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Zweites Buch.

Zur Volkskunde der Gegenwart.

Die Volkskunde als Wissenschaft.

Ein Vortrag.

1858.

I.

Die Volkskunde als selbständige Wissenschaft ist eine halbvollendete Schöpfung der letzten hundert Jahre; die Anläufe und Beiträge zur Volkskunde dagegen sind so alt wie die Geschichte der Litteratur. In den ältesten Heldengesängen und Religionsbüchern – ich erinnere nur an Homer und die fünf Bücher Mosis – besitzen wir ethnographische Quellen, aus deren klarem Spiegel ein Scharfblick der Beobachtung und eine naive Sicherheit der Charakteristik widerstrahlt, wie wir sie in den meisten späteren gelehrten Aufzeichnungen vergebens suchen. Herodot wird der Vater der abendländischen Geschichtschreibung, indem und weil er der Vater der Volkskunde ist; er unternimmt bereits Reisen, um mit dem Geschichtsstudium das vergleichende Volksstudium zu verbinden, und durch sein ganzes Geschichtswerk geht die ethnographische Tendenz, einer in der Parallele sich wechselsweise beleuchtenden Gegenüberstellung griechischen und asiatischen Volksthumes. Dennoch aber wird Niemand behaupten, daß der Verfasser des Pentateuch oder Homer oder Herodot eine wissenschaftliche Volkskunde geschrieben hätten; man nennt diese Männer vielmehr Religionslehrer, Dichter und Geschichtschreiber; denn die Volkskunde ist bei ihnen dienstbar, nicht Hauptzweck. Solange ein Wissenszweig aber blos dient, ist er überhaupt keine Wissenschaft, er wird dies erst, indem er sein Centrum in sich selber findet, das heißt, indem er frei und selbständig auftritt. Wir nennen darum z. B. die Nationalökonomie, die Chemie, die Physiologie neue Wissenschaften, obgleich sie als dienstbare Wissenszweige uralt sind; neu ist nur ihre Freiheit, kraft deren sie ihr Centrum in sich selber gefunden, ihre Gesetze, ihre Methode aus sich selber heraus entwickelt haben und eben dadurch erst eigentliche Wissenschaften geworden und dann weiter durch diese einzige Thatsache wunderbar rasch zu einer ganzen Welt von neuen Resultaten durchgedrungen sind. Der Knecht, der ein freier Mann wird, wird zugleich ein neuer Mann, dessen Leistungen nicht blos im Maß, sondern auch im Inhalt seine frühere Knechtsarbeit unendlich überragen.

Die Dienstbarkeit der Volkskunde geht durch die ganze antike und mittelalterliche Zeit. Geographen und Reisebeschreiber, Dichter und Historiker geben nebenbei die lehrreichsten ethnographischen Fragmente, aber kaum Einer macht die Erkenntniß des Volkslebens als solchen zum bewegenden Mittelpunkte seines Schaffens. Ich sage: zum bewegenden Mittelpunkte. Denn wo sich ja selbständige Völkerschilderungen finden, da bietet man uns doch nur eine gewisse Summe lose zusammengereihter Beobachtungen, Rohstoff zur Volkskunde, dem aber die innere Gesetzmäßigkeit wissenschaftlicher Anordnung und Durcharbeitung fehlt.

So hat Pausanias Griechenland, Syrien und Phönicien als Tourist durchwandert und beschrieben, und zwar als ein so vollkommener Tourist, daß Scaliger ihn mit einigem Recht den größten Aufschneider unter allen griechischen Schriftstellern nennen konnte. Allein ein solches subjectives Gemälde aller möglichen Gegenstände und Reiseeindrücke ist noch lange keine selbständige Volkskunde, geschweige eine wissenschaftliche. Man könnte es mit gleichem Fug eine Aesthetik oder eine Kunstgeschichte nennen, weil die Charakteristik vieler Kunstwerke darin enthalten ist, oder eine Geschichte wegen der eingeflochtenen historischen Anekdoten. Jede Reisebeschreibung als solche kann höchstens eine Materialiensammlung zur Volkskunde, wie zu hundert andern Disciplinen sein.

Viel höher als Pausanias steht Strabo, der in seinem großen historisch-statistischen Werke den ethnographischen Stoff schon zu sichten und zu ordnen und das Volksleben nach seinen örtlichen, geschichtlichen und staatlichen Motiven zu begreifen beginnt. Dennoch nennt man Strabo mit Recht einen Geographen, nicht einen Ethnographen; denn das wissenschaftliche Fundament seiner Arbeit ruht in der Geographie, die überhaupt bei den Alten von den Ländersagen der Logographen bis zu der geometrischen Erdbeschreibung des Ptolemäos viel systematischer bearbeitet wurde, als ihre Schwester, die Volkskunde. Weit früher erforschte man überhaupt die natürliche Ordnung in den Meeren, Bergen und Flüssen, als in den Völkern, und suchte früher selbst die Gesetze der Bewegung der Gestirne festzustellen, als die Gesetze der Bewegung der Nationen. Denn die Selbsterkenntniß ist zwar in der Theorie aller Weisheit Anfang, in der Praxis aber kommt sie, bei den Einzelnen wie bei den Völkern, vielmehr erst am Ende.

Uebrigens hat vielleicht der Umstand, daß das Werk des Geographen Strabo für so viele Jahrhunderte das unübertroffene Musterstück einer Landes- und Volkskunde war, bis auf unsere Zeit die Neigung rege gehalten, die Volksschilderung zunächst als eine Illustration zur Geographie aufzufassen, das Volk als eine Staffage der Landschaft, da es uns doch umgekehrt viel näher läge, in der Landschaft blos einen Hintergrund des Volkslebens zu sehen.

Nur einem einzigen antiken Autor ist es meines Wissens vollständig gelungen, das Bild des Landes rein als Motiv zur Volkscharakteristik zu behandeln und so das herkömmliche Verhältniß von Geographie und Ethnographie umzukehren, nämlich Tacitus in seiner Germania. Es stehet dieses Buch aber auch vor allen da, wie eine Weissagung auf die moderne freie und wissenschaftliche Volkskunde, und gerade wegen dieser Originalität wußten die Philologen nicht, was sie aus dem Buche machen sollten. Einige erklärten es für das ethnographische Bruchstück zu einem Geschichtswerk über Nerva und Trajan, Andere für eine Sittenpredigt, Andere für eine Satyre, noch Andere gar für ein bloßes Concept, für eine bündig stylisirte Notizensammlung zu irgend welchen weiteren Zwecken. Statt jedoch zu fragen, was die Germania hätte sein und werden können, wollen wir sie lieber einfach als das nehmen, was sie uns ist: als ein zu einem schriftstellerischen Kunstwerke gestaltetes Volksbild, aus welchem wenigstens die Ahnung schon hervorklingt, daß eine solche Schilderei mehr sein müsse, als ein bloßes Archiv von Beobachtungen, und daß vielmehr die Erkenntniß der Naturgesetze des Völkerlebens demselben die Gliederung und die innere Nothwendigkeit eines organischen Gebildes zu verleihen habe. Selbst der Umstand, daß Tacitus weit stärker glänzt durch sein Genie der Combination, als der bloßen nüchternen Beobachtung, wodurch er jenen Gelehrten, die sein Buch lediglich als eine Quelle zur Wässerung ihrer eigenen Wiesen benutzen wollen, so viel Kreuz verursacht, selbst dieser Umstand zeigt in ihm den Ahnherrn der wissenschaftlichen Volksforschung. Denn bei wem nicht die Gabe der richtigen Combination, der Vergleichung und Folgerung noch tiefer entwickelt ist, als der bloße Scharfsinn des Beobachters, der kann zwar in dem Handwerk des statistischen Stoffsammelns Tüchtiges leisten, aber sicher niemals in der gestaltenden Kunst der wissenschaftlichen Volkskunde.

Zu Tacitus, als dem Propheten der selbständigen Volkskunde, blickt darum der moderne Ethnograph mit derselben heiligen Ehrfurcht empor, mit welcher der Philosoph zu Aristoteles aufblickt, der Dichter zu Shakespeare, und er erkennt es als ein verheißungsvolles Zusammentreffen, daß in derselben Zeit, wo durch die großen Länderentdeckungen die Volkskunde aus dem langen Schlaf des Mittelalters aufgeweckt ward, in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts, auch die verschollene Germania des Tacitus wieder entdeckt und von den damaligen Gelehrten sofort als ein »goldenes Buch« begrüßt worden ist.

II.

Ich sage, die Volkskunde habe während des Mittelalters in einem langen Schlafe gelegen, meine aber damit keineswegs, daß man es in dieser Periode überhaupt unterlassen habe, Beobachtungen über das Volksleben aufzuzeichnen. Es gibt vielmehr kaum ein mittelalterliches Geschichtsbuch, wo sich dergleichen nicht fänden, und als mit den Kreuzzügen und den immer weiter sich ausdehnenden Kreisen des Welthandels der Gegensatz großer Stammes- und Nationalitätsgruppen zu allgemeinerem und lebensvollerem Bewußtsein kommt, mehrt sich auch die Zahl der Länder- und Volksschilderungen, bis diese Litteratur in der Zeit der großen Entdeckungsreisen zu einem wahren Strome anschwillt.

Allein diese mittelalterlichen Fragmente zur Volkskunde haben sich doch niemals zu der Höhe eines Strabo oder Tacitus aufgeschwungen, und das enge Schulgerüste der mittelalterlichen Wissenschaften bietet nicht entfernt einen Platz für eine eigene Wissenschaft vom Volke.

Es ist höchst lehrreich zu sehen, warum das Mittelalter die selbständige Volkskunde vernachlässigen mußte, und ich erlaube mir, hierüber einige Gedanken zu entwickeln, damit Sie durch einen negativen Beweis inne werden, was eigentlich die Lebenslust der wissenschaftlichen Volkskunde sei.

Im früheren Mittelalter muß man die Studien zur Volkskunde in einem förmlichen Versteck aufspüren, in einem Versteck bei den Geschichtschreibern. So trocken und mager aber die Annalisten und Chronisten als Historiker sind, so dürftig sind sie auch als Ethnographen; denn die Auffassung des Volkslebens hält mit dem Fortschreiten der historischen Kunst stätig gleichen Schritt. Je inhaltvoller und kunstreicher das Geschichtswerk sich austieft, um so mehr Studien zur Volkskunde, um so mehr Anregungen zur selbständigen Behandlung dieser Disciplin werden in ihm geborgen sein. Welch unermeßlichen culturgeschichtlichen Stoff zur Wissenschaft vom Volke hat die moderne Geschichtschreibung seit hundert Jahren in ihren besten Werken aufgespeichert, welch reichen Stoff auch die großen antiken Historiker und welch dürftigen die mittelalterlichen Chronisten!

Zunächst aus demselben Grunde, aus welchem sie zwar so naiv, aber auch so arm und trocken schreiben: weil sie ihre Geschichte nicht der Nation erzählten, weil sie kein Publikum vor sich hatten. Wer Mönchsannalen blos für die Genossen seines Klosters und etliche andere Männer von der Kutte und Feder verfaßt, wer die Lebensgeschichte eines Kaisers oder eines Heiligen zunächst für etliche Freunde und Gönner schreibt, der erachtet's natürlich überflüssig, seine Geschichte ethnographisch zu fundamentiren; denn die Kenntniß des eigenen Volkslebens setzt er bei so erwählten Lesern voraus. Herodot, der seine Geschichte dem griechischen Volke vorliest, kommt schon durch den bloßen Gedanken, daß eine Nation ihm zuhört, zum breiten ethnographischen Hintergrunde; denn nichts spricht unmittelbarer zum Herzen des Volkes, als die Kunde vom Volk, nichts belebt dem Unkundigen die geschichtliche Zeichnung anmuthiger, als das ethnographische Kolorit, und durch nichts kann der Historiker so gewaltig die höchste sittliche Weisheit der Geschichte predigen, als indem er das Walten der sittlichen Weltordnung und des freien Menschenwillens in den allgemeinen Geschicken der Völker ebenso wie in den persönlichen ihrer Helden nachweist. Der Geschichtschreiber, welcher wirken will, der zu einem Volke, zu einem Publikum spricht, kann sich auch der Mitarbeit zur Volkskunde nicht entschlagen. Aber der Ethnograph soll auch für sich wieder seine Nation vor Augen haben, und indem er ihr ein Bild des Volkslebens vorhält, soll er sittlich wirken wollen. Denn seine Volkskunde wird höchst äußerlich und unwissenschaftlich sein, wenn sie nicht in die Tiefe der sittlichen Motive und Conflikte der Volksentwickelung niedersteigt, und wer dabei nicht Zorn und nicht Liebe kennt, der ist entweder ein bloßer Handlanger, welcher gelehrte Bausteine im Schubkarren zuführt, oder ein gefährlicher Mann, mit dessen Büchern man keine Freundschaft schließen soll. Die Philologen meinten, die Germania des Tacitus sei eine Sittenpredigt; freilich: eben weil sie eine ächte Volkskunde ist; denn jede ächte Volkskunde ist eine Sittenpredigt. Die ganze Geschichte unserer Wissenschaft zeigt, daß diese ethische Tendenz um so bestimmter hervorbricht, je tiefer und selbständiger sich die Volkskunde entwickelt. So im klassischen Alterthum, so zur Zeit der Renaissance, wo wenigstens der Versuch durch satyrische Karrikaturbilder dem Volksleben negativ seinen Spiegel vorzuhalten, mit dem neuerwachten Eifer einer wissenschaftlichen Erkenntniß des Volkes Hand in Hand geht.

In sinnig treuherziger Weise hat damals Erasmus von Rotterdam bei der Beschreibung seines Vaterlandes Holland die Kraft patriotisch sittlicher Erhebung in der Volkskunde ausgesprochen mit den Worten: » Dies Land ist mir zum Vaterland geworden, und wollte Gott, daß ich ihm so wohl zur Freud' wäre, als es mir ist.« Ein köstliches Motto für Jeden, der in seiner Heimath auch wissenschaftlich zu Hause zu sein trachtet.

Im achtzehnten Jahrhundert ist es endlich, wo Justus Möser den Zusammenhang der Sitte des Volkes mit der Sittlichkeit und damit zugleich eine neue Epoche des Volksstudiums verkündet. Die Schrift sagt: »die Wahrheit wird euch frei machen.« Dieser Spruch soll das Motto der modernen Volkskunde sein, andeutend ihren hohen sittlichen Beruf, der durch die Wahrheit der Selbsterkenntniß des Volkslebens den Weg zur ächten Staatskunst weist.

III.

Man könnte meinen, nichts läge einem jeden Volke von Kindesbeinen an näher als der Begriff seiner eigenen Volkspersönlichkeit, das bewußte Zusammenfassen der Einzelzüge seines Volksthums. In der Wirklichkeit aber ist es ganz anders. Der Begriff des Volkes ist eine Abstraction, die bereits einen ziemlich weiten Gesichtskreis der Bildung voraussetzt. Fragen Sie heute noch den naiven Bauern: er weiß sich unter dem Worte Volk entweder nur eine höchst beschränkte Gruppe desselben oder auch gar nichts zu denken. Der ethnographische Begriff des Volkes, als eines durch Gemeinsamkeit von Stamm, Sprache, Sitte und Siedelung verbundenen natürlichen Gliedes im großen Organismus der Menschheit wird durchaus nur auf entwickelteren Bildungsstufen gewonnen. Man kann sagen, für Millionen von Deutschen ist der einheitliche Begriff des deutschen Volkes noch immer blos ein todtes Wort, das sie auch aus freien Stücken gar nicht in den Mund nehmen; dagegen hat sich allerdings die größere und gebildetere Masse der Nation allmählig zum Verständniß oder wenigstens zu einer Anschauung der Idee des Volkes erhoben. Durch einen großen Theil des Mittelalters war dies aber noch keineswegs der Fall und eben darum schon eine eigentliche Volkskunde unmöglich.

Im Kindesalter führt das Volk, gleich dem Einzelmenschen, ein instinktives Leben, blos das Nächste erkennend; erst allmählig erwacht es zum Bewußtsein seiner umfassenderen Einheit. Dem Nationalitätsbewußtsein geht das individuellere Familien- und Stammesbewußtsein voraus. Die Deutschen haben z. B. erst zur Zeit der sächsischen Kaiser das Bewußtsein ihrer nationalen Gesammtpersönlichkeit gewonnen; das Stammesbewußtsein dagegen lebte in den deutschen Völkerschaften so weit Geschichte und Sage Kunde gibt. Allein man sprach nur von Friesen, Sachsen, Gothen, Franken u. s. f., erst unter Otto I. beginnt man von Deutschen zu sprechen. Vielleicht ist keines der großen europäischen Culturvölker langsamer zu dem Begriff seiner gesammten, einheitlichen Nationalität gekommen als das deutsche, aber gerade weil es uns so sauer wurde, das Wort und die Thatsache des »deutschen Volkes« zu finden, scheinen wir auch vor Andern berufen, unser Volksthum nachgehends um so gründlicher zu erkennen und um so liebevoller zu hegen und zu pflegen. Im Mittelalter zerbröckelte sich das Volksleben in örtliche, privatrechtliche, sociale Interessen. Wie man vor lauter Rechten zu keinem Recht und keiner Rechtswissenschaft kommen konnte, vor lauter übereinander wuchernden staatlichen Bildungen zu keinem Staate und keiner Staatswissenschaft, so auch vor lauter Individualismus im Volksleben zu keiner Volkskunde. Feine gelegentliche Bemerkungen, wie sie Eginhard über die Sachsen gibt, Adam von Bremen über die Scandinavier, Arnold von Lübeck über die Dänen, Bruno, Dietmar von Merseburg, Widukind über verschiedene deutsche Stämme – ich sage, solche feine gelegentliche Bemerkungen zeigen, was selbst die Chronisten des früheren Mittelalters aus dem reichen Schatze unmittelbarer Beobachtung für die Volkskunde hätten leisten können, wenn sie es nur der Mühe werth geachtet hätten. Aber es erging ihnen dabei genau so, wie jetzt dem gemeinen Manne, der nicht begreift, weßhalb man die Zustände seines alltäglichen Daseins durchforscht, weil er weder deren Gegensatz zu andern örtlichen Zuständen kennt, noch ihre Bedeutung für die lebensvolle Gesammtidee der Nation. Diese Studien über oft höchst kindische und widersinnige Sitten und Bräuche, über Haus und Hof, Rock und Kamisol und Küche und Keller sind in der That für sich allein eitler Plunder, sie erhalten erst ihre wissenschaftliche wie ihre poetische Weihe durch ihre Beziehung auf den wunderbaren Organismus einer ganzen Volkspersönlichkeit, und von diesem Begriff der Nation gilt dann allerdings im vollsten Umfange der Satz, daß unter allen Dingen dieser Welt der Mensch des Menschen würdigstes Studium sei.

Je klarer ein Volk sich seiner selbst als Nation bewußt wird, um so höher wird es nicht nur in seiner allgemeinen Gesittung, sondern namentlich auch in aller historischen Erkenntniß steigen. Jedem Volke geht eine neue Welt auf mit dem bewußten Erfassen seiner eigenen Nationalität; es tritt mit dieser Thatsache in ein neues Lebensalter. So hat das Wiedererwachen des im Elende des siebzehnten Jahrhunderts eingeschlummerten deutschen Nationalitätsbewußtseins in der neueren Zeit auch eine ganz neue Epoche der deutschen Litteratur und Wissenschaft, des deutschen politischen und socialen Lebens hervorgerufen. Die Rechtswissenschaft hat sich verjüngt in der Erforschung des Rechtslebens unsers alten Volksthums; die Volkswirthschaftslehre gewann einen neuen Boden und unabsehbare Erweiterung in der Erkenntniß, daß die Gesetze aller Wirtschaft Hand in Hand gehen mit den Naturgesetzen der historischen Volksentwickelung, und auf Grund der Culturgeschichte und der Volkskunde versucht man jetzt neue Systeme der Nationalökonomie aufzubauen. Die Staatswissenschaft erblickt gegenwärtig einen Theil ihrer Wurzeln in der Lehre vom Volk, sie verjüngt sich durch diese Thatsache. Der todte, abstrakte Rechtsstaat wird erst beseelt, indem er sich zum socialen und nationalen Rechtsstaate erweitert. Die Volkskunde selber aber ist gar nicht als Wissenschaft denkbar, so lange sie nicht den Mittelpunkt ihrer zerstreuten Untersuchungen in der Idee der Nation gefunden hat; darum nannte ich sie im Eingange geradezu eine neue Wissenschaft, eine Schöpfung der letzten hundert Jahre, denn seit dieser Zeit hat sie allmählich jenen ersten Mittelpunkt wiedergefunden, und damit zugleich eine Fülle der Ideen und des Stoffes, eine Selbständigkeit und Schöpfungskraft gewonnen, wie sie bei den, allerdings auch schon von der Idee der Nationalität getragenen Ethnographen der antiken Welt nicht entfernt vorhanden war.

So gewaltiger Fortschritt in aller Geistescultur wächst hervor aus der Selberkenntniß des Volksthums. Der einzelne Geist, indem er sein eigenes Denken denkt, erhebt sich zur höchsten, zur philosophischen Bildungsstufe. Die gleiche Bildungshöhe wird aber bei den Völkern bezeichnet durch die Selbsterkenntniß der eigenen Nationalität.

IV.

Weil ein Volk viel leichter die gemeinsame Eigenart einer fremden Nation erkennt und zusammenfaßt als seine eigene, so hat sich ganz naturgemäß auch die Ethnographie vom äußeren Umkreis zum Centrum entwickelt. Weit früher und besser hat man fremde Völker geschildert als das eigene. Ja der gemeine Sprachgebrauch läßt uns heute noch bei dem Worte »Ethnographie« eher an Indianer und Hottentoten denken oder allenfalls an die deutschen Urstämme vor der Völkerwanderung als an unser eigenes Volk in der Gegenwart. Denn selbst die vaterländische Volkskunde hat sich lange Zeit vorwiegend darauf beschränkt, historische Untersuchungen aus fernester Vergangenheit zu geben; sie hat in ihrer modernen wissenschaftlichen Form mit der Sagen- und Stammesgeschichte, mit Cultur- und Rechtsalterthümern begonnen und ist erst sehr allmählig zur unmittelbarsten Gegenwart übergegangen. Diesem mühseligen und weitausholenden Wege verdankt sie aber auch das beste Theil ihrer ächt deutschen Gediegenheit und Gründlichkeit. So holten auch noch die Alten ihre besten ethnographischen Stoffe weit her, Tacitus schrieb keine Italia sondern eine Germania, und Adam von Bremen, den Lappenberg den Herodot des Mittelalters nennt, gewann sich diesen für einen Chronisten seiner Zeit so auszeichnenden Namen, durch seine Schilderung Scandinaviens.

Nicht umsonst lieben es fast alle Ethnographen, verhüllt oder offen, durch Parallelen und Gegensätze zu charakterisiren. Es verräth dieß sowohl den geschichtlichen Entwickelungsgang der Volkskunde, die aus der Ferne und durch die Erkenntniß fremder und vorzeitlicher Gegensätze erst zum Heimischen und Gegenwärtigen hindurchgedrungen ist, wie auch den Gang, welchen jeder Volksforscher persönlich einschlagen muß. Nur wer in der Fremde gewesen ist, vermag die Heimath objectiv zu erfassen und zu schildern; die Volkskunde ist ihrer Natur nach vergleichend, aus der vergleichenden Beobachtung entwickelt sie ihre Gesetze, und der ächte Volksforscher reist, nicht blos um das zu schildern, was draußen ist, sondern vielmehr um die rechte Sehweite für die Zustände seiner Heimath zu gewinnen. Und man kann sagen, diese selben Studienreisen hat auch Jahrhunderte lang unsere Wissenschaft gemacht. Wäre Amerika nicht entdeckt worden, wir wüßten heute gewiß noch nicht halb so gut, wie es mitten in Deutschland aussieht.

Indem nun aber unsere Zeit zur Erforschung auch der nächstliegenden, gegenwärtigen Volkszustände vorgeschritten ist, hat dadurch die Volkskunde in der That eine ganz neue Gestalt angenommen. Sie wird inhaltreicher im Stoff, freier und tiefer in der Entwickelung der Gesetze des Volksorganismus, mächtiger in befruchtender Einwirkung auf andere Wissenschaften und das praktische Leben. Die meisten Beobachtungen, welche an fremden Völkern neu erscheinen, sind bei dem eigenen längst trivial, so daß wir hier gezwungen werden, zu den verborgeneren Motiven und Zuständen hinabzusteigen und nicht nur neue Thatsachen, sondern auch neue Gesetze zu entdecken. Gerade die auf das gegenwärtige Volksleben der eigenen Nation gerichtete Forschung reicht am wenigsten mit abgeleiteten Quellen aus; wer eine solche Volksindividualität blos nach den Materialien darstellen wollte, wie sie ihm die Bibliotheken, Archive und statistischen Bureaux bieten können, der würde höchstens ein klapperndes Skelett zu Stande bringen, kein Bild das Leben athmet. Dazu bedarf es der unmittelbaren Quellen, zu deren Aufsuchung man auf den eigenen Beinen durch's Land gehen muß. Und gerade diese Neuheit eines noch nicht von Hunderten abgeschriebenen sondern zum erstenmal auf's Papier geworfenen Stoffes ist es, die der auf die heimische Gegenwart zielenden Volkskunde ein so jugendliches und frisches Gesicht verleiht. Ich glaube, es gibt wenige Zweige der historischen Wissenschaften, denen es noch so reichlich vergönnt ist, aus unmittelbaren Quellen zu schöpfen, wie die unsrigen. Doch meinen noch immer manche gelehrten Leute, wenn Einer etwa auf einem alten Schweinsleder eine neue Notiz über das Volksleben unserer Urahnen aufspürt, so sei das allerdings Quellenforschung; wenn aber Einer eine gleich wichtige und neue Notiz über das Volksleben unserer Zeitgenossen aus der unmittelbaren Anschauung des Lebens mit nach Hause bringt, so könne man dies doch nie und nimmer Quellenforschung heißen. Genau genommen finde ich aber zwischen Beidem doch eigentlich nichts Unterscheidendes als das Schweinsleder.

V.

Gerade bei der Geschichte der Volkskunde mögen wir recht sonnenklar erkennen, wie sich die Wissenschaft unterscheidet von dem bloßen Forschen und Aufspeichern. Was ist denn Wissenschaft? Sie ist nicht das bloße Wissen von einem Ding, nicht die bloße Kenntniß. Und wenn man die genauesten Kenntnisse, die schwierigsten Forschungen bergehoch aufeinander thürmt, so wird aus diesem babylonischen Thurm doch niemals Wissenschaft. Wissenschaft ist Erkenntniß, die organisch sich aufbauende Summe der Kenntnisse von einem Gegenstand. Nur wer ein Ding bis zum Grunde und aus seinem Grunde kennt, der erkennt es. Erkenntniß ist also ein Begreifen der Dinge nach ihrem Wesen und Gesetz, nach ihrer innern Nothwendigkeit. Die bloße Kenntniß der Thatsachen des Volkslebens gibt niemals eine Wissenschaft vom Volke; es muß die Erkenntniß der Gesetze des Volkslebens hinzukommen und zu einem Organismus geordnet werden. Volksthümlich lehrhaft spricht der Vater zum Sohn: Kenntnisse sind die einzige Last, an der man nicht schwer trägt, darum hebe jede Kenntniß auf, wo du sie am Wege findest. Das ist ganz richtig, und namentlich im Reiche der Volkskunde sind solche Kenntnisse am Wege zu finden wie die Brombeeren. Aber freilich find sie auch nur da, wo die Erkenntniß der historischen, sittlichen und logischen Motive des Volksthums hinzukommt, des Aufhebens werth.

Die Volkskunde als Wissenschaft wird darum nicht blos einen statistisch berichtenden sondern auch einen philosophischen Inhalt haben: indem sie die Zustände des Völkerlebens in ihrer Besonderung schildert, hat sie dieselben zugleich auf ihre allgemeinen Gesetze zurückzuführen. Darum ziehen wir Vieles jetzt zur Volkskunde, was man vor einem Menschenalter noch unter die »Philosophie der Geschichte« rubricirte. In diesem Sinne ist schon Aristoteles in seiner »Politik« ein Vorarbeiter der wissenschaftlichen Volkskunde gewesen, Montesquieu im » esprit des lois,« Herder in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit,« und die gelehrte Zunft witterte bei dem Letzteren ganz richtig die unbequeme Morgenluft des eben damals aufgehenden Tages, indem sie auf Anlaß seiner Berufung zu einer Professur nach Göttingen erklärte, Herder sei ja eigentlich gar kein Gelehrter, sondern blos ein Belletrist. In Summa hat die culturgeschichtliche Vertiefung der ganzen modernen Geschichtschreibung wie die historische Tendenz der neueren Staats- und Rechtswissenschaft unendlich viel dazu beigetragen, der Volkskunde zu einer festen Grundlage innerer Gesetzmäßigkeit zu verhelfen. Aber solche Dienste sind bei allen selbständigen Wissenschaften gegenseitig, und die Volkskunde hat Gelegenheit genug, den Dank, welchen sie der Geschichte und Staatswissenschaft schuldet, abzutragen, indem sie nicht minder befruchtend auf jene zurückwirkt. Die Selbständigkeit einer Wissenschaft besteht nicht in ihrer Isolirung, sondern vielmehr darin, daß sie andere Zweige in eben dem Maße fördert, als sie selbst von jenen gefördert wird.

Werfen wir in diesem Sinne einen Blick auf den Zusammenhang der Volkskunde mit der Staatswissenschaft.

Ohne ein Zurückgehen auf die Naturgesetze des Völkerlebens sind viele der wichtigsten politischen Begriffe gar nicht wissenschaftlich zu begründen, und so wird die Volkskunde geradezu eine Vorhalle zur Staatswissenschaft.

Wie alles Menschliche, so stehen auch die Völker unter der Hand einer ehernen Nothwendigkeit, unter der Hand der göttlichen Vorsehung. Die Urbedingungen des Völkerlebens sind in der Natur gegeben, von Gott geordnet; der Mensch kann sie frei entwickeln aber nicht aufheben. Darum sagen wir – und dies ist ein Satz von ungeheurer politischer Tragweite – die Völker sind geworden, sie haben sich nicht von Anbeginn durch ein freiwilliges Zusammentreten constituirt, sie haben sich nicht selbst geschieden, sondern sie wurden geschieden. Die Völkerscheidung ist eine Nothwendigkeit geworden durch die Gegensätze der Erdzonen und der Bodenbildung. Sie wird eine Notwendigkeit bleiben, so lange die Erde ihre gegenwärtige Natur behält. Tiefsinnig stellt die Sage der mosaischen Urkunde diese Scheidung der Völker als eine unmittelbar von Gott geordnete dar in der Erzählung vom Thurmbau zu Babel. Vor dieser Völkerscheidung werden uns nur gesellschaftliche Entwickelungen der Urmenschen angedeutet: Hanoch baut eine Stadt, Jabal's Nachkommen wohnen in Hütten und züchten Vieh, Thubalkain ist ein Handwerksmeister und Jubal's Söhne sind Künstler; »Tyrannen und Gewaltige« herrschen unter den Geschlechtern, aber erst nach der Völkerscheidung kommen »Könige« über die Völker, und dem Erzvater Abraham wird die erste politische Verheißung. In der als nothwendig gewordenen Ausprägung eigenartiger Volkspersönlichkeiten wurzeln die ersten Keime zur frei gestalteten politischen Entwickelung. So ist der niemals endende Kampf zwischen Freiheit und Nothwendigkeit das oberste Grundgesetz auch im Leben der Nationen, und umkehrend den Spruch Salomonis mag man wohl sagen: »Der Herr gibt den Völkern den Weg an, aber der Völker Geist schaffet, wie er fortgehe!«

Dreifach sind die Völker kraft der göttlichen Weltordnung gebunden. Ihr äußerer nationaler Bestand ist mitbedingt durch den Boden, darauf sie erwachsen. Ihre innere materielle Entwickelung ist geboten, geleitet und begränzt durch Naturgesetze des wirtschaftlichen Lebens, die ewig nothwendig sind, weil sie ruhen auf dem unabänderlich gemeinsamen der Menschennatur; denn die letzten Pfeiler der Nationalökonomie sind nicht mehr zu beweisende Axiome der Mathematik, der Logik und der Psychologie. Aber auch die innere ideelle Gestaltung des Völkerlebens geht auf die unabänderlichen und nothwendigen Grundlagen des Menschengeistes zurück. Aus der Ergänzungsbedürftigkeit des Individuums wächst der Grundbau der Familie, der Gesellschaft, des Staates und der Kirche hervor als eine Thatsache, die wir frei weiterbilden, aber nicht aufheben können. Alle Spezialuntersuchungen über diese Gegenstände und an einer bestimmten Volkspersönlichkeit werden immer wieder auf diese letzten Gesetze der natürlichen Bildung und der natürlichen Freiheit des Volkswillens führen. Die einschneidendsten politischen Parteifragen drehen sich fast alle in letzter Instanz um die Entscheidung über das was frei und was nothwendig ist im Völkerleben. Welch unabsehbare Folgen für die ganze Theorie der Gesellschaft wie des Staates hat z. B. die einzige Untersuchung, ob das persönliche Eigenthum als gegeben mit der Persönlichkeit des Menschen, eine nothwendige Vorbedingung aller Völkerentwickelung sei, oder nur ein freies und wandelbares Resultat gewisser Culturstandpunkte! Der ärgste Despotismus wie die zügelloseste Neuerungssucht gründet jedes verderbliche Ansinnen auf ihre subjektive Auffassung dessen was frei und was nothwendig sei im Volksleben; die Volkskunde dagegen soll objectiv untersuchen, was der unantastbare Urgrund menschlicher Gesittung bei den Völkern, und was unser eigenes freies und wechselndes Gebilde ist, welches sich auf jenen Granitpfeilern aufbaut, und nach welchen historischen Motiven sich auch wieder jedes einzelne Volk individuell bewegt. So wird sie auch hier den Spruch verwirklichen, daß die Wahrheit uns frei machen soll.

Auf Grund der wissenschaftlichen Volkskunde läßt sich ein ganzes System der Staatswissenschaft organisch entwickeln und mit mancherlei neuem Inhalt erfüllen. Denn da der Staat entsteht, indem ein Volk sich selber als organische Gesammtpersönlichkeit faßt, seine inneren und äußeren Verhältnisse auf den Grund eines gemeinsamen Rechtswillens ordnet und solchergestalt die Wohlfahrt des Einzelnen mit der Wohlfahrt des Ganzen in Einklang bringt, – so kann man den Ausgangspunkt für die Erkenntniß des Staates gewiß ebensogut von der Idee des Volkes wie von der Idee des Rechtes nehmen. Bei einer solchen Bearbeitung wird dann nicht nur ein besonders reiches Feld in jenen Vorstudien zu gewinnen sein, welche Volk und Land, Familie und Gesellschaft betreffen, sondern namentlich auch für die Theorie der Staatsformen in ihrem Zusammenhange mit Natur und Geschichte der Völker. Am meisten aber wird der ganze Kreis der Verwaltungswissenschaften Frucht gewinnen aus der Volkskunde. Man behauptet, die Lehre von der inneren Verwaltung eines Staates, als Cultur- und Wirthschaftspolizei, sei überhaupt keine Wissenschaft, denn aus lauter auf die tausend wechselnden Bedürfnisse des Lebens zielenden Beobachtungen, Grundsätzen, Regeln und Verordnungen zusammengesetzt, entbehre sie jedes einheitlichen Mittelpunktes, jeder systematischen Gesetzmäßigkeit und Gliederung. Ich finde aber diesen Mittelpunkt gerade und allein in der Lehre vom Volk und in den Naturgesetzen seiner Entwickelungen. Denn wenn die Culturpolizei lediglich durch die praktischen Bedürfnisse des Volkes bedingt ist, so wird sie sich auch gliedern können und müssen nach den ethnographischen Gesetzen, auf welche diese Bedürfnisse zurückzuführen sind. Darum halte ich es in der That für einen höchst bedeutsamen Beruf der Volkskunde, Systematik in die Anarchie der Polizeiwissenschaft zu bringen, und nicht minder Logik in die polizeiliche Praxis. Der höchste Triumph der inneren Verwaltungskunst würde dann darin bestehen, jeden polizeilichen Akt so sicher der Natur des Volkes anzupassen, daß es auch bei den lästigsten Dingen glaubte, die Polizei habe doch eigentlich nur ihm aus der Seele heraus verfügt und gehandelt.

VI.

Die Aufgabe meines Vortrags zielt einfach dahin, Ihnen zu beweisen, daß die moderne Volkskunde in der That eine Wissenschaft ist, und zwar, gegenüber den fragmentarischen Versuchen der älteren Zeit, eine wesentlich neue Wissenschaft. Ich möchte die Volkskunde bei Ihnen wissenschaftlich legitimiren; man legitimirt bekanntlich aber nur, was neu oder angezweifelt ist. Bei Wissenschaften von gutem altem Adel, wie z. B. bei den vier großen Fakultätswissenschaften, den Inhabern der Reichs-Erbämter unserer Universitäten, wird Niemand mehr eine Stunde Zeit verschwenden mit dem Beweis, daß sie wirklich Wissenschaften seien. Ich habe aber selber die Ehre zu einer fünften Fakultät zu gehören, zur staatswirthschaftlichen, deren Brief und Siegel gleichfalls von sehr neuem Datum. Allein gerade dieser Umstand, daß man es für zeitgemäß hielt, die Gruppe der Verwaltungswissenschaften mit ihren technischen Hülfsfächern für eine selbständige Fakultät zu erklären, ist indirekt eine weitere Legitimation der Volkskunde; denn alle Radien unserer Fakultät laufen zurück in die Erkenntniß der Gesetze des Volkslebens als ihr eigentliches philosophisches Centrum.

Ich zeigte Ihnen, daß die Volkskunde selbständig geworden sei, freigesprochen namentlich von ihrer alten Dienstbarkeit der Geographie und Geschichte: dann, daß sie in ihrer Ausdehnung auf das geistige und sittliche Leben der Völker die tiefsten ethischen Zielpunkte neu gewonnen; daß sie in dem immer heller erwachten Selbstbewußtsein der Nationalitäten selber ein höheres Bewußtsein und die höchste sittliche Weihe ihrer Aufgabe gefunden; weiter: daß sie von dem Studium örtlich und zeitlich fern liegender Volkspersönlichkeiten immer tiefer vorgedrungen sei in das Studium des eigenen, gegenwärtigen Volksthums, daß sie überwunden habe den Standpunkt des bloßen Beobachters und Stoffsammelns, vielmehr dieses nur noch als Mittel erkennt zu ihrem höchsten wissenschaftlichen Problem der Ergründung der Naturgesetze des Volkslebens, und endlich daß, als Folge von alle diesem, ihr befruchtender Einfluß auf verwandte Wissenschaften unendlich gestiegen sei, so daß sie sich mehr und mehr im Stande sieht, den Dank, welchen sie jenen schuldet, mit Zinsen heimzahlen zu können.

Eine besondere Beachtung verdiente dazu auch noch die großartige Erweiterung des Gesammtstoffes zur Volkskunde. Denn während man vordem bloß die äußere Existenz des Volkes beobachtete und sein inneres Leben höchstens nur sofern es sich in charakteristischen Sagen, Sitten und Bräuchen spiegelt, geht die moderne Volkskunde viel tiefer und unterscheidet sich dadurch von allen früheren Versuchen. Das ganze kirchliche, religiöse, künstlerische, wissenschaftliche, politische Leben der Nation erschauen wir aus dem Mittelpunkte der Volkskunde in einem neuen Lichte, dessen Reflex auf das Volksthum selber wieder zurückfällt. Zur wissenschaftlichen Untersuchung einer deutschen Volkskunde gehören jetzt ebensogut kirchengeschichtliche und culturgeschichtliche Vorstudien wie volkswirthschaftliche und statistische. Denn die Nation ist ein Ganzes und auch die untersten Schichten des Volkes tragen ihre Gabe bei zu unsern höchsten geistigen Entwicklungen, wie sie von dorther Gaben die Fülle zurückempfangen.

Fragen Sie, wer denn dies Alles seit hundert Jahren vollbracht habe, so muß ich Sie auf eine ganze Kette der folgenreichsten wissenschaftlichen Thatsachen verweisen: auf die Begründung und Fortbildung einer selbständigen Disciplin der Statistik seit Achenwall, auf die Neugestaltung der Nationalökonomie seit Adam Smith, auf die Pflege einer selbständigen Wissenschaft der Culturgeschichte, wo für uns namentlich Heeren mit seinen Verdiensten um die Verbindung von Geographie, Ethnographie und Geschichte bahnbrechend voransteht; auf die Zusammenführung des Volksstudiums mit der Ethik, wie sie Justus Möser so erfolgreich versuchte; auf die Arbeiten der historischen Schule der Staats- und Rechtsgelehrten; auf die Reform der Geographie, wie sie durch Ritter zum Fundament und unmittelbarsten Vorbild für die Volkskunde angebahnt wurde; endlich und ganz besonders auf die mythologischen, antiquarischen und philologischen Forschungen der sogenannten Germanisten, wo ich statt Vieler nur die Namen der Gebrüder Grimm zu nennen brauche, um Ihnen mit der Erinnerung an ihre Werke unmittelbar zu veranschaulichen, daß wir von einer neuen Wissenschaft der Volkskunde selbst dann reden könnten, wenn wir auch gar nichts weiteres besäßen, als was diese beiden Männer zur Erkenntniß des deutschen Volkes ausgesonnen und ausgearbeitet haben.

Und dennoch nannte ich trotz so reicher Vorarbeit und Mitarbeit unsere Wissenschaft eine nur erst halbvollendete. Der Nachweis warum sie zur Zeit noch ein wahrer Torso ist, würde aber kaum minder umfangreich ausfallen können, als der eben versuchte, daß sie eine Wissenschaft ist und zwar eine neue Wissenschaft.

Ich glaube aber bei einem so trockenen und abstrakten Gegenstand Ihre Geduld schon fast über Gebühr in Anspruch genommen zu haben. Allein die Wissenschaft, der wir dienen, ist unsere geistige Heimath, und jeder rechte Mann hält seine Heimath für die schönste der ganzen Welt und spricht gerne von ihr und meint, es müßten auch Andere gerne davon sprechen hören. Und weil wir die veredelnde, sittigende Kraft eines kräftigen und fröhlichen Heimathsbewußtseins würdigen, hören wir ihm mit Nachsicht zu, mit derselben Nachsicht, welche ich mir von Ihnen erbitten möchte für diesen Vortrag, der Ihnen ja nur darthun wollte, daß, wer seine Heimath in der Volkskunde gefunden zu haben wähnt, doch nicht eigentlich wissenschaftlich heimathlos ist.


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