Erwin Rosen
Der Deutsche Lausbub in Amerika – Erster Teil
Erwin Rosen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Armen und Elenden von St. Louis.

Bei den guten Samaritern. – Allein in der Riesenstadt. – Am Ufer des Mississippi. – Vom Grauen und von der Scham. – Eine Orgie in Häßlichkeit. – Der Menschenpferch. – Auf Arbeitssuche. – Im Reich der kupfernen Töpfe. – Die Miniaturhölle des Palasthotels. – Das Glöckchen der Neugierigen.

Der Schnellzug brauste in die weite Bahnhofshalle von St. Louis. Sehr langsam, sehr vorsichtig, denn die Glieder waren mir schwer und träge wie Blei, stieg ich aus und wurde von der nach den Ausgängen flutenden Menschenmenge erfaßt und weitergeschoben; den Bahnhofssteig entlang, durch eine Vorhalle in eine breite Straße. Menschen hasteten vorbei, Wagenwirrwarr zog dahin. Mechanisch ging ich vorwärts, guckte in Ladenfenster, betrachtete das Straßenbild und bog in einen weiten, ruhigen Platz ein. Mein Kopf fieberte. Das Gehen wurde mir schwer. Ich versuchte, zu überlegen, was ich nun zunächst tun müßte, war aber so gleichgültig und müde, daß der Gedankengang immer wieder in ein Nichts zerfloß. Langsam schlenderte ich dahin. Da überrieselte mich ein Schauer, eiskalt, dann ein siedendheißes Wallen, und nun packte mich der Malariafrost, daß mein Körper zuckte und hin und her geschleudert wurde, während ich mich krampfhaft an einem Laternenpfahl festhielt –

»Was ist denn los?« fragte eine Stimme, die mir von weither zu kommen schien, und ein riesengroßes blaues Etwas tauchte neben mir auf.

»Sind Sie krank?«

Das blaue Etwas war ein Polizist, einen Kopf größer als ich, der erstaunt auf mich niederguckte. Ich wollte antworten, konnte es aber nicht vor Geschütteltwerden und Zähneklappern.

»Krank is' er!« sagte der Polizist. »Werden wir gleich haben. Umarmen Sie nur die alte Laterne, mein Junge – halten Sie sich fest. In einer Minute bin ich wieder da. Geh' nur zur Telephonbox.«

»Sie hat's ordentlich,« meinte er, als er zurückkam.

Ich wollte lächeln, nicken, aber es ging nicht. Glockengerassel ertönte, Hufschläge galoppierender Pferde donnerten, hilfreiche Hände erfaßten mich und schoben mich zwischen weiche Kissen. Und dann fand ich mich auf einmal in einem kleinen Zimmerchen, auf weichem Lehnstuhl. Eine Gestalt im weißen Linnenmantel des Arztes beugte sich über mich, mir mit einem Elfenbeinstäbchen die Haut am Oberarm ritzend.

»Da wären wir ja!« sagte der junge Arzt. »Sie stellen den schönsten Fall von Schüttelfrost dar, junger Mann, der mir seit einiger Zeit vorgekommen ist. Aber wer wird denn gleich in Ohnmacht fallen! Schon mehrere Male Schüttelfrost gehabt?«

»Seit sechs Wochen – jeden zweiten Tag. Wo bin ich eigentlich?«

»Oho!« rief der Arzt und pfiff durch die Zähne. »O – hol! Sie sind im öffentlichen Hospital von St. Louis, junger Mann, und augenblicklich werden Sie geimpft.« Er strich die Lymphe ein. »Wir werden Sie gründlich ausleeren, mein Junge, und Ihnen diese Malariadummheiten schon austreiben!«

Die nächsten Tage waren ein einziges langes Schlafen, mit Bildern dazwischen von Krankenschwestern, die mir Medikamente einflößten und Milch gaben. Nur schlafen, schlafen. Dann kamen die Tage der Genesung.

»Sie sind nun kerngesund,« lächelte der junge Arzt, als ich nach drei Wochen zur Entlassung in das Bureau des Krankenhauses geführt wurde. »Stark und kräftig! Viel Glück! Wenn Sie einmal reich geworden sind, mein Junge, schicken Sie uns netten Leuten vom öffentlichen Hospital einen fetten Scheck. So! Nun schlagen Sie sich mit der Welt da draußen herum. Sie leichtsinniger Teutone, und lassen Sie es sich möglichst gut gehen. In rebus adversariis – oder wie heißt es? Halt – als einem Geistesbruder in Latein und Griechisch will ich Ihnen noch etwas zeigen.«

Er holte aus einem Schrank mit vielen Fächern eine nummerierte Glasplatte hervor, schob sie unter das Mikroskop auf seinem Arbeitstisch und ließ mich durchgucken. »Was sehen Sie?« fragte er.

»Einen runden Kreis,« antwortete ich: weiß, rosa an den Rändern, und in der Mitte rostbraune kleine Pünktchen und Striche.«

»Ganz richtig. Was ist das wohl?«

»Ein mikroskopisches Präparat.«

»Natürlich. Der runde Kreis ist ein Blutstropfen, und zwar ein Tröpfchen Ihres Blutes, mein Junge, und die Punkte und Striche, die Sie ganz richtig rostbraun nennen, sind die Malariaparasiten, die in Ihnen rumorten! Denen haben wir den Garaus gemacht!«

... Es war ein sonniger Nachmittag in den ersten Novembertagen, klar und kalt, als ich aus der Pforte des Hospitals wieder in die Welt hinaustrat. Trübselig schaute ich an mir hinunter. Die barmherzigen Samariter in dem ziegelroten Gebäude dort hatten in einem Punkt ein ganz klein wenig gesündigt; in einer Kleinigkeit, aber in einer wichtigen Kleinigkeit. Meine Kleider waren, wie es nach der Vorschrift geschehen mußte, in Dampf desinfiziert worden und sahen nun betrüblich aus; so zerknittert und ungebügelt, daß ich mir zerzaust vorkam wie Freund Struwelpeter aus dem Bilderbuch. Dazu waren meine Taschen leer, bis auf Kleingeld – weniger als ein Dollar, und so hieß es sofort Arbeit finden in der großen Stadt.

»Ein gesunder Mensch, der keine Arbeit findet, ist entweder bodenlos dumm, oder auf eine bestimmte Art von Arbeit versessen, die es im Augenblick eben nicht gibt!« hatte Billy immer gesagt.

Gesund war ich wieder und für bodenlos dumm hielt ich mich nicht. Es mußte gehen! Freilich, der junge Mensch, der viele Monate lang da draußen im weiten offenen Land gelebt und nur für simple Menschen gearbeitet hatte, fühlte sich fremd zwischen den ungeheuren Wolkenkratzern, den eleganten Läden, den hastenden Leuten. Es war nicht gar so einfach, da den Hebel anzusetzen. Die Stunden zerrannen. Ich war eine sich senkende abschüssige Straße hinabgegangen, eine menschenwimmelnde, schmutzige Straße, mit Hunderten von kleinen Läden, und stand nun an ihrem Ende, vor einer Hölle von Lärm und Arbeit. »Levee« hieß es auf dem breiten Straßenschild an der Ecke.

Ein schmutzig gelber Strom, riesenbreit, wälzte träge seine Wassermassen dahin, in einem Getümmel von Dampfbooten mit vielen Stockwerken, die eines hinter dem andern den Kai säumten. In der Ferne ragte das Stahlwerk von Brücken empor. Tausende, Abertausende, Millionen von Säcken und Fässern und Kisten waren längs der Dampfer aufgestapelt, und dazwischen huschten mit polternden Karren Tausende von Menschen hin und her. Ein lärmender Wagenverkehr erfüllte die Levee, die sich unübersehbar weit den Fluß entlang hinzog mit ihrer Häuserreihe und der rauchqualmenden Linie von Dampfern den Häusern gegenüber. Ehrfurchtsvoll fast starrte ich auf die Fluten dieses Stromes der Ströme – als Bub schon war mir sein tönender Name etwas Geheimnisvolles gewesen: Mississippi. Ich schaute und staunte und trieb mich in dem Lärm umher. Meine Not vergaß ich ganz, bis Schneeflocken zu fallen anfingen und in beginnender Dunkelheit die Häuserreihe drüben in grellem elektrischem Licht aufflammte. Es wurde immer kälter. In einem Restaurant, das mit großen roten Buchstaben im Schaufenster versprach, für 10 Cents eine Mahlzeit zu liefern, aß ich ein »Lammhaché« und trank eine Tasse Kaffee – Du mußt Geld haben! Du mußt Arbeit finden! Was hätte ich nicht darum gegeben, wäre nun Billy neben mir gesessen – er, der Schwierigkeiten weglächelte und immer genau wußte, was zu tun war, und wie man die Dinge anpacken mußte. Verstohlen zählte ich mein Geld. Es waren 70 Cents. Einen Augenblick lang wollte es mich überkommen wie lähmender Schrecken, dann gab ich mir einen Ruck: Der morgige Tag mußte Arbeit bringen. Bei Tagesanbruch mußte ich auf den Beinen sein und so lange suchen und so lange fragen, bis ich etwas fand.

Als ich aus dem warmen Raum wieder hinaustrat in den wirbelnden Schnee, fror ich erbärmlich. Es war bitterkalt da drunten am Mississippiufer. Schon wollte ich einen Polizisten aufsuchen, um mich nach billiger Unterkunft zu erkundigen, als mir ein grelles Transparent auffiel, über einem Hauseingang angebracht, aus dem es hervorleuchtete: Lodging! 10 cents, 15 cents, 25 cents! Einen Augenblick lang zögerte ich. Wußte ich doch von Billy, daß in derartigen Logierhäusern, in denen man für wenige Cents schlafen konnte, der Abschaum der Großstadtmenschheit sich herumtrieb. Aber es war ja nur für eine Nacht. Ich trat ein. Im Hausflur hing ein zweites Transparent, eine Hand mit ausgestrecktem Finger, die zu einer Türe an der Seite hinwies.

Rauchiger Qualm schlug mir entgegen, als ich die Türe öffnete, stickig, atemraubend, verpestet; ein Höllenbrodem von Menschenausdünstung, furchtbar überheizter Luft und schalem Tabaksrauch. Auf einem Stuhl neben dem Eingang saß ein Mann in Hemdsärmeln, der krachend die Türe hinter mir zuwarf, als ich eingetreten war; unter ärgerlichem Gebrumm über die verdammte kalte Luft da draußen.

»Zahlen!« sagte er und streckte mir die Hand hin. »Zehn Cents!«

Für meine beiden Nickel bekam ich ein schmutziges Pappstück, die Quittung, die mich berechtigte, über Nacht hier zu hausen.

»Kannst hier sitzen oder gleich nach hinten gehen un' dich hinschmeißen,« murmelte er. »Wie dir's verdammt angenehm ist!«

Eine Petroleumlampe mit rußgeschwärztem Schutzglas hing an der Decke, und ihr trübes Licht schimmerte in sonderbarem, bald gelblichem, bald rötlichem Schein durch die grauen Massen von Rauch und Dunst hindurch. Zwei lange Tische standen in dem mächtig großen Raum, und auf den Bänken vor ihnen saßen viele Menschen. An einer Bar im Hintergrund hantierte ein altes Weib, emsig beschäftigt, in riesengroße Gläser Bier einzuschenken. Alles schrie und lachte und fluchte durcheinander. Erstaunt, entsetzt war ich am Eingang stehengeblieben und sah gedankenlos einem schmierigen Menschen zu, der neben mir am Boden hockte, sich den Rock ausgezogen hatte und fluchend die Riemen losband, mit denen sein linker Arm fest an die Körperseite geschnallt war.

»Was beim Teufel gibt's hier zu schauen?« fuhr er mich endlich an. »Heh? Hast noch nie 'ne angebundene Pfote gesehen?« Da begriff ich. Der Mann war ein Scheinkrüppel; ein Bettler, der ein Gebrechen heuchelte.

Mein erster Impuls war, wieder umzukehren. In den Boden hinein hätte ich mich schämen mögen. Dann dachte ich an die Kälte draußen und an die wenigen Pfennige in meiner Tasche. Es mußte ertragen werden – doch eine Nacht nur, das schwor ich mir. Um nicht allzusehr aufzufallen durch Stehenbleiben, setzte ich mich auf die Ecke der nächsten Bank, wo noch ein Plätzchen frei war, und zündete mir mechanisch eine meiner letzten Zigaretten an. Wenn man nicht rauchte, war es nicht zum aushalten in dieser Luft.

So war ich nun mitten unter den Armen und Elenden der Riesenstadt am Mississippi, anstreifend an einen Menschen mit aufgedunsenem Gesicht, dessen Rock in Fetzen an ihm herabhing und der sich die Hände wohl lange nicht mehr gewaschen hatte, so schmutzig waren sie. Ich wußte wenig damals von Armut und Elend, von ihren Ursachen und Wirkungen; ich mag unduldsam gewesen sein, wie es die empfindliche Nase und die empfindlichen Ohren reinlicher Jugend sind – aber mir schien es, als hätte ich in meinem jungen Leben noch nie etwas so Furchtbares gesehen, etwas so Erbärmliches wie diese Männer in diesem Raum. Von Schmutz starrten alle. Die zerschlissenen Kleider, die eingebeulten Hüte kamen mir grotesk vor, unnatürlich und häßlich nicht zum sagen. Ein Grauen packte mich – man muß älter sein, als ich es damals war, um die Aermsten der Armen mit verstehenden Augen betrachten zu können. Die Sprache, die ich hörte, war widerlich wie ein verfaulendes Ding.

»Eh – du! – Sohn einer Hündin – hast 'n verfluchtes Zündholz?« fragte da einer den andern.

Die Antwort ist nicht wiederzugeben. Das Wort vom Sohn einer Hündin wurde von jedermann gebraucht; es ging von Mund zu Mund, als sei es ein Kosename der Brüderschaft der Elenden. Ich kannte den Ausdruck wohl; in Texas und im Westen, wo Fluchen und Derbheit zu Hause sind und es keinem Menschen einfällt, selbst den stärksten Ausdruck übelzunehmen, galt dieses Wort als das Unsagbare, als die Beleidigung. Wer »son of a bitch« sagte, wollte bis aufs Blut weh tun und – griff gleichzeitig nach dem Revolver. Das Wort hat schon manchen Totschlag verschuldet. Und hier wurde es grinsend gesprochen und mit Lachen angehört. Die Flüche jagten sich. Es war eine Orgie in Häßlichkeit für Auge und Ohr ...

»Nix gemacht heute, heh?« fragte mich der Zerlumpte neben mir. »Soll ich dir ein Glas Bier bezahlen? Ja – 's ist hart genug im Winter in dieser verdammten Stadt!«

Ich murmelte irgend etwas über einen kranken Magen, der kein Bier vertragen könne, und gab ihm eine Zigarette, staunend über seine Gutmütigkeit. Scham gab es hier nicht. Da und dort sah ich ein bleiches stilles Gesicht unter den lachenden und schreienden Menschen; die meisten aber der Gäste des Zehn-Cent-Hotels machten sich entschieden keine Kopfschmerzen über ihre jämmerliche Lage. Sie nahmen auch kein Blatt vor den Mund. Der Mann mir gegenüber erzählte grinsend von jüdischen Bäckern in einer Straße des Judenviertels; sei der Mann da, so bekomme man frisches Brot, sei die Frau da, so gebe es ein Nickelstück obendrein. Ein anderer meinte, man müsse in die vornehmen Läden gehen; da bekäme man schon etwas, nur, damit sie einen los würden. Daß es ein Kinderspiel sei, sich »'s Futter zu besorgen,« darin stimmten alle überein, nur bares Geld für Schlafen und einen Schluck sei rar ... Ihr Elend und ihr Betteln waren diesen Armen selbstverständliche und notwendige Dinge. In mir stritten sich alle möglichen Empfindungen, und mehr als einmal wollte ich hinauslaufen in die Kälte und wieder allein sein; doch der Trieb nach Wärme und Schlaf war stärker als der Widerwille.

Nach und nach wurden die Tische leer. Eine unbeschreibliche Müdigkeit kam über mich, und zögernd ging ich nach hinten, dorthin, wo alle hingingen – dorthin, wo der Schlafplatz sein mußte.

Und blieb entsetzt stehen.

Mitten in einem großen Raum leuchtete der rotglühende Bauch eines gewaltigen eisernen Ofens. In einer Ecke hing eine schmutzige Laterne. Der Boden war wie übersät mit Menschen, die da in langen Reihen lagen, dort in dichten Klumpen zusammengepackt schienen; in der Mitte des Zimmers, den Wänden entlang, überall. Nur um den glühenden Ofen war ein schmaler Kreis freigeblieben, und die Männer, die dichtgedrängt am Rande dieses Kreises lagen, hatten sich halbnackt ausgezogen. Bündel von Kleidern und Stiefeln dienten ihnen als Kopfkissen. Seite an Seite schliefen sie, Kopf an Kopf und Köpfe gegen Füße; in einem Wirrwarr von Leibern, der grauenhaft dicht war in der Nähe des heißen Ofens und sich ein wenig lichtete gegen die Wände zu. Die Plätze nahe dem glutstrahlenden Ungetüm waren wohl am begehrtesten um ihrer Wärme willen. Ueberall auf dem Boden lagen Zeitungen herum, die Matrazen dieses Schlafraumes, und Zeitungen waren es, mit denen die Schlafenden sich zugedeckt hatten. Die Männer stöhnten im Schlaf; sie schnarchten, sie wälzten sich hin und her. Da fluchte einer über irgend etwas, hier kroch ein neuer Ankömmling auf Händen und Füßen über die Leiber hinweg, sich ein Plätzchen in der Menschenreihe suchend. Ueber die Armen und Elenden hin sandte der glühende Ofen heiße Luftwellen, und in seine unerträgliche Hitze mengten sich die Dünste von Menschen und Kleidern und der Geruch von Bier und Rauch des äußeren Raumes. Ein Stall war dieses Zimmer; ein Menschenpferch, dessen Luft beizend in Augen und Lungen drang.

Ich stand und starrte, und immer neue Menschen drängten sich an mir vorbei und plumpsten wie Säcke nieder, wo noch ein bißchen Raum war zwischen den Leibern. So müde war ich – so müde. Und dann vergaß ich Nacht und Müdigkeit über dem entsetzlichen Raum und flüchtete endlich wie einer, der vor ansteckendem Pesthauch flieht.

»Hell! Wohin willst du?« fragte der Mann an der Türe. »Der Teufel soll das 'rein und 'rauslaufen holen!«

»Hinaus!«

»Ist kein Platz mehr drinnen?«

»Doch!« sagte ich. wider Willen lachend. »Aber nicht für mich. Ich will lieber die ganze Nacht herumlaufen, als da drinnen schlafen. Und jetzt geben Sie die Türe frei, sonst –«

»Langsam, immer langsam!« grinste der Mann. »Für 25 Cents mehr kriegst du 'n Bett, und für 50 Cents will ich dir's frisch überziehen.«

»Zuerst muß ich es sehen.«

»Warum denn nicht; Geschäft ist Geschäft.«

Er führte mich eine Treppe empor, in einen kleinen Verschlag mit eisernem Feldbett, und brachte frische Leintücher und einen neuen Kissenbezug. Ich zahlte das Geld: meine letzten Pfennige. Als er gegangen war, zog ich die Oberkleider aus, wickelte mich in die Leintücher und schlief auf dem Boden. Dem Bett traute ich nicht. Es war eisig kalt, aber durch die zerbrochene Fensterscheibe drang doch frische Luft. Und man war allein.

»Nie wieder eine solche Nacht in einem solchen Haus!« war mein letzter Gedanke. »Lieber in den Fluß springen da drüben!«

Auf einmal fiel mir ein, daß in meiner Tasche ja noch meine Uhr steckte. Da kam ich mir förmlich reich vor – –

Stockfinster war's noch, als ich frierend aufwachte am nächsten Morgen und beim Schein eines Zündhölzchens auf die Uhr sah. Sechs Uhr. Auf der wassergefüllten Waschschüssel in der Ecke hatte sich eine dicke Eiskruste gebildet, und das Stückchen Seife in der Schale war so fest angefroren, daß ich es mit dem Messer loslösen mußte: aber das eiskalte Wasser erfrischte den Körper unbeschreiblich. Unten in dem Zimmer mit den langen Tischen und den vielen Bänken waren die Fenster geöffnet und frische kalte Luft strömte herein. Hinter der Bar stand das alte Weib von gestern abend.

»Guten Morgen!« sagte sie. »Der Vogel, der früh aufsteht, erwischt den Wurm, heh? Von denen da drinnen rührt sich keiner vor acht Uhr: dann müssen sie aber 'raus, weil Joe die Fenster aufmacht und mit der Gießkanne kommt, hih, hih!«

»Guten Morgen!« antwortete ich und wollte gehen, aber sie stellte eine große Schale dampfend heißen Kaffees vor mich hin und brummte:

»Bettgäste kriegen 'n Kaffee gratis – besonders, wenn's solche Narren sind, die Joe fünfzig Cents für ein Bett zahlen, das bloß fünfundzwanzig kostet!«

Und diese fünfzig Cents waren mein allerletztes Geld gewesen! Ich lachte laut auf und dankte leise den guten Göttern für die angenehme Ueberraschung des warmen Kaffeetranks.

Arbeit suchen!

Es war hell und klar und sonnig und bitterkalt draußen auf der Straße. Eine breite Mauer von Schnee, fünf, sechs Fuß hoch, türmte sich weißglitzernd neben dem Fußgängerweg auf, soweit man sehen konnte, und Scharen von Männern mit Schneeschaufeln und Besen waren eifrig dabei, diese winterliche Mauer immer höher zu bauen. Es bedurfte wahrlich keiner besonderen Intelligenz, um hier die Arbeitsmöglichkeit zu erkennen.

»Verzeihen Sie –« sagte ich zu dem baumlangen Aufseher, der, die Pfeife zwischen den Zähnen und die Hände in den Taschen, durch Kopfnicken die Schar leitete, »entschuldigen Sie – aber kann man hier noch ankommen? Ich suche Arbeit.«

»Dann suchen Sie am falschen Platz,« antwortete er. »Schneeschaufler werden punkt sechs Uhr morgens im kleinen Hof des Rathauses angenommen.«

»Ich brauche aber sofort Arbeit.«

»Well – das is' Ihre verdammte Affäre. Wenn's heute weiterschneit, kann ich Sie morgen früh anstellen. Jetzt nicht.«

So begann die lange Arbeitssuche, das Laufen und Suchen den ganzen Tag hindurch. Zweimal lief ich die ungeheure Mississippifront auf und nieder, fragte gewissenhaft jeden Arbeitsplatz ab, sprach mit Hunderten von Menschen und log erschrecklich über meine Arbeitsfähigkeiten. Zwanzig, dreißigmal wiederholte sich das gleiche Frage- und Antwortspiel:

»Können Sie mit schweren Kisten umgehen?«

»Jawohl – ausgezeichnet!«

»Erfahrung gehabt darin?«

»Massenhaft!« (Das war eine eklatante Unwahrheit ...)

»Schön – dann melden Sie sich am Montag früh um sieben Uhr!«

Immer wieder erhielt ich diese Antwort. Arbeitsgelegenheit schien in Mengen da zu sein: nur war diese boshafte Arbeitsgelegenheit stets so eigentümlich, sich immer erst in einigen Tagen materialisieren zu wollen. Zwar gab dies Trost und Hoffnung, war aber entschieden unpraktisch für ein Menschenkind, das seinen letzten Pfennig verschlafen hatte. Ich fragte und fragte. An Vorarbeiter wandte ich mich bald nicht mehr, denn die erkundigten sich sofort, ob ich dem »Verbande«, der Gewerkschaft, angehöre und wurden grob, wenn ich verneinen mußte. In den Bureaus wurde ich entweder abgewiesen oder auf den Montag (den ich nachgerade zu hassen anfing) bestellt. So gab ich, es war schon fast Mittag, der Mississippilevee meinen Segen und schlich hungernd und frierend hinauf nach dem Stadtzentrum. Im Vorbeigehen bat ich einen dicken Polizisten, der sehr gutmütig aussah, um Rat.

»Heiliger Sankt Patrik,« sagte der. »andere Leute haben auch kein Geld und andere Leute möchten auch Arbeit haben. Da soll der Kuckuck raten. Reden Sie und fragen Sie Gott und die Welt, und dann fangen Sie wieder von vorne an!«

Und ich redete!

In dem Stadtviertel, das die Levee mit dem Geschäftszentrum verband, lag Fabrik an Fabrik, und Fabrik auf Fabrik suchte ich ab mit dem stereotypen: »Ich suche Arbeit!« Hier waren die Leute grob und schüttelten die Köpfe, ohne sich die Mühe eines gesprochenen Nein zu geben; dort fragte man mich zehn Minuten lang neugierig aus, um dann achselzuckend zu bedauern. Dort sollte man in einer Woche wiederkommen. Es war ein Straßenwandern und Fragen zum Herzzerbrechen. Die Müdigkeit kam und der Hunger machte sich immer bemerkbarer. So hungrig wurde ich, daß ich geradezu Schmerz empfand, wenn ich im Vorbeigehen in die Schaufenster von Bäckereien und Delikatessengeschäften guckte; so hungrig, daß ich immer wieder und wieder krampfhaft nach der Uhr in meiner Tasche fühlte und mit dem Gedanken liebäugelte, daß das kleine tickende Ding die schönsten Mahlzeiten in sich barg. Aber ich empfand, daß ihr Wert das letzte war, das vom Nichts trennte, und biß die Zähne zusammen. Weiter suchen! Mir war, als sei ich mutterseelenallein zwischen den ungeheuren Gebäuden, den himmelragenden Wolkenkratzern, die da die Lehre von der Kunst des Dollarjagens hinausschrien in die Welt; allein in dem Gewühl von Menschen, die hastig vorwärtsstrebten, als wisse jeder von ihnen ganz genau, was er tun müsse. Nur ich, ich allein unter den Tausenden, wußte das nicht. Hart sahen die Männer und die Frauen aus, gleichgültig. Selbstbewußt aber vor allem: so selbstbewußt, daß mir jedes scharfgeschnittene Gesicht und jedes klare Auge ein Vorwurf zu sein schien: Weshalb bist du denn so hilflos – warum kannst du nicht was wir können! Erbärmlich klein kam ich mir vor. Und erbärmlich hungrig.

Ich wanderte wieder der Levee zu. In den Wolkenkratzern, in den eleganten Läden, im Stadtviertel der Banken – da hatte ich nichts zu suchen, denn ich kannte den Wert von Geld und äußerer Erscheinung: mein zerknitterter Anzug, meine Geldlosigkeit bedingten, das wußte ich recht gut, primitive Arbeit mit den Fäusten. Der Abend war hereingebrochen, und fast instinktiv spähte ich in dem Lichtermeer der Straßen nach den drei vergoldeten Kugeln, die in Amerika ein Pfandgeschäft bedeuten. Essen – schlafen – und dann aufs Rathaus morgen in aller Frühe zum Schneeschaufeln. Da trat dicht vor mir, aus einer Seitentüre eines riesengroßen Gebäudes aus mächtigen Sandsteinquadern ein Jüngelchen in dunkelgrünem Pagenanzug mit goldigen Borten und goldigen Knöpfen, eine Zigarette in seinem Kindermund, und nagelte mit großer Bedächtigkeit ein Plakat an die Mauer: Man wanted in kitchen.

Gesucht ein Mann für die Küche ...

»Was ist das?« fragte ich das Kind.

»Dies ist der Seiteneingang zum Palacehotel.« antwortete der Pagenjüngling. »In der Küche brauchen sie einen Mann zum Geschirrwaschen. Können Sie nich' lesen?«

»Der Mann bin ich!« sagte ich. »Nimm das Ding nur wieder herunter von der Wand! Und nun zeig' mir den Weg, mein Sohn!« Die Tätigkeit des Geschirrwaschens erschien mir zwar einigermaßen komisch. Aber es war Arbeit, und Arbeit brauchte ich.

»Kommen Se mit.« sagte das Kind mit einem herablassenden Kopfnicken, denn in seiner Weltvorstellung stand ein Hotelpage natürlich turmhoch über einem angehenden Geschirrwascher.

Und in fünf Minuten war ich von einem pompösen Küchenchef, der englisch, deutsch und französisch wirr durcheinander sprach und ein quecksilbernes Bündel von empfindlichen Nerven schien, in aller Form als Töpfeputzer Nummer 2 des Palasthotels angestellt. Arbeitszeit von 6 Uhr abends bis 6 Uhr morgens, Essen und Wohnen frei, dreißig Dollars im Monat, Abgang von der Stelle nur am 17. eines jeden Monats ...

Die Küche der Riesenkarawanserei, die sich Palasthotel nannte, wäre jeder Durchschnittsfrau als der siebente Himmel von silberfunkelnder und kupferglänzender Küchenschönheit erschienen; jede Frau hätte den ungeheuren Herd, die Köche in schneeweißen Anzügen, die blitzende Sauberkeit überall staunend bewundert. Jeder Durchschnittsmann aber wäre vor dem Getriebe nervöser Hast in dieser Küche entsetzt geflüchtet! Ich wenigstens hab' mir aus dem Arbeitsmonat in jenem Küchenreich einen unbezwinglichen Widerwillen gegen alles, was Koch heißt, mit hinübergenommen ins Leben. Diese Köche waren eitel wie die Pfauen, nervös wie hysterische Weiber und unverschämt wie reiche Parvenüs. Sie zankten sich untereinander in einem endlosen Geschnatter von Französisch und Englisch und Deutsch und Italienisch, und verfluchten sich gegenseitig in alle Tiefen der Hölle, bis der großmächtige Küchenchef aus seinem Privatbureau trat. Dann schwenzelten sie devot um die Majestät der Küche herum.

Mir bedeutete das kleine Gemach an der Küchenseite, in dem ich arbeiten mußte, mit seinen ewig nassen Steinfliesen und seinen marmornen Putzbecken von allem Anfang an eine Miniaturhölle, die in alle Ewigkeit dazu verflucht war, in heißen Dampf gehüllt zu sein und ein immer sich erneuerndes Chaos von rußigen Kupferkesseln und Kasserolen und Töpfen in allen Größen und Formen zu beherbergen. Man kam sich vor wie Sisyphus – gegen Unmöglichkeiten anarbeitend. Ohn' Unterlaß rannten, wie aus Kanonen geschossen, zappelige Köche in die Türe und warfen mit vielen Sapristis und Nom de Dieus und Hells mir ganze Kupferberge vor die Füße, während ich im Schweiße meines Angesichts mit harten Bürsten und scharfer Salz- und Essiglösung putzte und wusch. Es ist lustig, sich an lächerliche Kleinigkeiten zu erinnern; ich verspüre heute noch das verzweifelte Entsetzen, das mich immer überschlich, wenn ich glücklich den letzten von Hunderten von Töpfen blitzsauber hatte, und dann auf einmal eine Höllenschar von Köchen Dutzende und Aberdutzende schmutziger Kasserolen in meine Miniaturhölle feuerte!

So leicht die Arbeit an und für sich sein mochte – kein Faden blieb einem trocken am Leib! Ich war Nummer zwei. Nummer eins, ein Südfranzose, arbeitete von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends. Um ein Uhr nachts gingen die Köche nach Hause, und es wurde still in der Riesenküche. Meine Arbeit aber begann eigentlich erst, denn von den späten Theatersoupers war immer noch ein Regiment von Töpfen da. Dann aber hieß es, jedes Stückchen Metallglanz in der Küche putzen. Den Herd entlang, der die ganze eine Längswand einnahm, lief ein Anrichtetisch aus solidem Kupfer, an die fünfzehn Meter lang. Der mußte blitzblank sein. Der Herd mußte geschwärzt, seine Metallteile geputzt werden,– die Pfannen an dem Gerüst über dem Anrichtetisch sollten blinken und leuchten und genau nach Größe geordnet sein. Da waren noch die Messingbänder der Geschirrwaschmaschinen, ungeheurer Bottiche, in denen Plattformen durch elektrische Kraft rotierten und die aufgestapelten Teller und Platten mechanisch reinigten. Da waren die Küchenfliesen zu waschen. Jede Minute der zwölf Arbeitsstunden mußte ausgenützt werden, wenn ich fertig werden wollte. Um 6 Uhr morgens dann schlich ich mich in das winzige Zimmerchen im sechsten Stockwerk, in dem der Südfranzose, Nummer eins, und ich zusammen hausten, ohne uns jemals zu sehen als eine Minute lang am Morgen und am Abend, wenn wir uns ablösten.

Heute noch kann ich kein Kupfergeschirr sehen, ohne mit Grauen an die elegante Küche des Palasthotels und ihre Höllenarbeit zu denken! Diese Küche war eine der Sehenswürdigkeiten des Hotellebens von St. Louis, mit Stolz gezeigt – aber unter Vorsichtsmaßregeln. Wurden Besucher ins Küchenreich geführt, so ertönte schrill eine elektrische Glocke. Das Glöckchen der neugierigen Affen wurde sie genannt. Ihr Schrillen war das Signal zu vornehmem Dekorum. Die Köche ließen, wie durch Zauberspruch gebannt, ab vom Schimpfen und Schnattern; die Mädels bei den Geschirrmaschinen banden sich rasch frische Schürzen um und gaben sich Mühe, recht niedlich auszusehen; ich mußte die Türe zu meinem Putzreich schleunigst zumachen. Und die neugierigen Affen sagten dem Chef Schmeicheleien über den lautlosen Betrieb ... Ich aber fluchte innerlich und zählte mir an den Fingern die Tage bis zum 17. Dezember ab und wunderte mich, ob es denn Männer geben könne auf dieser Welt, die Töpfeputzen im Palasthotel länger als einen Monat aushielten. Prompt um 9 Uhr morgens bat ich Seine Majestät den Küchenchef um eine Anweisung auf die Hotelkasse.

»Es ist merkwürdig,« meinte der Chef, »daß wir mit dem Personal des Putzraumes so häufig wechseln müssen. Die Arbeit ist doch leicht. Nun, wenn Sie das Geld durchgebracht haben, können Sie wieder vorfragen.«

»Thank you!« sagte ich.

Als ich aber für die Arbeit von fünf Wochen ein Bündel von dreiundvierzig Dollarscheinen zärtlich in die Tasche steckte, mischte sich in meine komische Wut auf jene Hölle kupferner Greuel leise Dankbarkeit, und froh wie ein aus Qual Erlöster zog ich meinen besten Anzug an. Starkenbach hatte mir auf meine Bitte meinen Koffer ins Hotel geschickt. Ein Zettel lag obenauf:

»Viel Glück, lieber Freund! Wie gefällt Ihnen mein gutes altes St. Louis? Lassen Sie es sich möglichst gut gehen und nehmen Sie dieses putzige Leben nicht allzu ernst!«

Da hatte ich laut aufgelacht. Wenn man Kupferkessel putzte, hatte das Leben so gar nichts Putziges – und was ich vom guten alten St. Louis kannte, waren – – eine Miniaturhölle im krassesten Elendsviertel der Stadt und eine andere Miniaturhölle in einer der vornehmsten Karawansereien der hotelzivilisierten Welt.


 << zurück weiter >>