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V.

Skram mußte zugeben, daß der Kammerjunker ein vorsichtiger Mann gewesen war. Die Gewißheit, daß seine Krankheit seinem Leben ein plötzliches Ende machen könne, ohne ihm Zeit zu Vorbereitungen zu lassen, hatte ihn veranlaßt, alles zu vernichten, was nach seinem Tode ihn selbst und andre kompromittieren könnte.

Jedenfalls fanden sich in seinen Behältern, die Skram sorgfältig durchsuchte, nur alte, bedeutungslose Briefe und Rechnungen vor. Seine Wertpapiere waren nach seiner Angabe beim Credit Lyonnais in Paris deponiert, von dem er einen Kreditbrief über eine bedeutende Summe, sowie ein Scheckbuch erhalten hatte.

Skram nahm das Scheckbuch zur Hand und blätterte darin, doch bei dem letzten abgerissenen Scheck hielt er erstaunt inne: auf dem zugehörigen Abschnitt stand nämlich von Vifferts Handschrift geschrieben: Leonie Chaubert – zehntausend Franken und das Datum des vorangegangenen Tages.

Also hatte der Kammerjunker am vorigen Tage Leonie einen Scheck über zehntausend Franken geschenkt, was eine recht ansehnliche Belohnung für eine Zofe ist, selbst wenn man sich ihr verpflichtet fühlt.

Daß Viffert ihr für einen gewissen Fall einen weit größeren Betrag als Erbe ausgesetzt hatte, war ja bedeutungslos, denn daß ihr diese Erbschaft zufiel, hing von Umständen ab, die vielleicht niemals eintreten würden. Mit einer Heirat zwischen der Gräfin Polly und Sigismund Viffert konnte man noch nicht rechnen, da noch keine Schritte zur endgültigen Lösung ihrer ersten Ehe mit Graf Henrik getan waren. Die zehntausend Franken dagegen bedeuteten etwas Positives, sie waren bereits gezahlt.

Dieser Umstand redete nun aber stark dagegen, daß Leonie Mitwisserin des Mordes sein könne. Denn es hatte doch nicht der geringste Grund für sie vorgelegen, den Mann, der ihr soeben eine solche Summe geschenkt hatte, aus dem Leben zu schaffen, bevor das Geld von der Bank abgehoben war. Von der ihr unter Umständen zufallenden Erbschaft konnte sie auch nichts wissen, und jedenfalls würde sie kaum gerade zu dieser Zeit einen Schritt getan haben, um den Tod des Erblassers herbeizuführen.

Skram beschloß gleich, mit der »Mamsell«, wie sie auf dem Schloß genannt wurde, zu reden, und läutete daher nach Ole, den er bat, die Mamselle herunterzurufen.

Mamsell Leonie kam. Sie war eine mittelgroße, schlanke Pariserin mit lebhaften braunen Augen und einer von den Franzosen so oft gepriesenen petit nez retroussé. Der Ausdruck ihres Gesichts wie ihr ganzes Wesen war einschmeichelnd-frech, aber doch recht angenehm. Sie führte sich schicklich und nett auf, war flink, jung und hübsch. Augenblicklich schien sie sich etwas beklommen zu fühlen, aber darauf verstand sich Skram vortrefflich.

Er redete sie auf französisch an, um sicher zu sein, daß sie ihn verstehe, und bat sie, Platz zu nehmen.

Die Mamsell setzte sich auf die Kante eines Stuhles, wobei sie ängstlich nach der Tür schielte, hinter der die Leiche gefunden worden war.

»Sie haben gestern abend einen Scheck über zehntausend Franken von dem verstorbenen Herrn Viffert bekommen?« fragte Skram, indem er, um die Mamselle zur Andacht zu stimmen, ein Taschenbuch hervornahm und etwas auf dem weißen Blatt notierte.

»Ja, Monsieur,« sagte Mamsell Leonie, ein wenig verlegen.

»Wofür haben Sie den Betrag erhalten?« fragte Skram weiter.

»Monsieur Viffert mochte mich gern,« sagte die Mamsell ein wenig schnippisch. »Er gab mir den Scheck als Hochzeitsgabe. Monsieur müssen nämlich wissen, daß ich im Begriff stehe, Jörgen, den valet de chambre des Grafen, zu heiraten.«

»Hatte der Verstorbene denn besonderen Grund, Ihnen zugetan zu sein? Kannte er Ihre Eltern, oder stand er in andrer Weise in Beziehung zu Ihnen?«

»Nein,« sagte die Mamsell etwas verlegen, »er war mir nur zugetan ...«

Skram hielt es zwar für richtig, hier als Untersuchungsrichter aufzutreten, aber er war doch niemals roh. Rücksichtnahme, selbst überführten Verbrechern gegenüber, gehörte zu seinen festen Prinzipien. Und die Mamsell war doch nur von Pariser Art und höchstens ein wenig unmoralisch. – »Ich bin beauftragt, den letzten Willen des Verstorbenen auszuführen,« sagte er, »und in dem Testament befinden sich Bestimmungen, die scheinbar darauf schließen lassen, daß zwischen Ihnen und dem Verstorbenen eine Art Verhältnis bestanden hat. Sie verstehen mich wohl, Mamsell, ich wünsche nicht, indiskret zu sein, aber als Beamter muß ich zuweilen gewisse Rücksichten fallen lassen, und es geschieht daher nicht, um Sie zu verletzen, sondern aus rein amtsmäßigen Gründen, wenn ich Sie frage, ob Sie Herrn Vifferts Geliebte gewesen sind.«

Von Mamsell Leonies Lippen kam ein leises zaghaftes: »Ja.«

»Wie lange hat dieses Verhältnis schon bestanden?« fragte Skram.

»Fünf Monate,« erwiderte sie. »Es begann kurz nach Herrn Vifferts Herkunft. Er war immer so gentil gegen mich, und außerdem war er ja auch alt. Ich bin arm, sehr arm und möchte gern heiraten. Aber ich habe kein Heiratsgut, und Madame la Comtesse will mir keines geben.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Mamsell,« sagte Skram gutmütig. »Ich bin ja selbst Junggeselle und vermag die Situation vollkommen zu verstehen. Ich habe auch nichts gegen die zehntausend Franken, die Ihnen ohne Bezug auf den Todesfall gehören, einzuwenden, aber ich muß anderseits ein paar Fragen stellen, die Sie mir doch beantworten müssen.«

»Herzlich gern,« sagte Mamsell. Sie war recht froh über den leichten Ton, in der Skram die Unterhaltung führte; sie fühlte festen Boden unter den Füßen und begann sogar, mit ihren lebhaften, munteren Augen spähende Blicke nach ihm auszusenden. Sie sah in Skram bereits nur den schönen Mann, der er war. Und auf Männer verstand sich die kleine Pariserin offenbar vortrefflich.

»Wann erhielten Sie den Scheck?« fragte Skram.

»Ich will die Wahrheit sagen,« begann Leonie.

»Das hoffe ich,« versetzte er.

»Ich erhielt den Scheck heute nacht um eins oder zwei. Ich war bereits schlafen gegangen, als es an meiner Tür klopfte und ich davon aufwachte. Ich pflege nämlich die zur Treppe führende Tür nie zu verschließen – es ist ja keine Gefahr vor Räubern zu befürchten – und ich glaubte, es sei mein Liebster, der zuweilen zu mir heraufkommt, um mit mir ein bißchen über die Zukunft zu reden. Ich war daher sehr erstaunt, als ich Herrn Viffert erblickte, denn er pflegte mich selten auf meinem Zimmer zu besuchen. Aber, wie gesagt, er war es. Es herrschte Mondschein, und er zündete kein Licht an. Er sagte, er wolle mit mir reden; ich fühlte mich zwar sehr schläfrig und glaubte auch nicht, daß sich das schickte, aber er wollte nun einmal mit mir reden, und da er so gentil war, konnte ich nicht gut nein sagen. Er sagte, ihm sei die Idee gekommen, daß ich mich nunmehr mit Jörgen verheiraten müsse, und daher habe er diesen Scheck ausgestellt. Er wolle noch heute nach Aix les Bains reisen und sei daher gekommen, mir Lebewohl zu sagen. Ich war ganz gerührt über seine gentillesse, sehr gerührt, denn ich ahnte ja nicht, daß er noch in derselben Nacht sterben werde.«

»Und wie lange blieb er bei Ihnen?« fragte Skram.

»O, nur ungefähr eine Viertelstunde. Ich ängstigte mich, daß zufällig Jörgen herbeikommen könne, und außerdem schickte es sich ja auch nicht.«

»Es war also nach ein Uhr, als er ging?«

»Ja, Monsieur.«

»Klagte er über Unwohlsein?«

Die Mamsell dachte nach. »Ja,« erwiderte sie, »er sagte, sein Herz klopfe etwas stark, und dann machte er noch ein paar Witze über sein Herz. Monsieur Viffert war ja immer so spaßhaft. Ich mochte ihn sehr gern, denn er war immer so gentil gegen mich.«

»Und Jörgen?« fragte Skram, ein wenig sarkastisch. »Mochte der ihn auch gern?«

Die Mamsell schüttelte den Kopf.

»Jörgen ist ein sehr vernünftiger Bursche,« sagte sie, »er weiß sehr wohl, daß für die Großen andre Regeln gelten als für die Kleinen. Er liebt mich und ist mir treu, und ich liebe ihn auch. Und wenn ich je etwas Verkehrtes getan, so geschah es nur um seinetwillen.«

Hiezu sagte Skram nichts. Als praktischer Jurist hatte er schon längst erfahren, daß die schönen goldenen Grundsätze vom Recht der Kleinen nicht allein von oben her bedroht werden, sondern vor allem durch die ererbte, herkömmliche Überzeugung der unteren Klassen von ihrer Unterlegenheit, eine Überzeugung, die nirgends so anhaltend gehegt wird, als bei den Männern und Frauen, die in den Häusern der Großen eine dienende Stellung einnehmen. Es war an und für sich ganz natürlich, daß die Mamsell den Kammerjunker ausnützte, selbst wenn es nicht hübsch war. Und daß ihr praktisch denkender Herzliebster dieses lukrative Verhältnis duldete, war ebenfalls begreiflich, wenn auch nicht ideal gedacht. Derartiges kommt vor. In den guten alten Tagen kam es sogar sehr häufig vor, denn es hing mit dem Recht des Herren und dem ganzen patriarchalischen Verhältnis des Herrn zu seinen Dienstboten zusammen. Zum Jahrhundert der Sozialdemokratie harmoniert es freilich schlecht, und ein guter, gesunder Freiheitsdrang wird dagegen auch Abhilfe schaffen. – Skram konnte diese Betrachtungen nicht vermeiden, während er aufmerksam die kleine, kokette Pariserin betrachtete, die so eifrig ihre Liebe zu dem dänischen Bauernknecht und die Opfer, zu denen diese Liebe sie veranlaßt hatte, verteidigte.

»Sind Sie Pariserin?« fragte Skram.

»Ja,« erwiderte die Mamsell. »Mein Vater war Soldat, meine Mutter Wäscherin. Als ich noch ganz jung war, kam ich als Bonne ins Haus einer Schauspielerin; einer von ihren Liebhabern, ein Offizier, fand mich schick und brachte mich in einem gentilen Hause unter. Von dort kam ich zu einer Gräfin in Cannes, wo ich schließlich Madame la Comtesse traf, die mich engagierte, und die immer sehr gut gegen mich gewesen ist.«

»Wie alt sind Sie?« fragte Skram.

»Vierundzwanzig Jahre.«

Das war gewiß richtig.

»Sie sagten also, Herr Viffert habe Sie nach ein Uhr verlassen. Legten Sie sich dann wieder schlafen?«

»Nein,« sagte die Mamsell, ein wenig verlegen, »ich glaubte, ich müsse diese erfreuliche Begebenheit noch meinem Liebsten erzählen, und so nahm ich ein peignoir um und lief die Treppe hinab. Sein Zimmer liegt nämlich unten im Erdgeschoß an der Wendeltreppe. Dort schläft er zusammen mit John, aber John schläft wie ein Stein, und so konnte ich mich gut mit Georges unterhalten.«

»Das taten Sie denn also auch. – Wie lange?« fragte Skram, der nun wieder als Untersuchungsrichter höchstes Interesse empfand.

Die Mamsell errötete tief.

»Sie können es mir ruhig sagen,« versetzte Skram freundlich. »Herrgott, ich bin doch selbst eine Mannsperson.«

Die Mamsell, die sich augenscheinlich recht genierte, zögerte mit der Antwort – »es war sieben Uhr,« sagte sie schließlich langsam, doch dann fügte sie rasch hinzu: »aber wir setzten auch die Hochzeit fest und redeten über die Zukunft und unser Glück.«

»Und John schlief?«

»Nicht während der ganzen Zeit. Ich glaube, um halb sieben erwachte er und sagte etwas zu Georges.«

»Entdeckte er Sie?«

»Ich glaube, ja; denn am Morgen beim Frühstück lachte er so verschmitzt.«

»Ja, liebe Mamsell,« sagte der Amtsrichter, »nun sind Sie ja ganz außerordentlich offenherzig gegen mich gewesen. Das wird nicht wieder nötig sein, und Ihre zehntausend Franken können Sie von der Bank abheben. Wenn Sie wünschen, werde ich Ihnen gern dabei helfen, denn es ist möglich, daß man Ihnen nun, da Herr Viffert tot ist, Schwierigkeiten machen wird. Sie müssen mir bloß noch sagen, ob Jörgen irgend welchen Groll gegen Herrn Viffert gehegt hat.«

»Mon dieu, nein!« rief die Mamsell. »Er sagte bloß, es wäre gut, daß es jetzt vorbei sei; denn nun könnten wir uns auf Grund der Zehntausend verheiraten.«

»Sagte er das, noch ehe er wußte, daß Monsieur Viffert tot war?«

»Mais oui – ja – er sagte es heute nacht. Ich habe niemals Georges einzureden versucht, daß ich eine Heilige sei, und er hat alles gewußt und ist nicht böse darüber gewesen.«

»Auch auf Monsieur Viffert nicht?«

»Ih, nein, Monsieur! Viffert war ja so gentil.«

Skram mußte zugeben, daß sein Verdacht gegen Jörgen und dessen Liebste auf einen sehr geringen Rest zusammenschrumpfte. Die ganze Darstellung der Mamsell trug das Gepräge der Wahrheit. Die leichte, fast plaudernde Art, in der die Ereignisse der letzten Nacht hier von einem jungen Mädchen erzählt wurden, das das Leben auf seine Art nahm, ließ die Erzählung glaubhaft erscheinen. Sie hatte nichts zu verbergen und erzählte daher vertrauensvoll alles. Ein solch kleiner Zug wie der, daß sie sich beeilt hatte, Jörgen ihr Glück zu erzählen, und bis zum Morgen in seinem Zimmer gewesen war, wo John geschnarcht hatte und mit einem Witzwort erwacht war, redete für sie. Zwei finstere Mörder waren diese nicht, nein, er war ein spießig kluger dänischer Knecht und sie ein praktisches Pariser Mädchen, das in der Lebenslotterie einen Gewinn von zehntausend Franken gezogen hatte. Es war ausgeschlossen, daß Jörgen die Tat vor zwei Uhr begangen hatte, wenn das Mädchen die Wahrheit redete, und das tat sie sicher, dafür sprach schon der Scheck. Dem Kammerjunker mußte die Idee hierzu erst gekommen sein, nachdem Skram gegangen war, denn sonst hätte er darüber geredet. Leonie hatte sich gleich, nachdem Viffert sie verlassen hatte, zu Jörgen hinabgeschlichen, so daß für diesen ein regelrechtes Alibi bis sieben Uhr vorlag. Daß sich Jörgen dann nach sieben Uhr, als schon alles im Schlosse hell und erwacht war, hinaufgeschlichen habe, um dem Kammerjunker zum Dank für den Scheck den Hals abzuschneiden, erschien vorläufig wenig glaubhaft.

Hierzu kam noch, daß Jörgen, um wirklich den Mord zu begehen, auf einem langen Umwege in das Ankleidezimmer hätte gehen müssen, da er das Schlafgemach der Gräfin doch nicht passieren konnte; er hätte sich auf demselben langen Umweg zurückschleichen müssen, um zu Viffert zu gelangen, und schließlich noch einmal auf demselben Wege zurückkehren müssen, um das Messer auf den Toilettentisch zu legen, alles zwischen sieben und siebeneinhalb Uhr morgens. Da dürfte eine Untersuchung wohl ergeben, daß sein Alibi in bester Ordnung war.

Aber konnte Skram denn überhaupt eine Untersuchung beginnen, die sich jetzt nur gegen eine bestimmte Person richten konnte?

Oder hatte der Graf recht? Waren die Messer wirklich von Jörgen vertauscht worden, und lag somit Selbstmord vor? Unmöglich! Er hatte ja selbst die Messer in richtiger Ordnung im Etui gesehen. –

»Monsieur,« sagte die Mamsell etwas zögernd, »Herr Viffert gab mir gestern abend einen Brief an seinen Neffen Sigismund Viffert, den ich besorgen soll; doch darf ich ihn nicht mit der Post schicken. Ich habe den Brief noch bei mir, und ich möchte – es wäre mir am liebsten, wenn Sie den Brief an sich nehmen wollten.«

Skram stutzte.

»Das wünsche ich nicht nur, sondern es ist sogar Ihre Pflicht, mir den Brief zu geben,« sagte er. »Das letzte Schreiben eines Mannes, der unter solchen Umständen gestorben ist, muß der Obrigkeit übergeben werden.«

Die Mamsell zog den Brief hervor.

Skram erhob sich und schritt mit dem Brief in der Hand hastig in das Zimmer, in dem er den letzten Abend mit Viffert verbracht hatte.

Dort erbrach er das Sigel und las.


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