Erwin Rosen
Der Deutsche Lausbub in Amerika – Erster Teil
Erwin Rosen

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Wie die Wanderung begann.

An der Geleiseböschung. – Der erste Sprung auf einen fahrenden Zug. – Die Fahrt. – Im Märchenland aufregenden Erlebens. – Das Hotel zur Eisenbahn. – Von der Königin Nikotin und ihrem Göttergeschenk. – Billy der Wanderer! – Das Abenteurerblut regt sich. – Ein psychischer Impuls. – Wanderer Nr. 3.

In der Apotheke funkelte noch ein Licht, und trübe schimmerte es rot und grün von den farbigen Glaskugeln im Schaufenster. Bald waren wir am Bahnhof. Das Bahnhofsgebäude mit seinen Lichtern ließ der schweigsame Mann neben mir links liegen und betrat zwischen langen Reihen von Frachtwagen die Geleise. Es war dunkel hier. Nur das Weiß und Rot der kleinen Signallämpchen an den Weichen blitzte da und dort auf und erleuchtete den blanken Stahl des Hauptgeleises. Wie ein grellschimmernder Fleck auf schwarzem Grund lag weit hinten der Bahnhof da. Vorsichtig schritt Billy zwischen den Frachtwagen dahin, dem weißen Fleck wieder entgegen. Ich folgte ihm lautlos. Dann ging es die Böschung hinab, an Haufen von aufgestapelten Schwellen entlang. Dreißig Meter vom Bahnhof blieb Billy stehen, kauerte sich nieder und winkte mir, das gleiche zu tun. Unsere Köpfe ragten nur ein wenig über die Böschung empor.

»Noch zehn Minuten,« sagte Billy, auf die Uhr sehend.

»Und – – –?«

»Pst! Nicht sprechen!«

Ein leises Zittern, ein kaum merkbares Sichregen in den Stahlschienen vor unseren Köpfen. Es wurde stärker, lauter. Ein feuriges Riesenauge blitzte auf. Und nun ein Gerassel, ein schallendes Dröhnen. Ein greller Pfiff. Der Expreß brauste heran, und mit einemmal war alles Leben und Lärm. Kondukteure sprangen herab, Reisende stiegen aus und ein; Schwatzen, Lachen, Rufe und Kommandos tönten herüber.

Billy rührte sich nicht. Das Riesenauge der Lokomotive warf weithin blendenden Schein über das Geleise. Wir, an der Böschungsseite, blieben im Dunkel. Aus einer gewaltigen Röhre ergoß sich Wasser in den Tank des Tenders. Der Lokomotivführer, eine Petroleumfackel in der Linken, eine langstielige Kanne in der Rechten, schritt von Oelkapsel zu Oelkapsel seiner Maschine, ölte und untersuchte.

»Hören Sie!« flüsterte Billy. »Wenn der Zug sich in Bewegung setzt, springen Sie auf den ersten Wagen nach dem Tender. Direkt nach dem Tender. Ja nicht vergessen! Das ist der Postwagen und die einzige Möglichkeit. Links und rechts vom Trittbrett sind Messingstangen. Klammern Sie sich an und schwingen Sie sich hinauf. Geht es nicht, so lassen Sie sich nach rückwärts fallen. Kümmern Sie sich nicht um mich; ich werde nach Ihnen springen. Warten Sie aber ja, bis die Lokomotive ganz nahe hier ist, sonst werden wir vom Bahnhof aus gesehen. So – jetzt!«

Der Expreß hatte sich in Bewegung gesetzt. Mir schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis die Lokomotive herankam. Endlich. Mit einem Satz sprang ich auf, geblendet einen Augenblick lang durch die Laterne, verspürte etwas wie Luftdruck, ließ die schwarze Masse des Tenders vorbeidröhnen und sah Stufen, einen Messinggriff. Blindlings griff ich zu. Und wurde förmlich hinaufgerissen. Im gleichen Augenblick schob mich etwas vorwärts und neben mir stand lachend Billy.

»Ausgezeichnet für's erste Mal,« sagte er. »Machen Sie sich's bequem.« Er hockte auf dem Boden der Plattform nieder, mit dem Rücken gegen die Wagenwand gelehnt. »Wie gefällt es Ihnen?«

Ich schnappte nach Luft und nickte nur.

»Dies ist ein blinder Postwagen,« erklärte er. »Blind, weil er vorne und hinten keine Türen hat, sondern nur Seitentüren; zum Schutz gegen Eisenbahnräuber. Sie verstehen – damit nicht Verbrecher vorne aufspringen (so wie wir's gemacht haben) und dann von der Plattform aus die Türe erbrechen können. Mögen die Götter den Mann segnen, der den Einfall des blinden Postwagens hatte. Wenn es nicht etwa dem Heizer beifällt, über den Tender zu klettern, sind wir bis zur nächsten Haltestelle sicher.«

Der Zug jagte dahin mit ungeheurer Geschwindigkeit. Von beiden Seiten und von vorwärts, über den niedrigen Tender hinweg, fegte der gewaltige Luftdruck auf uns ein wie Sturmwind. Feuchter Dampf und winzige, scharf stechende Kohlenteilchen peitschten unsere Gesichter. Der Wagen, auf dessen Plattform wir saßen, rüttelte so, daß ich mich krampfhaft anklammern mußte. Sprechen war fast unmöglich geworden in dem tosenden Lärm des dahinjagenden Zuges; man hätte schreien müssen, um sich zu verständigen. Ich starrte und starrte. Draußen huschte es vorbei wie gigantische Schatten; schwarze Schatten der Nacht, bald tiefdunkel, bald grau in grau – Häuser und Bäume und Felder und Dörfchen. Ein einsames Licht dann und wann, glitzernd nun, dann verschwunden, wie hüpfendes Irrlicht im Sumpf. Ich zitterte vor Kälte und duckte mich zusammen unter dem einpeitschenden Luftstrom. In mir aber jubelte es. Mir war es, als sei ich im Märchenland aufregenden Erlebens, fern von den Dingen des Alltags. Ich war wie trunken. Damals wußte ich es nicht – aber was ich zum erstenmal erlebte in jener Texasnacht, war berauschendes Zigeunertum, nackte Romantik, der alte Traum vom Dahinstürmen in die Welt hinein, primitivstes Mannestum. Das ließ einen zittern und jubeln zugleich; das ließ einem die Augen aufleuchten und das Herz rascher schlagen. Weiter, immer weiter. Mehr Schatten. Mehr Lärm. Mehr Lichter tauchten auf, erlöschend, von neuem geboren. Immer mehr. Wie ein leiser Ruck, wie ein sanftes Knirschen ging es durch den Zug, und das Dahinjagen verlangsamte sich. »Herunter – sobald wir durch den Bahnhof sind!« rief der Mann neben mir. Ein Auftauchen von flutendem Licht – ein Sprung – und wieder lagen wir auf seinem Kohlengeröll an einer Böschung und warteten wieder endlose Sekunden, bis das pfauchende Ungetüm auf uns zustürmte, und wieder sprangen wir.

Das wiederholte sich viermal, fünfmal, achtmal. Aus den tiefen Nachtschatten wurden graue Nebel, in denen hier ein Haus, dort ein Stück Wald in unbestimmten gespenstischen Umrissen erschien, vorbeisausend, noch ehe das Auge bestimmte Formen unterscheiden konnte. Weiter, immer weiter. In Dampf und Lärm und Sturmwind. So Schönes hatte ich noch nie erlebt. Immer lichter wurden die Nebel und weit draußen im Osten säumte es sich wie ein feiner heller Streifen am Horizont hin, wie ein dünnes silbernes Band. Und mit einemmal kam ein zartrosa Schimmern in die weiße Linie, dann ein rotes Glühen, und ein leuchtendes Stückchen des Sonnenballs zerriß das Grau in Grau der Dämmerung, schuf Farben. Gelbleuchtenden Sand, sattes Feldergrün.

Weiter, immer weiter. Eine Station – der Sprung ...

Als wir so dalagen, schlenderte ein Kondukteur an der Lokomotive vorbei, sah sich forschend um, guckte die Böschung entlang und kam auf uns zu.

»Hello, Jungens,« sagte er. »Hab' euch abspringen sehen. Schluß! Ich könnte in Unannehmlichkeiten kommen, wenn man euch sähe. Ich selbst werde auf der blinden Plattform fahren bis zur nächsten Station. Gebt euch also keine Mühe!«

» Allright!«, rief mein Begleiter und stand lachend auf. »Komm, mein Junge. Dieser Zug hat seine Schuldigkeit getan.«

»Probiert es ja nicht!« rief der Kondukteur noch einmal.

Billy schlenderte ganz langsam über das Geleise und betrachtete sehnsüchtig den Kuhfänger, den schaufelförmigen Holzaufbau an der Lokomotivenspitze, der dazu da ist, Hindernisse auf dem Geleise wegzuschleudern. (Das erklärte er mir erst später.)

»Man könnte auf dem Kuhfänger – – murmelte er. »Aber nein, hat keinen Sinn. Ist ja gleich heller Tag.«

Er zog mich mit sich, nachdem er einen raschen Blick auf den Namen am Stationsgebäude geworfen hatte. Clifton hieß die Station. Wir verschwanden auf Nebengeleisen, zwischen Reihen von Frachtzügen, und der Expreß toste vorbei. Billy sah sich die Frachtwaggons sehr sorgfältig an und öffnete dann die Schiebetüre eines leeren Wagens –

»Hotel zur Eisenbahn!« lächelte er. »Klettern Sie nur hinein.«

Und in diesem leeren Frachtwagen studierten wir Karten und Fahrpläne. Hundertundfünfzig Meilen weit waren mir gefahren in der Nacht. Dann legten wir uns zum Schlafen hin, uns mit den Röcken zudeckend, denn so war es wärmer ... Ein Geschüttel und Gerüttel weckte mich auf, und als ich aufstehen wollte, wurde ich gegen die Wand geschleudert. Der Zug war in Bewegung. »Alles in schönster Ordnung!« rief Billy mir zu, ohne aufzustehen. »Der Zug geht in unserer Richtung: dessen habe ich mich versichert, ehe wir hier hineinkletterten. Ein Segen, daß die faulen Bremser nicht in die leeren Wagen guckten vor der Abfahrt!«

Ich zitterte am ganzen Leibe vor Kälte, so heller Sonnenschein auch durch die Türritzen drang; in jenem unbeschreiblichen Zittern, dem Gefühl hilfloser Schwäche, das zu einer im Freien und in den Kleidern verbrachten Nacht gehört wie Sonnenaufgang zum Tagesanbruch. Instinkt zeigte mir das Heilmittel. Eine Zigarette. Ah – du Wunderkraut, du Ruhespender, du duftendes Göttergeschenk! Seist du nun in Reispapier gehüllt oder in deine eigenen Blätter eingewickelt, oder glimmst du in der Schale einer Pfeife – du bist Sorgenbrecher und Tröster immerdar. Zauberkraft wohnt in dir. Du vermagst es, hinwegzutäuschen über Hunger und Kälte: du vermagst es, die geheimnisvollen Zellen im Menschengehirn anzuregen zu hohem Flug. Märchen kannst du erzählen. Träume gaukelst du vor. In deinen blauen Wölkchen wiegen sich Feen. Vielleicht muß man arm sein, um deine Wunder wirklich zu erkennen, arm und jung: den Armen aber und den Jungen bist du fürwahr ein göttlich Ding, du Wunderding voller Widersprüche und Zartheit. Du beruhigst den Ruhelosen – du nimmst die Trägheit von den Trägen. Du wärmst in Kälte und du kühlst in Sonnenglut, du stillst nagenden Hunger. Den Jungen unter den Armen bist du Sektkelch und Schönheit und Lebenstraum, du Wunderkraut! Denke ich an harte Zeiten zurück, so darf nie die Dankbarkeit fehlen gegen die duftenden tiefbraunen Blätter. Die einem oft mehr halfen als Menschen es hätten tun können! Wenn nicht die Worte den Armen fehlten, würden sie Göttin Nikotin preisen in tausend Zungen –

Billy blinzelte zu mir herüber.

»Es ist ein Nachteil dieses Landes,« sagte er, »daß seine Zigaretten so schlecht sind! Man sollte eigentlich nur türkische Importen rauchen! Ihre Zigarette ist jener Mischmasch von Virginiatabak und Parfümierung (wenn sie wenigstens Opium dazunähmen!), der den Lungen so unsagbar schädlich ist – haben Sie übrigens noch eine?«

Ich lachte laut auf und bot ihm mein Zigarettentäschchen an.

»Danke! Lachen Sie nicht! Eine schlechte Zigarette ist besser als gar keine Zigarette. Mit den übrigen Dingen des Lebens ist es ja genau ebenso!«

Rücken an Rücken saßen wir da, gegen die rumpelnde, stoßende Wagenwand gelehnt. Billy paffte, streifte die Asche ab, paffte wieder.

»Sie haben das unschätzbare Talent, den Mund halten zu können,« lächelte er. »Sie plagen mich nicht mit Fragen. Und nun sind Sie wohl neugierig?«

»Unbeschreiblich!«

»Hm. na ja. Ich heiß' Billy, kurzweg Billy. Mein Familienname ist gleichgültig. Manche Freunde nennen mich Billy den Wanderer. Das ist geschmacklos, aber im allgemeinen zutreffend. Dann und wann erschafft die Weltordnung, die unsere Frommen den Herrgott nennen (man müßte sie eigentlich um ihres Glaubens willen beneiden!), Männer, die so gar nicht hineinpassen in das Weltsystem von Dollars und Cents, und Essen und Trinken, und Liebe und Ehe. Zigeuner. Ruhelose Geister. Arme Teufel mit allzuheißem Blut. Einer von denen bin ich wohl. Ich habe sehr viel Geld verdient in meinem Leben, wenn gewisse Notwendigkeiten an mich herantraten oder wenn es mir der Mühe wert schien, aber glücklich bin ich nur auf einem Eisenbahnzug. Und zwar als Kontrebande. Weil es gefährlich ist, vielleicht, oder aus Trotz, – was weiß ich. Im Salonwagen fahren kann jeder Narr. Na ja. Staatauf, staatab, bald in Kalifornien, bald in Missouri, oder in Nevada, oder in Texas; interpunktiert leider durch Arbeitspausen, denn Geld gehört zu jeder Art von Leben. Wie's gemacht wird, haben Sie nun schon so ungefähr gesehen. Ich warne Sie dringend, daß die Geschichte gefährlich ist und zweifellos gegen gewisse Gesetze verstößt, was mir gleichgültig ist, es Ihnen aber nicht sein sollte. Dieser schauderhaft langweilige Frachtzug wird uns nach Cleburne bringen, das höchstens vierzig Meilen von hier entfernt ist. Dort verzweigt sich die Santa Fé nach Norden und nach Nordosten. Sie fahren mit der Nordostlinie, die, tausend Meilen lang ungefähr, den schnurgeraden Weg nach St. Louis bedeutet. In St. Louis angekommen, reden Sie! Sehr guter Rat von Starkenbach! Hm ja, klettern Sie einfach in einen leeren Frachtwagen, und wenn der Bremser kommt, geben Sie ihm einen halben Dollar. Das ist das Sicherste – für Sie. Sie werden in fünf bis acht Tagen dort sein.«

»Und Sie?«

»Ich? Ja, das weiß ich eigentlich noch nicht. Das ist ja eben das Schöne. Ich nehme vorläufig die Nordlinie, über Fort Worth nach Oklahoma und nach Kansas, um dann, es gibt keine anderen Linien, wieder nach Südwesten abzubiegen, nach Neumexiko und Arizona. Möchte einmal wieder Arizonasand sehen und blühenden Kaktus. Im übrigen wartet in Fort Worth ein Freund auf mich.«

Nun erzählte ich. Und als ich einmal im Eifer einen Homervers zitierte – falsch – korrigierte mich der Mann mit den leuchtenden Augen ohne eine Miene zu verziehen! Wir aßen unsere Butterbrote und schliefen wieder. Kurz vor Mittag rumpelte der Zug in die Station Cleburne und wir kletterten hinaus. Eine einsame Pumpe des Frachtbahnhofs gab Wasser her zur Toilette (auch eine kleine Kleiderbürste trug Billy bei sich!), und dann gingen wir in das Städtchen, um in Kaffee und gebratenem Speck und Maisbrot zu schwelgen. Bei Zigaretten und Geplauder vergingen die Nachmittagsstunden wie im Flug. Billy wollte mit dem Abendexpreß nach dem Norden fahren: ich sollte den später abgehenden schnellen Frachtzug nach dem Nordosten benützen. Die Aufschriften der Waggons hatte er mir genau auseinandergesetzt, damit ich mich nicht irren konnte, und mir obendrein vom Bahnhof Karten und Fahrpläne geholt, die es dort, wie überall in den Vereinigten Staaten, gratis gab. Er erklärte und erläuterte und erklärte wieder. Gedankenlos hörte ich zu und hatte sicherlich im nächsten Moment vergessen, was ich einen Augenblick vorher gehört.

Nach der großen Stadt am Mississippi, nach dem Hasten und Treiben der Menschen, dem vielen Reden und dem Glücksjagen sehnte ich mich gar nicht mehr! Nein, mich lockte die Gegenwart. Der rätselhafte Mann neben mir: die Kraft, das Selbstbewußtsein, das er ausströmte. Das Geheimnisvolle seines Lebens. Neugierde. Eigenes Abenteuerblut vielleicht. Die ganze Umgebung.

Wir saßen wieder in der Nähe des Bahnhofes, auf weicher Grasböschung, mitten im Getriebe der Eisenbahn. Züge jagten vorbei. Eine komische kleine Lokomotive rannte unter angstvollem Gestöhn und fürchterlichem Geschimpfe (so klang es!) auf und ab und ab und auf, dort einen Frachtwagen vor sich herpuffend, hier lange Wagenreihen schleppend. Schimpfende und gestikulierende Männer eilten hin und her mit der schimpfenden Lokomotive, holten sich vereinzelt dastehende Frachtwagen herbei und bumpsten andere auf Nebengeleise. Alles war Leben und Bewegung: das Städtchen über dem Geleise drüben sah wie tot aus im Vergleich. In den Telegraphendrähten über unseren Köpfen klang und surrte es – ja, das tote Holz der Telegraphenstange neben mir bebte und zitterte, als trüge es schwer unter der Wucht der Botschaften, die über die Drähte huschten. Nach und nach brach die Dunkelheit herein, und unzählige Lichtpünktchen flammten neben dem Geleise auf; die Wegweiser der Eisenbahnstadt. Eine fremde Welt, die mir voller Bedeutung und voller Geheimnisse schien; deshalb vielleicht, weil die Aufregung der nächtlichen Fahrt noch in mir nachzitterte.

»Mein Zug wird in wenigen Minuten da sein,« sagte Billy, die Pfeife zwischen den Zähnen, scharf nach der Stadt hinsehend. »Ich rate Ihnen noch einmal, sich an die Frachtzüge zu halten und sich den guten Willen der Bremser zu erkaufen, wenn Sie entdeckt werden. Der Eilfrachtzug nach dem Nordosten wird ungefähr in zwei Stunden abgehen. Die Wagen müssen entweder die Aufschriften »St. Louis« oder »via Springville« tragen. Passen Sie darauf auf! Ich glaube nicht, daß Sie besondere Schwierigkeiten haben werden. Und nun good byel Lassen Sie sich's gut gehen im alten St. Louis! Viel, viel Glück!«

»Und vielen Dank ...«

»Du meine Güte, was ist da zu danken!«

Der Expreß brauste in die Station. Es dauerte lange Minuten, bis er sich wieder in Bewegung setzte. Jetzt – die Lokomotive kam langsam daher. Der Mann mit den leuchtenden Augen stand auf, nickte mir lächelnd zu, trat an die Schienen und sprang.

Und während seines Springens, in dem winzigen Bruchteil einer Sekunde, faßte ich einen plötzlichen Entschluß, an den ich vorher auch nicht einen Augenblick lang gedacht hatte! Drei gewaltige Sätze machte ich neben dem schon ziemlich rasch fahrenden Zug her und bekam glücklich die Messingstange des Postwagens zu fassen. Ein krampfhaftes Emporziehen –

Ich stand neben Billy auf der Plattform.

»Du Narr!« sagte er. »Du verdammter Narr!«

Ich lachte laut auf.

»Du querköpfiger Narr – ich denke, du willst nach St. Louis?«

Der Zug machte einen solchen Lärm, daß ich schreien mußte. Und ich schrie: »Eisenbahnfahren will ich!«

»Dann dreimal Narr du!«

In einer halben Stunde hielt der Expreß an der nächsten Station, und Billy riß mich fast mit Gewalt von der Plattform herunter, mich zur Böschung hinzerrend. Auf alten Schwellen setzten wir uns nieder.

»So,« sagte er, »der Expreß kann zum Teufel gehen, wenn ich auch eigentlich nicht einsehe, weshalb ich meine wertvolle Zeit vertrödeln soll, nur, weil du ein großer Narr bist. Nun erzählst du mir ganz genau, was in deinem Kopf vorgegangen ist, als du mir nachsprangst. Hattest du es dir vorher überlegt?«

»Nein.«

»Weshalb bist du mir dann nachgesprungen?«

»Weil ich wollte. Ich kann das nicht so genau erklären. Ich mußte einfach!«

»Hoh – man nennt das psychische Impulse! Ich verstehe ja ganz gut, daß das Eisenbahnfieber einen packen kann; an der Krankheit laboriere ich selbst. Ich würde mir die Geschichte aber doch noch überlegen an deiner Stelle. Es bedeutet Hunger und Durst, mein Sohn. Man kann kaputtgehen dabei. Man ist, niemand weiß das besser als ich, bei diesem Leben eine quantité négligeable (oder hast du dein Französisch schon vergessen?), sich selbst und andern verdammt wenig wert. Ich persönlich bin hart wie Stahl und kenne das Leben, was du von dir wohl kaum sagen kannst. Ich tue, was ich will. Es ist mein Wille, im Lande umherzuhetzen, weil es nichts gibt, das mir mehr Freude macht, mehr Glück gibt. Gefällt es mir, mein Leben zu ändern, so brauche ich nur dem Schienenweg adieu zu sagen und kann mir da oder dort Erfolg holen. In anderen Worten, ich bin ein fertiges Menschenkind und du bist weich und formfähig, wie – na, wie Butter. Geh' also nach St. Louis, mein Sohn!«

»Nein!«

»Huh – so energisch?«

Ich sprudelte hervor, daß ich noch nie so Schönes erlebt hätte und daß –

»Ganz richtig. Und der Hunger?«

»Ist mir gleichgültig.«

»Und du wirst sehr schwer arbeiten müssen, denn auch zu solchem Leben gehört Arbeit!«

»Gern.«

»Hm – als ich ein Bub war, erwischte mich mein Vater einmal beim Zigarettenrauchen. Worauf er mich in sein Arbeitszimmer führte, mir höflich Platz und eine schwere Zigarre anbot, die ich unter seinen Augen zu Ende rauchen mußte. Die Folgen dieser Zigarre waren bei weitem unangenehmer als Prügel! So rauch' du denn die Zigarre des Schienenlebens, mein Sohn. Dir wird sehr übel werden! Du wirst anderseits aber auch viel lernen. Und dann werde ich dir nach St. Louis helfen. Dann wirst du nicht mehr weich wie Butter sein! Komisch, daß ich unsteter Geselle nun auch noch Verantwortung auf meine Schultern nehmen soll!«

»Ich bin für mich selbst verantwortlich.«

»Ja freilich. Sehr!«

Und wir lachten beide. In einer Stunde kam ein Frachtzug durch, mit dem wir weiterfuhren. Diesmal kostete die Fahrt Geld, denn ein Bremser ertappte uns beim Hineinklettern und erhob prompt einen Tribut von einem halben Dollar dafür, nichts gesehen zu haben. In wenig mehr als dreißig Minuten kamen wir in Fort Worth an, das nur vierzig Meilen entfernt war. Billy ging sofort nach dem Aussteigen zu dem riesigen hölzernen Wasserbehälter auf dem Frachtbahnhof, aus dem die Lokomotiven gespeist wurden, und leuchtete mit Zündhölzern sorgfältig den unteren Rand ab. Dann zeigte er mir mit einem Ausruf der Befriedigung ein frisch geschnittenes, rohes »J«.

»Aha!« sagte er. »Joe ist schon da.«

»Wer ist Joe?«

»Ein Freund, ein lieber Kerl, den ich schon seit langen Jahren kenne. Eisenbahnkrank, so wie ich. Er hat die Zeichen hier hineingeschnitten, damit ich weiß, daß er da ist. Nun warten wir hier. Er wird bestimmt öfters nachsehen, ob ich schon gekommen bin.«

Es dauerte auch gar nicht lange, so tauchte eine Gestalt hinter dem Holzrahmenwerk des Behälters hervor und eine elektrische Taschenlampe blitzte auf.

»Oho!« sagte Billy. »Du bist aber vornehm geworden, Joe! Elektrische Beleuchtung in der Tasche!«

»Fein! Nich' wahr, Billy?«

»Nun, und wie war's mit der Arbeit im Elektrizitätswerk?«

»Schön. Fünfzig Dollars verdient in zehn Tagen. Aber –«

Billy kicherte leise.

»– du hättest mich nich' alleinlassen sollen, Billy. Die verdammten Soldaten im Fort droben haben mir jeden Dollar beim Pokern wieder abgeknöpft. Die gesegnete Laterne hier – das is' alles, was übrig blieb!«

Billy lachte laut und lange.

»So ist nun einmal das Leben, mein alter Joe,« stieß er hervor, noch immer lachend. »Ich hab' noch sechzig Dollars, und wenn die zu Ende sind, müssen wir eben wieder arbeiten. Dies ist Ed. Deutscher. Fährt mit uns.«

Joe, sauber und adrett in dunklem Anzug und Mütze, hatte ein rotes, rundes, volles Gesicht. Listige Aeuglein blinzelten aus diesem Gesicht hervor – – –


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