Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII.

Für Skram bedeutete Musik Ruhe. Wenn er am Tage schwer gearbeitet hatte und das Durcheinander der Gedanken ihm einen leichten Druck im Hinterhaupt verursachte, konnte er plötzlich aufspringen, die Arbeit zur Seite schieben und nach seinem Cello greifen. Stundenlang pflegte er dann, den Rücken den Fenstern zugekehrt, über sein Instrument gebeugt dazusitzen – es abzusetzen, um zu ruhen, ohne zu denken – und es wieder an sich zu ziehen, um sich in das große Nichts hinauszuspielen. Beethovens Cellosonaten spielte er am liebsten, allein er spielte sie nicht nur, sondern er durchlebte die Gedanken des Meisters – ohne mit dem Gehirn zu arbeiten, nur den Tönen folgend – ihnen nachblickend, wie sie auftauchten und wieder verschwanden.

Und an diesem Abend war Skram müde, er wollte alles zusammen durch sein Spiel verscheuchen, alle diese sich kreuzenden Gedanken und Kombinationen aufheben, um nur den einen Gedanken, der wirklich Wert hatte, zurückzubehalten. Er wollte ihn von allen Fehlschlüssen isolieren, um ihn ein Gewebe aus Beethovens Sonaten legen, das jede Beeinflussung durch andre Vorstellungen verhindern müßte.

Er merkte nicht, daß die Gartentür aufging, er spielte in den Tönen versunken, ohne zu ahnen, daß sie hinter ihm stand, leise und lauschend und ängstlich jede Bewegung vermeidend, um den Zauber der Töne nicht zu brechen.

Als er sich erhob, wurde er ihrer gewahr. Er neigte den Kopf, wie man einen Freund begrüßt, und setzte das Cello in eine Ecke. Dann trat er zu ihr hin und ergriff ihre Hand.

»Dank, daß Sie gekommen sind,« sagte er.

»Und Dank, daß Sie gespielt haben,« erwiderte sie, ihm gerade in die Augen schauend. Ihr Blick war feucht wie von Tränen verschleiert, dabei sah sie blaß und abgespannt aus.

Sie nahm auf einem Lehnstuhl neben der Tür Platz und er stellte sich ihr gegenüber an den Türpfosten. Es war gegen Sonnenuntergang, und die Glockenschläge von der Kirche drangen über den Schloßsee und durch den Park.

»Kommen Sie, um zu reden, oder um zu schweigen?« fragte Skram.

Sie lächelte. »Ich muß wohl reden, nun nachdem Sie in der Sprache zu mir geredet haben, die ich höher schätze als jede andre. Ich nehme meine leichtsinnigen Worte zurück, Skram. Sie sollen kein andres Instrument als das Cello spielen. Das Cello ist das Instrument des Mannes, und Sie, Skram, sind ein Mann.«

»Da denken Sie wohl an das kleine Intermezzo vor dem Zuge?« fragte er. »Nun, das machte bloß der Selbsterhaltungstrieb, sonst nichts. Ich habe noch einige Dinge in dieser Welt auszurichten! Nachher mögen wir meinetwegen dorthin abreisen, von wo man niemals wiederkehrt. Aber nicht früher. – Sie sind also gekommen, um zu reden. Gut, so will ich schweigen.«

»Ich schulde Ihnen eine Erklärung für diesen Einfall von mir,« sagte sie. »In jenem Augenblick war ich nicht Herr über mich. Wenn das Entsetzen mich packt, bin ich imstande, instinktmäßig, ohne widerstehen zu können, Taten zu verüben, die mir in ruhigen Augenblicken nie in den Sinn kommen würden, und als ich den Wagen dem heranbrausenden Zug entgegensteuerte, da war nicht ich es, die das wollte, sondern stärkere Mächte in mir, denen ich gehorchen mußte. Na, es wurde ja nichts daraus, und nicht wahr, hier in der Welt, wo so vieles zum Ziele führt, ist es recht zwecklos, bei Dingen, aus denen nichts wurde, zu verweilen!«

»Ganz gewiß,« sagte Skram. »– und darum wollen wir auch nicht weiter davon reden.«

Sie fuhr fort, indem sie mit ihrem gewöhnlichen festen Blick zu ihm aufschaute. »Als Sie mir sagten, Sie seien überzeugt, ich hätte Viffert ermordet, war es mir, als schlügen Sie mir mit einer Peitsche ins Gesicht. Es biß und brannte, wie Hohn nur brennen und beißen kann. Ich kenne Sie ja nur als den stillen, etwas wehmütigen, schweigsamen Mann, der an langen Winterabenden bei mir saß, wenig redete und viel lauschte, wenn wir nicht die Töne reden ließen und beide schwiegen. Ich konnte nicht fassen, daß Sie so roh sein konnten. Männer können wohl alle roh sein, aber die besten doch nur gegen die Frauen, die sie lieben, und Sie, Skram, haben ja immer nur in der kühlen Entfernung der Freundschaft zu mir gestanden. Ich glaubte einen Augenblick lang, es sei der Richter, der aus Ihnen redete, der rücksichtslose Richter, den ich nicht kannte, von dem ich nur früher gehört hatte. Aber es war nicht der Richter, es war der Mann, der aus Ihnen redete. Und darum verstand ich Sie nicht. Heute abend habe ich darüber nachgedacht – und nun versteh' ich es besser. Helmut Viffert hat mit Ihnen geredet, er hat meinen Namen genannt und vielleicht davon gesprochen, was ihn und mich zusammenknüpfte – von den Leiden vieler Jahre für die Schwäche eines Abends. Und das Bild, das Sie sich von mir geschaffen hatten, wurde verwischt und durch ein ganz andres ersetzt – nicht wahr?«

Skram schwieg.

»Ich verstehe Sie, Skram,« sagte sie, »und ich zürne Ihnen nicht mehr. Wir reden miteinander wie zwei Menschen, die ein Geheimnis zusammen haben. Ich bin in Not, in bitterer Not. Heute morgen glaubte ich, die Sonne gehe für mich auf, um meinen ganzen Lebenstag zu bescheinen, und jetzt des Abends, Skram, des Abends geht sie unter für immer, wenn Sie ihr nicht gebieten, aufs neue für mich aufzugehen. Ich will – ich kann mir das Glück nicht entreißen lassen.«

Skram lächelte. »Das Glück! Wer würde glauben, daß Sie, so ruhig wie Sie sind – und bei dem Vielen, das Sie gesehen und erlebt haben – das Glück im Ungewissen suchen wollten. Ich verstehe sehr wohl: Sie wollen nicht haben, daß der junge Mann, in dessen Person Sie zu finden glauben, was Sie das Leben nennen, etwas zu wissen bekommt. Sie haben früher versucht, ehrlich zu sein, aber Sie glauben jetzt, daß diese Ihre Ehrlichkeit Ihnen das Glück verschleiert habe. Jetzt wollen Sie aufs neue geboren werden mit dem Nichts der Geburt hinter sich, und so, glauben Sie, können Sie das Glück umfassen.«

Sie bog den Kopf vor, um zu antworten.

»Aber Sie gehen fehl, Gräfin Polly – es gibt wohl Menschen, für die das Glück aus seinem Garten, dessen Tiefen niemand kennt und erforschen kann, emporsteigt. Für die allermeisten von uns jedoch, und dann auch nur für die Sehenden, ist das Glück nichts als die Harmonie des Augenblicks, ein Dreiklang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir sind gezwungen, die Vergangenheit in die Gegenwart hineinzuziehen, und aus dem Zusammenspiel beider schaffen wir die Zukunft. Das ist der Dreiklang des Glücks. Den Grundton darin ersticken können Sie nicht; der klingt durch das Glück des ganzen Lebens hindurch. Und Sie mögen wissen, daß es zu den Geheimnissen des Lebens gehört, daß Kummer und Schmerz der Grundton eines tiefen, wahren Glücks zu werden vermögen. Wir Menschen, die ins Leben geschaut haben, können nicht der Vergangenheit beraubt werden, sie sei so bitter und dunkel, als sie will.«

»Es handelt sich hier nicht um mich,« sagte sie, sondern um ihn. Ich will, daß er mich als die zu sich nimmt, die ich bin – ohne zu wissen, was ich war

Skram zuckte die Achseln. »Es fällt mir schwer, an ihn zu denken. Aber gut, ich will ihn einmal wirklich so sehen, wie Sie ihn sehen, nicht anders. Doch nun muß ich Ihnen gleich sagen: Sie sehen ihn falsch, Sie kennen ihn nicht, Sie kennen ihn nicht, wie Sie auch nicht wollen, daß er Sie kenne. Glauben Sie, daß das der Weg ist, der dem Tag entgegenführt, nach dem es Sie verlangt? Nein, das ist ein Weg, der in die Nacht hinausführt – in eine Nacht, die nicht wie die hellen Sommernächte voller Wohlgefühl und Wohlklang, sondern eine graue, schwere Winternacht ist, in der das Gemüt erdrückt wird und die Jugend dahinsiecht. Sie leben Ihr Leben nicht in dem, was außer Ihnen liegt, so wie wir es tun, die des Tages Arbeit zu leisten haben – Sie leben Ihr Leben, wie es sich in Ihren eigenen Gedanken widerspiegelt. Es gibt wohl Frauen, die stark und tief für einen Mann empfinden, die ihr Leben in dem täglichen Schaffen für Haus und Kind erblicken – die Betten machen und die Diele fegen, das Haus bestellen und das Leinenzeug flicken – die nur in ihrer einfachen tiefen Liebe zu Mann und Kindern groß sind, selbst wenn sie klein erscheinen. Und solche Frauen können wohl einen Mann ganz gewinnen, so daß er nach nichts anderm fragt als dem Glimmen ihrer tiefen Liebe, das er täglich sieht – ihrer Liebe, die der einzige und ganze Inhalt ihres Geisteslebens ist. Wären Sie derart, so könnten Sie versuchen, in Zukunft allein zu leben. Doch so sind Sie nicht! Sie sind kein Gretchen mit blonden Flechten und einem gebenden Herzen. Sie sind nicht imstande, das Vergangene zu vergessen, und können auch nicht allein für sich in der Gegenwart leben. Denn könnten Sie das, dann hätten Sie schon längst mit Helmut Viffert gebrochen, Sie hätten ihn aus dem Leben geschafft, um allein zu bleiben!«

Sie sah auf.

»Aus dem Leben geschafft!« wiederholte Skram fest.

Sie sah starr vor sich hin, während Skram redete. Er wandte sich um und ging schweigend auf und ab, als warte er auf eine Antwort von ihr – jedoch sie schwieg.

»Sie müssen nicht denken, Gräfin Polly, dies sei ein Verhör; nein, es ist kein Verhör, ich bin nicht Ihr Richter, ich wünsche nicht zu wissen, was oben in der Nacht geschehen ist – und Viffert ist nun einmal tot. Aber ich bitte Sie, mir, der ich Ihr Freund bin, zu sagen, warum Sie sich an einen Mann fortschenken wollen, der Ihrer nicht wert ist – warum Sie handeln wollen wie jener Geistesheld, der ein Bauernmädchen zu seiner Gattin erhob, bloß weil sie jung, frisch und hübsch war, der auf diese Weise sein Leben verspielte und schließlich seine Torheit beweinte, was ihm auch keinen Nutzen brachte? Das möchte ich wissen.«

Jetzt stand er wieder vor ihr, an den Türpfosten gelehnt, und sah auf sie herab.

Sie redete langsam, bei jedem Wort verweilend:

»Ich habe einmal irgendwo gelesen, daß die Natur uns rufen kann; es kommt die Stunde, da der Mensch sich danach sehnt, zur Natur zurückzukehren, aus der er hervorgegangen ist. Diese Stunde ist zu unsrer Zeit schon für manchen gekommen – für mich ist sie jetzt gekommen. Das Einfache – das Unzusammengesetzte – das Wahre – das nur will, was der Mensch durch eigene Kraft erreichen kann, und es so will, daß es im Einklang mit der Natur steht – das zieht mich zu sich hin, mich, die ihr Leben bisher nur in künstlichem Lichte zugebracht hat – in einer prächtigen Halle, aus der die Sonne verbannt war und in der an ihrer Stelle vom Morgen bis zum Abend Kronleuchter brannten. Ich habe so vieles gehört – nun sehne ich mich nach Schweigen. Ich habe so viele Farben in ihrem Zusammenspiel gesehen – nun sehne ich mich nach wenigen, die aber rein und streng voneinander gehalten sind. Ich habe immer jenseits von Gut und Böse gestanden – nun sehne ich mich nach einigen wenigen, festen Anforderungen; aus den vielen wechselnden Neuheiten, die mich bisher umgaben, sehne ich mich nach wenigen, einfachen Freuden, nach einem einzigen tiefen Gefühl – dem Gefühl Gretchens, wenn Sie so wollen. Ich habe geherrscht – nun will ich gehorchen; alle haben meine Wünsche zu erraten gesucht, haben nach meinem Wink gespäht – nun will ich selbst danach spähen und suchen, mich einem harten Willen unterzubeugen. Und alles, was ich suche, kann er mir geben. Ich bin müde, doch ich gehe nicht in ein Kloster, wie es andre täten, denn dort würde ich allein mit meinen Gedanken bleiben und daher auch keine Ruhe finden. Ich wähle mir einen Gefolgsmann, der alles will, wonach ich mich sehne.«

»Das heißt also, Sie gehen doch in ein Kloster, allerdings nicht allein, sondern mit ihm ins Kloster. Sie redeten also nicht die Wahrheit, als Sie mir gestern sagten, Sie wollten ihr Leben genießen, solange Sie noch jung seien. Das wollen Sie ja gar nicht! – Nun, ich werde Sie nicht zurückhalten von dieser neuen Form von Entsagung, aber eins verlange ich von Ihnen – nicht um meinet-, sondern um Ihretwillen: Mit geschlossenen Augen dürfen Sie nicht hineingehen in dieses neue Stadium. Sie müssen ihn kennen, denn jetzt kennen Sie ihn noch nicht. Ich verlange nicht, daß Sie ihm demütig beichten und ihn bitten, Sie in Gnaden aufzunehmen, aber ich verlange, daß Sie ihm alles sagen, was in der Nacht geschehen ist. Sagen Sie ihm alles – alles, dann werden Sie ihn kennen lernen.«

Sie blickte spähend auf.

Er fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Ich bin durchaus kein Pedant; ich könnte mir die Welt ganz wohl ohne Wiedervergeltung denken, und ich fühle mich nicht berufen, aus eigener Macht zu richten. Ich richte nur, wo mein Beruf mich dazu zwingt. Aber ich glaube, daß Sie heute nacht von Angesicht zu Angesicht Ihrem toten Feinde gegenübergestanden haben – in starrem Entsetzen. Und was da geschehen ist, soll er erfahren. Versteht er es nicht, so ist er auch Ihrer nicht wert. Er soll es nicht etwa mit seinem Verstande verstehen, nein – das Unzusammengesetzte soll er begreifen, so wie jede menschliche Handlung auf alle Menschen wirkt. Wir fassen alles nur mit den Mitteln auf, über die wir verfügen. Versteht er es – gut, dann dürfen Sie ihm folgen. Aber ich sage Ihnen, er wird es nicht verstehen und von Ihnen ablassen. Und dann sollen Sie ihn gehen lassen, wohin er will. Es ist besser, man ist allein einsam, als mit einem andern einsam.« –

Sie antwortete nicht, sondern starrte vor sich hin.

»Er ist jetzt hier,« sagte Skram, »er wartet draußen; ich hörte ihn vorhin kommen. Reden Sie nun mit ihm. Ich sagte Ihnen schon: ich bin nicht Ihr Richter – sondern Ihr Freund. Sagen Sie ihm, was Sie wollen und wie Sie es wollen, aber Sie mögen wissen, daß Sie, wenn Sie nicht jetzt reden, sicher noch später einmal reden werden – und dann wird es zu spät sein. Oder aber Sie werden zu allen Zeiten schweigen und dann in derselben Halle sitzen, in der Sie, wie Sie sagen, bisher gesessen haben, und das Licht der Sonne wird daraus verbannt sein wie bisher.«

Sie antwortete nicht, und Skram schritt eilig zur Tür.

Auch sie erhob sich wie um zu gehen, doch an der Tür hemmte sie den Schritt und starrte über das grüngelbe Wasser zur Edelsburg hinüber.

So stand sie noch schweigend an den Türpfosten gelehnt, als Sigismund Viffert eintrat.

Er war allein. –


 << zurück weiter >>