugeneigt in ihrem Herzen, lange bevor ihm der erste Verdacht in der Seele aufstieg.

Dem guten Mynheer Vandenhoeck war die schöne Barbara, nach der allgemeinen Sitte und Übung, vermählt worden durch Verabredung der beiderseitigen Familien; die Liebe war dabei nicht zu Wort gekommen. Diese leichtsinnige Person durfte in die Ehesachen ernster Leute nicht dareinreden. Und der steife Mynheer, so gern er mit der schönen Hausfrau prahlte, hatte sich doch, seiner eigenen Temperatur entsprechend, durchaus mit der lauen Wärme begnügt, die einmal in der Natur seiner Frau bedingt schien. Sicher und unfehlbar las er, wie hieroglyphisch sie auch aussahen, die Ziffern und Zeichen in den großen dicken Büchern seines Kontors, über die er gebückt saß des Tages und auch einen Teil der Nacht, so daß er jedes Plus und Minus darin auswendig wußte. Aber wenig vertraut zeigte er sich mit einer anderen Schrift, und die Natur des Weibes im allgemeinen, wie seiner eigenen Frau im besonderen, blieb ihm ein Buch mit sieben Siegeln, und er meinte nicht anders, als daß darin nichts stand denn eitel Harmlosigkeiten.

Frau Barbara selber wußte es so lange nicht besser, bis dann aus den dunklen und jähen Blicken des schwarzen Burgunders und Ritters vom Goldenen Vlies ihr ein Funke ins junge Blut sprang und eine Unruhe in ihr erregte, die sie bald mit tödlichem Schreck, bald mit einem ganz neuen und fremdartigen Glücksgefühl erfüllte, worüber sie aber erst recht erschrak, wenn sie sich besann.

Oh, das alles hatte sie begraben geglaubt in ihrer Brust für ewig, so sicher begraben, wie es der blutige Leichnam ihres Gatten jetzt nur immer sein mochte.

Nun aber, von ihrem Schwager und ebenso heftig von ihrer Schwester zu der neuen Ehe gedrängt und mit ihren eigenen Gründen dagegen immer mehr in die Enge getrieben, ließ sie sich hinreißen, ihr Herz vor der Schwester zu erleichtern und ihr alles zu bekennen.

Sicherlich hat sie, soweit sie sich bewußt wurde, nicht geglaubt noch gehofft, den anderen damit nur Wasser auf ihre Mühle zu leiten. In Wahrheit und der Wirkung nach aber tat sie das. Denn auch der Mann, ein Stadtbaumeister und Schöffe des Zunftgerichts, erfuhr ohne Säumnis von ihren heimlichen Skrupeln.

»Um so besser, liebes Bärbchen,« rief er aus, »um so besser. Nein, wahrlich, du gehst zu weit, Bärbchen. Wer wird sich ein Gewissen machen wegen einer Sünde, die er gar nicht begangen hat? Nur für das, was wir tun, haften wir. Mag der Herr Satan uns noch so tolles Zeug einflüstern, das ist nicht unser, das ist Satans. Ein Gelüst ist nicht Sünde, so lange wir ihm widerstehen; es kann uns im Gegenteil zum großen Verdienst gereichen, denn je heftiger eine Versuchung ist, desto heller leuchtet unsere Tugend im Widerstand dagegen.«

Man sieht, der Mann erwies sich als kein übler Theologe, unbeschadet seines Baumeisteramtes und Schöffentums. Und er pflegte eine Rede, die er für gut hielt, in ihren Hauptpunkten so lange zu wiederholen, bis sein Zuhörer sie auswendig konnte. Er wußte und äußerte auch tausend andere Gründe und Argumentationen außer den angeführten und ruhte nicht eher, bis die schöne Schwägerin mürbe geworden wie ein flämischer Dreikönigskuchen.

Kurz, die Frau Barbara ließ sich endlich überreden, ob mit aufrichtigem Widerstreben, wie es den Anschein hatte, oder mit heimlicher innerlicher Neigung und Befriedigung, das muß dahingestellt bleiben.

Sie gab also, wenn vielleicht nicht in ihrem Gefühl, so doch eben in der Tat ihre Einwilligung und hielt mit dem Statthalter Hochzeit am Abend des dritten Tages nach dem Spruch des Herzogs.

Diese Hochzeit bereitete ihr gleich eine bittere Enttäuschung. Denn schon am anderen Morgen in der Frühe verließ sie der neue Gemahl und ritt fort, ohne viel Worte zu verlieren; sie war ja nun seine Ehefrau und hatte damit von ihrer ehemaligen Wichtigkeit für ihn ein gut Teil verloren. Wenn nämlich eine solche Umwandlung des Gefühls und Erkaltung des heißesten Begehrens vielleicht schon ohnedies ein wenig in der Natur des Mannes begründet sein mag, so kann das seltsame Phänomen um so weniger befremden in dem Fall des Herrn Vizgrafen, der, statt mit freier Entschließung und freudigem Wollen in die Ehe zu treten, von einer höheren Macht gewaltsam hineingestoßen worden. In der Tat war ihm nicht viel anders zumute als einem, den die Knechte des Profossen ohne alle Präambula ein wenig unsanft geprellt haben. So katzenjämmerlich fühlte er sich in seiner Seele, daß er das Weib jetzt heimlich zu allen Teufeln wünschte, das ihm zuvor um einen Mord nicht zu teuer war, um das er noch vor acht Tagen am liebsten die ganze Welt in Brand gesteckt hätte.

Ganz anders stand es um Frau Barbara. Wenn sie vielleicht wirklich den Vizgrafen schon vorher geliebt hatte, so liebte sie ihn jetzt mit hundertfacher Kraft, seitdem er ihr Gatte geworden, und saß nun verwirrt in ihrer Kammer und weinte heiße Tränen, sie wußte nicht, ob des Glückes oder des Kummers, und begriff nicht das harte Betragen des Mannes, noch ihren eigenen unklaren Zustand. Er aber liebte einzig nur noch sich selber und dachte an nichts in der Welt, als wie er die Gnade seines strengen Herrn wiedergewönne, dessen endgültiger Richterspruch ja noch zu erwarten stand.

Ganz nur von diesem Gedanken eingenommen, ritt er jetzt, von einem Pagen und einem Reitknecht begleitet, dahin auf der Straße nach Blissingen, und ritt aber nicht gestreckten Laufes, sondern in langsamem Schritt, als ob er zauderte in bösen Ahnungen.

Und sieh, da kam ihm auf halbem Weg der Zug des Herzogs schon entgegen.

Herr Karl, diesmal auf einem gelben Hengst aus Andalusien, war ganz in schwarzem Stahl gewappnet vom Hals bis zur Sohle, aber über der düsteren Rüstung wallte in blauer Seide ein reichfaltiger Mantel nieder, über und über bestickt mit Gold und Diamanten, daß selbst die bleiche Februarsonne ihn in funkelnde Blitze hüllte. Drei gewaltige schneeweiße Straußenfedern überwallten seinen vergoldeten Helm. Denn er kam heut nach Middelburg, um einer Abordnung der dortigen Bürgerschaft nach deren Begehr feierliche Audienz zu erteilen.

Beim Anblick seines Fürsten stieg der Vizgraf eiligst vom Pferd und demütig wollte er sich dem Herzog nähern. Aber eine barsche Handbewegung Karls ließ ihn erschrocken auf die Seite weichen.

Er schwang sich also mit Hilfe seines Knechtes und des Pagen von neuem aufs Pferd, etwas mühsam und unbeholfen, da ihm das Knie steif war von der Schlacht bei Montlhéry her und ihm außerdem der empfangene Schrecken in den Gliedern saß.

Zu Pferd schloß er sich dem Zug des Fürsten an, indem er sich bald diesem, bald jenem der Hofleute zugesellte, um ihre Gedanken zu erforschen über die mutmaßliche Gesinnung des Herzoges gegen ihn. Zu allerletzt näherte er sich demjenigen unter ihnen, der in seinem gelben, in Schwarz paramentierten und mit seinem Marderpelz verbrämten Talar sich merklich in seinem Aussehen von den anderen unterschied. Es war dies der Oberkämmerer des Herzogs und Hauptmann seiner Leibwache, Philipp von La Clyte, genannt Herr von Comines, derselbe, der später, nachdem er Karl verlassen und in die Dienste des Königs Ludwig getreten war, diese Geschichte in seiner weltberühmten Chronik eigenhändig aufgeschrieben hat. Herr von Comines, der Gardenführer mit dem blassen Klerikerkopf und den Dichteraugen unter der blanken, blassen Stirn, verhehlte dem Vizgrafen nicht seine Besorgnisse.

»Herr Ritter,« sprach er voll Teilnahme, »ich möchte Euch wünschen, Ihr hättet mit Herzog Philipp zu tun. Der wußte Liebeshändel menschlich zu beurteilen, und leichter als ein anderes verzieh er ein Vergehen aus der Leidenschaft der Liebe. Er verzieh, weil er verstand. Ob aber Karl dazu geneigt sein wird? Ihr kennt ihn. Ihm ist allzeit die Liebe fremd geblieben. Vermählt hat er sich wohl zweimal, weil er sich einen Reichserben wünschen muß. Aber er hat sich nie schwach gezeigt um des Weibes willen, oder nie stark, wie Ihr wollt. Er vermag Liebessachen nicht ernst zu nehmen, er liebt daran nur das Spaßhafte und Groteske. Ihr wäret doch auch eine kurze Zeit Mitglied der Tafelrunde auf Burg Genappe, wo damals der landflüchtige französische Thronfolger, der heut König Ludwig XI. heißt, die Gastfreundschaft seines Vetters genoß, des Grafen von Charolais, unseres heutigen glorreichen Herrn und Herzogs. Nur solche Geschichten, worüber er lachen konnte, und wären es auch die dicksten Unflätereien gewesen, fanden schon damals einzig den Beifall des jungen Karl, wenn sie nur einigermaßen witzig vorgetragen wurden. Nie horchte er williger auf, als wenn gerade der nichtsnutzige Arladin la Griselle oder gar sein eigener Vetter von Frankreich an die Reihe des Erzählens kamen; denn diese beiden wußten immer das Gepfeffertste auf den Teppich zu bringen. Das aber waren Karls Lieblingsgerichte. Und so wenig oder so gar nichts er sonst mit seinem geliebten Vetter Ludwig gemein hat: in diesem Punkt gleicht er ihm ganz, dem unglaublichen König mit dem Aussehen eines Krämers, der, fürchte ich, mit seinen dünnen Jagdhundbeinen unserem strahlenden Herrn noch gar den Rang ablaufen wird. Vor allem aber fürchte ich, Karl werde Euch ein allzu strenger Richter sein. Die Wahrheit zu reden, Herr Ritter, Ihr habt wirklich einen dummen Streich begangen.«

So Herr von Comines, damals noch ein armer Teufel. Später, im Dienste König Ludwigs, und nachdem er einer der einflußreichsten und begütertsten Männer des Königreichs geworden, pflegte er – auch als Geschichtenschreiber – bedeutend vorsichtiger und sparsamer mit seinen Reden umzugehen.

»Ich habe ihm zu Montlhéry das Leben gerettet,« entgegnete kleinlaut Herr von Uzy; »nächst Gott und seinem Vater verdankt er es mir, daß er hier in seiner Macht und Herrlichkeit vor uns herreitet.«

Hier wurde das Gespräch unterbrochen; Adolf von Cleve rief Herrn von Comines an die Seite seines Fürsten.

Wie in seinem ganzen Wesen und allen seinen Tugenden und Schwächen (ausgenommen in Liebessachen, dem Herrn von Comines zufolge), so zeigte Karl schon in seinem äußeren Erscheinen und Auftreten das fast übertriebene Gegenbild zu seinem Vetter Ludwig von Frankreich. Dieser ging in allem und besonders in dem, was Macht heißt, einzig auf die nackte Sache und mochte gern, so sehr König er sich wußte, schlechter gekleidet gehen als der geringste seiner Bürger. Karl aber liebte das laute Pathos der Macht, man hätte ihn in späteren Zeiten einen Romantiker genannt.

Und drei umfangreiche Möbel – aber das ist ein schlechtes und schäbiges Wort, um die in Rede stehenden Gegenstände zu bezeichnen – sagen wir: drei reiche Symbole seiner fürstlichen Herrlichkeit, gleich groß und königlich im weltlichen wie im geistlichen Prunk, führte Karl auf allen seinen Fahrten mit sich: seine bewegliche Hauskapelle, reicher als je eines Königs Kapelle an gottesdienstlichem Gerät mit zahlreichen Bildern, in Goldgrund auf Holztafeln gemalt und den zwölf Aposteln in purem Silber, dann sein seidenes Gezelt mit den aus Gold gedrehten Schnüren nebst vierhundert Zelten für sein Gefolge – und seinen goldenen Thronsessel.

Dieser stand bereits aufgeschlagen im großen Saal des Middelburger Rathauses, als Karl vor dem spitzbogigen Portal den Fuß auf die Erde setzte, vielmehr auf den roten Brabanter Samt, der vor ihm ausgebreitet lag in langen Streifen bis hinauf in den Saal.

Indem Karl – vier reichgekleidete Pagen hielten den Saum seines Mantels – die Treppe emporstieg, versäumte er nicht, den gebückt stehenden Bürgern freundlich und leutselig zuzunicken. Im Saal angelangt, bestieg er unverweilt den hohen Sessel mit den Lilien von Valois und der Krone auf der hohen Rücklehne, überdacht von goldenem Baldachin. Sein Gefolge reihte sich ihm zur Seite, indessen die bürgerlichen Abgeordneten, denen die Audienz galt, das eine Knie auf der Erde, in gebücktester Haltung vor ihm verharrten. Karl ließ sie aufstehen und befahl dem Bürgermeister zu reden.

Es handelte sich im Grund nur um eine Zeremonie, um die feierliche und öffentliche Kundgebung von bereits vereinbarten Dingen. Dennoch fehlte es nicht von seiten der Bürger an umständlichen und pompösen Reden, die Karl würdevoll und mit Geduld anhörte. Solche Staatshandlungen gingen ihm nicht wider den Geschmack. Als aber dann die Bürger ihre Sache erledigt glaubten und sich zurückziehen wollten, erschreckte er sie heftig mit einer fast ungnädigen Anrede, indem er zugleich sein langes Schwert, das ihm quer über die eisernen Knie lag, ein wenig lupfte und mit hellem Klirren gegen die schwarzstählernen Beinschienen stieß.

Er habe geglaubt, sprach er, sie würden noch in einem anderen Anliegen heut vor ihm erschienen sein, und sehr müsse es ihn befremden, daß sie nicht laut Klage vor ihm führten gegen seinen ungetreuen Statthalter.

Der vom Herrn Vizgrafen nicht mit Unrecht gefürchtete Augenblick war gekommen. Doch den stolzen Ritter des Goldenen Vlieses hatte keineswegs alle Zuversicht verlassen. Er trat mit ruhigem Anstand vor den Herzog und beugte tief das Knie zur Erde. Er sprach: »Euer Knecht harrt Eures Urteils. Lasset es gnädig sein, gestrenger Herr.« Und dann berichtete er eingehend alles, was er getan, um sein Unrecht, soviel an ihm lag, wieder gutzumachen.

»Nun denn,« rief Karl, »mit deinen Opfern hast du dich ausgesöhnt; aber andere Sühne heischt die beleidigte Gerechtigkeit. Ist es nicht genug, daß das vernunftlose Element mir Hohn spricht, indem es die Dämme zerreißt und mein Land verwüstet, soll ich es auch noch von meinen Untertanen dulden, daß sie meiner Macht spotten und die heiligen Schranken des Gesetzes gleich wilden Bestien durchbrechen, woraus meinen Staaten mehr Unheil erwachsen müßte als aus Wassersnot und Pestilenz? Nein, so mir Sankt Jörg.«

»Gnädigster Herr, allgebietender Fürst, gedenkt des Tages von Montlhéry!« rief hier der verzweifelnde Statthalter.

»Ja,« versetzte Karl sinnend. »Ihr seid jener Thibaut von Uzy, Vizgraf von Rubempré, der nämliche, der unter den Hügeln von Montlhéry den tollen Schotten getötet hat, der so wütend auf mich eindrang, während ich unter meinem gestürzten Pferde mich mit Mühe hervorarbeitete. Dessen allzeit zu gedenken, hielt ich für meine Schuldigkeit als Mensch und Herrscher, und Euch selber rufe ich zum Zeugen an, ob Euer Fürst und Herzog Euch je eine Vergeßlichkeit gezeigt hat. Aber nicht gedenken darf ich dessen als Euer Richter. Das wäre meiner Staaten Verderben, und so mir Sankt Jörg, Ihr seid des Todes, Statthalter.«

Bei dem schrecklichen Worte machte Herr von Comines, der Soldatenführer mit dem sanften Klerikerantlitz, unwillkürlich eine Bewegung, als ob ihn fröstelte unter dem gelben Talar mit dem braunen Pelz. Er tat einen Schritt vorwärts mit einer Gebärde, als ob er sprechen wolle; aber das Wort kam ihm nicht über die Lippen.

»Dich hat niemand gefragt,« herrschte Karl ihn an; »zum Führer meiner Leibwache habe ich dich gemacht, nicht zu meinem Rat noch Gerichtsschöffen.«

Und Herr von Uzy wurde, nachdem ihn Herr Peter von Hagenbach, nicht ohne höfliche Entschuldigungen, seines Ordens- und Ritterzeichens entblößt hatte, in denselben Turm und Kerker abgeführt, wo durch ihn dem Mynheer Vandenhoeck ein so schimpfliches Ende geworden.

Die Nachricht hiervon verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt, wo sie die Gemüter, um die Wahrheit zu gestehen, mehr mit Schrecken als Genugtuung erfüllte. Fast in Ohnmacht fiel Frau Barbara über der furchtbaren Botschaft. Aber sie raffte sich zusammen und eilte ohne Besinnen zum nahen Rathaus, wo Karl eben im Begriff stand, sich auf sein Pferd zu schwingen. Laut schluchzend warf sie sich diesmal dem Herrscher zu Füßen. »Gnade, Gnade für meinen armen Gatten!« rief sie wiederholt. Sie vermochte kein anderes Wort hervorzubringen.

Der Herzog runzelte die Stirne. Man sah, er empfand den Anblick dieser Frau jetzt widerlich. Er hatte sich nie schwach gezeigt um eines Weibes willen, wie Herr von Comines es ausgedrückt. Nie war des Weibes Gestalt und Stimme Sirenengesang für ihn gewesen. Der keusche Sohn jenes Philipp, den man den Vielgeliebten hätte nennen sollen, hegte fast einen abergläubisch mönchischen Abscheu vor dem Geruch bei Weiberhaut.

»Nehmt sie hinweg!« rief er mit böser Stimme. Dann aber verzog plötzlich sein Zorn, und er lachte laut auf.

Nur einer erriet den Sinn dieses Lachens, jener Mann an der Seite des Fürsten, in dem gelb und schwarz ornamentierten Talar, der bücherkundige Philippus Comäus von La Clyte, genannt Herr von Comines, er mußte selber lächeln. Karl zupfte ihn neckisch am Ohr.

»Nun, gelehrter Freund,« scherzte er, »wie gefällt dir unsere Witwe von ...?« Er stockte.

»Von Ephesheim! Die Witwe von Ephesheim!« kicherte es hinter dem Rücken des Herzogs. Und das breitmäulige Gesicht des zwergigen Narren im roten Schellenkleid grinste.

»Schweig, du,« versetzte der Herzog gütig, »deine Stunde ist noch nicht gekommen, Louis Onzième.«

So, oder auch kurzweg Onzième nannte Karl seinen getreuen Narren, nämlich mit dem Namen seines lieben Vetters von Frankreich.

»Sie wird kommen, sie wird kommen,« erwiderte der Narr, und ob er wohl ahnte, wie bitter wahr er redete?

»Sag die Witwe von Middelburg, dummer Narr, statt einen klassischen Namen zu verhunzen,« erklärte trocken der Herr von Comines. Er wußte aber wohl, was für eine Witwe der Herzog meinte; denn er selber hatte einst, auf Schloß Genappe, ihm und dem Vetter Ludwig von Frankreich aus den lateinischen Schriften des Herrn Petronius Arbiter die berühmte Historie übersetzt, an die Karl jetzt dachte und die von der lustigen Gesellschaft damals, wo doch so viele gute Historien erzählt wurden, mehr belacht worden war als irgendeine.

Aber der bücher- und menschenkundige Herr von Comines wäre gewiß nicht so bereitwillig auf die Scherzrede seines Herrn und die Namensverdrehung des Narren eingegangen, wenn er im Geiste das Kommende hätte voraussehen können.

Die vom Herzog so unwillig abgewiesene, ja mit Hohnlachen überschüttete Frau Barbara wurde von mitleidigen Nachbarinnen mehr tot als lebendig nach Hause gebracht. Zwei Tage konnte sie sich vor Angegriffenheit kaum auf den Beinen halten. Doch gegen Abend des zweiten Tages packte sie Wein und Brot und Früchte in einen Korb, damit belud sie ihre Magd, und nachdem sie alles Geld zu sich genommen, das sie im Hause finden konnte, begab sie sich in der Dämmerung nach dem Turm, wo sie ihren zweiten Gatten eingeschlossen wußte. Sie hoffte, der Schließer werde sich bestechen lassen und es ihr ermöglichen, dem Vizgrafen noch wenigstens vor seinem Tode einen letzten Trost zu bringen.

Und sie fand sogar den Wächter weit gefügiger als sie erhoffte. Bereitwillig wie ehemals erschloß er ihr den Kerker, und, die Fackel vor ihr hertragend, führte er sie – vor einen schwarzen Sarg.

Ein Augenblick nur war's, aber was sie in diesem Augenblick erlebte, wuchs sich aus wie eine Ewigkeit voll Grauen und Entsetzen.

Sie sah in dem Sarg ihren Gatten, ihren ersten Gatten, den Vater ihrer Tochter, den sie doch vor sieben Tagen sicher begraben hatten. Sie sah, wie er sich emporrichtete und ihr mit ausgestreckten Armen, wie zur Anklage, sein blutüberströmtes Haupt entgegenstreckte, und sie sah zugleich zu Häupten des Sarges einen fürchterlichen Engel stehen in schwarze Flügel gehüllt und mit einem roten Schwert nach ihrem Herzen deutend. So oder ähnlich, bei Gott, muß sie es gesehen haben in der Not ihres Herzens, denn sonst hätte sie nicht, wie der Kerkermeister nachher bezeugte, vor der Leiche des einen den Namen des anderen ausgestoßen.

»Vandenhoeck!« schrie sie, und mit diesem grauenhaften Aufschrei brach sie jählings zusammen über der enthaupteten Leiche des Vizgrafen, dem geschehen war, genau wie er vorher dem Kaufmann getan, seinem Vorgänger in der Ehe.

Warum aber der tote Mynheer Vandenhoeck seiner Frau – in ihrer Phantasie – so vorwurfsvoll das blutüberströmte Haupt entgegengestreckt hat, ob wegen ihrer heimlichen Untreue in ihrem Herzen, oder weil sie versäumt, ihn zu retten, darüber hat natürlich hier unten in unserer Welt der Sterblichkeit niemand etwas erfahren.

Der Herzog Karl indessen, als er von Middelburg nach Brügge zurückgekehrt war, hatte den Grafen Adolf von Cleve zum Statthalter dort zurückgelassen. In seinem ersten Bericht an seinen Herrn erzählte er dem Fürsten den Tod der unglücklichen Frau mit allen seinen Umständen. Dieses Schreiben traf den Herzog, als gerade Meister Cornil Donkeres, der kunstreiche Bildner in Stein und Erz, ihm seine Entwürfe und Zeichnungen vorlegte zu dem äußerst umfänglichen und figurenreichen Kenotaphium für den verstorbenen Herzog Philipp. Mit dem Fürsten zusammen besah auch Herr von Comines die vorgelegten Blätter.

Karl unterbrach das Geschäft und las den Brief. Nachdem er ihn beendigt, reichte er das Schriftstück schweigend seinem Kämmerer und Hauptmann, der, nach einem flüchtigen Blick hinein, das Papier stumm zurückgab. Eine kurze Weile schwiegen beide. Der Sire von Comines mochte an das ausgelassene Lachen denken seines Herzogs unter dem spitzbogigen Portal des Stadthauses zu Middelburg. Auch Karl schien daran zu denken, wie man aus seinen Worten schließen möchte.

»Die Einfälle des Schicksals,« sprach er, »wie die Erfindung der Dichter und deine eigenen Historien, mein gelehrter Freund Philippus, nehmen oft eine unerwartete Wendung.«

Darauf gebot er dem Meister Cornil, unverweilt einen geschickten Gesellen und Zeichner nach Middelburg zu schicken, um ein Konterfei abzunehmen von der jungvermählten toten Vizgräfin, wie es auch geschah. Und auf Grund dieser Zeichnung ließ Karl dann, gleichsam zur Versöhnung des Opfers und ein wenig auch zum Gedächtnis seiner strengen und unparteiischen Rechtsprechung, ein seltsames Steinbild aushauen, in der Mitte die jugendliche Gestalt der schönen Barbara und zu ihren Seiten die beiden Männer, den abgeschlagenen Kopf mit den Händen vor der Brust haltend.

Derselbe Geselle, namens Pieter de Vogel, der das Konterfei gezeichnet und der später ein großer Meister wurde, hat auch den Stein mit liebevoller Kunst ausgeführt und ein köstliches Bildwerk daraus gemacht, das auf Karls Befehl zu Middelburg im Marienmünster neben dem östlichen Seitenportal und nahe dem Altar der heiligen Barbara aufgestellt wurde.

Und das war ganz im Geiste der Zeit. Gegen die Lebenden zeigte man sich unerbittlich, gegenüber den Toten aber, die nun dem ewigen Richter gehörten, trat gern die christliche Milde in ihr Recht.

Im darauffolgenden Jahrhundert, in der Zeit des gottgefälligen Bilderstürmens, wovon auch Marienmünster nicht verschont blieb, ist das Werk für immer verschwunden und der alte Judengott hat sich gewiß heimlich ins Fäustchen gelacht über die christlichen Neujuden, die sich nun anschickten, es fürchterlich ernst zu nehmen mit seinem Gebot »Du sollst dir kein Bild machen« und die darum jetzt daran gingen (unter Psalmensingen und anderen erbaulichen Dingen), gründlich aufzuräumen mit dem heidnischen Greuel ihrer Väter, als welche sehr im Irrtum gelebt hatten, sich auch schon für Christen zu halten.

Bis dahin aber und während nahezu hundert Jahren hat das Werk des unjüdischen und also unchristlichen Pieter de Vogel zu den beschriensten Sehenswürdigkeiten der Stadt Middelburg gehört, wie in allen Chroniken vielfach berichtet wird. Kein Fremder, der in die Stadt kam, versäumte es, die Frau mit den zwei Geköpften zu sehen, und manche schöne Dame, mit einem süßen Geheimnis in der Seele, wovon niemand wußte als einer – oder auch alle Welt außer einem – ja, manche schöne Dame, oder sagen wir, manches verflixte Weiblein, mochte sich vor dem wundersamen und zugleich grauenhaften Gedenkstein im Gewissen lächelnd die Frage vorlegen, ob denn eine Sache, genannt die Treue, sich der Mühe lohne, wenn man doch damit Gefahr läuft, so verewigt zu werden wie diese da mit ihren zwei geköpften Trabanten.

Daraus sprach eine verdammt weibliche Logik, aber sie stammte aus der Zeit vor der großen Religions- und Sittenreinigung, und als die Moral dieser Erzählung kann ich sie euch nicht schenken, meine schönen Leserinnen von heute, denn ich fürchte, ihr würdet böse Augen machen, und davor habe ich Angst. Meine Geschichte hat eine Moral nur für Männer, dahin lautend, daß es um ein weises Maßhalten kein allzu verächtliches Ding sei, selbst in Ausübung der strafenden Gerechtigkeit, wenngleich Richter und Henker vielleicht das Gegenteil behaupten möchten.


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