Erwin Rosen
Der Deutsche Lausbub in Amerika – Erster Teil
Erwin Rosen

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Wie das Wandern endete.

Die Eisenbahn hat uns! – Sektion 423, Southern Pazific. – Als Streckenarbeiter in Arizona. – Der »boß«. – Von Kindern Italiens. – Wir haben wieder die Eisenbahn! – Hände in die Höhe! – Seine Ehren, der Friedensrichter. – Die braven Spitzbuben von El Dorado. – Dahinjagen und Arbeit. – Von den Schüttelfrösten der Malaria. – Krank und einsam. – Nach St. Louis. – Ein ganzer Mann.

Dicht neben dem Schienenstrang, viele Meilen weit von den beiden nächsten Stationen entfernt, stand ein schmuckloses hölzernes Haus mit vielen kleinen Fensterchen, über dessen Türe in schwarzen Buchstaben die Inschrift stand: Sektion 423, Southern Pazific. Der Zug hielt einen Augenblick lang, und wir sprangen ab. Ein vierschrötiger Mann in blauen Arbeitskleidern, mit respektablem Bäuchlein und wirren feuerroten Haaren, trat aus der Türe und sah uns prüfend an.

»Die drei von Lucky Water?« fragte er. »Versteht ihr 'was von der Arbeit?«

»Halt' den Mund!« raunte Billy mir zu. Dann gab er Antwort:

»Oh ja!«

»Ist mir verflucht angenehm,« brummte der Feuerrote. »Wie heißt ihr?«

»Billy Smith, Joe Donovan, Ed Müller.«

»Amerikaner?« »Wir beide, ja. Unser Freund hier ist Deutscher.«

»So? Das macht nichts aus. Nun kommt herein zum Essen. Die Arbeitsbedingungen kennt ihr ja. Einen Dollar siebzig im Tag, glatt, Essen und Wohnen schon abgezogen. Arbeitszeit mindestens 31 Tage. Wer vorher geht, bekommt kein Geld. Come in!«

Beim Hineingehen sagte er: »Ein Segen, daß man mit euch wenigstens christliches Englisch reden kann, begorra!« (Er war offenbar ein Irländer.) »Die andern sin' Italiener, hol' sie der Kuckuck, und wenn ich was sag', grinsen sie. Mit den Nasen muß ich sie auf die Arbeit stoßen, bis sie kapieren, was getan werden soll. Mit den Händen muß ich reden wie ein gesegneter Indianer – hol's der Teufel! Wozu braucht eigentlich dies Land schnatternde Söhne von affenbesitzenden Orgeldrehern? Das möcht' ich missen! Well, kommt nur herein!«

An dem langen, wachstuchbedeckten Tisch in der Stube saßen, eifrig kauend, sieben italienische Bahnarbeiter, die uns alle miteinander ihr » parla italiano«? entgegenschrien und enttäuscht aussahen, als wir die Köpfe schüttelten. Eine dicke Frau mit einem lustigen Gesicht trug das Abendessen auf, und wir griffen zu. Ich wunderte mich über die Reichhaltigkeit der Speisen. Es gab gebratenes Fleisch und gebackene Kartoffeln. Dazu Tomaten. Dann wurden ausgezeichnete kleine Pfannkuchen gebracht, Platten mit wahren Bergen davon, und endlich Apfelkuchen. Teller mit Speck, schneeweißes Brot, Flaschen mit allerlei Saucen standen auf dem Tisch. »Haben Sie » overalls«?« fragte Billy den Feuerroten nach dem Essen. »Wir möchten unsere Kleider schonen.« »Jawohl,« meinte er. »Das nenn' ich christlich. Die Italiener sin' nich' so sauber. Könnt' ihr haben. Wäsche auch.«

Er fischte aus einer Truhe die blauen Arbeitshosen hervor, sackartige Affären, in die man hineinkletterte und sie sich über den Schultern zuknöpfte: Flanellhemden und derbe Wäsche. Dann kauften wir uns noch Tabak und bezahlten zu seinem großen Staunen bar, statt uns den Betrag später abziehen zu lassen. Dann ging's ins Bett. Einer der beiden Schlafräume war von den Italienern voll besetzt, so daß wir im Nebenraum allein schliefen. Saubere eiserne Feldbetten standen da, frisch überzogen, und in der Ecke war einfaches Waschgeschirr, aber ebenso sauber.

»Die Arbeit ist schwer.« erklärte Billy, »so schwer und verhältnismäßig so schlecht bezahlt, daß sich Amerikaner nur selten und dann nur kurze Zeit dafür hergeben. In den sections gibt's fast nur Italiener. Aber die Lebensbedingungen sind gut.«

Im Dämmergrauen am nächsten Morgen würde gefrühstückt, eine sehr solide Mahlzeit, und kurz nach Sonnenaufgang ging's hinaus auf den Schienenstrang zur Arbeit. Auf handcars. Das sind Draisinen einfachster Konstruktion, deren Räder genau auf die Geleise passen, mit Pumpgriffen versehen wie eine Feuerwehrspritze. Durch das Auf- und Niederdrücken der Handgriffe überträgt sich die Kraft auf die Axen. Wir »pumpten« uns mit Eilzugsgeschwindigkeit vorwärts bis zum Arbeitsplatz des Tages. Dort lagen riesige Haufen von weißglänzenden neuen Eichenschwellen, die gegen die alten ausgewechselt werden mußten. Die Arbeit war bitterhart, denn es mußte im Eiltempo gearbeitet werden. Der Amerikaner duldet kein Zeitvertrödeln. Mit Stahlhammer und Stemmeisen wurden die schweren Klammem herausgeschlagen und dann die alten verfaulten Schwellen unter den Schienen hervorgezerrt. Die neuen Schwellen mußten eingeschoben, niedergeklammert (ich lernte es schnell, den riesigen Hammer zu führen) und in den Kies des Schienenbetts eingestampft werden. »Tamponieren« hieß der Fachausdruck dafür. Mit langen eisernen Stangen, deren Ende schräg abgestumpft war, wurde unter die Schwellen hineingestoßen, bis Schwellen und Untergrund eine feste Masse waren. Auf dem » boss«, dem Herrn, dem Vorarbeiter, ruhte gewaltige Verantwortlichkeit, denn es mußte nach der Wasserwage gearbeitet werden, damit die Schienen völlig horizontal blieben, und an Kurven mit der erhöhten Außenschiene war sogar eine recht schwierige Kalkulation erforderlich. In Deutschland hätte ein Ingenieur solche Arbeit geleistet. Hier tat's ein alter Irländer, der kaum lesen und schreiben konnte. Ein Praktiker, unter dessen Aufsicht vierzig Meilen Schienenstrang standen, für dessen Beschaffenheit er und nur er allein verantwortlich war. Er mußte dafür sorgen, daß nicht verfaulte Schwellen das Geleise unsicher machten, er wechselte Schienen aus, er grub raffinierte Abzugskanäle, wenn Grundwasser den Bahndamm bedrohte, er patroullierte mit seiner Handvoll Leute täglich die Riesenstrecke, über die er herrschte. Die Eisenbahngesellschaft machte den simplen Praktikus zum Selbstherrscher und holte so die denkbarste Höchstleistung aus ihm heraus. Sie zwang ihn zu denken! Zu organisieren! Und so leistete er weit mehr, als wenn er in bureaukratischem Befohlenwerden und Gehorchen gleichgültig sein Tagewerk getan hätte. Dafür bezahlte ihn die Bahn gut und ließ ihn an der Beköstigung seiner Arbeiter Geld verdienen.

Von Sonnenaufgang bis nach Sonnenuntergang wurde gearbeitet, mit einer kurzen Pause dazwischen, in der das mitgebrachte Lunch verzehrt wurde. Jeder Muskel am Körper schmerzte. Der Rücken wollte mir beinahe brechen vor lauter Hämmern und Stoßen und Schaufeln. Aber ich arbeitete darauf los – aus Leibeskräften. Denn ich wollte hinter keinem zurückstehen. Und ich begriff bald den Zweck der Arbeit, ihre Feinheiten. Selbst gröbste Arbeit hat ja ihre Tricks.

»Das is' christlich!« sagte O'FIanagan, der boss, als wir abends müde und zerschlagen auf die Draisinen stiegen. »Billy ist extraprima, Joe is gut un' der Deutsche wird noch gut. Das is mir verdammt angenehm. Weg von den Handgriffen, ihr drei! Pumpen sollen nur die Italiener,' bin froh genug, daß 'mal gesegnete Christen da sin', denen man eine Wasserwage und einen Maßstab in die Pfoten geben kann!«

So wurde die abendliche Patrouille, die sich jedesmal über mindestens zwanzig Meilen erstreckte, für uns zu einer Spazierfahrt. Unsere Bevorzugung führte natürlich zu Händeln, bei denen es im italienischen Lager prachtvolle blaue Flecken um die Augengegend gab. Das mag sehr roh gewesen sein – aber es war sehr schön!

Man arbeitete, man aß, man kroch früh am Abend todmüde ins Bett. Ein Tag war wie der andere. Nur an den Sonntagen schlief man bis in den hellen Tag hinein und las am Nachmittag die Zeitungen der Woche. Es dauerte nicht lange, so wurden meine Hände schwielig und meine Muskeln eisenhart. Aber ich versäumte an keinem Abend die Handeinreibung mit Glyzerin und die sorgfältige Nagelpflege, die Billy mir mit wahrem Fanatismus vormachte. Man müsse Hände und Finger gut behandeln, wenn sie nicht ewig die Schaufel führen sollten, pflegte er zu sagen. Ein diszipliniertes Hirn sorge unter allen Umständen für ein diszipliniertes Aeußere! Billy war weise.

Vierzig Tage waren vergangen, als der Extrazug mit dem Zahlmeister kam, der die Sektionen des Bahnsystems ablohnte, und wir bekamen unser Geld. O'Flanagan richtete es so ein, daß die Patrouillenfahrt an jenem Abend uns bis zur nächsten westlichen Station brachte.

»Adieu, Jungens,« sagte er, »seid christlich gewesen! Wär' mir lieber, ihr würdet noch bleiben. Kann's euch aber nicht übelnehmen, be jaberts. Könnt was Gescheiteres tun, als Eisenbahnarbeiten. So long

»Das merk' dir, Billy!« grinste Joe.

»Man muß die Arbeit nehmen, wie sie kommt,« antwortete Billy achselzuckend.

»Jetzt aber wird der Spieß umgedreht, my dear Billy! Hat die Eisenbahn uns gehabt – so haben wir jetzt, bei meiner seligen Tante Jemima, wieder die Eisenbahn!!«

Und der nächste Schnellzug führte drei nichtzahlende Passagiere nach Westen.

Tag und Nacht ging es dahin, als müsse versäumte Zeit eingeholt werden. In kaum zehn Tagen legten wir eine ungeheure Strecke zurück, zuerst auf einer Nebenlinie nach Westen, dann zurück im Bogen nach Osten, die Arizonalinie überschreitend, über AIbuquerque nach dem Norden, durch Neumexiko nach Colorado hinein – gepackt vom Fieber des Vorwärtshastens. Auf dieser Fahrt kam ich zum ersten und einzigen Mal in den Vereinigten Staaten mit der Macht des Gesetzes in Konflikt.

Es war in einem kleinen Städtchen nicht weit von La Junta in Colorado. Der Frachtzug rumpelte in dem prachtvollen Sommermorgen dahin, hielt, rumpelte wieder hin und her. Und dann war Ruhe.

» Confound it,« sagte Billy nach einer Weile, »ich glaub', wir sind auf einem Nebengeleise.« Er öffnete vorsichtig die Schiebetüre einen Spalt weit und guckte hinaus. »Wahrhaftig! Infames Pech. Winzig kleine Station auch noch!«

Verärgert kletterten wir hinaus, um uns umzusehen und so schnell als möglich mit einem anderen Zug weiterzufahren. Zuerst sprang Billy zu Boden, dann Joe und endlich ich. Kein Mensch war zu sehen. Wir wollten über das Geleise hinweg zur Straße hinübergehen, als urplötzlich aus der Böschung eine Gestalt auftauchte und eine drohende Stimme rief:

»Hände in die Höhe!«

Billy und Joe hielten prompt die Arme empor, während ich fassungslos den Mann im Schlapphut und die riesigen Revolver in seinen Fäusten anstarrte.

»Hände in die Höhe!!« donnerte es wieder. » Hands up – oder, bei Gott, 's gibt ein Begräbnis!!«

Da schossen auch meine Arme senkrecht empor, und eine unbeschreibliche Angst kam über mich. Billy aber lächelte.

»Umdrehen!« befahl der Mann im Schlapphut, und ich merkte, wie seine tastende Hand meine Taschen befühlte.

»So! Nun marschiert ihr vor mir her; links, wenn ich links sage, rechts, wenn ich rechts sage, und wer einen Versuch macht, zu entfliehen, bekommt eine Kugel. Vorwärts, im Namen des Gesetzes!«

»Was ist denn nur – was kann es denn sein ...« rief ich, erschrocken. Billy aber fragte, ohne den Kopf zu wenden:

»Lieber Herr, haben Sie vielleicht den Sonnenstich?«

»Keine Witze!« befahl der Mann hinter uns. Aber ich hörte, wie er leise lachte.

»Ist man in dieser Gegend immer so unhöflich?« fuhr Billy fort. »Und ich möchte mich wirklich erkundigen, was im Namen aller Unvernunft Sie eigentlich von uns wollen?«

»Das werdet Ihr beim Friedensrichter hören!«

»So? Nun, der Friedensrichter wird auch von mir Verschiedenes zu hören bekommen.«

»Ach, das wird keinen Unterschied machen,« lachte der Mann hinter uns.

Das Städtchen bestand aus höchstens zwei Dutzend Häusern. Wir wurden in ein Haus hineinmarschiert, in dem eine Eisenhandlung war, und fanden uns in einer Stube, die nichts enthielt als eine Bank, einen Tisch und einen Stuhl. Wir mußten uns auf die Bank setzen, und der Mann mit den Revolvern pflanzte sich neben uns auf. Nach einer Weile trat ein weißbärtiger Herr in Hemdsärmeln ein, nahm einen Rock vom Nagel an der Türe, zog ihn an und sagte:

»Die Gerichtssitzung ist eröffnet! Was haben Sie dem Gericht zu melden. Mr. Sheriff

»Drei Tramps, Euer Ehren!«

»Schön. Heben Sie die rechte Hand empor und schwören Sie – im Namen m – m – m die Wahrheit um – m – um ... nichts als die Wahrheit ... m – m –«

Der Sheriff murmelte auch etwas.

»Tatbestand?« fragte der Friedensrichter.

»Illegales Fahren auf der Eisenbahn, Euer Ehren, und gemeingefährliches Herumtreiben ohne Subsistenzmittel. Ich persönlich habe die drei Angeklagten beobachtet, wie sie aus einem Frachtwaggon kletterten.«

Der würdige Richter rieb sich die Hände.

»Vier Tage Zwangsarbeit im Straßenbau!« verkündete er. »Das Gericht ist geschlossen!«

Ich fiel beinahe um. »Einen Moment,« sagte Billy, »darf ich in die Tasche greifen?«

»Jawohl.«

Billy holte eine Handvoll Dollarnoten hervor, die der würdige Richter überrascht betrachtete und sich darauf schleunigst wieder hinsetzte.

»Die Gerichtssitzung ist wieder eröffnet!« sagte er.

»Wir müssen uns illegalen Fahrens schuldig bekennen,« begann Billy: »ich bitte jedoch, in Erwägung dessen, daß wir nicht ohne Geldmittel und nicht gemeingefährlich, sondern nur auf Arbeitssuche sind, auf eine Geldstrafe zu erkennen.«

»Zugestanden!« erklärte der Friedensrichter sofort. »Sagen wir einmal 6 Dollars für den Mann!«

»Ein bißchen viel, Euer Ehren – für Arbeitslose.«

»Hm – sagen wir 10 Dollars für alle drei?«

Der Sheriff trat zum Richtertisch und flüsterte etwas. Ich hörte deutlich die Worte: bar Geld – Tramps gibt's genug ...

»Fünf Dollars Gesamtgeldstrafe, in Anbetracht der Umstände!« entschied der Richter, und Billy bezahlte.

»So!« sagte Seine Ehren, das Geld einstreichend: »Die Gerichtssitzung ist geschlossen!«

Der Sheriff führte uns wieder auf die Straße und meinte, es sei Zeit zum Mittagessen. In seinem Hause könnten wir für einen halben Dollar alle zusammen ausgezeichnet essen! Als wir am Tisch saßen, meinte Billy:

»Kluge, gerissene Gegend hier, nicht. Mr. Sheriff?«

»Sehr!«

»Macht Ihr es immer so?«

»Hm,« sagte der Sheriff gemütlich, »das ist doch furchtbar einfach. Wir bauen hier eine neue Straße un' haben verflucht wenig Geld dazu. Well, un' wenn wir Tramps erwischen, müssen sie gratis arbeiten. Feine Idee! Wenn die Zeiten gut sind, haben wir schon dreißig Mann in der Woche gekriegt. Aber ich will verdammt sein, wenn Ihr nicht die ersten seid, aus denen wir bares Geld herausbekommen haben!«

»Großartig!« sagte Billy. »Der Scherz ist beinahe fünf Dollars wert. Uebrigens – wie heißt denn dieses hoffnungsvolle, aufblühende Gemeinwesen?«

»El Dorado.« sagte der Sheriff.

Da lachten wir alle drei schallend auf.

»Wenn ich mich einmal zur Ruhe setze,« prustete Billy, »dann komm' ich hierher. Eine Stadt, in der man andere die Arbeit tun läßt, die man selbst tun sollte, ist wirklich ein Dorado. Ihr könntet euch doch zum Beispiel auch euer Holz von gelegentlichen Vagabunden spalten lassen?«

»Das ist keine schlechte Idee.« sagte der Sheriff. »Aber wenn's einmal bekannt wird, kommen sie nicht mehr hierher!« setzte er betrübt hinzu.

*

Sommer und Herbst waren dahingeschwunden in einem rastlosen Wirrwarr von hastendem Dahinjagen und Arbeit. Durch große Strecken von Colorado, durch das südliche Kansas, wieder nach Texas und nach Arkansas hinüber und zurück nach Kansas, hatte unser planloser Weg uns geführt.

In einem Steinbruch arbeiteten wir einmal: wir halfen Farmern dann und wann, wir plagten uns einen Monat lang auf einer Sektion der Kansaseisenbahn, wir schleppten Kohlensäcke, wir arbeiteten in einem Elektrizitätswerk. Ein unendlich armes Leben wäre es gewesen, wenn nicht die Eisenbahn eine so wunderbare, immer neue Anziehungskraft ausgeübt hätte. Und wenn nicht Billy mit seinem Humor, seiner Klugheit, dem unbeschreiblichen Einfluß, der von ihm ausging, uns zusammengehalten hätte. Aber über ihn wie über mich kam es in all den Träumen und all dem Hasten oft wie ein Sehnen nach anderem Leben, und wir sprachen so manche Arbeitspläne durch.

»Zuerst Geld in den Händen haben und dann mit dem Kopf arbeiten!«

Das war der Grundzug seiner Ideen. Schließlich beschlossen wir, nach San Franzisko zu gehen, das Billy gut kannte, und dort uns das Glück zu erjagen: die Mittel zu ganz großen Wanderzügen, zu Aufregung und Erleben im großen Stil. In Kansas war es, auf einer winzig kleinen Station der Union Pazific, wo wir diesen Entschluß faßten. Wir wollten ihn sofort zur Ausführung bringen. Joe, der simple, Billy getreu wie ein Diener dem Herrn, ging überallhin mit, ohne zu fragen und ohne sich im geringsten um Dinge der Zukunft zu kümmern. Nach Westen also ging unser Weg. »In zwölf Tagen spätestens sin' wir in Frisco,« sagte Billy, »und dort arbeiten zuerst nur Joe und ich, bis du uns wieder gesund geworden bist. Langweilig« Geschichte, krank zu sein. Tu's nicht wieder!«

Denn ich war krank.

In fortwährendem Fieber. Mein Gesicht war zitronengelb fast geworden, wie das eines Chinesen, und von Tag zu Tag wurde ich schwächer. Ich litt an Malaria. Die Keime der Krankheit hatte ich mir wahrscheinlich schon in Texas oder vielleicht auch in den Sumpfgegenden des Staates Arkansas geholt. Billy erkannte sofort, was mir fehlte. Täglich schluckte ich so und soviele Pillen des einzigen Gegenmittels, das es gab, Chinin. Der Tag fing mit Chinin an und hörte mit Chinin auf. Zuerst machte sich die Krankheit auch kaum anders bemerkbar, als in der sonderbaren Gesichtsfarbe, in Fieber und in Müdigkeit. Aber ich war so abgehärtet, daß ich mir aus dem bißchen Fieber wenig machte. Das dauerte wochenlang. Dann kam es über mich wie Schlafsucht, und oft mußte ich mich auf gefährlicher Fahrt gewaltsam wachhalten. Und dann packte mich der Schüttelfrost der Malaria.

Ein unangenehmer Geselle. Ich saß zusammen mit Billy und Joe in einem Frachtwagen, als es mich auf einmal glühend heiß überlief. Kaum eine Sekunde später schauderte ich in eisiger Kälte, und die Zähne fingen mir an zu klappern. Und dann schüttelte und rüttelte es mich, als sei ich eine Ratte in den Zähnen eines Foxterriers. Mein Körper flog hin und her: der Mund klappte auf und zu, ohne daß ich ein Wort sprechen konnte, – Arme und Beine zuckten wie in Krämpfen. Da half kein Wollen, keine Selbstbeherrschung. Der Begriff Schüttelfrost ist viel zu blaß und schwach, um die Urgewalt solch' eines Malariafrostes wiederzugeben. Wehrlos war man wie ein Kind. Die Beine trommelten auf dem Boden des Wagens, der Körper wurde umhergeworfen. Und merkwürdigerweise verspürte ich dabei weder Schmerz noch ein besonderes Kältegefühl – nur ein willenloses Nachgeben jedes Muskels unter geheimnisvoll rüttelnder Macht – ein Wundern, was das sein mochte, wie lange es dauern mochte.

Zehn Minuten währte der Anfall, auf den Erschöpfung und Müdigkeit folgte.

Nun begann das Elend. Pünktlich jeden zweiten Tag, um die gleiche Stunde, zur selben Minute fast wiederholte sich regelmäßig der Anfall von Schüttelfrost. Und in immer zunehmender Stärke. Wenn es halb zwei Uhr wurde je am zweiten Tag, so wußte ich genau: Jetzt kommt mein treuer Feind, der Schüttelfrost! Da half weder Chinin, selbst in den ungeheuerlichsten Dosen, noch Whisky in großen Gaben. Geschüttelt mußte werden. Geschüttelt, daß ich oft meinte, die Glieder müßten mir aus den Gelenken gerissen werden, gerüttelt, daß Hören und Sehen mir verging. So waren Wochen vergangen, Wochen von Frost und Fieber. Und immer schwächer und elender wurde ich. Immer magerer. Immer gelber im Gesicht.

Aber ich ließ es mir nicht merken, wie erbärmlich mir zumute war, und freute mich wie ein Kind auf das sonnige Kalifornien. Täglich verschluckte ich mehr Chinin und täglich mußte ich mehr und mehr alle Kräfte zusammennehmen.

Da kam ein Tag im Spätoktober, der dem Träumen und dem Wandern ein Ende machte. In der Nähe von Roßville war es, auf einer kleinen Wasserstation. Ich war sehr krank.

Der Expreß war herangebraust. Billy und Joe sprangen auf die blinde Plattform. Ich sprang neben ihnen her. Und in dem Augenblick, als ich mich hinaufschwingen wollte, tanzte es vor meinen Augen wie tausend Sterne, und in meinem Kopf schienen die Dinge zu wirbeln. Trotzdem packte ich blindlings zu. Dann verspürte ich einen Stoß, einen Ruck und kollerte die Böschung hinab. Ich hatte den Messinggriff verfehlt und war gegen die Wand des Postwagens angesprungen ...

Zitternd an allen Gliedern richtete ich mich auf.

Nachdenken! Billy und Joe hatten natürlich nicht mehr abspringen können und fuhren ohne mich weiter. Ich sah im Fahrplan nach. Der Expreß fuhr 69 Meilen weit ohne Aufenthalt. Selbstverständlich würden Billy und Joe auf jener Station auf mich warten. Also weiter mit dem nächsten Zug! Der kam, ein Eilfrachtzug, in einer Stunde. Ich trank Wasser, rauchte eine Zigarette. Aber mit einemmal, durch den Shock des Herabgeschleudertwerdens wahrscheinlich, kam all' die mühsam verhaltene Krankheitsschwäche zum Ausbruch. Die Dinge schwammen mir vor den Augen. Ich konnte kaum stehen, nur mit großer Mühe gehen. Als der Eilzug kam, wollte ich mitfahren, fiel aber beim zweiten Sprung vorwärts schon hin. Da wußte ich, daß ich sehr krank war und in meinem Zustand niemals nach Kalifornien kommen würde, und setzte mich hin und heulte zum Steinerbarmen um meinen Billy. War ich doch nur ein kaum zwanzigjähriger Junge!

Und ich dachte nach und dachte nach. Wenn ich Billy auch mit einem Personenzug nachfuhr, so war es doch nur neuer Jammer. Ich war krank und würde ihm nur eine Last sein. Denken – denken ... Ich starrte auf die Karte, und in mein fieberndes Hirn schlich sich ein Gedanke ein:

Nach St. Louis! In eine ganz große Stadt; in die Stadt, die im Vorfrühling mein Ziel gewesen war. Mit dem Wandern war es ja aus; denn wer kaum stehen konnte, der mußte weg vom Schienenstrang, der Kraft und Mut erforderte.

Billy! Billy!!

Keinen einzigen Augenblick lang beschäftigte mich der Gedanke, was ich in St. Louis anfangen würde. Solche Dinge waren dem Mann im Fieber unendlich gleichgültig! Ich wußte nur, daß es aus war – aus. Keine Schnellzüge mehr; kein Springen. Und daß ich nach St. Louis wollte!

Mit vieler Mühe schlich ich nach der Station hinüber und fragte, was eine Fahrkarte nach St. Louis kosten würde. Die Entfernung war verhältnismäßig gering, kaum 400 Meilen.

»Siebzehn Dollars.« sagte der Agent.

»Bitte! Wann geht der nächste Zug?«

»4 Uhr 32 Minuten.«

Das war in kaum einer Stunde. Ich bezahlte, und wenige Dollars blieben mir übrig. Dann verschluckte ich eine Chininpille nach der andern und versuchte zu rauchen. Und dann saß ich auf einmal auf weichem Polster und träumte todmüde im Halbschlaf in mich hinein, in einer einzigen Vorstellung, in einem einzigen Gedanken.

Billy!

Immer wieder sah ich den Mann mit den leuchtenden Augen vor mir; ihn, den ich vergötterte wie nur Jugend vergöttern kann. Kein häßliches Wort – keinen häßlichen Gedanken hatte ich je von ihm gehört. Denn dieser Mann, hart an der Linie wandernd, die den nützlichen Menschen und den Vagabunden scheidet, war ein ganzer Mann.Nicht ganz zwei Jahre später traf ich Billy wieder, auf Kuba, im spanisch-amerikanischen Krieg – Mr. Billy van Straaten, Leutnant in einem Freiwilligen-Regiment. Die Episode wird in dem zweiten Teil meiner amerikanischen Erinnerungen und Eindrücke geschildert werden, E. N. Stolz und vornehm und frei. Und der fiebernde junge Mensch da im Schnellzug schluchzte in sich hinein –

Die Welt war ärmer geworden für ihn.


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