Erwin Rosen
Der Deutsche Lausbub in Amerika – Erster Teil
Erwin Rosen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Im Zwischendeck der Lahn

Im Bremer Ratskeller. – »So schmiede dir denn selbst dein Glück!« – An Bord. – Der Steward, der Zahlmeister und das Nebengeschäftchen. – Vom Itzig Silberberg aus Wodcziliska. – Atra cura ... – Das Mädel mit den hungrigen Augen. – Die beiden Däninnen. – Im New Yorker Hafen.

Den ganzen Tag waren wir in Bremen umhergerannt. Als wir bei der ärztlichen Untersuchung uns einer langen Reihe von Auswanderern anschließen und stundenlang warten mußten, sagte mein Vater auf einmal:

»Du solltest eigentlich doch die Ueberfahrt in der Kajüte machen und nicht im Zwischendeck!«

Aber sofort besann er sich. »Nein! Es bleibt dabei. Es ist besser, wenn du dich schon auf dem Schiff an neue Verhältnisse gewöhnst.«

Und dann kam der letzte Abend im deutschen Land.

Bis gegen Mitternacht saßen mein Vater und ich im Bremer Ratskeller, in einem stillen Winkel, verborgen zwischen bauchigen Apostelfässern. Edler Wein funkelte in den Gläsern. Von der großen Stube her klang Stimmengewirr, lustiges Lachen fröhlicher Menschen. Mir war erbärmlich zumute; ich starrte in den goldgelben Wein und kämpfte immer wieder mit Tränen und dachte an den Abschied von meiner Mutter und wagte es nicht, meinem Vater in das vergrämte Gesicht zu sehen.

Erst Jahre später habe ich das verstanden, was mir mein Vater an jenem Abend sagte. Er sprach wie ein Mann zum andern, wie ein Freund zum Freund; erklärte mir, daß es ihm bitter schwer würde, den einzigen Sohn in die Welt hinauszuschicken. Er wisse aber keinen andern Rat. Das Leben selbst mit all' seinen Härten müsse mich in die Kur nehmen ...

»Geh' zugrunde, wenn du zu schwach fürs Leben bist!«

Und ich lächelte unter Tränen, denn meine Art von Stolz hatte ich trotz allen Gedrücktseins und trotz aller Reue. Das gefiel ihm.

»Du wirst nicht zugrunde gehen, glaube ich. So gefährlich auch das Experiment ist, für so richtig halte ich es. Du mußt auf deine eigenen Füße gestellt werden. Du mußt dich austoben! Auf der Universität würdest du nichts als neue Streiche machen, dich vielleicht ins Unglück stürzen; Soldat, wie du es werden möchtest, kann ich dich nicht werden lassen, denn zum armen Offizier eignet sich kein Mensch so schlecht wie du – ins kaufmännische Leben paßt du erst recht nicht. So schmiede dir denn selber dein Glück ...«

Stundenlang sprach mein Vater mit mir. Meine Fahrkarte lautete nach Galveston in Texas. Mein Aufenthalt in New York würde nur wenige Stunden dauern; am nächsten Tag nach Ankunft der Lahn in New York sollte ich mit einem Dampfer der Mallorylinie nach Texas weiterfahren. Da draußen im jungen Land würde es mir weit leichter werden, mich durchzuschlagen, als in einer Riesenstadt mit ihren Tausenden von Arbeitslosen.

»Such' dir dein Brot! Halte den Kopf hoch, mein Junge; laß dir nichts schenken; gib Schlag um Schlag; hab' Respekt vor Frauen. Du wolltest ja immer Soldat werden – bist jetzt ein Glückssoldat.«

Und die Gläser klirrten zusammen.

Da bat ich schluchzend um Verzeihung – – –

Nie in meinem Leben werde ich jenen Abend vergessen; denn als ich sieben Jahre später wiederkam, da hatten sie meinen Vater begraben.

Am nächsten Morgen fuhren wir nach Bremerhaven zum Lloyddock. Dort lag wie ein riesiges schwarzes Ungetüm der Schnelldampfer Lahn. Auf dem kleinen Häuschen am Dock, das irgend ein Bureau enthalten mochte, flatterte die deutsche Flagge. Am Kai drängten sich die Menschen, und an der Schiffsreeling standen in dichten Reihen Kajütenpassagiere, die Abschiedsgrüße zu ihren Freunden hinunterriefen und Taschentücher flattern ließen. Wir stiegen die Gangplanke hinan. Ein Zahlmeister des Norddeutschen Lloyd verlangte meine Zwischendeckkarte, und ein Polizist prüfte meinen Paß. Auf dem Vorderschiff war ein unbeschreiblicher Wirrwarr. Männer und Frauen und Kinder standen und saßen herum, zwischen Köfferchen und Säcken und Bündeln. Irgend jemand spielte auf einer Ziehharmonika, und ein Mädel sang dazu: »Et hat ja immer, immer jut jejange' – jut jejange' ...« Die unbehilflichen Menschen, die sich gegenseitig im Wege standen, schnatterten und schimpften; die Ziehharmonika johlte einen Gassenhauer nach dem andern, bis die Walzerklänge der Schiffskapelle auf dem Promenadedeck sie übertönten. Mein Vater und ich standen an der Reeling zwischen einem russischen Juden in fettglänzendem Kaftan und einer Bauernfrau mit buntem Kopftuch. Ich schluchzte vor mich hin. Die Menschen und die Dinge schwammen mir vor den Augen; mir war, als müßte ich schreien in bitterer Reue. Mein Vater sagte ein über das andere Mal:

»Mein lieber Junge – mein lieber Junge!«

»Besucher von Bord!« riefen die Stewards. Die Glocke begann zu läuten.

Langsam setzte sich der Schiffskoloß in Bewegung. Und ich stand und starrte mit brennenden Augen nach dem Kai. Hochaufgerichtet stand mein Vater am äußersten Ende der Landungsbrücke, den Kopf in den Nacken geworfen, wie das seine Art war, und winkte mir zu. Einmal. Zweimal. Dann wandte er sich mit einem scharfen Ruck, und in wenigen Sekunden war er im Menschengewühl verschwunden – – –

Ein Steward klopfte mir auf die Schulter. »Haben Sie schon 'ne Koje?«

»Nein.«

»Na, hören Sie 'mal – dann ist's aber höchste Zeit. Machen Sie, daß Sie 'runterkommen. Die Treppe dort.«

Ich nahm meinen Handkoffer und stieg hinunter, in einen Riesenraum mit langen Reihen von Holzgestellen: nebeneinander und übereinander geschichteten Kojen. Viele Hunderte von Schlafplätzen waren es. Jedes Bett enthielt eine Strohmatraze, zwei hellbraune Wolldecken und ein Kopfkissen. Auf jedem Kopfkissen waren ein Blechbecher, ein zinnerner Teller, Messer, Gabel und Löffel hingelegt. Ueberall auf den Holzgestellen kletterten Männer herum, und da und dort stritt man sich um die Plätze. Ich muß recht hilflos dagestanden haben. Ein Steward sah mich prüfend an, dann ging er auf mich zu:

»Das wird Ihnen man nich' gefallen hier unten mit die Polacken un' die Juden un' die ganze Gesellschaft – das is nix nich' für junge Herren, sag' ich. Kommen Sie mit.«

Natürlich ging ich mit. Mir war alles furchtbar gleichgültig. Durch endlose Gänge und über unzählige Treppen führte er mich ins Bureau des vierten Zahlmeisters.

»Können wir nich' 'ne Koje fixen für diesen jungen Herrn?« fragte mein Begleiter den Zahlmeister.

Jawohl, es ging. Gegen eine Entschädigung von zwanzig Reichsmark wollte der Herr Zahlmeister eine Koje für mich im Vorratsraum aufstellen lassen. Ja, sie stand merkwürdigerweise schon fix und fertig da, in einem Winkel, durch eine aufgespannte amerikanische Flagge schamhaft verhüllt.

»Das is schandbar billig,« flüsterte mir der Steward zu. »Da haben Sie Glück gehabt. Nu wollen wir aber einen trinken. So 'ne kleine Flasche Hamburger Kümmel kost' nur 'ne Mark fufzig. Haben Sie zufällig eine da, Herr Zahlmeister?«

Jawohl; es war eine da.

»Prost!« (Einundzwanzig Mark und fünfzig Pfennige wechselten ihre Besitzer). Da starrte mich der Steward auf einmal entsetzt an. »'n Strohhut? Nee, is' nich' möglich – 'n Strohhut! Mensch, haben Sie keine Mütze?«

Nein, ich hatte keine Mütze.

»Mensch! So 'n feiner Strohhut – der geht über Bord, sag' ich Ihnen. Bei dem Wind! Ich hab' zufällig 'ne Mütze. Kost 'n Taler! 'ne feine Mütze!«

Natürlich kaufte ich die Mütze.

Dann komplimentierte mich der Zahlmeister höflich aber energisch hinaus. Ich kennte ja jetzt meinen Schlafplatz. Von 7 Uhr morgens aber bis 9 Uhr abends hätte ich in seinem Bureau nichts zu suchen.

Auch das war mir sehr gleichgültig – wie alles und jedes an Bord der Lahn an jenem ersten Tag. Ich aß fast nichts, interessierte mich für nichts, lief stumpfsinnig an Deck auf und ab, stand stundenlang in einem einsamen Winkel an der Reeling, schlich mich früh am Abend in des Zahlmeisters Bureau, ging ins Bett und weinte unter der Decke wie ein kleiner Junge ...

Fröhlicher Sonnenschein flutete durch die kleinen rundlichen Kajütenfenster, als ich am nächsten Morgen erwachte und schläfrig um mich blinzelte. Was war das für ein Tönen und Surren? Im ganzen Körper fühlte ich das Vibrieren des vorwärtspeitschenden Riesenschiffes – mir war, als läge ich in einer Schaukel, auf und ab schwingend; als würde ich der Decke zugeschleudert, bliebe dort einen Augenblick hängen und versänke dann in unendliche Tiefen. Ein Stückchen von mir selbst schien jedesmal zurückzubleiben; droben an der Decke und unten in der Tiefe. Einmal hatte ich das entsetzliche Gefühl, als hätte sich mein Magen von mir getrennt und schwebe irgendwo in der Kajüte. Ich sprang aus dem Bett, und sofort hörte das Rumoren in meinem Innern auf. Im Handumdrehen war ich angezogen, eilte an Deck und, machte mich mit wahrem Heißhunger über Kaffee und Brötchen her, die aus einem großen Kessel und einem Ungetüm von Korb durch zwei Stewards verteilt wurden. Wenig Menschen waren an Deck. Ich trat an die Reeling. Da draußen war majestätische Ruhe. Wie die Unendlichkeit selbst sahen sie aus, die immerzu vorwärtsrollenden Wasserberge, in ihrer gewölbten Mitte tief schwarz und doch glänzend wie ein Spiegel grünblau aufsteigend, schaumig weiß an den Rändern. Dann überholte der eine Wasserberg den andern, zusammenstürzend, und eine neue Welle wurde aus ihnen geboren, zu kurzem Spiel. Nimmer aufhörende Bewegung und doch verkörperte Ruhe. Ich trank die salzige Luft ein, die einem die Augen aufleuchten ließ und das Blut schneller durch die Adern jagte. Und schaute in den Sonnenhimmel. Frisch und froh und leicht fühlte ich mich. »So schmiede dir denn selber dein Glück –« Vergangen war vergangen und feige wäre es, die Ohren hängen zu lassen. Hast du Schneid genug zu dummem Leichtsinn gehabt, so mußt du auch Schneid genug haben, nicht in nutzloser Reue zu flennen.

Ich wurde unternehmungslustig und stieg ins Zwischendeck hinab. Es war fürchterlich da unten. Armselige Häuflein menschlichen Elends lagen auf den Kojen herum, mit grüngelben Gesichtern, jammernd in den Qualm der Seekrankheit, zu energielos, um in frische Luft an Deck zu gehen. Eine Unterwelt des Stöhnens und der Gerüche. Und die Konsequenzen der Seekrankheit machten sich sehr bemerkbar, so daß ich allen Göttern für mein Schlafplätzchen im Vorratsraum dankte.

»Se belieben nix ssu sein seekrank?« fragte mich ein alter Jude, der knoblauchduftend auf einem Bündel neben seiner Koje saß.

»Nein.«

»Nu, das frait mich. Was ham Se genommen ein for de Magen?«

»Nichts. Ich blieb nur in der frischen Luft.«

»Püh, frische Luft. Wer' ich raufgehen ssu sitzen in der frischen Luft? Wer' ich nich'! Bin ich gegangen rauf und hab mer gesetzt auf Stricke. Is 'n Goj gekommen, wo hat ge-soogen an die Stricke un' bin ich gefallen auf 'n Rücken.

»´s Tauwerk is nich' zum Sitzen da,« sagt er.

»Se ver–sseihen gütigst,« sag ich. Nu bin ich gegangen ssu sitzen auf 'e Bank ganz vorne.

»Paß man auf. Da is feucht!« sagt der Goj.

»Nu, ich bin geblieben sitzen. De Bank is for alle da und er hat mer nix nich' ssu sagen, denk ich. Nu, ich sitz – un' wie ich so sitz, kommt e Welle un' macht mer himmelschreiend naß. Waih geschrien, sag ich, was is das for e Gemeinheit?«

»Siehste,« sagte der Goj.

»Nu belieben Se gütigst ssu verstehen, daß ich nix will wern naß un' nix will haben tun mit die Gojim vons Schiff. Püh! Was wern Se machen drieben, wenn ich fragen derf?«

»Weiß ich noch nicht.«

»Nu? wie haißt? Sind Se e Millionär?«

»Nee! Leider nicht. Was wollen denn Sie in Amerika anfangen?«

»Nu, der Silberberg is gegangen nach e böse Pleite in Wodcziliska in Galizien nach New York, un' is geworden e gemachter Mann. Bei de Geschäfte is' ssu machen e Rebbach, schreibt er an de Verwandtschaft. Nu – wer ich handeln – wie der Itzig Silberberg aus Wodcziliska.«

Als ich wieder oben war und dankbar die frische Luft einatmete, lachte ich laut und lange über den handelstüchtigen Sohn Israels. Dann wurde ich nachdenklich.

»Was wern Se machen drieben? ...«

Zum Teufel auch, was würde ich eigentlich anfangen? Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Ich glaube, ich habe dieser wichtigen Lebensfrage etwa zehn Minuten gewidmet. Zukunftssorgen waren bis jetzt nicht meine Spezialität gewesen: In schleierhaften Erinnerungen an allerlei Indianerbücher dachte ich an galoppierende Pferde und schießende Cowboys, und ... damit war der Schatz meines Wissens erschöpft. Hm, abwarten. Es war mir ja auch so unendlich gleichgültig. Da drüben, irgendwo in der zusammenfließenden Masse von Himmel und Wasser würde in so und so viel Tagen neues Land auftauchen, neue Menschen, neue Dinge. Das würde zweifellos sehr interessant und sehr lustig sein. Ich freute mich schon so auf dieses neue Land, als hätte ich weiß Gott welche wichtigen Pläne. Nebenbei mußte man dann allerdings Brot verdienen. Man mußte arbeiten oder dergleichen. Irgend etwas. Nun, das würde sich schon finden.

»Hinter dem Reiter auf dem Pferde sitzt die schwarze Sorge ...«

Das war mir schon in Tertia komisch vorgekommen. Laß sie doch sitzen! Und ich pfiff mir eins und entschied, die Sache sei vorläufig erledigt. Es klang famos, ein Glückssoldat zu sein. Das Wesen eines Glückssoldaten war mir zwar sehr schleierhaft, aber ich vermutete, die Hauptsache sei, sich um nichts zu kümmern, was ich wunderschön fand, und wozu ich unbestritten großes Talent hatte.

Alles war überhaupt wunderschön. Prachtvolles Gefühl, so sein eigener Herr zu sein. Freilich – ein dutzendmal jeden Tag sah ich an mir hinunter, konstatierte, daß mein heller Sommeranzug ausgezeichnet saß und wünschte mich sehnlichst zu den eleganten Herren und Damen auf das Promenadendeck hinüber. Da gehörte ich doch hin! Von Rechts wegen!

Nach und nach waren alle die Jammergestalten nach überstandener Seekrankheit an Deck gekommen und verzehrten mit großer Regelmäßigkeit unglaubliche Mengen der derben Schiffskost, als wollten sie Versäumtes wieder einholen. Da waren oldenburgische Bauern, wortkarge Hünen, die den ganzen Tag lang in besorgter Wacht auf ihren Habseligkeiten saßen und niemals mit irgend jemand sprachen. Da waren galizische Juden, ungarische Arbeiter, deutsche Handwerker.

Sie hockten gewöhnlich in Gruppen zusammen. Sie scherten sich den Teufel um die Schönheiten des Meeres und die Fremdartigkeit des Schiffskolosses, aßen und tranken und rauchten und wuschen Wäsche und flickten Zeug und machten aus dem Zwischendeck ein Dorf mit alten Gebräuchen und alten Sitten. Die Weiber säugten ihre Kinder und holten ihren Männern das Essen und tanzten kreuzfidel, wenn der lustige bayrische Bierbrauer seine Ziehharmonika herbeiholte, und die Männer stritten sich und vertrugen sich wieder und erzählten ein wenig und logen ein bißchen, und die Stewards spielten bald die Polizeigewaltigen, weil sie Deutsche waren und ihnen das im Blut steckte; bald erinnerten sie sich daran, daß sie Kellner waren, und ergatterten Nickel.

Die oldenburgischen Bauern hatten Geld im Sack und gingen nach Kansas, um sich in einer deutschen Ansiedlung Land zu kaufen. Die Handwerker berichteten Wunderdinge von amerikanischen Wunderlöhnen – die ungarischen Arbeiter schnatterten den ganzen Tag in ihrer aufgeregten Art – die Juden hockten auf Kisten und Koffern zusammen und mauschelten.

Ich hatte wenig Verständnis für sie und ihre Art; das Zwischendeck der Lahn ist mir eine verschwommene Erinnerung, aus der nur ein paar Menschen auftauchen.

Da war ein schlankes Mädel mit hungrigen Augen. Sie reiste allein und erzählte jedem, der es hören wollte, daß sie des Dienstmädchenspielens und der gnädigen Frauen überdrüssig sei und – ja, da drüben gab's Geld, viel Geld und schöne Kleider, und sie sei ganz gewiß nicht dumm. Die Frauen im Zwischendeck betrachteten sie mit tiefster Abneigung, und die Männer verdrehten die Augen, wenn sie sich blicken ließ. Sie saß stundenlang ganz vorne an der Spitze des Schiffes und starrte aufs Meer hinaus. Einmal setzte ich mich neben sie.

»Einen Pfennig für Ihre Gedanken!«

»Hoh!« sagte das Mädel, und ihre Augen lachten, »meine Gedanken sind viel mehr wert.«

»Wieviel denn?«

»Nicht zum sagen. Ich hab' daran gedacht, daß ich alles Schöne haben will, was es nur gibt – alles, alles!«

Sie drehte sich um und sah mich an. Ich war zu jung damals, um in den hungrigen Augen zu lesen, und sie lachte und ging weg.

Und da waren meine beiden Däninnen. Schwestern, blutjunge Dinger in blauen Matrosenanzügelchen und kleinen schwarzen Hütchen. Sie saßen immer zusammen und kicherten, und wenn die Sonne schien, leuchteten die goldblonden Haare. Ich sagte einmal irgend etwas zu ihnen, da schüttelten sie lachend die Köpfe, denn sie sprachen nur dänisch und verstanden keine andere Sprache. Am letzten Abend der Reise aber war ich mit ihnen zusammen. Spät war's schon, und ich saß allein auf dem dunklen Verdeck und starrte in die Sternenwelt hinaus. Da kamen die Schwestern, kichernd und lachend, und eine setzte sich rechts von mir und eine links. So blieben wir die ganze Nacht im Dunkeln und schauten aufs Meer hinaus und schauten einander an, und betrachteten das Sternengeglitzer und freuten uns, wenn die Wellen silberschäumend aufblitzten. Stunde auf Stunde verrann, und wir rückten immer enger zusammen.

Ohne auch nur ein einziges Wort sprechen zu können.

Ich hab' die beiden armen Dinger nach Jahren wieder gesehen in jämmerlichem Elend. Aber das ist eine andere Geschichte.

*

Wie ein feiner Dunstschleier lag's über dem Meer. Graue Gebilde tauchten auf am Horizont, kaum sichtbar in verschwommenen Umrissen, aber von erdrückender Masse, schwer, ungeheuer. Sie wuchsen, stiegen empor, nahmen Form und Gestalt an, zergliederten sich in schattenhafte Häusermassen, zerteilt, interpunktiert von himmelstrebenden, riesengroßen Schatten, die grob und eckig wie Würfel aussahen und gewaltig, als habe eine übermenschliche Hand sie hingestellt. Das Meer wurde lebendig. Schiffe kamen in Sicht – Dampfer, groß und klein, Segler, Ozeanschlepper. Und langsam lösten sich aus den Schatten Farben heraus, das Meer erdrückend, als wolle die Riesenstadt sagen: Hier herrsche ich!

Getöse überall. Aus dem Wasser taucht ein Weib auf, fackelschwingend, eine Strahlenkrone um das Haupt, die Statue der Freiheit. Nun fahren wir mitten im Häusergewirr, das auf allen Seiten unabsehbare Linien von Schiffen bunt umsäumen, in allen Farben, in allen Größen.

Zwei zierliche Schleppdampfer drängen unseren Schiffskoloß hübsch langsam und vorsichtig an den Pier, von dem aus schwarzer Menschenmenge weiße Tücher grüßend flattern. Die Gangplanken werden gelegt, die Kajütspassagiere gehen an Land, die Dampfwinden fördern eilend ihre Kofferlasten aus dem Schiffsbauch. Wir Zwischendeckler müssen lange warten, bis auch wir das Schiff verlassen dürfen und uns in der Landungshalle zur Zollrevision aufstellen können.

Die ging schnell genug vorüber; bei den armen Leuten vom Zwischendeck war nicht viel zu holen für Onkel Sam. Dann marschierte man uns auf einen kleinen Dampfer, der uns nach den Auswandererhallen hinübertrug.

Es war ein riesengroßer Raum, durch Holzwerk in lange, schmale Gänge eingeteilt, mit kleinen Holzhäuschen für die Aerzte und die Auswanderer-Kommissare. An denen mußten wir im Gänsemarsch vorbeischreiten. Nach einer Stunde etwa kam auch ich an die Reihe. Der Arzt sah mich flüchtig an und winkte nur mit der Hand, ich dürfe weitergehen; der Kommissar fragte mich nach meinem Namen und sah auf einer Liste nach, die er in der Hand hielt.

»Sie sind Deutscher?«

»Ja.«

»Was haben Sie in Deutschland gearbeitet?«

»Nichts!« platzte ich heraus, und der Beamte lachte.

»Was wollen Sie hier in Amerika?«

Ich muß wahrscheinlich auf diese Frage ein recht dummes Gesicht gemacht haben, denn der Beamte wartete die Antwort gar nicht ab und fragte lächelnd:

»Zeigen Sie mir die erforderlichen dreißig Dollars.«

Er warf einen flüchtigen Blick auf die Goldstücke in meinem Geldtäschchen.

»Schön. Sie können passieren. Und viel Glück!«

Da stand ich nun in der kleineren Seitenhalle mit ihren Kofferbergen und mir fiel ein, daß auf dem Fahrschein der Dampferlinie, die mich nach Texas bringen sollte, umständlich auseinandergesetzt war, man müsse bei der Ankunft in New York die Fahrkarte auf den Hut stecken. Das tat ich. Sofort schoß ein bewegliches kleines Kerlchen auf mich zu:

» Hello, mister. Sie fahren mit der Mallory-Linie. Ich bin der Agent. Alles in Ordnung. Geben Sie mir Ihren Gepäckschein her. So! Bleiben Sie hier stehen. Rühren Sie sich ja nicht vom Platz. Sie haben gar nichts zu tun. Wird alles besorgt. Ist alles bezahlt.«

Und weg war er. Bald sah ich ihn hier, bald dort im Menschengedränge auftauchen, und immer hatte er neue Schutzbefohlene am Wickel, die er schleunigst zu mir in die Ecke führte. Endlich waren wir vollzählig.

»Eins, zwei, drei – sieben!« zählte er. » Allright. Alles in Ordnung. Gepäck wird gebracht. Gehen wir. Immer hinter mir drein!«

So betrat ich die Straßen New Yorks.


 << zurück weiter >>