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Wie ein toter Bräutigam zu einem lebendigen wurde

Als diese ebenso grausige wie lustige und vor allem wahre Geschichte zum erstenmal in einer Zeitung erschien, erhielt ich von einem gelehrten Literaten einen dummen Brief, der mich des Plagiats beschuldigte. Es geht eben nichts über eine tiefgründige Gelehrsamkeit. Ich sollte nämlich die Sache bei einem englischen Dichter (von dem ich nie eine Zeile gelesen habe) abgeschrieben und nur die Namen verändert haben. Ich habe aber gar keine Namen verändert, sondern das hatte, scheint es, der Engländer getan. Ich selber habe die Geschichte einem allerdings nicht gerade berühmtem französischen Memoirenschreiber entnommen – irgendwoher hat man so was natürlich immer entnommen – einem Memoirenschreiber und persönlichen Freund meines Helden, und da wird eben auch der Herr Engländer (oder Amerikaner) seine Historie herausgezogen haben, nur glaube ich bezweifeln zu dürfen, daß er sie so gut erzählt hat, wie ich. Wenn ich aber hier weder den englischen Dichter noch den französischen Chronisten mit Namen nenne, so geschieht das aus dem menschenfreundlichen Grund, weil ich dem Spürsinn der Herren Literaturgelehrten auch etwas zu tun übriglassen will.

B.R.

 

Ein unüberlegtes Betragen und ein allzu großer Übermut sind schon manchem, sonst vortrefflichen jungen Mann zum bösen Verhängnis geworden, und gerade der nachgenannte Roger Rabutin, Graf von Bussy, hat dies schmerzlich am eigenen Leib erfahren. Wer jedoch ein rechtes Glückskind ist und Liebling der Götter, dem müssen auch noch seine Dummenjungenstreiche zum Guten ausschlagen, was, außer durch viele andere Beispiele, besonders durch die Geschichte des Herrn von Saint-Galmier bewiesen wird, der als blutarmer junger Mensch ziemlich aussichtslos in die Welt geblickt hat und dann doch im Jahre 1687 zu Straßburg zwar nicht als Marschall von Frankreich, wie es ihm jener Roger Rabutin prophezeit hat, aber immerhin als königlicher Generalleutnant und in hohem militärischen Ansehen gestorben ist, und wer deswegen sagen wollte, daß sein Glück nicht verdient war, der wäre ein trauriger Küster gegenüber den Fragen des menschlichen Lebens; aber kommen wir zur Geschichte.

Wenn zur Zeit Karls des Achten einem Mitglied der Untersuchungskammer ( Chambre des Enquêtes) am Pariser Parlament das unheimliche Vorrecht nach seinem Tode verliehen worden wäre: alle dreißig oder vierzig Jahre bei einer Sitzung der genannten Kammer wie der Geist des Banko aus dem Boden aufzutauchen und sich auf seinen zufällig leeren Sessel zu setzen, und das so durch zwei Jahrhunderte hindurch, so würde er wahrscheinlich stets von neuem sehr verwundert gewesen sein. Er würde nämlich auf dem Sessel zu seiner Rechten jedesmal seinen ehemaligen Freund und Kollegen Moreau wieder vorgefunden haben, wenigstens würde er – auch ein Untersuchungsrichter braucht, besonders nach seinem Tode, nicht notwendig ein scharfsichtiger Geist zu sein – auf die Identität der Person geschworen haben, an der sich mit Ausnahme der (natürlichen oder künstlichen) Haartracht, wirklich wenig verändert hatte, da das Amtskleid dieser Herren ja nicht der Mode unterworfen stand. Aber selbstverständlich war es jedesmal ein anderer Moreau, jetzt der Sohn, dann der Enkel, dann der Urenkel und so weiter, wie sie eben nach gutem alten Recht und Herkommen erbtümlich im Amt aufeinander gefolgt und in Gestalt und Gesicht (und Manieren) einander fast so gleich geblieben waren wie die Amtsfunktionen, denen sie oblagen im ebenfalls gleich gebliebenen Talar und Barett nebst sonstigem Zubehör.

Und alles das, wie gesagt, durch zwei Jahrhunderte hindurch bis in die Zeit des vierzehnten Ludwig, wo den alten Erbsessel ein Blaise-Gaspar-Hypolite Moreau besetzt hielt, dem nun aber zum erstenmal die Hoffnung versagt blieb, das uralte, sozusagen Familienmöbel mitsamt dem ebenfalls altüberkommenen beträchtlichen Reichtum auf einen Sohn weiter zu vererben. Denn ihm war aus seiner ziemlich späten Ehe nur ein einziges zartes Blümchen, nämlich sein Töchterchen Marie Denise aufgesprossen, aus der sich nun einmal, wenn sie auch weniger zart und weniger schwärmerisch romantisch veranlagt gewesen wäre, selbst mit Zuhilfenahme aller Barette des Parlaments und aller Talarfalten von ganz Frankreich, kein Parlamentsrat machen ließ.

Diese Vorstellung (mancher findet sie vielleicht komisch) wäre dem guten Herrn Moreau, dessen Name mit ihm erlöschen sollte in den Stammrollen des Parlaments, in hohem Grad schmerzlich gewesen, wenn es in der Sache nicht wenigstens halbwegs einen Ausweg gegeben hätte, den darum der Gerichtsrat, wie die Dinge nun einmal lagen, nicht ganz ungern betrat, ja den er, als diese Geschichte anhebt, bereits seit fünfzehn Jahren, und wie gesagt mit immerhin befriedigender Genugtuung, betreten hatte.

Damals, nämlich vor fünfzehn Jahren – die zarte und etwas bleichsüchtige Marie Denise hatte eben ihr sechstes Jahr angetreten – erhielt die Familie Moreau eines Tages zur großen Freude des Familienhauptes einen höchst überraschenden Besuch in der Person des Gerichtspräsidenten Jacques Philippe Cujac vom Parlament zu Aix in der Provence. Dieser Kollege hatte seine drei schönsten Jugendjahre in Paris verlebt und dabei hatte sich zwischen ihm und dem ebenfalls der Jurisprudenz beflissenen jungen Moreau eine seltene Freundschaft ausgebildet, die besonders darin ihre fortgesetzte Nahrung fand, daß die beiden jungen Männer mit großem Eifer eine in ihren Kreisen nicht eben häufige Liebhaberei, nämlich das Studium des Griechischen, gleichzeitig trieben und Nächte hindurch Thukydides und Sophokles zusammen lasen.

Der Provenzale war nun nicht allein gekommen, sondern er hatte seinen fünfzehnjährigen Sohn, den jungen Jacques Philippe Riquier, mitgebracht, und dies wahrscheinlich nicht ohne geheime Absichten. Damit kam er denen des Kollegen Moreau schnurstracks entgegen, und schon vor Ablauf der ersten acht Tage nach seiner Ankunft wurde bereits der Pakt geschlossen, dahingehend: daß die großen schwarzen Augen des hager aufgeschossenen Riquier und die Vergißmeinnichtaugen der blassen Marie Denise zugleich sich verdunkeln und aufhellen sollten in einem zu erhoffenden Dritten. Und es sollte die gedachte eheliche Verbindung – schon damals kopierte das bessere Bürgertum die Sitten der hohen Aristokratie – zu dem Zeitpunkt vollzogen werden, wo der neugebackene fünfzehnjährige Bräutigam sein dreißigstes Jahr erreicht und seine richterlichen Qualifikationen in allen Formen Rechtens und Herkommens öffentlich dargetan hätte. Er sollte dann am Parlament zu Paris zunächst als Adlatus seines Schwiegervaters praktizieren und nach kurzer Zeit dessen Sessel selber einnehmen; dabei sollte er seinem glorreichen Namen Cujac – ob er wirklich mit dem weltberühmten Cujacius verwandt war, weiß die Geschichte übrigens nicht – den nicht weniger glorreichen Namen Moreau hinzufügen und dessen Erlöschen dadurch verhindern.

Also war es ausgemacht und beschworen und besiegelt worden vor fünfzehn Jahren. Und heute nun, wo eben die eigentliche Geschichte anfängt, erhielt die Familie Moreau in ihrem stattlichen Stadthaus in der Gasse der Großen Truanderie nahe bei der hochragenden Kirche von Sankt Eustach zwei höchst aufregende Briefe. Der eine dieser Briefe aus der Stadt Aix in der Provence, von dem genannten Parlamentspräsidenten Cujac, meldete kurz die Abreise des Sohnes nach Paris und stellte weitere Briefe, die der Sohn eigenhändig mitbringen werde, in Aussicht; das andere Schreiben aber, dieses vom Sohn selber, aus der Stadt Joigny datiert, brachte die Meldung: daß wegen einer unglaublichen Überschwemmung des Flusses, den sie dort die Yonne nennen, die Postkutsche zunächst am Weiterfahren verhindert sei, wodurch die vom Schreiber heiß ersehnte Ankunft in Paris zu seinem großen Schmerz sich wahrscheinlich um mehrere Tage hinauszuschieben drohe.

Der erste der beiden Briefe hatte das ganze Haus mit großer Genugtuung erfüllt, der zweite warf auf die Freude einen leicht verdüsternden Schatten. Besonders die frömmelnde und trotz ihrer bärtig ziemlich stark beschatteten Oberlippe sehr zu allerlei Aberglauben geneigte Frau Gerichtsrätin zeigte sich darüber höchst peinlich betroffen, da sie diese Verzögerung als ein böses Omen deutete und damit die Vorausahnung eines dunklen Unheils verband, wogegen sich zu wehren ihr kurzer Verstand kaum einen Versuch machte.

Zum Glück aber gelangte nach nicht ganz acht Tagen eine zweite Nachricht an, worin der junge Herr Riquier, von der Stadt Melun her, seine Ankunft in Paris für den nächsten Abend, und für den darauffolgenden Morgen seinen Besuch in der Gasse der Großen Truanderie endgültig ansagte, worüber selbst die bekümmerte Miene der Frau Gerichtsrätin sich wieder gänzlich aufheiterte.

Man war dann an dem gedachten Morgen in dem Hause Moreau früher als gewöhnlich aufgestanden und saß nun voller Erwartung in dem behaglichen Wohngemach, allerlei Ansichten, Vermutungen und Hoffnungen gegenseitig tauschend, woran jedoch die Tochter in ihrer jungfräulichen Zurückhaltung sich auch nicht mit dem kleinsten Wörtchen beteiligte – als plötzlich Schlag zehn Uhr das Kammerzöfchen hereinstürzte mit dem Ruf: Er ist da.

Der Gerichtsrat erhob sich rasch, und während die Frauen sich oben an der Treppe hielten, eilte er hinunter in das untere Vestibül, wo der Diener sich eben in großem Eifer damit zu tun machte, dem Ankömmling den schwarzen Reisemantel abzunehmen, aus dem sich so etwas wie ein vornehmer junger Offizier in goldverbrämtem veilchenfarbenen Schoßrock und breitem Spitzenkragen herausschälte, als welcher sich in demselben Augenblick lebhaft umarmt und heftig auf beide Wangen geküßt fühlte – natürlich von niemand anderem als dem Herrn Gerichtsrat, der in seiner Freude über die endliche Ankunft des ersehnten Schwiegersohns seinem Temperament freien Lauf ließ.

Oben an der Treppe begrüßte der schmucke Kavalier die Damen, indem er zuerst der Mutter und dann der Tochter ehrfurchtsvoll die Hand küßte, wobei sein weiches dunkles Haargelock etwas nach vorn fiel und die geküßten Frauenhände leis berührte.

Er folgte ihnen dann in das Wohngemach, und jetzt erst kam es dem Gerichtsrat zum Bewußtsein, daß sein Schwiegersohn statt im Kleid eines Doktors beider Rechte, in dem eines Soldaten vor ihm stand. Aber er unterdrückte sein Befremden und nahm mit großer Befriedigung die drei Briefe entgegen, die der Verlobte mitgebracht hatte – von Vater, Mutter und Schwester – in welche man aber zunächst nur kurze Blicke warf, um sich sofort wieder höflich mit dem Überbringer zu beschäftigen, von dem die anderen nun erfuhren, daß er, wie ihm sein Vater empfohlen, im Gasthaus zum Burgundischen Hof unfern des Molièreschen Theaters abgestiegen sei, wo er denn auch zunächst zu wohnen gedenke.

Und dann ging über tausenderlei Fragen nach dem Befinden der teuern Seinigen und dem Verlauf seiner Reise (wo bei der Erwähnung der hemmenden Sintflut der Gerichtsrätin ein neuer Schrecken in die Glieder fuhr) die Zeit so rasch vorüber, daß bei der Meldung der Suppe durch den Diener sich alles wunderte, wie die Stunde schon so weit vorgerückt sein könne.

Die Mahlzeit selber war auch keineswegs kurz, doch wurde allseits nichts weniger als lang empfunden, besonders infolge des erstaunlichen Plaudertalents des Gastes, als welcher unausgesetzt im besten Ton der feinen Gesellschaft tausend spaßige Sachen, darunter wahre Tollheiten vorbrachte, die besonders den Gerichtsrat in helles Entzücken versetzten, indessen die Rätin dabei vor allem ihre Tochter beobachtete, an welche der Verlobte, der Sitte jener Zeit entsprechend, kaum einmal direkt das Wort richtete, die aber deswegen nicht verfehlte, ihm öfter von der Seite her kleine verstohlene und fast naiv bewundernde Blicke zuzuwerfen, was die Mutter in hohem Grad befriedigte. Nachdem man sich aber die großen bronzefarbenen Bergamotten geschält hatte und nach dem zarten Brie der Kognak und der Kaffee aufgetragen wurden, suchte der Gerichtsrat aus der Heiterkeit in den Ernst überzulenken und in Besprechung von allerlei Geschäftlichem einzutreten.

Solange es sich dabei um die Hochzeitsangelegenheiten und Ähnliches handelte, entzog sich der Verlobte dem Gespräch keineswegs, wenn er gleich seine ernstlichen Ansichten und Meinungen auch jetzt noch gern mit allerlei geistreichen Scherzen verbrämte. Als aber dann später der Gerichtsrat auf berufliche und amtliche Dinge zu sprechen kam, wurde der Gast auf einmal merkwürdig einsilbig und gab auf verschiedene Fragen höchst verlegene, ja manchmal geradezu ungereimte Antworten. Nicht lange dauerte das, denn plötzlich erhob er sich und erklärte, daß er leider genötigt sei, die liebwerte Gesellschaft fürs erste zu verlassen, weil bei einer wichtigen Angelegenheit seine Gegenwart erfordert sei. Bei diesen Worten küßte er den etwas verblüfften Damen zum Abschied die Hand, wobei wieder seine vorfallenden schwarzbraun seidenen Locken die kleine Lilienhand der blassen, aber jetzt sichtbar errötenden Marie Denise zärtlich weich berührten.

Darauf an seine Linke den weißen Handschuh streifend, bot er die Rechte dem Gerichtsrat dar, der aber keineswegs danach griff, sondern dem Schwiegersohn lachend erklärte, so billig käme er nicht weg, wenigstens müsse er zuvor einen verständigen Grund zu seinem plötzlichen Aufbruch angeben.

Vielleicht bestehe aber, meinte der Herr Rat, die genannte wichtige Angelegenheit des verehrten Gastes darin, sich bei seinem Bankhaus mit Geld zu versehen. Da könne er sich jedoch den Gang sparen, denn selbstverständlich stehe dem geliebten Schwiegersohn von ihm, dem Schwiegervater, jede Summe ohne weiteres zur Verfügung. Und wenn jener glaube, dieses Anerbieten ablehnen zu müssen, so könne man den Johann mit dem Kreditbrief auf die Bank schicken und den gewünschten Betrag durch ihn abheben lassen.

Aber diese Worte und Anerbietungen des Parlamentsrates beantwortete der auf einmal so rätselhafte Schwiegersohn nur mit verneinend ablehnenden Gesten. Dabei erreichte er allmählich rückwärts die Tür, durch die er, in fast unhöflicher Form, zu entkommen suchte. Der Gerichtsrat ließ jedoch nicht von ihm, er folgte ihm in den Vorsaal und hier stieg plötzlich ein eigentümlicher Verdacht in ihm auf.

Er fragte sich heimlich, und nicht ohne eine gewisse Empörung, ob der junge Mann nicht etwa in seinem Gasthof oder gar auf der Straße die Bekanntschaft einer galanten Dame gemacht und mit ihr ein Stelldichein verabredet habe. Das fragte er nicht nur heimlich sich selber, sondern äußerte auch dem jungen Mann gegenüber, sehr euphemistisch zwar, aber doch verständlich genug, eine diesbezügliche Anspielung.

Aber da traf ihn ein furchtbarer Blick aus den sonst so sanften Augen des Herrn Schwiegersohnes, vor dem er sich ordentlich entsetzte.

»Ihr seid ganz auf der rechten Fährte,« sprach der schmucke Offizier mit unheimlich hohler Stimme. »Allerdings um ein Stelldichein handelt es sich, und um ein solches, bei dem ein richtiger Kavalier noch weniger fehlen mag als bei einem galanten. Auch die Dame Mors soll ein Edelmann nicht verächtlich behandeln. Ich bin nämlich gestern, eine halbe Stunde vor Mitternacht, gestorben, und für heute abend um sechs Uhr hat man auf dem Friedhof zum Hl. Thomas von Aquin mein Begräbnis festgesetzt, bei dem ich zu erscheinen versprochen habe. Ich würde einen schlechten Begriff von mir geben, wenn ich bei einer so ernsten Angelegenheit mein Wort nicht hielte.«

Sprach's, verbeugte sich und eilte durch den Flur nach der Treppe. Erst hier kehrte er sich noch einmal einen Augenblick um.

»Und vor allem, Herr Parlamentsrat,« sprach er mit seltsamer Feierlichkeit, »de mortuis nil nisi bene!«

Damit stürzte er, wie von einem Gespenst verfolgt, die Treppe hinunter, und schon fiel auch das Haustor hinter ihm knirschend in das Schloß zurück.

Der Gerichtsrat warf einen flüchtigen Blick durch das Vorzimmerfenster, und sah, wie der Jüngling, in seiner ganzen Gestalt in den schwarzen Mantel gewickelt, die Gasse der großen Truanderie in der Richtung auf die kleine Kirche von Sankt Leuen eiligst dahinschritt.

Herr Moreau, wiewohl Richter, erfreute sich einer wesentlich heiteren Natur, das stand auf seinem breitflächigen wohlgenährten Gesicht mit dem leichten Ansatz von Doppelkinn deutlich genug geschrieben. Er nahm, wie er schon bei Tisch gezeigt hatte, nicht leicht einen Scherz übel, und so kam er mit lautem Lachen zurück zu den Frauen, die in recht peinlicher Stimmung auf ihn gewartet hatten.

»Ratet, meine Lieben, was das für ein Geschäft ist, das ihn abruft,« sagte er immer noch lachend, »und das er begreiflicherweise vor Damen nicht nennen mochte.«

Über diese Frage schlug Fräulein Marie Denise, in diesem Augenblick blasser als je, verlegen die Augen zu Boden und die Frau Rätin bekam ein langes Gesicht.

»Aber ihr würdet umsonst raten,« fuhr der Rat fort; »er eröffnete mir nämlich, er sei in der vergangenen Nacht gestorben und heute abend um sechs sei seine Beerdigung anberaumt, bei der er doch unmöglich fehlen dürfe.«

»Wie grauenhaft,« hauchte die Rätin, und das leibhaftige Entsetzen stand ihr in den Augen; den jungen, zarten Leib ihrer Tochter aber überlief ein sichtbares Erzittern.

Der Gerichtsrat mußte jetzt erst recht lachen.

»Seid doch nicht kindisch,« mahnte er, »es ist natürlich alles nur ein Scherz. Ich will auch gerne zugeben, daß der Strudelkopf sich etwas Geschmackvolleres hätte ausdenken können, aber er konnte oder wollte nun einmal die Wahrheit nicht sagen, wir werden ja die Gründe wohl noch erfahren, und in der Verlegenheit greift der Mensch eben nach dem Einfall, der sich ihm gerade darbietet; mit einem solchen jungen Springinsfeld darf man das nicht so genau nehmen.«

»Lieber Freund,« unterbrach ihn hier seine Frau, »mir ist angst und bange; ich fürchte, meine schlimmen Ahnungen gehen noch in Erfüllung.« Und in die Vergißmeinnichtaugen der blassen Marie Denise kam ein Blinken wie von einer heimlichen Träne.

»Bitte, meine Teuerste, nicht diesen Ton,« sprach ihr Mann fast streng verweisend. »Das ist ja Unsinn. Und heute abend, wenn der Herr Sohn zurück sein wird und euch seine Erklärungen gibt, werdet ihr selber über eure Torheit lachen. Er weiß, daß um acht Uhr die Tafel bereit ist, und er müßte wirklich sehr unhöflich sein, wonach er ja nicht aussieht, wenn er uns über diese Stunde hinaus warten lassen wollte.«

Er ließ aber wirklich warten. Es schlug die acht auf der Stutzuhr des Kamins, es schlug darauf ein erstes und dann ein zweites Viertel, aber von einem Schwiegersohn ließ sich nichts sehen und nichts hören.

Nun begriff der Herr Gerichtsrat selber nichts mehr.

»Und doch hat er sich«, bemerkte er einmal, »während seines Hierseins als ein junger Mann von vollendeter Erziehung gezeigt. Nur eins, wie ich gestehen muß, hat mir ein wenig mißfallen: daß er sich nicht im Kleid seines eigenen Standes vorgestellt hat, sondern in dem des Kriegers. Das kommt ja fast so heraus, als ob er sich der richterlichen Berufung schämte, die doch mindestens so edel und in höherem Grad menschheitsdienlich ist als der Soldatenstand. Was sagst du dazu, mein Herzchen, mein Kind,« wandte er sich an seine Tochter. »Soll ich deine Gedanken erraten? Sei ehrlich, hast du nicht eben gedacht, daß alles in allem der veilchenfarbene Offiziersrock mit den goldenen Litzen nicht schlecht steht zu seinen schwarzbraunen seidenen Locken? Hab ich's erraten? Gestehe es nur! Auch bist du vielleicht der Meinung, und ich gebe dir nicht ganz unrecht, daß ein junger hübscher Mann auf Reisen sich wohl eine solche Freiheit herausnehmen darf.«

Und hier errötete die blasse Marie Denise heut zum zweiten- oder drittenmal, und diesmal stärker als je zuvor.

»Er kommt gewiß heut abend im Talar,« erwiderte sie ihrem Vater nicht ohne kleine Heuchelei.

»Mit oder ohne Talar,« stieß dieser unwirsch hervor, »aber bei Gott, er kommt ja überhaupt nicht.«

Und die Stimmung wurde allmählich bedenklich. Und immer unheilschwangerer wurde das Gesicht der Rätin.

Sie warteten noch die erste halbe Stunde nach neun ab, dann rief der Gerichtsrat den Johann und gab ihm Auftrag, unverweilt nach dem Burgundischen Hof zu eilen und sich dort, aber bei dem Gastwirt selber, nach dem Verbleiben des Herrn von Cujac zu erkundigen.

Unterdessen fiel es den Frauen ein, daß sie aus Höflichkeit gegen den Gast dessen mitgebrachte Briefe noch kaum aufmerksam gelesen hatten. Marie Denise erbot sich, sie den Eltern vorzulesen. Aber das ging nicht, ihre Stimme bebte, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihre ganze Seele war nur noch von einem einzigen Gedanken erfüllt: was es nur zu bedeuten haben mochte, daß er in so seltsamer Weise weggegangen und nun so lange ausblieb und am Ende gar nicht mehr wiederkam. Nein, sie konnte nicht vorlesen; der Vater mußte für sie eintreten. Die Briefe erwiesen sich so, wie man es nur von ihnen erwarten konnte. Besonders von dem liebenswürdigen Geplauder des jungen Fräulein Cujac – sie mußte, wenn sie ihrem Bruder nur halbwegs ähnlich sah, eine provenzalische Schönheit ersten Ranges sein – würden alle und würde namentlich die blonde Marie Denise unter anderen Umständen über die Maßen entzückt gewesen sein; aber jetzt glitten all die kindlichen und naiven Herzlichkeiten der fernen Schwester fast wirkungslos an ihr ab. Denn immer furchtbarer reckte sich, wie ein Gespenst, in ihrer Seele die Frage auf: Ob er wirklich nicht zurückkommen wird?

Sie hatte sich wahrlich die vergangenen Jahre her wenig Sorgen um den fernen Verlobten gemacht. Er war ja nur ein Gedanke für sie gewesen, kaum eine blasse Erinnerung. Denn was ist eine Erinnerung an einen halbvergessenen Kindertraum, an einen fast verwischten Traum vor fünfzehn Jahren? Aber seit diesem Morgen war der Traum Fleisch und Blut geworden und leibhaftige Gegenwart und strahlend von Leben und Schönheit wie ein junger Gott, und hatte die Seele des blassen schwärmerischen Mädchens ganz ausgefüllt, war ihr einziges Denken und Sinnen, war ihr Leben selber geworden, das, sie fühlte es, hinwelken und vergehen müßte, wenn ihr der wundervolle Traum wieder ausgelöscht werden sollte.

Und wie bitter schmerzlich dieses Hangen und Bangen, dieses gespannte Horchen auf die nächtige Straße nach dem großen Haustor drunten, ob dieses nicht endlich mit seiner kreischenden Stimme frohe Botschaft verkünde. Es schien aber für ewig verstummt... Nein, doch nicht, jetzt drehte sich unten ein Schlüssel, jetzt kreischte es laut, fast wie triumphierend – aber nur Johann, der Diener, war angekommen.

Und die Nachrichten, die er brachte, wirkten auf die Frauen geradezu niederschmetternd, ja grauenerregend, und auf den Gerichtsrat mindestens im höchsten Grad verwirrend.

Was der Diener berichtete, hatte er aus dem eigenen Munde des Gasthofsbesitzers vernommen und konnte also vernünftigerweise nicht bezweifelt werden, so sehr alles der Vernunft und allem gesunden Denken zu widersprechen schien. Darnach nämlich war der erfragte Doktor Cujac am Abend zuvor mit dem Postwagen von Melun angelangt, hatte an der allgemeinen Gasttafel noch vergnüglich gespeist, war kurz nach dem Essen von heftigen Magenkrämpfen befallen worden, die, trotz herbeigerufener ärztlicher Hilfe und der Anwendung mannigfaltiger Linderungsmittel, sich nicht geben wollten, sondern sich immer heftiger und schmerzlicher gestalteten, daß der Kranke sich wie wahnsinnig gebärdete in seinen Schmerzen, von denen ihn dann, etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht, der Tod erlöste. Und heut, um sechs Uhr des Nachmittags, hatte man ihn auf dem Kirchhof der dortigen Pfarrei, nämlich bei Sankt Thomas Aquinus, begraben und auf sein Grab – einstweilen – ein einfaches Holzkreuzchen gesetzt mit seinem Namen, den auch der Totengräber daselbst in sein Register eingetragen hat. An Geld war mehr als genügend vorhanden gewesen, um die Kosten zu bestreiten. Übrigens habe der Gasthofbesitzer das Felleisen des Verstorbenen mit allem Hinterlassenen bereits wieder auf die Post gegeben zugleich mit einem Brief an den Vater des Verblichenen, den Parlamentspräsidenten Cujac zu Aix in der Provence.

Dieser Bericht hatte jedoch nicht in einem hin erfolgen können. Denn bei der Meldung des eingetretenen Todes war die Tochter, mit einem schrecklichen Aufschrei, ihrer Mutter ohnmächtig in die Arme gesunken, und erst als man die Bedauernswerte durch liebevollen und angstvollen Beistand ins Bewußtsein zurückgerettet hatte, konnte der Diener seine Erzählung zu Ende bringen.

Hierauf traf der Gerichtsrat Anstalt, daß die gänzlich verstörten Frauen sich zurückzogen, er selber verfügte sich in sein Arbeitskabinett in Gesellschaft höchst wirrer und unklarer Gedanken.

Klar fühlte er sich nur über eines, nämlich, welche Gestalt der Verlauf dieser Dinge in dem Gehirn seiner Frau bereits angenommen hatte und welcher Art sie sich darin noch weiter auswachsen würden. Er kannte seine Frau nur zu gut und befürchtete nicht ohne Grund, daß wahrscheinlich auch die Tochter dem unheilvollen Bann der Mutter verfallen müsse, wenn der Vater nicht mit allen Kräften dagegen wirkte. Er zweifelte nämlich keinen Augenblick daran, daß die Mutter sich bereits in dem Glauben bestärkt habe und immer mehr sich darin bestärken werde, der rätselhafte Jüngling vom Vormittag, und seltsam genug war ja die Geschichte, sei niemand anderes gewesen als der Verstorbene selber oder vielmehr der materialisierte Geist desselben, der seiner Verlobten nach seinem Ableben in leibhaftiger Gestalt erschienen, um ihre Seele für immer an sich zu fesseln.

Und die folgenden Tage machten es ihm zur Sicherheit, daß die Tochter selber, durch den mütterlichen Einfluß, sich ebenfalls in diese Vorstellungen verirrt und gänzlich darin verloren hatte. Sie verweigerte Speise und Trank bis auf das Allernotwendigste, und bereits am dritten Tage meldete die Frau Rätin ihrem Gemahl, die Tochter sei unüberwindbar entschlossen, der Welt zu entsagen und im Kloster von Val-de-Grace (das erst vor kurzer Zeit von der Königin-Mutter, Anna von Österreich, gegründet worden) den Schleier zu nehmen.

Der Geist des toten Verlobten war nämlich den Frauen ein zweites Mal erschienen, und diesmal unter Umständen, die wirklich alles dazu beitragen mußten, um die beiden verwirrten Gemüter in ihrem Glauben erst recht zu befestigen.

Von dem Diener Johann begleitet, der einen üppigen Kranz junger Rosen vor ihnen hertrug, waren die beiden Frauen, in Trauerschleier gehüllt, nach dem nicht sehr fernen Kirchhof von Sankt Thomas gepilgert, hatten den Kranz auf dem frischen Grab niedergelegt und dann lange auf den Knien davor gebetet.

Als sie sich aber, noch ganz in ihre Gebetsekstase eingesponnen, erhoben hatten, war plötzlich zwischen den schwarzen eisernen Kreuzen der nahen Gräber die Gestalt jenes lockigen Jünglings im veilchenfarbenen Schoßrock und weißen Spitzenkragen vor ihnen wie aus dem Grabe emporgetaucht.

Er hielt in der Linken seinen Dreispitz mit weißen Straußenfedern, mit der Rechten aber fuhr er sich nach dem Herzen und machte vor den Damen eine stumme und tiefe Verbeugung, worauf die Mutter ihre wankende Tochter nur mit größter Mühe dem Torgitter des Kirchhofs entgegenzuführen vermocht hatte.

Auf diese Mitteilung seiner Frau hin hatte der Gerichtsrat den Johann ins Gebet genommen, der hoch und heilig beteuerte, den veilchenfarbenen Offizier ebenfalls auf dem Kirchhof gesehen und als denselben erkannt zu haben, der zwei Tage zuvor so lustig mit der gerichtsrätlichen Familie zu Mittag gespeist hatte. Wahrhaftig, es war eine ganz verzwickte Geschichte.

Was über die Einbildungen und Wahnvorstellungen seiner Frau zu denken sei, hierin gab's in dem klaren und verständigen Kopf des Gerichtsrats kein Schwanken; er wußte aber auch, daß gegen solche unfaßbare Gewalten mit Worten nur schwer anzukämpfen ist. Er machte darum auch nicht den geringsten Versuch in dieser Beziehung, sah aber deswegen dem Gang der Dinge keineswegs müßig zu.

Zunächst begab er sich in eigener Person nach dem Burgundischen Hof, und dabei erhielt er in dem Rätseldunkel der vergangenen Tage ein kleines Lichtlein aufgesteckt, das ihm in seiner natürlichen Erklärung der seltsamen Wunderbarlichkeiten schon halbwegs als Wegweiser dienen konnte. Jedenfalls sollte ihm, dem Gerichtsrat am hohen Parlament, niemand zumuten, um den Besuch des verstorbenen Schwiegersohnes zu erklären, ein Gespenst zu Hilfe zu rufen.

Dennoch versagte es sich der Herr Rat, den Frauen dieses einstweilige Ergebnis mitzuteilen. Denn er wußte, wie hartnäckig der Aberglaube ist, der im Kampf mit dem nüchternen Verstand sich fast immer als der Überlegenere erweist oder sich wenigstens als solcher fühlt, weil der Verstand oder die Vernunft für ihn einfach der Unglaube sind. Und der Unglaube, er wäre es ja sonst nicht, muß selbstverständlich den Glauben bekämpfen, wie auch umgekehrt. Ein Tor, der glaubt, daß beide sich je in der Mitte treffen und versöhnen könnten.

Der Gerichtsrat behielt also einstweilen die wichtige Kundschaft für sich. Aber Tag und Nacht überlegte er, was sich etwa tun lasse, um seine Tochter zu retten und von ihrem verzweifelten Entschluß abzubringen. Eine ganze Woche lang zermarterte er vergeblich sein Gehirn, und endlich entschloß er sich zu einem Schritt, gegen den er selber keine geringen Bedenken hegte, aber die Liebe zu seinem einzigen armen Kinde hätte ihn auch vor noch Bedenklicherem nicht zurückschrecken lassen.

Und also fanden die Leser der »Gazette de France« (damals noch die einzige französische Zeitung) eines Morgens in den Spalten dieses Blattes eine öffentliche Aufforderung von so sonderbarer Art, daß sie allgemein unter Lachen und Kopfschütteln gelesen und entweder für einen schlechten Witz oder das Werk eines Verrückten gehalten wurde; sie lautete:

»Der falsche Schwiegersohn, der am verflossenen 26. April den wirklichen Schwiegersohn bei Sankt Thomas von Aquin begraben hat, wird als Mann von Ehre aufgefordert, nicht ferner eine arme Mutter und Tochter als Gespenst zu schrecken, sondern sich dem Schwiegervater zu stellen, wenn er anders den Mut dazu hat.«

Darüber gingen fast vierzehn Tage hin und der Gerichtsrat verzweifelte schon an dem gehofften (allerdings nur schwach gehofften) Erfolg seines ungewöhnlichen Unternehmens.

Und doch stand eine äußerst glückliche Lösung des ganzen Rätsels schon in nächster Nähe, denn frühmorgens am Fest des Hl. Bonifazius erhielt Herr Moreau von der königlichen Post ein auffallend dickes Briefkonvolut eingehändigt, das außer einem viele Seiten langen Brief noch ein ganz kurzes Schreiben enthielt. Dieses las der Parlamentsrat zuerst. Und so fand es sich abgefaßt:

»Ich, Endesunterzeichneter, Roger Rabutin, Graf von Bussy, Generalleutnant des Königs und Generalquartiermeister der Armee des Fürsten Condé, bezeuge hiermit dem Herrn Kapitän von St. Galmier (seine Familie, wiewohl arm, gehört zu den ältesten unserer alten Provinz von Languedoc), daß ich ihn als braven und in allem Kriegswesen wohlbewanderten Soldaten kennengelernt und darum zu meinem persönlichen Adjutanten gemacht habe, wie ich denn auch nur einen einzigen Wunsch für ihn hege, nämlich, daß er die erforderliche Summe aufbringen möchte, um das Regiment des Herrn Marquis von Thieme zu kaufen, der sich zurückziehen will, was für den begabten jungen Offizier nichts Geringeres bedeuten würde als der erste Schritt zur Marschallswürde, die er bei seiner außerordentlichen Fähigkeit gewiß nicht verfehlen wird.

So geschehen in unserem Hauptquartier zu Nisme in der Provence im Monat Mai am Neunten anno 1638. Graf von Bussy.«

Aha, dachte der Gerichtsrat nach dieser Lektüre, da haben wir wohl den jungen Offizier, von dem mir der Wirt im Burgundischen Hof erzählt hat und der gleichzeitig mit meinem unglücklichen Schwiegersohn und anscheinend intim mit ihm befreundet in dem Gasthof abgestiegen ist, der anderen Tags dessen Begräbnis besorgt, aber in den Gasthof zurückzukehren – wahrscheinlich aus Gründen, die ich ahne – vermieden hat. Nun, da wird ja auch der falsche Schwiegersohn nicht mehr weit sein. Er sah nach der Unterschrift des anderen viel längeren Schreibens, und siehe, er fand es mit André von Saint-Galmier unterzeichnet. Folgendes aber bildete ungefähr den Inhalt des umfangreichen Briefes:

Herr von Saint-Galmier, auf einer Dienstreise nach Paris von der Stadt Nisme her, war in der Posthalterei zu Montélimart mit dem jungen Doktor Cujac, Sohn des Parlamentsrats Cujac zu Aix, bekannt geworden. Beide hatten dasselbe Reiseziel, sahen sich auf dieselbe Postkutsche angewiesen, so konnte es nicht fehlen, daß sie sich bald näher miteinander befreundeten und daß namentlich Herr von Saint-Galmier sich bald vollkommen unterrichtet fand nicht nur über alle Familienverhältnisse des jungen Rechtsbeflissenen, sondern auch und vor allem über dessen Absichten, Hoffnungen und Pläne zu Paris.

Über alle diese Dinge äußerte sich sein Reisegefährte in großer Mitteilsamkeit und ohne allen Rückhalt, ebenso wie über seine Verlobte und deren Familie, dergestalt, daß Herr von Saint-Galmier später bei dem Gerichtsrat Moreau und seinen Frauen mit Sicherheit die Rolle spielen konnte, wie er sie, von den Umständen hingerissen, leider gespielt hat.

Keineswegs jedoch kam er mit dem Vorsatz dazu in das Moreausche Haus, sondern in der redlichen Absicht, die Braut des so plötzlich Verstorbenen und deren Familie in schonender Weise von dem Todesfall zu unterrichten und die Formalitäten des Begräbnisses noch näher mit dem Herrn Gerichtsrat zu besprechen.

Allein in dieser Absicht hatte er auch die mitgebrachten Familienbriefe des Toten zu sich gesteckt. Und nicht mit dem leisesten Gedanken kam ihm auch nur die Möglichkeit in den Sinn, daß sein Besuch den sträflichen Verlauf nehmen könnte, den er dann tatsächlich genommen hat.

Erst in dem Augenblick, wo er, in das Haus getreten, von der Dienerschaft ohne weiteres als der erwartete Schwiegersohn angekündigt wurde und sich von dem Gerichtsrat, ohne alles Besehen, als solcher umarmt und geküßt sah, hat dann jene verhängnisvolle Mitgift, die ihn schon seit seiner Kinderzeit so leicht zu Schabernack und tollen Possen geneigt sein ließ, plötzlich ihre alte Gewalt über ihn bekommen, nicht anders, als ob ein verruchter Dämon in ihn gefahren sei, dessen Herrschaft er sich nicht mehr zu entziehen vermochte.

Er erkannte auch gleich bei seinem Weggang aus dem gerichtsrätlichen Hause die Sträflichkeit seines Betragens, eine nachträgliche Entschuldigung aber hielt er für eine eitle Sache und sah doch zu einer ernstlichen Wiedergutmachung nicht Weg und Mittel. Das volle von ihm angerichtete Unheil ahndete er zudem erst bei Lesung jenes Aufrufs in der Gazette de France, und wenn er darüber hin noch eine so lange Zeit verstreichen ließ, so geschah das darum, weil er den schweren Schritt sich ohne einen höheren Beistand nicht zu wagen getraute. Aus diesem Grund hatte er es für richtig gehalten, zuvor seinen hohen Beschützer, den Herrn Rabutin, Grafen von Bussy, um seine Empfehlung anzugehen...

»Ihr seht mich«, so schloß der Brief, »nicht nur in tiefster Beschämung, sondern in der größten Bereitwilligkeit zu jeder Art Genugtuung, die Ihr von mir verlangen mögt, und wenn es mir erlaubt ist, so möchte ich für heut nur noch die Bitte aussprechen dürfen, mich morgen persönlich in Eurem verehrten Hause vorzustellen und aus Eurem eigenen Munde mein Urteil entgegenzunehmen.«

Der Gerichtsrat atmete tief auf nach dieser Lektüre. Damit sah er seine Tochter gerettet und das war alles, was er wünschen konnte. Aus dieser Befriedigung heraus fühlte er allen Groll gegen den leichtfertigen fremden Offizier in seiner Seele bereits völlig ausgelöscht.

Gewiß, dieser junge Herr von Saint-Galmier hatte in seinem Hause und noch dazu in einer so furchtbaren Stunde eine unwürdige Posse aufgeführt, aber wo sollte die Welt hinkommen, wenn sie einer hoffnungsvollen Jugend nicht gelegentlich eine Tollheit verzeihen wollte.

Und in dieser durchaus versöhnlichen, ja fast schon freundschaftlichen Stimmung empfing er anderen Tags den Besuch des hübschen Offiziers, dessen vollendet liebenswürdige Manieren ihn schnell gänzlich besiegten. Er tat darum schon nach wenigen Worten den Entschuldigungen und Selbstanklagen des Herrn von Saint-Galmier kurz Einhalt, indem er von seiner Seite das Wort ergriff.

»Gut, gut,« sagte er, »macht Euch nicht allzu schlecht. Ich selber bin ja auch nicht frei von Schuld. Mein übereiltes Betragen dem unbekannten Ankömmling gegenüber macht dem ergrauten Richter einer hohen Untersuchungskammer gerade keine Ehre, und damit habe ich... Aber lassen wir das. Kurz, es ist mir peinlich, einen jungen Offizier gedemütigt und beschämt vor mir zu sehen, den ein Graf von Bussy seiner Freundschaft für würdig hält. Denn ich will Euch nur gestehen, ich hege die größte Verehrung für diesen Mann, der sich nicht nur in unserer siegreichen Armee, sondern auch in unserer ebenso siegreichen Literatur rühmlichst hervorgetan hat, und gern würde ich meiner Bewunderung für den musischen Generalquartiermeister einen sichtbaren Ausdruck geben. Es würde mir darum keine kleine Ehre sein, Euch die Summe vorstrecken zu dürfen, deren Ihr benötigt seid, wie der Herr Graf es schreibt, um das Regiment des Herrn Marquis von Thieme zu dem Eurigen zu machen.«

Bei diesen Worten war der Herr von Saint-Galmier sichtlich errötet.

»Für Euer ebenso unerwartetes wie großmütiges Anerbieten«, sagte er jetzt, »werde ich Euch ewig dankbar sein, aber annehmen könnte ich es nur unter einer Bedingung.«

»Und diese wäre?« fragte der Gerichtsrat.

»Es wird mir schwer fallen, sie auszusprechen,« erwiderte der Offizier, noch stärker errötend, »es sei denn, daß Ihr mir zuvor eine Frage erlaubt.«

Und als der Gerichtsrat lächelnd genickt hatte:

»Vielleicht,« sagte der Mann mit dem schwarzbraunen Lockenhaupt, »daß ich mir mit meiner Frage wieder allzu viel Freiheit herausnehme und Ihr mich von neuem ein wenig frech findet. Aber koste es, was es wolle, es handelt sich um ein Menschenschicksal, und meine Frage ist notwendig. Also: Unter welcherlei Gestalt und Wesen, Herr Gerichtsrat, glaubt Ihr, daß der ehemalige Verlobte Eurem Fräulein Tochter heute in Sinn und Herzen steht?«

»In Gestalt und Wesen, wie Ihr sie in Person darstellt, leider,« antwortete der Gerichtsrat. »Ich sage ›leider‹,« fügte er hinzu, »ich sollte sagen ›natürlich‹, denn von dem Verstorbenen kann sie ja gar keine Vorstellung haben.«

Herr von Saint-Galmier machte eine tiefe Verbeugung.

»Ich danke Euch, Herr Gerichtsrat, und das ist meine Bedingung, mögt Ihr sie nun frech finden oder wie Ihr wollt. Ich nehme Euer Anerbieten an, wenn Ihr mir Eurer Tochter Hand mit in den Kauf gebt.«

Leichten Tones scheinbar, und wie einen liebenswürdigen Scherz, hatte der Braungelockte diese Rede vorgebracht, die ihm dennoch gewiß nicht leicht geworden war.

Ein um so strengeres und sozusagen spezifisch richterliches Gesicht machte der Parlamentsrat.

»Frech oder nicht frech,« sagte er hart; »aber Bedingung gegen Bedingung. Und das ist die meinige: Ich habe geschworen, meine Tochter nur einem Manne zur Ehe zu geben, der mich auf meinem altanererbten Sessel im Parlament ersetzen kann. Wenn Ihr Euch also, Ihr seid ja noch jung, dazu entschließen könnt, den Degen abzuschnallen und den seidenen Schoßrock mit dem schwarzen Talar zu vertauschen und Euch die Doktormütze zu erwerben...«

Hier hielt er inne. Der Offizier war erblaßt. Aber der Gerichtsrat lachte.

»Habe ich Euch erschreckt?« fragte er. »Recht so. Eine kleine Strafe hattet Ihr immerhin verdient. Aber trotz aller Gegensätze und Feindseligkeiten zwischen König und Parlament, so dick bin ich nicht bemützt, um unseren glorreichen jungen Monarchen eines so hoffnungsvollen Soldaten berauben zu wollen, den der phantasievolle Graf von Bussy (hier huschte ein leicht ironisches Lächeln über das vollblütige Gesicht des Parlamentsrats) bereits zum Marschall von Frankreich ernannt hat. Doch laßt uns nun die Frauen aufsuchen, sie sind auf Euren Besuch vorbereitet, und wenn die Kleine, die sich nun einmal wirklich in Euch verguckt zu haben scheint, mit freiem, freudigem Willen eine Soldatenfrau werden und dem lärmigen Feldlager unter Gottes freiem Sternhimmel vor den engen Klostermauern den Vorzug geben will ... und so weiter.«

Und die schwärmerisch romantische und ein wenig blasse Marie Denise hat in der Tat den frechfröhlichen Soldaten mit der Fülle der schwarzbraunen Locken und sonstigen gesamten Leibhaftigkeit dem unsichtbaren himmlischen Bräutigam vorgezogen, und der Herr königliche Generalleutnant und Generalquartiermeister Roger Rabutin, Graf von Bussy, ist in eigener Person als Brautführer zur Hochzeit nach Paris gekommen.

Wer seine Briefe und eigene Lebensbeschreibung kennt, weiß ihn als einen Mann, der bei jeder Gelegenheit den Mund gern etwas voll nahm, so daß er, allen seinen soliden Eigenschaften und Verdiensten zum Trotz, manchmal einen fast großsprecherischen Eindruck machte. Auch seine Prophezeiung gegenüber dem Herrn von Saint-Galmier hat sich nicht ganz erfüllt, wie es am Eingang dieser Geschichte bereits gesagt wurde; aber die ehemalige Marie Denise Moreau hat deswegen ihre Heirat nicht bereut, denn ein Marschallstab schien ihr nicht durchaus wesentlich für eine gute Ehe, und wahrlich, wenn er das wäre und die hübschen Damen nicht auch ohne ihn sehr glücklich werden könnten, da gäbe es bei Gott allzu wenig weibliches Glück in unserer besten aller Welten.


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