Erwin Rosen
Der Deutsche Lausbub in Amerika – Erster Teil
Erwin Rosen

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Da hinten in Texas.

Der Lausbub wird Apothekerlehrling. – Im Wunderland. – Grasgrüner Wissensdurst. – Die Negerin und das Liebespulver – Ein Nachtklingel-Erlebnis – Der Lausbub langweilt sich. – Das Gäßchen der winzigen Häuschen. – Klein-Daisy. – Die Dame, das Parfüm und die Folgen, – Ex-Apotheker. – Der frühere Leutnant aus dem Heiligen Köln und sein Rat. – Der Mann mit den leuchtenden enden Augen. – Vorbereitungen zu einer geheimnisvollen Reise.

An einem der runden Tischchen in Gus Meyers Salon saß, emsig schreibend, der Redakteur und Verleger des Brenhamer Herald. Neben ihm stand ein kleiner Junge in Arbeitskleidern, mit Druckerschwärze beschmiert.

»Hello!« rief mir der Redakteur entgegen. »In dreieinhalb Sekunden hab' ich den Gouverneur von Texas vollends abgemurkst.« (Er schrieb weiter.) »So. Hier, mein Söhnchen! Lauf! Korrektur und letzte Depeschen bringst du mir hierher. Gus, noch 'n Bier! Und wie steht's mit Bruder Leichtfuß aus dem deutschen Vaterland?«

Er schüttelte sich vor Lachen, als ich ihm erzählte, weshalb ich in Brenham sei.

»Und was wollen Sie anfangen?«

»Ich hab' keine Ahnung ...«

»Selbstverständlich haben Sie keine Ahnung!« schrie er lachend, als ob das der beste Witz der Welt wäre. »Ich hätte auch keine an Ihrer Stelle. Es wäre auch wirklich zuviel verlangt von Bruder Leichtfuß, er solle sich – hokuspokus, hast du nicht gesehen? – in einen geldverdienenden Praktiker umzaubern, sobald er nur auf amerikanischen Boden plumpst!«

»Könnten Sie mir nicht einen Rat geben. Herr Doktor?«

»Hoh! So ist's recht. Wenn man selbst nichts weiß, so weiß vielleicht ein anderer etwas!«

Er lachte, und unter Lachen und Biertrinken pumpte er mit unglaublicher Schnelligkeit alles aus mir heraus, was er wissen wollte. Was mein Vater sei? Weshalb ich eigentlich Deutschland verlassen hätte? Meine Familie? Meine Verwandten? Welche Schulen?

»Stimmt alles!« schmunzelte er endlich. »Sie wären auch viel zu jung, um konsequent und überzeugend zu lügen. Das ist nämlich eine große Kunst! Hm – und nun wollen wir sehen, was sich in dieser feinen aufblühenden Texasstadt alles mit Ihnen aufstellen läßt. Aha – oho ... guten Morgen, Mr. Mindus!«

»Tag, Doktor!« sagte ein Herr, der soeben eingetreten war, ein Riese von respektabler Größe und noch weit respektablerer Breite, ein Riese in Hemdsärmeln, doch in Hemdsärmeln aus schillernder Seide; in blitzenden Lackstiefeln, auf dem Kopf einen Panama.

»Interessanter Fall, Herr Mindus!« sagte der Doktor. »Wir haben hier den jungen Deutschen, der bei den Muchows auf der Farm – ich erzählte Ihnen doch davon?«

Der Mann in den seidenen Hemdsärmeln nickte.

»Nun, er hat gemerkt, daß er in der stillen Farmzeit ziemlich überflüssig war und ist gegangen. Frage: Was fängt er an?«

»Geld?« fragte Mr. Mindus lakonisch.

»Ih wo!«

» Well – dann muß er arbeiten!«

»Aber, bester aller Apotheker, – Herr Mindus ist Besitzer der großen Apotheke da drüben, mein Junge, – das wissen wir auch! Aber wie und wo? Ich denke mir, wenn ein verwöhnter junger Mensch frisch von der Schulbank fünf Monate Farmarbeit aushält, dann muß er zu gebrauchen sein.«

»Das werden wir ja sehen,« sagte der Apotheker und wandte sich mir zu. »Wenn Sie wollen, so können Sie bei mir in der Apotheke arbeiten – –«

Ich sah da, so erstaunt und so überrascht, daß ich kaum ein Wort hervorbringen konnte, und hörte, wie mir der Apotheker erklärte, er »taxiere«, ich sei vorläufig fünfzehn Dollars im Monat und Verpflegung für ihn wert, und in einer Viertelstunde solle ich nach der Apotheke kommen. Dann schüttelte Mr. Mindus dem Doktor die Hand, nickte mir zu und ging fort. Der Verleger des Brenham Herald sah mich lachend an.

»Eine verrückte Welt! Nun sind Sie Apothekerlehrling hier hinten in Texas!«

Eine halbe Stunde später hielt ich einen Mörser zwischen den Knieen und stampfte arbeitsam auf Kreidekügelchen los. Die zerstampfte Kreide füllte ich in kleine Schachteln. In jede Schachtel kamen drei Tropfen Veilchenextrakt. So fabrizierte man hier hinten in Texas Puder.

*

Gewaltige Glaskugeln mit giftig grün, zart rosa und schreiend gelb, anilingefärbtem Wasser gefüllt, schillerten im Schaufenster als Wahrzeichen der Apotheke. Auf riesigen Regalen standen die Flaschen und die Fläschchen mit den Rohstoffen der pharmazeutischen Kunst; endlose Reihen von Patentmedizinen, von Pillen und Mixturen, Sarsaparillen und Blutbelebern. In Schaukästen waren alle möglichen Waren aufgestapelt: Bürsten, Kämme, Toilettenartikel, wundertätige Fleckseifen und Pokerkarten, Proben von wunderbar wachsenden Sämereien und garantiert-echte Monte Carlo Rouletten; Vasen, Spielmarken, Puppen. Der Herrenwelt brachte die Apotheke liebevolles Verständnis durch ein halbes Dutzend dickbauchiger Whiskyfässer entgegen, denn wer hier Wert auf guten Whisky legte, kaufte seinen Bourbon oder seinen Rye in der Apotheke. Für die Damenwelt sorgte die Sodawasser-Fontäne, die Jimmy Hawkins bediente.

Sie war ein Wunderwerk. In einem pompösen Nickelgehäuse, das den halben Laden ausfüllte, verbargen sich Eisbehälter, Kohlensäureapparate und Dutzende von kleinen Fäßchen mit allerlei Fruchtsäften und Ingredienzien. Auf dieser Maschine spielte Jimmy Hawkins wie auf einem Klavier; er schlug die Tasten geheimnisvoller Hähne an und komponierte merkwürdige Getränke. Die Basis war immer ein Glas Sodawasser zu drei Vierteln gefüllt, dazu kamen Fruchtsäfte oder flüssige Schokolade, und das ganze krönte jedesmal ein Löffel Icecream, Gefrorenes. Es war der punch romain europäischer Cafés, verflüssigt, ins Amerikanische übersetzt und verbilligt, – der soda drink zu fünf Cents. Die hohen Stühle vor der Soda Fountain wurden niemals leer. Hunderte von Damen schlürften alltäglich die eiskalten Herrlichkeiten. Dieser vordere Teil des Ladens war das Sanktum der holden Weiblichkeit des Texasstädtchens. Weiter hinten drängten sich die Männer von den einsamen Farmen; rauchend, schwatzend, plaudernd, denn sie wollten nicht nur kaufen, sondern auch unterhalten sein, etwas hören vom Getriebe des Städtchens und den Dingen der großen Welt. Noch weiter hinten an den Ladentischen – die Apotheke war riesig groß – versammelten sich die kaufenden Negerherrschaften. Und das Ganze war ein unbeschreiblicher Wirrwarr!

Bruder Leichtfuß schien es, als sei er im Wunderland.

Freilich mußte man kehren und fegen und spülen in diesem Wunderland, und Kisten schleppen und langweilige Salben in langweiligen Mörsern ewig lange zerreiben. Aber da waren Kasten und Schränke und Fläschchen und Dosen, die man so wunderschön durchstöbern konnte, und geheimnisvolle Gifte und geheimnisvollere Apparate und das fortwährende Kommen und Gehen von vielen Menschen. Ich entwickelte einen gierigen Lerneifer, gegen den kein Mensch etwas einzuwenden hatte; verbrannte mir die Finger gehörig an Schwefelsäure und kurierte mir Zahnschmerzen mit so viel kristallisiertem Cocain, daß ich beinahe sehr krank geworden wäre. Mr. Mindus und den Prokuristen und Jimmy Hawkins bombardierte ich fortwährend mit Fragen, die mit einem gemütlichen Grinsen über meinen grasgrünen Wissensdurst beantwortet wurden. So wurde aus dem wunderlichen Wirrwarr nach und nach ein vertrautes Hantieren mit vertrauten Dingen. Es dauerte gar nicht lange, so verkaufte der Lausbub Chinin (das war ein Stapelartikel) und Patentmittelchen – und nach wenigen Wochen schon durfte er neben dem Prokuristen am Rezepttisch stehen, wenn's viel zu tun gab, und beim Bereiten von Mixturen helfen! Einem deutschen Apotheker würden die Haare zu Berge gestanden sein über diesen Leichtsinn, aber man nahm es nicht so genau da hinten in Texas. Es war auch gar nicht so schwer. Die drei Aerzte des Texasstädtchens schrieben ihre Rezepte hübsch deutlich und leserlich, wie es Sitte ist in Amerika, und mein Latein und mein ewiges Herumschnüffeln und Fragen kamen mir bald zu statten. Ich rezeptierte darauf los ...

Man stelle sich meinen Stolz vor!

Dummheiten machte ich natürlich auch, und ich vergesse nie, wie der pompöse Mr. Mindus aus dem Häuschen geriet, als ich dem berüchtigsten Gauner von Brenham in aller Harmlosigkeit fünf Flaschen Whisky auf Kredit verkaufte! Und einmal kam eine junge Negerin und verlangte verschämt:

» Love powder, please

Liebespulver? Was beim Kuckuck war Liebespulver?

»Wie meinen Sie?« fragte ich verlegen. (Ich hatte damals eine ewige Angst, einen Kunden mißzuverstehen und mich zu blamieren.)

»'n Liebespulverchen – ein ganz kleines Liebespulverchen, Herr, aber nur allerbeste Qualität.« Sie lächelte genierlich. »So 'n recht gutes Liebespulver; ich brauch's für eine Freundin.«

»Aber ...«

Mr. Mindus trat hinzu.

»Liebespulver? Jawohl! Ich lasse es sofort bereiten – wir werden unser Bestes für Sie tun!«

Und mir flüsterte er zu: »Stellen Sie sich doch nicht so ungeschickt an! Geben Sie ihr eine ganz kleine Dosis Saccharin! Wickeln Sie's in ein rosa Pulverpapier hübsch ein und berechnen Sie anderthalb Dollars – nein, zwei Dollars!«

Als die Negerin seelenvergnügt gezahlt hatte und strahlend fortgegangen war, sagte mir der Apotheker seine Meinung: »Wir haben alles und führen alles. Das merken Sie sich gefälligst! Fragen Sie mich, wenn Sie selbst nicht Bescheid wissen. Die schwarze Gans ist natürlich in irgend einen Nigger verliebt und will Gegenliebe dadurch fabrizieren, daß sie ihm ein Liebespülverchen beibringt. Die Bande ist nun einmal so abergläubisch. Sage ich ihr, so etwas gebe es nicht, so erzählt sie sämtlichen Niggerfrauenzimmerchen in Brenham, meine Apotheke sei nichts wert, und mein Geschäft leidet. Ergo bekommt der Nigger sein Saccharin und wahrscheinlich wird's auch helfen. Liebe erzeugt Gegenliebe, mit oder ohne Saccharin, aber das verstehen Sie noch nicht. Geschäft ist Geschäft. Das merken Sie sich, bitte. Sie müssen noch viel amerikanischer werden, mein Lieber!«

Und wahrhaftig – nach einigen Tagen kam eine junge Negerdame in die Apotheke, die auch verschämt tat und auch verlegen lächelte.

»– kleines Liebespülverchen ...« bat sie. »So, wie mein' Freundin Matilda gekauft hat!«

Es mußte also geholfen haben! Jedenfalls nahm man es entschieden gar nicht genau hier hinten in Texas. Einmal in der ersten Zeit war ich in heller Verzweiflung. Ich schlief in einem Kabinett hinten im Laden, zusammen mit Jimmy Hawkins, dem Gehilfen, einem wortkargen Gesellen, der mir von allem Anfang an kurz und bündig erklärt hatte:

»Abends hab' ich gewöhnlich dringende Geschäfte in der Stadt, mein lieber Junge. Unter uns gesagt. Offiziell bin ich hier. Sollte dieser fette alte Mindus einmal kommen, so bin ich soeben ein bißchen an die frische Luft gegangen, weil ich Kopfschmerzen hatte. Sabé? Kommt irgend ein Narr mit einem Rezept, so soll er warten, bis ich wieder da bin. Seien Sie nett zu mir und ich bin nett zu Ihnen! Sabé«

Und prompt um acht Uhr verschwand Mr. Jimmy Hawkins regelmäßig, um gegen Mitternacht zurückzukehren und wortlos ins Bett zu gehen.

Da machte einmal – es war schon spät Nacht – die Klingel einen Heidenlärm. Als ich hinauseilte, stand ein Farmwagen vor der Türe. Ein Mann, der an allen Gliedern zitterte und kaum sprechen konnte vor Aufregung, hielt mir ein kleines Kind hin. Ich schlug die Tücher zurück, in die das leise stöhnende, fast bewußtlose Kind gewickelt war, und sah mit unbeschreiblichem Entsetzen, daß von den kleinen Füßchen Hautfetzen herabhingen. Rohe Brandwunden! Ich hätte am liebsten geheult vor Ratlosigkeit, aber irgend etwas mußte geschehen. So tränkte ich in fliegender Eile Verbandwatte in Oel und wickelte die armen kleinen Füßchen darein, mehr um den Vater zu beruhigen als dem Kind zu helfen, dem ich doch nicht helfen konnte. Rasch noch ein paar Tropfen kalifornischen Tokaiers eingeflößt – dann sprang ich auf den Wagen und fuhr in sausendem Galopp zum Arzt. Der schien ganz zufrieden mit dem harmlosen Mittelchen, das mir eingefallen war ...

Jimmy Hawkins aber hatte die nächsten acht Tage lang keine dringenden Geschäfte mehr in Brenham zur Nachtzeit!

Wochen und Monate vergingen. Der Herr Apothekermeister Mindus hatte mir mit salbungsvollen Ermahnungen ein pharmazeutisches Werk gegeben, in das ich dreimal hineinguckte, um es dann vorsichtig mit den Fingerspitzen anzufassen und im fernsten Winkelchen meines Zimmerleins zu verstecken. Das Ding war noch viel langweiliger als die griechische Grammatik! Dafür las ich Nächte lang in amerikanischen Zeitungen (ich glaube heute noch, daß das viel gescheiter war) und durchschmökerte bei selbstgedrehten Bull-Durham-Zigaretten und raffiniert gebrauten Limonaden Hunderte amerikanischer Romane, von den drei Aerzten des Städtchens zusammengeborgt. Dann wieder durchschnüffelte ich Kasten und Schubladen. Und war sehr zufrieden mit mir selbst und schrieb begeisterte Briefe nach Hause. Aber gar bald wurden die Apotheke und dann die Menschen und das Städtchen zu tagesgewohnten Dingen, und Bruder Leichtfuß fing an, sich sehr zu langweilen.

Die Texasstadt war ja die Einfachheit selbst. Auf dem riesigen Platz vor der Apotheke, in vier Straßenreihen, spielte sich die Jagd nach dem Dollar ab. Im tiefen Sand dieser Straßen drängten sich die Menschen und galoppierten die Pferde den ganzen Tag. An das Geschäftsviertel schloß sich eine hölzerne Stadt an, kleine Häuschen mit breiten Veranden und grünen Gärtchen. Dort wohnten die kleinen Leute, die Angestellten und die Handwerker. Ein freier Platz, der die Stadt aus Holz durchschnitt, trennte das Viertel der Weißen von der Budenstadt der Neger, die unerbittliche Sitte zwang, im gleichen Stadtquartier zusammen zu hausen. Auf der anderen Seite erstreckten sich Villenstraßen weit hinein ins flache Land; die Gartenstadt der erfolgreichen Brenhams. Unten beim Bahnhof lagen die Warenschuppen und die wenigen Fabrikgebäude. So sah das Städtchen aus, in das aus dem Farmhinterland der allmächtige Dollar floß und gehörig beschnitten in Warenform zurückwanderte – das Städtchen war das Hirn, das aus den Früchten eines gesegneten Bodens eine gewaltige Warenzirkulation schuf und über den ganzen Distrikt souverän herrschte. Ein fortwährendes Hasten und Jagen im Städtchen, und dennoch eigentlich primitivste Einfachheit des Lebens und der Menschen und der Methoden – wie es dem Lausbub schien, der für feine Unterschiede noch so gar kein Verständnis hatte.

Er langweilte sich sehr und zwang Mr. Jimmy Hawkins energisch, sich in die Abendstunden mit ihm zu teilen. Einen Tag du, einen Tag ich! Und natürlich fand der Lausbub auf seinen Entdeckungsreisen gerade das, was er nicht hätte finden sollen.

Der Frühling war ins Land gekommen nach dem Texaswinter fürchterlicher Regengüsse, frohen Sonnenscheins, eiskalter Nordstürme, und wie jungfrischer Duft breitete es sich über das Städtchen. Die vier Straßen lagen einsam im Abenddunkel da. Ein Reiter galoppierte dicht an mir vorbei – ein alter Neger schlürfte mit schweren Schlitten vor mir dahin – ein Buggy mit weißgekleideten Damen knirschte im Sand ... Von droben glitzerte aus tief dunklem Blau die Sternenpracht nieder. Träumend schlenderte ich dahin durch die Stadt aus Holz, durch den matten Lichtschein aus den Fenstern, den das Sternenmeer erdrückte, und malte mir aus, wie's jetzt wohl aussehen würde droben auf der alten Herzogsburg oder in meinem braungetäfelten Zimmerchen im guten alten München. An Negerbuden kam ich vorbei. Ueberall war es still. Dann überschritt ich das Eisenbahngeleise und fand mich in einem Gäßchen der winzigsten Häuschen, die man sich nur denken kann, mitten hingestellt in den Sand, in den man knöcheltief einsank. Ein halbes Dutzend Häuschen – eng zusammengedrückt, fein und zierlich. Aus winzigen Fensterchen drang durch festgeschlossene rote Vorhänge warmes rotes Licht. Von irgendwoher klang ganz leise ein Liedchen –

Said the devil: I will be good, boys
Most assuredly I'll be!
But I'd rather not begin just yet, boys –
Therefore, deary little darling, come to me!

Ganz leise klang es, gesungen von irgendeinem Mädel, und ich lachte schallend auf über den lustigen Teufel. Ein leises Kichern antwortete.

» Boy – boy o' mine!«flüsterte eine Stimme.

In der Türe eines der kleinen Häuschen schimmerte etwas Weißes, und aus dem Weißen tauchte ein schmales Gesichtchen mit lustigen Augen auf und ein Händchen zupfte mich am Aermel.

»Was willst denn du hier, my boy

»Ich? Gar nichts!«

»Das ist aber wenig! Oh – ich kenn' dich aber doch? Freilich, du bist ja der kleine Dutchy von der Apotheke! Und ist es denn hübsch zwischen deinen Salben und Fläschchen? Ach, ich möchte einmal einen ganzen Tag lang bei euch sein und nach Herzenslust von all den schönen, süßen, kalten Sachen trinken. Ich glaub', ich beneide dich ein bißchen, mein Junge!«

»Ich mag die Limonaden gar nicht mehr,« antwortete ich sehr verlegen. »Was sind das nur für komische kleine Häuschen! Und was tust du denn hier?«

»Ich? Ich heiß' Daisy, mein Junge!«

Da tauchte der Dampfer vor mir auf und Miß Daisy Bennett und die wundervollen durchplauderten Sommernächte im warmen Golf.

»Ist es nicht ein hübscher Name?«

»Sehr hübsch – Daisy!«

Und das Händchen packte den Lausbub am Ohr und ein kicherndes Geflüster sagte ihm, er dürfe hineinkommen, wenn er recht artig sein wolle.

»Im Ernst?«

»Freilich!«

Eine schmale Treppe ging's hinauf, an einer Türe vorbei, aus der Lachen und Stimmengewirr drang, und dann huschte sie, mich mit sich ziehend, in ein winziges Stübchen. Da war es blütenweiß und blitzsauber und alles so sonderbar klein und zierlich. Daisy setzte sich hin und plauderte unaufhörlich, über alle und jeden im Städtchen. Vor vielen Jahren sei Mr. Mindus nach dem damals viel kleineren Brenham gekommen und in jener Straße, in der jetzt die Apotheke liege, habe er mit Hustenmitteln und Chinin hausiert; an der Ecke stehend, einen kleinen Kasten an Riemen über die Schultern geschlungen. Der reiche Mr. Mindus! Und wen ich denn noch kenne? Den Doktor von der Zeitung? Ach, das sei ein guter Mensch, aber ein furchtbar leichtsinniges Menschenkind, das nie auf einen grünen Zweig kommen würde.

»Woher weißt du denn das?« fragte ich erstaunt.

»Ja – wir wissen alles!«

Und die Männer seien schlecht und fade und das Leben ein häßlich Ding. So schwatzte sie stundenlang und lachte lustig, wenn ich etwas so recht Unbehilfliches sagte, um dann auf einmal fast traurig vor sich hinzustarren. Und ich sei ein guter kleiner Junge, und es sei so nett, wieder einmal zu plaudern. Mir aber schien es, als wohne in ihren Augen der wärmste Sonnenschein, den man sich nur denken konnte, und es kam mir vor, als sei das Leben auf einmal viel schöner geworden. Wie hübsch es doch ist, an törichte Jugend zurückzudenken, an eigene Jugend, da man harte Dinge noch durch feinzart verbergende Rosenschleier sah. Arme kleine Daisy ...

Ein schüchterner Kuß im Dunkeln bei der Türe zum Abschied. So lernte der Lausbub das Mädel kennen und holte sich aus dem Sternengeflimmer beim Heimweg jauchzende Träume vom Himmel herunter, einen schöner als den andern; Träume, in denen es durcheinander wirbelte von Sonnenscheinaugen und leisem Gekicher, als ob das etwas ganz Großes und völlig Unfaßbares wäre. In den hellen Tag hinein spannen sich die Träume.

Dann und wann kam Daisy in die Apotheke, von den Herrlichkeiten der Fontäne zu naschen, vergnügt zu mir herüberblinzelnd; dann und wann gab's Lachen und Plaudern im winzigen Häuschen – immer nach schweren Kämpfen mit Mr. Jimmy Hawkins, dem es höchlichst mißfiel, daß auch er die Schönheit stiller häuslicher Abendstunden einmal auskosten sollte.

Und dann – –

Spät abends war es, als leise, ganz leise die Nachtklingel anschlug. Mit großem Gepolter fuhr ich erschrocken aus meinem Zimmerchen hervor und rannte zur Türe. Da stand eine gewisse kleine Daisy!

»Ach, Mr. Apotheker,« sagte sie mit vor Lachen halb erstickter Stimme, »ich möcht' gerne ein Schlafpulver haben!«

»Du – du!«

Der Mond, der zwischen den grünen und roten Glaskugeln ein bißchen hineinblinzelte durchs Schaufenster, sah einem tollen Treiben zu in der ehrsamen Apotheke. Zwei richtige Kindsköpfe waren zusammen, zwei sehr ungezogene Kinder, die zwischen den Ladentischen einhertanzten und unbezahlte Limonaden tranken. Der eine Kindskopf war furchtbar neugierig, und der andere eitel und aufgeblasen wie ein Pfau, denn mir kam's vor, als zeigte ich dem Mädel meine eigenen Schätze und sei eine Stunde lang wirklicher Alleinherrscher im Wunderland der Apotheke. Klein-Daisy trank sechs Limonaden mit Gefrorenem, glaub' ich, beguckte erschrocken die Glasdose mit klebrigzäher brauner Opiummasse, von der ich ihr erzählte, daß man mit ihr das halbe Texasstädtchen vergiften könnte, und steckte ihr Näschen in alle Schubladen. Ein Gekicher und ein Geflüster! War's ein Zufall oder war es nun ein besonders boshaftes kleines Teufelchen, das mir den Gedanken an Wohlgerüche eingab – ich nahm eine Parfümflasche vom Gestell und bespritzte das lachende Mädel mit einem Schauer Veilchendufts –

»Süß.– einfach süß, du guter Junge!« jubelte Daisy. »Gib' doch her!« Und im gleichen Augenblick hatte sie mir auch schon das golden etikettierte Flakon entrissen, drehte es hin und her in den Händchen, probierte und probierte.

Da – ein scharfes metallisches Knipsen – ein jähes Aufflammen elektrischen Lichts – und rot und imponierend, elegant wie immer stand der Herr Apotheker Mr. Mindus in der Türe. Er schüttelte den gewaltigen Kopf langsam von einer Seite zur andern und betrachtete sich mit Kenneraugen die Bescherung.

»Is' ja reizend! Guten Abend!!« sprudelte er endlich hervor.

»Guten Abend!« sagte Daisy höflich. Ich aber stand da, erstarrt wie weiland Frau Lot.

»Wollten Sie sich so spät noch Parfüm kaufen, mein Fräulein?« fragte Mr. Mindus eisig.

»Ach nein, ich hab' nur ein bißchen gerochen,« lächelte sie.

»Und mein bestes französisches Violet auch noch! Es ist doch unerhört ...«

Mich hätte man totschlagen können, aber kein einziges Wörtchen hätte ich hervorgebracht. Mir grauste einfach. Auch in Daisy schien eine Ahnung aufzudämmern, daß die Situation aller Gemütlichkeit entbehre.

»Ich glaub', ich könnte jetzt eigentlich gehen,« sagte sie.

»Meinen Sie wirklich, mein Fräulein?« brummte der Apotheker. »Nun, wie Sie meinen. Allerdings möchte ich mich gerne mit meinem Angestellten privatim unterhalten!«

»Guten Abend!« sagte Klein-Daisy. guckte mich bedauernd an und hüpfte hinaus. In der Türe drehte sie sich noch einmal um:

»Es war ja alles nur Scherz!«

»Ganz richtig, mein Fräulein,« war Mr. Mindus' eisigkühle Antwort. »Und nun.« zu mir gewandt, »wollen wir uns ernsthaft unterhalten, wenn es Ihnen gefällig ist. Dieser Laden ist eine Apotheke, wenn Sie es noch nicht wissen sollten. Meine Geduld ist finished, – aus, zu Ende: Sie sind entlassen!«

Ich sah ihn verständnislos an.

»Auf der Stelle entlassen! Sie sind ein Luftibus. Was wissen Sie von dem Mädel, heh? Wenn sie nun irgend ein Gift gestohlen und das größte Unglück damit angerichtet hätte, heh? Von der moralischen Seite der Sache will ich ganz absehen, obgleich – Sie sind neunzehn Jahre alt, nicht wahr? Es ist doch unglaublich!«

»Aber –«

»Sie sind ein Luftibus. Ich habe Sie schon längst beobachtet. Well, Sie waren fleißig und mehr als willig, aber Sie haben gar keinen Begriff, was ein Angestellter eigentlich ist. Sie verlaufen drauf los, ohne zu fragen – und ich wette, hundertmal, nein, tausendmal haben Sie Sachen zu billig verkauft, weil Sie nicht erst lange fragen wollten. Wenn Sie sich jetzt auch noch Mädels in den Kopf setzen, hab' ich keinen ruhigen Moment mehr. So, nun gehen Sie ins Bett. Morgen werden wir weiter sehen. Es – ist – doch – unglaublich!«

*

Mr. Jimmy Hawkins kam nach Hause.

»Hello! Mr. Mindus war soeben da.«

»Der Alte!« schrie Mr. Jimmy entsetzt. »Großer Cäsar – haben Sie ihm gesagt, daß ich furchtbare Kopfschmerzen gehabt hätte und nur ein bißchen – –«

Da erzählte ich ihm die Tragödie, und der gefühllose Mensch lachte sich beinahe tot. Mir war gar nicht lächerlich zumute.

»Und nun hören Sie einmal!« sagte ich. »Mein Gehalt hab' ich erst gestern bekommen und entlassen bin ich auch. Ich hab' nicht die geringste Lust, morgen früh auszuwandern, wenn der Laden gesteckt voll ist, und mich auslachen zu lassen. Wollen Sie mir helfen, meinen Koffer zu Gus Meyer hinüberzutragen? Mit dem Packen bin ich in einer halben Stunde fertig.«

Jawohl, das wollte er.

Bei Gus Meyer im Hinterstübchen regierte, halb Wirt, halb Kellner, mein Freund Starkenbach, bei dem ich hie und da in den späten Abendstunden ein Glas Bier getrunken und nebenbei sehr viel über amerikanische Dinge gelernt hatte. Im heiligen Köln war er Leutnant gewesen und hatte um eines Mädels willen den bunten Rock ausgezogen. Die Frau Schwiegermutter, eine verwitwete Hopfenfirma, machte ein scheel Gesicht und dressierte den Exleutnant und Ehemann zum Hopfenreisenden: sie schickte ihn nach Holland, da und dort hin, und jammerte ohn' Unterlaß über seine schauderhaften Spesenrechnungen. Ein groß Gezänk herrschte, bis eines schönen Tages das leichtsinnige junge Ehepaar nach Amerika durchbrannte. Starkenbach kannte jeden Staat und jede größere Stadt der Vereinigten Staaten. Es war ihm bitterhart gegangen, aber er war lustig geblieben, er und sein Frauchen, die mich zu meinem Entsetzen immer Bubi nannte. Im Texasstädtchen sparte er sich als rechte Hand Gus Meyers langsam aber sicher ein Vermögen zusammen.

Er machte ein verdutztes Gesicht, als ich den Koffer hineinschleppte. Und ich erzählte vom Mädel und vom Apotheker, und er holte seine Frau aus der Küche, und beide zusammen lachten wie nicht gescheit.

Dann wurde Starkenbach ernst:

»Aber nun wollen wir doch einmal überlegen. Sehr viele Leute in Brenham würden Ihnen wahrscheinlich Arbeit geben, aber nur deshalb, weil Sie eine spottbillige Arbeitskraft sind, und nur unter der Voraussetzung, daß Sie sich mit ein paar Dollars im Monat begnügen. Das ist nichts für Sie. Sie könnten noch zwei Jahre hierbleiben und um keinen Schritt weiterkommen. Nein, ich würde Ihnen raten, in eine große Stadt zu gehen und einmal gründlich auf eigenen Beinen zu stehen. Sie sind fast neun Monate hier, wissen etwas vom amerikanischen Leben – ein wenig! – und sprechen gut Englisch. Sie haben arbeiten gelernt. Das wenigstens haben Sie profitiert. Sie sind also nicht mehr so hilflos wie zuerst. Ich würde entschieden nicht in Brenham bleiben an Ihrer Stelle. Um Gotteswillen nicht in einem kleinen Nest sitzen bleiben in diesem Land! In großen Städten pulsiert das Leben –«

»In großen Städten wohnt der Hunger!« lächelte seine Frau traurig.

»Der Hunger wohnt überall. Hier müssen Sie mit den Händen arbeiten: dort – in einer großen Stadt – können Sie vielleicht mit dem Kopf arbeiten. Sie sehen, Sie lernen, Sie haben Gelegenheiten. Jawohl, ich rate Ihnen, sich schleunigst aus Brenham fortzumachen!«

»Und wohin?« fragte ich, schon halb und halb überzeugt, nein, beinahe schon begeistert:

»Irgendwohin. Chicago, Kansas City, St. Louis – sagen wir St. Louis. Es ist am nächsten, keine tausend Meilen weit weg. Die rührigste Stadt des Mittelwestens, nach Chicago. Und wenn Sie dort sind, dann reden Sie einfach! Rennen Sie einen Wolkenkratzer nach dem andern ab, verlangen Sie in jedem Bureau den Geschäftsinhaber selbst zu sprechen, erzählen Sie den Leuten, was Sie sind und was Sie können. Reden Sie! Sie können die Menschen interessieren, wenn Sie nur wollen, denn Sie haben etwas gelernt und gute Manieren. Reden Sie! Man wird Ihnen Ratschläge geben, wenn auch nur, um Sie loszuwerden; man wird Sie hierhin und dorthin schicken. Es wird sich etwas finden!«

»Ich tu's!« rief ich. Eine Vision von einer ungeheuren Stadt stieg vor mir empor – eilende Menschen – hastendes Leben – Tausende von Möglichkeiten ...

»Sie haben recht! Was kostet die Fahrt?«

»Wieviel Geld haben Sie?«

»Zwanzig Dollars.«

»Viel zu wenig,« murmelte Starkenbach. »Hm, man kann das aber so machen, und man kann es auch anders machen. Billy!«

Der einsame Gast stand langsam auf und trat zu uns an die Bar. Aus seinem scharfgeschnittenen Amerikanergesicht leuchteten durchdringende graublaue Augen; so klar, so abgrundtief, daß man unwillkürlich immer wieder in diese Augen schauen mußte. Er trug einen dunkelblauen Anzug, weiches blaues Flanellhemd, weit in den Nacken zurückgeschobene Mütze.

Starkenbach sprach nun englisch. » Well, Billy, wie kommt man am billigsten nach St. Louis?«

Die grauen Augen lächelten: »Das wissen Sie so gut wie ich!«

»Ja, wenn ich es wäre, der nach St. Louis wollte, wäre es einfach genug!«

»Oh, ich habe gehört, um was es sich handelt; so viel Deutsch verstehe ich. Die Fahrt ist ja ganz einfach für Ihren deutschen Freund – durch Texas via Dallas, Oklahoma Territory, Arkansas, Missouri über die Frisco Linien. Santa Fé und Frisco Linien. Schnurgerade fast nach Norden.«

Und das nannte dieser Mann einfach!

»Sie gehen nach Norden, Billy?« fragte Starkenbach.

»Bis Dallas. Mit dem 2 Uhr Nacht-Expreß, also in zwei Stunden. Wie langweilig Sie doch sind, Starkenbach, und wie Sie auf dem Busch Herumklopfen! Weshalb sagen Sie es nicht gleich, daß ich Ihrem deutschen Freund helfen soll? Er sieht aus, als ob er Schneid hätte, und wenn Sie es wünschen, will ich ihn gerne ein Stück mitnehmen. Natürlich hat er hier keine Aussichten.« Er wandte sich zu mir. »Ich will Ihnen den Weg nach St. Louis zeigen. Es ist eine Eigentümlichkeit von mir, viel zu reisen und niemals mein Geld an Fahrkarten und dergleichen zu verschwenden. Meine Art des Reisens ist sehr interessant, verstößt aber einigermaßen gegen die allgemein üblichen Anschauungen, vielleicht auch gegen gewisse Gesetze.«

»Wie reisen Sie denn?« fragte ich neugierig.

»Das werden Sie schon sehen!« brummte Starkenbach.

»Schön,« lächelten die grauen Augen. »Wir haben noch anderthalb Stunden Zeit. Ihr Gepäck müssen Sie hier lassen; Starkenbach kann es Ihnen ja nachschicken. Der dunkelgraue Anzug, den Sie anhaben, geht sehr gut. Setzen Sie eine Mütze auf dazu. Die weiße Wäsche geht nicht. Ziehen Sie ein Flanellhemd an. Nehmen Sie mehrere Taschentücher mit, ein paar Strümpfe (die können Sie in der Rücktasche unterbringen), Taschenkamm, Taschenbürste, Rasiermesser, Taschenmesser, Seife (Starkenbach wird Ihnen ein Stückchen Oelpapier geben), starke Lederhandschuhe, wenn Sie welche haben, Uhr, aber ohne Kette, Pfeife und Tabak natürlich. Zündhölzer. Haben Sie ein warmes seidenes Halstuch? Nehmen Sie's mit. Haben Sie einen Revolver? Ja? Den lassen Sie, bitte, hier. Ist nur gefährlich. Hm, und feste Stiefel. Das wäre alles!«

Dann fing er an mit der jungen Frau zu plaudern, als sei die Angelegenheit erledigt. Starkenbach zog mich in ein Nebenzimmerchen, in dem er allerlei Krimskrams aufbewahrte.

»So, hier können Sie sich umziehen!« sagte er.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen ... Fast empfand ich so etwas wie Angst, zum mindesten ein Unbehagen. Stärker aber als alles in mir war bodenlose Neugierde.

»Mann – wer ist dieser Billy? Wie reist er? Wie soll ich denn nach St. Louis kommen? Und mein Koffer?«

»Bleibt hier, bis Sie mir schreiben. Billy ist ein Gentleman bis in die Knochen. Anständiger Mensch. Interessanter Mensch. Ich kenn' ihn seit vielen Jahren und bin Tausende von Meilen mit ihm gefahren. So, Sie werden sich wundern! Ich kann Ihnen in der Geschwindigkeit das alles nicht so genau erklären, aber es gibt Mittel und Wege in diesem Land, einen Eisenbahnzug zu benützen, ohne dafür zu bezahlen. Billy fährt jahraus, jahrein von Staat zu Staat, von Stadt zu Stadt. Wie er heißt, weiß ich selbst nicht – er will nur Billy genannt werden. Spricht glänzendes Englisch, wie man's hierzulande selten findet und ist hochgebildet. Was sein eigentlicher Beruf ist, weiß ich auch nicht. Als wir kein Geld hatten, in Denver war es, schrieb er einige Artikel für eine dortige Zeitung und wurde glänzend bezahlt dafür. Ich hab' ihn als Feinmechaniker arbeiten sehen und als Elektriker. Seine Krankheit ist der Wandertrieb und manchmal wünsche ich – – na ja. Herrgott, was waren das für Zeiten damals! Vorhin erzählte er mir, er wolle nur rasch ein bißchen nach Arizona – einige Tausende von Meilen! – weil dort im Frühsommer der Kontrast zwischen kakteenbedecktem Sand und grauem Felsenhintergrund so farbenreich und reizvoll sei. So ist Billy! Nun, Sie werden sich wundern! Nach St. Louis kommen Sie aber bestimmt durch ihn!«

Wie im Traum packte ich ein und aus und zog mich um; wie im Traum ließ ich mir Butterbrot in die Taschen stecken ...

»Es ist Zeit!« sagte der Mann mit den leuchtenden Augen kurz. »Möchte den Zug nicht versäumen. Bye-bye, Starkenbach!«

»Ich wünsche – ich möchte mir manchmal wünschen ...« seufzte dieser.

»Wünschen Sie sich keinen Unsinn!« sagte Billy scharf. »Danken Sie den Sieben Himmeln für Ihre Seßhaftigkeit!«

Und dann ging's hinaus in die Dunkelheit.


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