Peter Rosegger
Die Waldbauern
Peter Rosegger

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Gidel, der Verschenkte

Klimm dich an, Balg, verdächtiger! sonst schmeiß' ich dich in den Graben!«

Diese Worte stieß ein Mann aus, welcher der Bergschlucht entlang ging und einen etwa dreijährigen Knaben auf dem Rücken trug. Der Mann mochte noch nicht über die dreißig Jahre sein, war etwas zerfahren an der Gewandung und machte bei seinen ohnehin schwarzen Augen und Barthaaren ein finsteres Gesicht. Der Knabe war in schlechte Lappen gewickelt, er lag mit dem Bauche auf dem Rücken des Mannes, streckte die bloßen Füßchen an beiden Seiten vor, klammerte sich mit den kleinen Armen um den starren, braunen Nacken und wimmerte.

»Wenn ich einen jungen Hund hätte«, knurrte der Mann vor sich hin, »oder gar ein Spanferkel, zehn Abnehmer für einen wollt' ich mir finden. Weil's aber ein elend Menschenkind ist, so weisen sie mich ab, die einen mit christlicher Rede, die anderen sind ehrlicher und schlagen mir die Tür vor der Nase zu. Scheinheiliges Gesindel, gottverdammtes! Wenn deine Sünden alle zeitig wären, leicht trügest du noch um ein Stück härter als ich. Bei sechs Höfen hab' ich gebettelt; schon die Bitt', daß sie geben sollen, hören sie nicht gerne; die, daß sie nehmen möchten, wollen sie – scheint mir – noch viel weniger hören, diese Genügsamen, die! – Abgewiesen! Hinwerden kannst, du Wurm! Still bist!«

Das Knäblein preßte sein Weinen in sich zurück, so gut es ging. Wer dem herben Manne hätte in die Seele blicken können! Dort weinte es etwa noch bitterer. Leicht streichelte er die Füßlein, die Ärmlein – und drückte sie rauh an sich.

So kamen sie aus dem Enggraben und zu einem stattlichen Hof. Das Haus war aus Holz, hatte aber viele große Fenster und grüne Läden dran. Es schaute in seiner Behaglichkeit und Wohlhabenheit freundlich auf die Ankömmlinge. Der Mann mit dem Knaben auf dem Rücken trat in die Stube, wo die Bauersleute just beisammensaßen zum Essen.

»Uh jegerlas!« rief die Bäuerin aus, »ist das nicht der Holzknecht Friedl vom Brunnwald? Und was er für ein sauberes Bübel mit hat! Diese schönen schwarzen Augen, wie zwei Kirschen. Und ein rechtes Christkindelhaar, ein guldfarbiges! Ein herziges Knaberl hast, Friedel. Gehört's dein?«

»Wohl, freilich wohl, es gehört mein. Wenn's dir aber gefallt, Stammhofbäuerin, es ist zu haben.« So antwortete der Holzknecht und setzte sich auf die Bank, auf die auch der Kleine sachte hinabglitt, dann im Winkel mattschluchzend kauern blieb.

»Ich möcht' schon einen«, sagte die Bäuerin und blickte so ein klein wenig gegen ihren Mann hin.

»Die Weibsleute sind so viel ungeduldig«, entgegnete der, um auch etwas zu sagen, blickte aber weiter nicht auf, sondern machte sich tapfer mit seinen Klößen zu schaffen.

»Es wäre wohl gar mein Ernst«, sagte der Holzknecht. »Ich such' einen Platz für den Buben. Bisher ist er bei seiner Mutter gewest. Die hat jetzt geheiratet und das Kind nicht mitnehmen wollen, halt auch nicht dürfen.«

»Eine saubere Mutter!« fauchte der Bauer.

»Wie's schon geht. Hätt' mir's auch nicht gedacht, daß sie so wär', aber so Weibsbilder, das Heiraten geht ihnen über alles, schon gar, wenn sie hausgesessen werden wie die Hanna. Ist ja begreiflich. Und ist das Kind halt mir verblieben.«

»Das ist eine Vettel!« begehrte die Bäuerin auf. »Zuschicken sollst ihr's. Das Kind gehört zur Mutter – nit? Hab' ich nit recht?!«

»Als wie zu einem Weibsbild, das ihr Kind einmal verlassen kann, hab' ich mehr Vertrau' auf weltfremde Leut'«, sagte der Holzknecht. »Und desweg' geh' ich gestern und heut in der Gegend um und such' brave Leut', die sich mit dem Waisel einen Staffel in den Himmel bauen mögen. Jetzt braucht's freilich noch Pfleg', essen tut's alles, die Hauptsach' wär', daß es was hätt', und das Waschen und Putzen. Nach etlichen Jahren wird er ja Arbeit lernen können, der Gidel – Gidel heißt er – und hätt' der Bauer nachher an ihm einen wohlfeilen Knecht.«

»Recht gut gemeint«, sprach die Bäuerin, »aber 's ist halt ein Kreuz mit so einem Wesen; wenn's den Eltern nachg'rat't und in die Leichtsinnigkeit kommt, so hat unsereins die Nachred'; und wird's soweit brav und kann einmal was verdienen und fallt's nachher seinen Eltern ein und nehmen es weg – so hat man nichts als die Sorg' und Kümmernis mit ihm gehabt.«

»Stammhofbäuerin!« sagte der Holzknecht und hob die flache Hand wie zum Zuschlagen eines Geschäftes, »wenn ich dir den Buben heute geb', so gehört er dein und will ich mich nicht mehr dreinmischen.«

»Das glaube ich!« redete jetzt auch der Bauer mit, »Kinder hersetzen, ja, das können sie, nachher wollen sie nichts davon wissen. Das sind schon die Richtigen, das!« Dabei starrte er immer in seinen Teller hinein und scharrte draufum mit Messer und Gabel. Zum Kloß einen guten Bissen Speck sticht er jetzt an, den verdient er doch für das rechtschaffene Wort!

»Will Euch nicht Unrecht geben, Bauer«, sagte der Holzknecht bescheiden, »es gibt auch solche, wie du meinst, es gibt ihrer! Aber mir kannst es glauben: Wenn ich in derselben Martininacht vor vier Jahren hätt' wissen können, daß der heutige Tag drauf kommt – dieser harte Tag, mein Stammhofbauer, wo man sein Kind muß ausbieten wie eine junge Katz', die man nicht ins Wasser werfen will! – wenn ich das hätt' wissen können, es wär' anders! Es wär' anders! – Jetzt ist's vorbei, jetzt hilft's nichts mehr. Ich muß mir selber alle Tag mein Brot verdienen. Im Brunnwald ist die Arbeit aus worden, muß mir in anderen Gegenden eine suchen. Soll ich mir das Bübel auf den Buckel binden und damit im Holzschlag arbeiten? Rate mir, Bauer, was ich tun soll!«

Der Bauer erhob sich vom Tisch: »Ich muß es aufrichtig sagen, ich wüßt' mir an deiner Stelle selber keinen Rat.«

Trat jetzt der Holzknecht Friedl vor die Bauersleute hin, hielt die Hände zusammen und flehte: »Euch hat der Herrgott gesegnet mit Gut und Anwesen, ihr seid rechtschaffene Leut' und werdet es nimmer wollen, daß ein unschuldiges Menschenkind sollt' verderben müssen. Nehmt es mir ab. Es wird euch nicht arm essen, es wird euch nicht Unehr' stiften. – Unzucht ist's ja doch keins, für die Vaterleut' kann's nichts, in der rechten Zucht wird's ein braver Mensch, und so einer ist nicht zu verachten. – Nehmt es mir ab!«

Die Bäuerin hob den Schürzenzipf an die Augen, aber der Stammhofbauer sagte wohl mit gütigem Tone, doch gemessen: »Friedl, du verlangst viel. Leinwand will ich dir geben, daß du ihm etliche Pfaiden kannst machen lassen; um ein paar Winterschuh' ist's mir auch nicht zu tun, aber es ins Haus nehmen – nein, nein, gar keine Red' davon!«

»Ihr stoßet das Kind zurück«, sprach der Holzknecht, »morgen kommt's vielleicht wieder, aber als Bettelbub oder als noch was Ärgeres. Ihr werdet es verfluchen, werdet vergessen haben, daß Ihr es ins Elend und in die Schlechtigkeit hinausgestoßen habt.«

»Wir es hinausgestoßen? Das ist gut!« sagte der Bauer. »Die Unterhaltung wollen sie selber haben bei solchen Sachen, und was dabei herauskommt, sollen andere zur Verantwortung übernehmen. Spitzbuben das!«

»So spricht der Neid!« rief der Holzknecht aufgeregt.

»Was?« fragte der Stammhofbauer.

»Der gute Willen wär' schon auch bei euch da, ihr hochachtbaren Leut', aber euch macht's Umständ', das Spitzbubsein; das Bravsein vor der Leut' Augen macht euch keine Umständ', darum seid ihr's, nur darum. Ich kenne euch!«

»Ihr werdet da streiten auch noch!« begütigte die Bäuerin, »wenn einer dem anderen schon nicht helfen kann, so sollen sie wenigstens in Güten auseinandergehen. – Schau, da sind Knödeln übrigblieben, wenn Ihr hungrig seid?«

»Vergelt's Gott!« sagte der Holzknecht mit tonloser Stimme und packte sich den Knaben wieder auf. »In Gottes Namen, Gidel, so gehen wir halt wieder um ein Häusel weiter.«

Die Bäuerin rief ihm nach, er solle nur nicht verzagt sein, sie wolle schon beten für ihn.

»Beten, das kann ich selber«, murmelte er, »die reichen Leut' hätten nach meiner Meinung was anderes zu tun.«

In tiefer Verbitterung schleppte er den Knaben weiter. Er kam auf den Plan hinaus, wo die Felder zu Ende gehen und am Waldrain das Heidekraut wächst. Dort bettete er das vor Weinen müde gewordene, nun schlummernde Kind auf weiches Federgras. Dann trug er dürre Äste zusammen, machte ein Feuer an, sammelte Heidelbeeren in seinen Hut, holte in einem Blechkännlein, das er bei sich trug, vom nahen Bache Wasser und wollte für das Kind Beerensuppe kochen. Es hatte schon lange nichts mehr gegessen.

Als er den schlafenden Knaben nun betrachtete, da kam ihm der Gedanke: Jetzt weiß er nichts von allem Elend. Wenn man ihn für allzeit tät schlafen machen . . . Ich glaube kaum, daß man ihm etwas Besseres antun könnte?« –

Durch den Waldweg heraus trat jetzt gebückten Ganges ein Mann, der ein weißrindiges Stück Birkenholz auf der Achsel trug. Den Hut hatte er in der Hand, mit den wassergrauen Äuglein guckte er klug und gemütlich in die Welt. Als er das Feuer sah, warf er das Holz zu Boden, trat heran und sagte: »Mit Verlaub schon, daß ich mir ein Pfeifel anzünde.«

»Du bist der Bichelmeier?« fragte der Holzknecht. »Was willst denn mit dem Birkenklotz?«

»Das wird ein Schlitten, man muß schon wieder für den Winter herrichten. – Ist das dein?« Der Bichelmeier deutete mit der Pfeifenspitze auf den schlafenden Knaben, den er erblickt hatte. »Geraten hat's, daß ich ihm das Trumm nicht auf den Kopf wirf!«

»Hätt' dich desweg' nicht verklagt«, antwortete der Friedl mit zuckenden Lippen, »hätt dich nicht verklagt. So ein Geschöpf ist überflüssig auf der Welt.«

Der Bauer blickte ihn unsicher an: »Das ist kein Spaß, was du sagst.«

»Soll auch keiner sein. Lauf ich jetzt zwei Tag' lang um und such' einen Kostort für das Kind. All umsonst. Jetzt bin ich schon ganz wild und weiß nicht, was geschehen kann. Teufelsg'fratz herum!« so knirschte der Holzknecht, indem er den Feuerbrand, der zum Pfeifenanzünden gut gewesen war, ins Feuer schleuderte, daß die Funken stoben.

Dem Bichelmeier kam diese Sprache etwas unheimlich vor.

»Bist nit gescheit«, sagte er und betrachtete sich das arme Wesen mit dem blassen Gesichtl, über das die Mücken hin und her schwirrten. »Wenn's dir ernst ist – ehvor du was Unrechtes anstellst, ehvor gib's her?«

Schon mit dem nächsten Worte suchte er die vorlaute Rede zurückzunehmen, aber der Friedl klammerte sich daran, er bat und bat den Bauer, sich des Knaben anzunehmen.

»Kannst mit ihm machen, was du willst«, rief er, »ich frage nimmer danach.«

»Laß mir doch Zeit, daß ich's bedenk'«, sagte der Bichelmeier.

»Gut' Sach' bedenken heißt den Teufel um Rat fragen.«

»Brauch' keinen Rat, bin mir schon selber genug. Gesund ist der Knirps?«

»Wie der Fisch im Wasser, solang er nicht verhungert.«

Nach einigem Bedenken sagte der Bichelmeier: »Es ist alles zu brauchen, so wird ein Menschenkind auch zu brauchen sein. In Gottes Namen, ich nehm' den Buben.«

Auf die Dankesworte des Holzknechtes hörte er weiter nicht. »Ich will ihn gleich selber heimtragen, den kleinen Kerl«, sagte er und hob das Kind vom Boden auf. »So. Und du nimmst den Birkenklotz und tragst mir ihn nach.«

Mit Freuden tat es der Friedl, merkte aber bald, der Klotz war bei weitem schwerer, als es das Kind gewesen. –

Beim Bichelmeier im Hof gaben sie dem Holzknecht was zu essen, und er wurde eingeladen, die Nacht über dort – das letztemal mit seinem Knaben – zu schlafen. Der Friedl aber machte sich davon, denn er fürchtete, in der Nacht könne sich der Bauer eines anderen besinnen und den Knaben wieder zurückweisen.

Der Bichelmeier hatte nun noch mit seinem Weibe den Strauß auszufechten. Auf das war er wohl vorgesehen, denn was er tat, jahraus, jahrein, von seiner Genossin ward es zum mindesten einmal erklecklich widersprochen. So fragte sie ihn jetzt, als er ihr den fremden Knaben nach Hause gebracht, was er glaube? Ob sie an ihren eigenen drei Rangen nicht schon genug hätten? Ob er Wissenschaft habe, daß nichts mehr folge?

Sagte der Bauer: »Das muß man wirtschaftlich nehmen, mein Eheweib; wenn der Jud' Kinder kauft, so werde ich wohl eins geschenkt mögen nehmen. Wir züchten auch Kälber auf, weil sie später was nutz sein werden. Nun also. Nur nicht allemal gleich dreinfahren, was du nicht verstehst.«

Endlich war der Knabe nach langem Schlaf und unruhigem Halbschlummer zu sich selbst gekommen. Er rieb sich mit den Fäustchen die Augen und blickte erstaunt umher. Er fand sich in einem fremden Haus auf der Bank. Er fragte mit ängstlichem Stimmchen nach dem Vater.

»Ja, ja, jetzt ist der dein Vater!« fuhr ihn die Bäuerin an und wies auf den Bauer, der struppig und rauh auf seinem Dreifuß saß und einen Schuh benagelte.

Das Kind starrte halbaufgerichtet eine Weile noch so drein, es konnte die Dinge nicht fassen – endlich hub es sachte zu weinen an.

»Jetzt bist zufrieden, gelt, weil du wieder das Gewinsel haben kannst«, versetzte das Weib dem Mann ein Giftiges.

»Irrt mich nicht«, antwortete er, »wenn es sich ausgeflennt hat, wird's schon still sein.« Und hämmerte auf die Schuhsohle los.

Dem kleinen Gidel ward immer unheimlicher, und schärfer stieg ihm die Ahnung auf, daß an diesem Tage mit ihm etwas Besonderes vorgegangen sei. Sein Weinen wurde kläglicher. Die Bäuerin setzte ihm murrend eine Schale Milch vor, er ließ sie unberührt. Die Rangen des Hauses kamen herbei, beguckten das fremde Kind wie ein Wunderding, grinsten es an, bespotteten sein Schluchzen und Wimmern, begannen zuletzt an seinem armen Gewandlein zu zausen, bis der Gidel den Arm ausschlug und rief: »Ich mag euch nicht, den Vater will ich haben.«

»Was das für ein Ungezücht ist!« fuhr jetzt die Bäuerin drein, »schlagen tut er! Wart, Bettelbub, das will ich dir frühzeitig vertreiben.«

Von der Bank riß sie den Kleinen, stieß ihn herb hin und her und ließ ihn liegen auf der Erde unter den gackernden Hühnern. –

So ist Gidels Leben angegangen im neuen Heim. Und so ging es gleichmäßig fort, denn nichts ist beständiger als ein böses Weib oder ein eigennütziger Mann.

Seine erste Aufgabe war, die Söhnlein des Hauses zu ergötzen. Er tat's getreulich, erfand ihnen kleine Spielzeuge, machte ihnen lustige Bewegungen, Grimassen und allerlei Schwänke vor. Anfangs hatte er die Sachen freilich für sich selber machen wollen, die Spiele aus Steinchen und Baumrinden und Tannenzapfen; aber das wurde ihm allemal weggenommen, und wenn er sich drum wehren wollte, so kriegte er Püffe, Bisse und anderlei Feindschaftliches an den Leib, und war es noch gut, wenn nicht auch die Mutter herbeikam, denn da wußte man im voraus, wer Unrecht hatte. So fügte sich der Knabe bald und war zufrieden, wenn er die »Brüder« soweit unterhalten und zerstreuen konnte, daß sie ihn nicht mißhandelten.

An Nahrung ließ ihn der Bauer nicht Mangel leiden – »daß er stark wird!« Auf das Starkwerden seines jüngsten Knechtes wartete der Bichelmeier woltern hart; und richtig, als der Gidel fünf Jahre war, mochte er zur Brachzeit schon Ochsen führen, im Heumahd Futter streuen und Schober treten, im Schnitt Garben tragen; er trieb schon die Lämmer auf die Weide, schleppte den Wasserkrug vom Brunnen herauf, schleppte auch auf den kleinen Armen ein jüngeres »Geschwister« umher, bis es ihm mitunter auf den Boden rutschte und er nachher auf seine Barfüße die Rute bekam.

Das Hausgesinde hatte ihn nicht gerade ungern, weil er gutmütig und nicht trotzig war, aber wenn man ihm eine Gunst erzeigen wollte, so mußte es heimlich geschehen, sonst hätte man Unheil über ihn heraufbeschworen. Hin und wieder gab es wohl auch unter dem Gesinde einen boshaften Knecht, eine wütige Magd, die sich des schutzlosen Knaben bedienten, um an ihm ihre Teufeleien auszulassen. Der Gidel fand es auch ganz selbstverständlich, daß jede Ungeschicklichkeit, jedes Versehen, jede Falschheit und Roheit im Hause er zu büßen hatte; er trug seine Hiebe und Stöße und Fußtritte mit Gelassenheit, und wenn sie ihm weh taten, so weinte er sich in einem verborgenen Winkel aus und war dann wieder lustig und willig für alles, was man ihm aufbürdete, und wußte nichts von Haß und nichts von Liebe.

Als der Gidel größer wurde, fielen ihm Arbeiten zu, die sonst niemand tun wollte, und Bissen, die sonst niemand essen wollte; und wurden im Hause einmal die Betten zu wenig, so hieß es: Der Gidel schläft auf der Streu. Der Junge fügte sich ohne Widerrede, es war ihm auch das wieder selbstverständlich, daß er vorankam, wo es Hartes gab, und hintenan, wo es lustig herging. Der Bichelmeier hatte ihm ein dickes graues Zwilchkleid machen lassen, das mußte halten Sommer und Winter, und wenn es endlich zerriß, wurde der Junge mit Strafen belegt. Einmal verletzte sich der Gidel bei einer Steinarbeit; sie ließen ihn liegen in der Futterkammer, bis er heil war; manchmal wand er sich nach schlechter Mahlzeit in Leibgrimmen, sie ließen ihn, bis es vorbei war. Im Winter erfror er sich Hände und Füße, im Sommer, wenn er auf den Felsen den Schafen nachkommen mußte, zerschlug er sich die Knie und die Ellbogen. Trotz alledem wurden seine Glieder kräftig, die Farbe seiner Wangen war frisch, sein schwarzes Auge blickte munter, wenn er bei den Tieren war auf freier Weide. Bei den Hausgenossen hörte er nur auf die Befehle und auf sonst nichts – er war gleichgültig, fast stumpfsinnig, wußte nichts von Haß und nichts von Liebe.

Sein Vater hielt die dem Bichelmeier gegebene Zusage getreulich, er kümmerte sich nicht um den Jungen, und seit jenem Tage, da ihm der kleine Gidel abgenommen worden war, hatte man vom Holzknecht Friedl nichts mehr gehört.

Der Bichelmeier hatte für seinen heranwachsenden Knecht kein Lob und keine Klage; die Bäuerin hatte Tadel, so oft er etwas schlecht machte, und Tadel, so oft er etwas gut machte, und noch den härtesten, wenn er gar nichts machte, sondern bisweilen rasten wollte wie die anderen. Was man bei anderen müde nennt, hieß bei ihm faul; was sonst Hunger heißt, nannte man bei ihm Gefräßigkeit. Was man bei anderen als Gutmütigkeit lobt, schmähten sie bei ihm als Dummheit. Eine Magd war im Hause, die hatte Lob für den Gidel, aber sie hielt es geheim.

»Für dich wäre es wohl auch gut«, sagte diese einmal zum Jungen, »wenn du schon zwanzig Jahre alt wärest.«

»Ich kriegt' auch jetzt schon eine, wenn ich wollt'«, antwortete der Gidel.

»Nicht so, Bub, jetzt hast mich nicht verstanden«, sprach die Magd, »ich hab' gemeint, daß dich der Kaiser tät' nehmen. Beim Soldatenleben wirst es besser haben.«

Indes schien es, daß das viele Tragen von schweren Gegenständen – Säcke von der Mühle, Steine von den Feldern – seinen Körper nicht bis zum Kaisermaß emporwachsen lassen wollte. Er war nicht viel über vier Schuh hoch und doch schon fünfzehn Jahre alt. Jetzt aber fügte es sich, daß er den Sommer über außer Hause kam.

Der Bichelmeier hatte auf der Hohen Sill eine Schafweide gepachtet. Da tat er für Juli und August seine hundertundzwanzig Schafe hinauf; und wer wird sie denn bewachen gegen die Wetter und Geier und Diebe und Felsstürze, als der Gidel! Der Gidel geht mit auf die Sill. Auf dem Sonnreit gibt es Almhütten, dahin soll er abends die Herde zusammentreiben, dort soll ihm die alte Schwaigerin, die den Kuhstand versorgt, das Essen richten und das Nest im Heu. Ist weiter nicht viel Vorbereitung, der Junge rafft ein paar Kleidungsstücke zusammen – denn die Magd hatte ihm gesagt, auf der Alm sei es kalt – und treibt die Schafe auf die Hohe Sill.

Er weiß selber nicht, wie ihm ist, so auf einmal in der Freiheit! In der Nacht fehlen ihm die warmen Decken, das macht nichts, er bohrt sich um so tiefer ins Heu. In Wetterstürmen auf der Höhe fehlt ihm Obdach, das macht nichts, er verkriecht sich in die Spalten der Felsen. Des Morgens und Abends hatte er gute Milchkost, und die alte Schwaigerin versauerte sie nicht zu sehr mit Zanken – das tut sich. Tagsüber fehlt ihm die Nahrung, das macht nichts, er steigt in die Hänge, wo Beeren wachsen, oder er milkt gar ein Mutterschaf und lebt so wie ein Königssohn – heißt das, ein verwunschener.

Allerlei Spielzeug hat er. Aus den Steinen baut er Haus und Hof, in dem er der Bauer ist, Knechte und Mägde hat – dazu lassen sich die Zapflein der Legföhre brauchen, auch einen Zuchtbuben (angenommenes Kind) hat er, dem er scharf zu Leibe geht, wie es ihm selber geschieht. Seine eigenen Söhne, die schnitzt er sich aus Zirmholz und stellt sie zwischen die Steine des Hofes, wo sie geschützt sind. Wenn hernach der Widder kommt und mit seinen geringelten Hörnern die ganze Wirtschaft über den Haufen stößt, läßt er sich mit diesem behörnten, wolligen Schicksale in Händel ein, ringt mit ihm, setzt sich auf den Widder und reitet über die hohen Heiden. Der Sommer streicht dahin. Dem Bichelmeier reift die Ernte, er denkt ans Heu, ans Korn, an die Rinder, an die Schafe auf der Alm. Vom Gidel ist keine Rede. Man schaut bisweilen auf die Zinnen der Hohen Sill, die fern hinter anderen Bergen herüberblauen, man sieht von dort her die wilden Wetter fahren. Und wenn nach langen Regentagen über den Wänden auf den Hochmatten junger Schnee liegt, so heißt es: Die armen Schafe auf der Alm!

Etliche Lämmer sind zurückbehalten worden im Hof herunten, daß sich damit die Kinder ergötzen mögen. Ja so, des Bauers Söhne, wie geht's ihnen? Dank' der Nachfrag'! Denen fehlt nichts. Alle drei sind hoch aufgeschossen, haben jeden Tag andere Schmerzen und bersten vor Gesundheit. Tut man sie ein bissel schonen, daß sie des Morgens nicht zu früh aus dem Bett müssen und nicht zu angestrengt arbeiten, und daß sie warmes Gewand haben und nicht zu schlecht genährt werden – ein Kletzel Butter unter Mahlzeiten, manchmal ein Stückel Fleisch, ein Tröpfel Kaffee – mein Gott, so junge Leute im Wachsen! So viel in Übermut sind sie; laufen, ringen, hupfen, daß man sich fort ängstigen muß, sie verstauchen sich was. Auf den Zäunen klettern sie auch so viel herum – Hosen zerreißen ist das wenigste, aber wie bald haben sie einen Schürf in der Haut, einen Splitter im Fleisch: Man kann schier nicht genug achtgeben auf die Bübeln.

Im August ist's, da läßt eines Tages die alte Schwaigerin dem Bichelmeier sagen, es solle wer auf die Alm kommen, sie wisse sich nicht zu helfen. Seit zwei Tagen käme der Gidel mit den Schafen nicht heim, und sie könne sich nicht denken, was das bedeute!

»Mutter Anna!« schreit der Bauer erschrocken auf, »es wird doch den Schäflein nichts widerfahren sein! Und daß es der Halterbub nicht etwan verschweigt und davongelaufen ist!«

Eilends rief er den alten Knecht, und sie stiegen von einem Berg zum anderen empor auf das Sonnreit. Dort erzählte die Schwaigerin, sie sei schon unzähligemal über die Almen aus und ein gegangen, habe in die Wände hinaufgeschaut, habe in die Kare hinabgerufen und habe weder Schaf noch Hirten gesehen. Hernach habe sie sich zu der lieben Mutter Gottes verlobt, auf die Meinung, daß die Herde wieder sollt' heimkommen; dann habe sie ein Antonikraut verbrannt, daß der Rauch in die Lüfte gestiegen sei und die bösen Geister verjagt haben müsse, wenn welche über das liebe Vieh gekommen wären. Allmiteinander sei es nichts gewesen. Endlich habe sie einen Fremden gefragt, der von der Hohen Sill herabgestiegen, ob er nicht irgendwo eine Herde von Schafen gesehen. Gesehen nicht, hätte er ausgesagt, aber als er in den Felsen durch die sieben Hörner herabgestiegen, da sei es gewesen, als hätte er irgendum so ein Blöken gehört, er hätte es für den Schrei einer Gemse gehalten, es könne ihn aber auch getäuscht haben.

»Was nutzt das Schwatzen!« rief der Bichelmeier, »hinauf müssen wir!«

Und die beiden Männer gingen auf die Schafsuche. Sie stiegen über Almen und durch Steinkare und Geröllfelder empor in die wilden Felsen, wegen ihrer siebenzackigen Hochschroffen genannt die sieben Hörner. Es ist ein grauenhaftes Gebirge, wer's kennt, dieses Hochgestein der Sill. Wände, die von der Ferne fast glatt, nur leicht berinset zu sehen sind, tun sich – wenn man an sie kommt – in Klüften und Schluchten auseinander, ganze Felsentäler schließen sich auf da oben, und wilde Kessel, von denen man nicht mehr hinausschauen kann in die Waldgegenden, wo man nichts vor sich hat als zerrissene Wände, Schutthalden und Felsblöcke; von den Stürmen dürrgelecktes Gestein überall, in den Runsen versteinertes Eis, und nirgends ein Halm, nirgends ein grünes Blatt. Dem Bichelmeier wurde angst und bang, er war noch niemals da heroben gewesen. »Daß es so ausschaut dahier, das habe ich nicht gewußt.« So war seine Rede, als sie sich mit blutenden Füßen und Händen endlich über die Kare und Kessel emporgearbeitet hatten auf eine der Zinnen. Von dieser Zinne aus bot sich ihnen ein neues Bild, vor dem sie fast noch mehr erschraken. Ein weites Feld von weißem Licht schlug ihnen in die Augen. Von der höchsten Spitze des Gebirges, aus welchem eiskalter Wind herabstrich, ging ein breites Schneefeld, steil wie ein Dach, nieder ins Gestein, das sich dehnte, soweit das Auge flog. Berg und Tal bildeten ein Hochland ohne Baum und Strauch, von dem man unten keine Ahnung haben konnte.

In einer Niederung zwischen aufragenden Felsmassen lag es wie eine blaßgrüne Wiese. Der Knecht behauptete, er sähe auf derselben weiße Punkte, und der Bauer behauptete, die weißen Punkte wären Schafe.

Als sie jedoch nach einer Stunde beschwerlichen und gefährlichen Kletterns, bei welchem der Schwindel dem Bichelmeier mehrmals den Kopf verdrehen wollte, hinabkamen in das Felsental, war das Wieslein ein weites, unebenes Kar, und die weißen Schafe darauf, die hatten sich in Felsblöcke verwandelt, so von den Hängen niedergebrochen waren.

»Ob wir den Weg wieder zurückfinden werden?« gab der Knecht zu bedenken.

Da sagte der Bauer: »Rasten will ich.« Und sank auf ein Felsstück.

»Es ist die Nacht nicht mehr weit«, bemerkte der Knecht, »wenn die Nebel einfallen!«

»Meinetwegen, ich kann nicht mehr weiter.«

Sie verzehrten ihren kleinen Vorrat an Brot und aßen harten Schnee dazu.

Als der Knecht nur mehr ein Rindlein von Brot in der Hand hatte, zögerte er, es in den Mund zu tun. »Den letzten Bissen«, sagte er, »den soll man nie verzehren auf hohen Bergen. Wir wissen nicht, Bauer, was uns noch bevorsteht.«

Als sie ihrer Beklommenheit derart Luft gemacht, tat der Bichelmeier plötzlich einen heiseren Schrei und sprang von seinem Sitze empor. Dort drüben zwischen Steinen schaute der graue Kopf eines Schafes hervor. Alsogleich tat er den Lockruf, da trat das Tier heraus, es kam ein zweites, ein drittes zum Vorschein, graue, weiße, schwarze, und sie kamen zu vielen und vielen dort aus einer Tiefe heran, und sie liefen blökend herbei und versammelten sich um die beiden Menschen und beleckten ihre Hände, ihre Kleider, einige sprangen ihnen mit den Vorderfüßen an die Brust und schnupperten und blökten unaufhörlich.

»Gottlob, gottlob, daß die Schäflein wieder da sind! Schon die meisten wieder.« So rief der Bauer und streichelte die Tiere und drückte eins ums andere an seine Brust.

»Wo denn der Bub ist«, murmelte der Knecht und drehte seinen Hals hin und her.

»Wer?« fragte der Bauer.

»Der Halterbub! Der Gidel ist nicht da.«

Schaute der Bauer verwundert auf und sagte kleinlaut: »Ist er nicht da?«

Nun gingen sie langsam gegen die Stelle hin, wo die Schafe aus der Tiefe waren heraufgekommen, dort standen noch ein paar und schauten mit hochgehobenen Köpfen in den Abgrund.

Auf dem schieferigen Boden lag ein Hirtenstock, der war zernagt, und an der Handhabe das Riemchen über und über zerbissen.

»Der Stecken ist da, muß der Bub nicht weit sein«, meinte der Bauer, rief aber nicht nach ihm, schalt auch nicht, sondern schaute mit ängstlichem Blicke hin und her.

Der Knecht war am Rande des Hanges dahingegangen, nach allen Seiten ausspähend, immer von mehreren Schafen gefolgt, die ihn anschnupperten, als hätten sie ihm was zu sagen. Als der Knecht drüben mit ausgespreiteten Beinen auf einem Vorsprung stand, legte er den einen Arm über den Kopf, daß der Wind ihm den Hut nicht davontragen konnte, mit dem anderen winkte er dem Bauer, er möge zu ihm herüberkommen. Der Bichelmeier ging schwankend über das Grat, und als er zum Knecht kam, deutete dieser in den Abgrund und sagte leise: »Da unten liegt er.«

Tief unten im Gewände war eine Menschenhand. Sie ragte über einen Vorsprung hinaus. Als sich die Männer oben weiter vorbogen, der Knecht mit Mut, der Bauer mit Zagen, daß er nicht etwa auch selber stürze, sahen sie den ganzen Körper. Mit den Füßen in eine Kluft geklemmt, hing der zerschlagene Leib kopfabwärts am Gefelse.

Der Bauer trat eilig zurück. Eine Weile stand er dann still und wußte nicht, was jetzt machen. Endlich sagte er zum Knecht: »Gelt, Hans, du bist so gut und sorgst, daß er hinabkommt auf den Freidhof.«

»Wie soll man ihn denn da heraufkriegen?« fragte der Knecht, »da braucht man Stricke und Stangen.«

Der Bichelmeier war schon mitten unter seinen Schafen, die jetzt, da sie andere Menschenwesen hatten, den von ihnen seit drei Tagen bewachten Unglücksplatz verlassen konnten. Sie waren es, die den Männern nun den Weg zeigten aus dem Gestein, an den Wänden und Schuttfeldern nieder zu grünen Almen. Spät in der Nacht und tief erschöpft kamen sie an in den Hütten des Sonnreit. Dort waren mehrere Leute aus dem Tal, teils heraufgekommen, um die vermißte Schafherde suchen zu helfen, teils um bei ihren eigenen Herden Nachschau zu halten. Denen klagte der betrübte Bichelmeier sein Unglück: Da habe er den Jungen so weit aufgeatzt, daß er endlich zur Arbeit brauchbar worden wäre, jetzt stürzt er ab in den Wänden! –

Etliche gaben ihm ihr Beileid kund, andere schwiegen und dachten sich ihr Teil über diesen Mann.

Hierauf mutmaßten sie, wieso der Junge konnte verunglückt sein, und die Wahrscheinlichkeit sprach dafür, er habe in den Hängen einen Abstieg in den Zirmgraben gesucht, wo er Beeren oder eine Quelle vermutet. Dabei sei er gestürzt. Wenn die Schafe nicht an Ort und Stelle geblieben wären, man hätte den Verunglückten bis zum Jüngsten Tage nicht gefunden. Die unvernünftigen Tiere seien halt doch wahrlich oft getreuer als die Menschen . . .

Einen Tag später war's, als der Mann, der diese Geschichte aufgeschrieben hat, auf der Bank vor dem Wirtshause in der Niedersill saß. Er blickte hinauf in das hohe finsterblaue Gewände. Über die höchsten Grate hingen die Nebel herab. Da kam des Weges ein alter, weißbärtiger Bergler, gebückt und schnaufend, denn er trug auf dem Rücken einen Korb, wie man sie auf den Almen zum Futtertragen hat. Er lud diesen Korb auf einen Pferdetrog ab, setzte sich neben hin, wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß vom Gesicht und verlangte ein Glas Bier.

Woran er so schwer trage? fragte ich den Alten. Er deutete mit der Hand gegen den Korb, ich möge nachsehen. – Im Korb lag zusammengekauert der tote Knabe. Hände und Füße hatten sich nach Belieben und Raum legen lassen, so sehr waren alle Knochen zermalmt. Der Kopf war mit Krusten von Blut überzogen, der Mund war verstopft mit einem Grasballen.

Ich habe mich schaudernd abgewendet. Der Alte hat nach kleiner Labe die Last wieder auf sich genommen und hinausgetragen durch das stundenlange Engtal gegen den Kirchhof des Ortes.

 


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