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Das musikalische Ohr.

1852.

Die norddeutsche Stimmung unterscheidet sich im Allgemeinen von der süddeutschen – ich meine die Orchesterstimmung.

Die Wiener Stimmung ist die höchste in Deutschland. Noch höher aber geht man in Petersburg; der Ton, aus welchem man an der Newa spielt, ist der höchste in ganz Europa. Die Klimax des europäischen Kammertons läßt sich in ihren drei Hauptstufen gegenwärtig nach der Orchesterstimmung folgender drei Hauptstädte darstellen, und zwar vom tiefsten Tone zum höchsten aufsteigend: Paris, Wien, Petersburg. Einen deutschen Kammerton gibt es nicht, wohl aber Dutzende verschiedener deutscher Kammertöne, einen Wiener, Berliner, Dresdener, Frankfurter u., so daß bei solchem Partikularismus selbst jene oben angedeutete Zweitheiligkeit der nord- und süddeutschen Stimmung nur als eine ganz allgemein zu fassende Hypothese erscheint. Dagegen nimmt man ganz unverfänglich Pariser Ton und französischen Ton für gleichbedeutend. Frankreich centralisirt auch hier, und man beruft gegenwärtig ein Tridentinum nach Paris, zur Wiederherstellung der Katholicität in der europäischen Orchesterstimmung. Andererseits hat auch Italien keine einheitliche Stimmung. Schon vor hundert Jahren unterschied man dort, vom tiefem zum höhern aufsteigend: römischen, venezianischen und lombardischen Ton. In Rom dürfte man also ungefähr aus dem Pariser Ton spielen, in Oberitalien aus dem Wiener und Petersburger. Ich schreibe keine politischen Metaphern, sondern trockene musikalische Wahrheit.

Sollte aber diese Varietät der musikalischen Stimmung, die ihre historischen Wurzeln weit hinauf treibt, etwas ganz Willkürliches und Zufälliges sein? Schon der deutsche Sprachgebrauch legt in das Wort »Stimmung« einen bedeutungsvollen Doppelsinn. Die gegebene Basis, auf welcher sich die Akkorde der Musik, andererseits die Akkorde des Gemüthslebens aufbauen, stempelt er mit dem gleichen Namen.

Es ist eine der reizendsten aber auch schwierigsten Aufgaben der Culturgeschichte, die gleichsam persönliche Empfindungsweise, welche jedes Zeitalter besonders kennzeichnet, den Ton, auf welchen dasselbe gestimmt ist, zu belauschen, im Unterschied von der Erkenntniß seiner ausgesprochenen Thaten und Gedanken.

Diese Aufgabe würde unlösbar sein, wenn nicht die Kunstgeschichte einen Schlüssel dazu gäbe. Ich zeigte aber schon im Vorhergehenden bei dem »landschaftlichen Auge,« daß hierbei weit weniger die historische Würdigung der Kunstwerke als solcher in Betracht kommt, wie die Erforschung der besonderen Weise, in welcher ein Geschlecht das Schöne aufgenommen und genossen hat. Und zwar läßt sich dies wieder besser bei der flüssigsten, subjektivsten Gattung des Schönen, bei dem Naturschönen erkennen, als bei dem objektiveren Kunstschönen.

Der Naturschönheit aber steht in der Kunst die musikalische am nächsten, als die hier wiederum subjektivste, in ihrem Ausdruck allgemeinste, in ihren Formen wandelbarste. Die culturgeschichtlich so wichtige Erscheinung, daß jedes Zeitalter mit anderm Auge sieht, mit anderm Ohr hört, läßt sich darum nirgends schärfer beobachten, als bei der jeweiligen Auffassung der Naturschönheit und der Grundformen musikalischer Darstellung. Ich spreche also von diesen Grundformen, nicht von den musikalischen Kunstwerken, denn an dem, was man vergleichungsweise die musikalische Naturschönheit nennen könnte, an den Urformen des hohen oder tiefen Tones, der Klangfarbe, des Zeitmaßes, des Rhythmik ec., erprobt sich am reinsten die unbewußte Umwandlung des musikalischen Ohres im Gegensatz zu der bewußtern Weiterbildung des künstlerischen Geschmacks.

Vergleichen wir die Orchesterstimmung des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. In dem Maße, als die europäische Menschheit leidenschaftlicher, bewegter im öffentlichen und Privatleben wurde, als sich unsere geistige Stimmung erhöhte, hat sich auch unsere Orchesterstimmung höher hinaufgeschraubt, Euler berechnete 1739 die Schwingungen des großen (achtfüßigen) C auf 118 in der Sekunde. Marpurg gibt 1776 für denselben Ton bereits 125 Schwingungen an. Chladni bestimmte dessen Schwingungen im Jahr 1802 schon auf 128, zwanzig Jahre später gar auf 136 bis 138 in der Sekunde. Und inzwischen werden wir immer wieder um ein merkliches höher hinaufgegangen sein!

Man sieht, seit dem Auftreten der Romantiker ist die Stimmung am heftigsten gestiegen: zur Zeit der klassischen Schule blieb sie sich am längsten gleich. Es war letzteres die Periode des maßvollsten Künstlerthums. Jetzt dagegen dürsten wir nach immer grelleren Tönen, immer höherem Gesang. Mögen alle Geigenquinten springen und alle Sängerkehlen vor der Zeit erschlaffen, wir schrauben dennoch die Stimmung von Jahrzehnt zu Jahrzehnt höher hinauf.

Merkwürdig erscheint hier das im Laufe der Zeit gänzlich herumgekehrte Verhältnis; des Kirchentones zum Kammerton. Noch im achtzehnten Jahrhundert stand der Kirchenton weit höher als der Kammerton, und gewiß noch aus einem tieferen Grund, als weil man solchergestalt Zinn an den Orgelpfeifen hätte sparen wollen. Denn die Schilderung des starken Affektes legten die alten Meister in die kirchliche Musik. Dafür brauchten sie den grelleren Ton. Bach dramatisirt in seinen Kirchenconcerten weit greller und charakteristischer, als die gleichzeitigen Meister der italienischen Oper. Die Kammer- und Theatermusik, für welche man die tiefere, mildere, angenehmere Orchesterstimmung wählte, spielte meist nur erst mit dem Schein der Affekte. Als Gluck und Mozart die Tragik aus der Kirche auf die Bühne und in's Concert brachten, mußte naturgemäß auch der Kammerton in die Rolle des Kirchentons eintreten und so ist der erstere in der That allmählig höher geworden als jener.

Damit hängt eine andere Thatsache zusammen. Händels Opern erscheinen uns concertmäßig. Bachs Kirchencantaten in den Arien häufig opernhaft. Viele Nummern dieser Cantaten würden uns heute in der Kirche stören, dagegen dünken sie uns jetzt ausgesuchte geistliche Hausmusik, was sie zu Bachs Zeit gar nicht waren. Wir sind kein kirchlich so heftig erregtes Geschlecht mehr, daß wir Bachs Musik in ihrer ganzen Ausdehnung noch in der Kirche ertragen könnten; dagegen sind wir als Individuen, in der Familie, in der Gesellschaft unendlich viel heftiger erregt, viel höher gestimmt – auch geistlich – als das achtzehnte Jahrhundert: wir wollen Bach im Concert und im Hause. Der fromme und doch auch so gewaltthätige Thomascantor ist ein Hausmusiker geworden durch uns und für uns; für seine Zeit war er es nicht.

Seit hundert Jahren ward der Tonumfang fast aller Instrumente nach der Höhe bedeutend erweitert. Die hohen Lagen, in denen sich jetzt jeder gewöhnliche Geiger bewegen muß, würden damals oft den ersten Virtuosen zu halsbrechend gewesen sein. Die Menschen selber waren noch nicht hoch genug gestimmt, um sich an solch spitzigem Gezwitscher zu ergötzen. Die Flöte des siebzehnten Jahrhunderts stand eine Quart tiefer als die des achtzehnten, in der Terzflöte und dem Piccolo des neunzehnten Jahrhunderts sind wir wieder um eine Terz, ja um eine volle Octav über das achtzehnte Jahrhundert hinaufgestiegen! Unsere Urgroßväter nannten die tiefste Flöte flauto d'amore, die Alt-Hoboe oboe d'amore, eine tiefe Geige viola d'amore, weil ihr Ohr in den tiefen Mitteltönen vorzugsweise den Charakter des Zärtlichen, Lieblichen, Schmachtenden fand. Jetzt können wir kaum mehr eine Liebesmelodie geigen oder blasen, die nicht in der zwei- und dreigestrichenen Octav herumkletterte.

Die mustergültigen italienischen Gesangcomponisten aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts legten die Effekttöne für das eigentlich dramatische Pathos, ebenso die Kraftpassagen der Arienschlüsse besonders gern in die Mittellage. Unser anders gestimmtes Ohr fordert diese Effekttöne der Leidenschaft in der Regel so hoch als möglich. Die Altstimme ist als Solostimme aus den Opern fast ganz verschwunden, in denen sie früher so bedeutsam hervortrat. Die hohe Stimmung unsers ganzen inwendigen Menschen hat uns kein Ohr mehr gelassen für den Alt.

Jedenfalls sind wir hier bei einem Extrem angekommen, dem schon der Bau der menschlichen Stimmwerkzeuge widerspricht. Kaum beim Liede verzeiht man noch einen mäßigen und natürlichen Tonumfang. Zu allen Zeiten hatte man dem Liedercomponisten erlaubt, seine Melodien aus möglichst wenigen Tönen aufzubauen. Während der alte Bach in seinen Arien die Singstimme oft aufs rücksichtsloseste von einer äußersten Grenze zur andern jagt, beschränken sich seine Söhne und Schüler in ihren kleinen deutschen Liedern auf den bescheidensten Umfang. Ähnlich verfuhren die meisten späteren Tonsetzer bis zur Zeit der Romantiker. Da sprengte man auch hier die Fessel. Schubert konnte auf der einen Seite die maßvollsten Lieder setzen, auf der andern die maßlosesten. Es ist manchmal (wie auch bei Beethoven) als empöre sich seine Phantasie dagegen, daß ihr ein Zügel angelegt werde durch die natürliche Grenze der menschlichen Stimme. Allein diese Naturgrenze läßt sich einmal nicht wegschaffen, und wo sie ignorirt wird, geschieht es auf Kosten der Ausführbarkeit. Darum kehrten spätere Romantiker, wie Spohr und Mendelssohn, alsbald wieder zu der bequemen Mittellage als der eigentlichen Stimmlage des Liedes zurück. Über dem Durst nach grellen Klängen hatte man ganz vergessen, daß ein Lied schon um deßwillen bequem zu singen sein muß, weil es immer nur andeutend, niemals in voller dramatischer Ausführung vorgetragen werden darf. Fühlen denn unsere Sänger nicht, die seit Schubert so gerne das Lied zur dramatischen Scene machen, wie lächerlich es wäre, wenn ein Vorleser ein Lied mit voller Stimmgewalt deklamiren wollte, gleich dem Dialog eines Dramas?

In dem unschätzbaren Privilegium des Liedercomponisten, für mäßigen Umfang schreiben zu dürfen, ist diesem fast allein vor allen Tonsetzern noch ein Mittel gegeben, allmählich auch auf die Instrumentalmusik zurückzuwirken, und das Ohr unserer Generation wieder umzustimmen, daß ihm die grellen Töne der extremen Stimmlagen wieder verleidet werden, und der Wohlklang kräftiger, leicht und behaglich angeschlagener Mitteltöne wieder zum allgemeinen Bewußtsein komme. Gegenwärtig ist unsere instrumentale Kunst in diesem Punkt geradezu unter die Zwingherrschaft der Klavierfabrikanten und Blasinstrumentenmacher gekommen. Wenn die Klaviatur des Flügels wieder einmal um etliche Töne länger gemacht wird, dann glauben die Componisten »hinter ihrer Zeit« zurück zu bleiben, wenn sie nicht diese neuen hohen Schrilltöne sofort in ihren nächsten Werken anbringen, und wenn das Blasechor um etliche neue Klappen und Ventile bereichert worden ist, dann müssen flugs die Partituren wachsen nach Maßgabe dieser Klappen und Ventile. Schämt sich die Kunst denn nicht, also unter die Botmäßigkeit des Handwerks gerathen zu sein?

Das Ohr des achtzehnten Jahrhunderts bevorzugte diejenigen menschlichen Stimmen, deren Klangfarbe der Geige, der Oboe oder dem Violoncell am nächsten kam, und hielt solche des lyrischen und dramatischen Ausdrucks besonders fähig. Der Castrat singt, als ob er eine Oboe in der Kehle habe; das ist viel zu herb und glanzlos für unser Ohr. Dieses schätzt jene glänzendere hellere Klangfarbe ungleich höher, welche dem Ton der Flöte, Clarinette oder des Horns entspricht. Die Lieblingsklangfarbe des achtzehnten Jahrhunderts verhält sich zu der des neunzehnten, wie matt angelaufenes Gold zu glänzend polirtem. Die Periode der Romantiker bezeichnet auch hier den Wendepunkt des Geschmacks; Beethoven vollendete die Emancipation jener Blasinstrumente in der Symphonie. Die vollgriffige moderne Behandlung des Klaviers feierte zugleich ihren Sieg. Sie wirkte für den äußeren Tonglanz dieses Instrumentes ebenso günstig, wie sie allmählich das Ohr des Dilettanten und Musikanten verstopfte gegen die Reize einer einfachen aber charaktervollen contrapunktischen Stimmführung. So hat denn der Laie heutzutage gar selten mehr ein Ohr für die Feinheiten des Streichquartetts, während andererseits unsere Urgroßväter beim Anhören unserer Blechharmonie- und Militärmusiken unzweifelhaft davon gelaufen wären. Die älteren Symphonien, weil wesentlich auf die Effekte des Streichchores berechnet, erscheinen uns jetzt wie eingedunkelte Bilder. Aber die Symphonien sind ja unverändert geblieben, nur unser Ohr hat sich verdunkelt für die Auffassung der Klangfarbe des Streichquartetts. Dasselbe Orchestertutti, welches in jenen Werken vor siebzig Jahren überwältigend großartig klang, klingt uns jetzt nur noch einfach kräftig. Wir kommen daher bei solchen Symphonien zu der seltsamen Nothwendigkeit, daß wir zur Aufhellung unsers auf diesem Punkt verdunkelten Ohres die Streichinstrumente bei einfachem Blasechor doppelt besetzen müssen, um dieselbe Wirkung zu erhalten, welche der alte Meister mit einfacher Besetzung erzielt hatte.

Ein höchst wunderliches Ding ist es um die Charakteristik der Tonarten. Zu verschiedenen Zeiten hat man jeder einzelnen Tonart eine ganz andere Ausdrucksfähigkeit, oft die ganz entgegengesetzte Farbe beigelegt. Dem achtzehnten Jahrhundert war G dur noch eine glänzende, einschmeichelnde, üppige Tonart: ja im siebzehnten Jahrhundert nannte Athanasius Kircher diesen Ton geradezu »tonum voluptuosum.« Uns dagegen gilt G dur für eine besonders bescheidene, naive, harmlose, schwach gefärbte, einfache, ja triviale Weise. Aristoteles schreibt der dorischen Tonart, die zunächst unserem D moll entspricht, den Ausdruck der Würde und Stätigkeit zu; ein halbes Jahrtausend später nennt auch noch Athenäus diese Tonart eine männliche, prächtige, majestätische. D moll hatte also für ein antikes Ohr ungefähr denselben Charakter, den für uns C dur hat. Das ist doch in der That ein Sprung a dorio ad phrygium. Was aber für die Alten nicht sprüchwörtlich, sondern buchstäblich ein Sprung a dorio ad phrygium gewesen, nämlich die Gegeneinanderstellung von D moll und E moll, das bildet für uns gar so keinen erstaunlichen Gegensatz mehr. Im siebzehnten Jahrhundert findet Prinz dieselbe dorische Tonart, die dem Aristoteles das Gepräge des Würdigen und Stätigen hatte, als D moll nicht blos »gravitätisch,« sondern auch »munter und freudig, andächtig und temperirt;« Kircher hört Kraft und Energie aus dieser Tonart heraus, Matheson ein »devotes, ruhiges, großes, angenehmes und zufriedenes Wesen,« welches die Andacht und Gemüthsruhe fördern, dabei übrigens auch zu »ergötzlichem« Ausdruck gewandt werden könne. Dagegen findet der moderne Aesthetiker seit Ch. D. Schubarts theoretischem Vorgang und seit dem Gebrauch, den Gluck und Mozart in der dramatischen Praxis von D moll gemacht, das Gepräge weiblicher Schwermuth, düstern Brütens, tiefer Bangigkeit in der nämlichen Weise, die für eine frühere Zeit der tonus primus, die besonders männlich würdige und kraftvolle war! Und damit das Maß voll werde, ist es dem Ohr der musikalischen Romantiker unserer Tage durchaus geläufig geworden, auch teuflisches Wüthen und Rachetoben, dazu allerlei dämonischen Schauer, mitternachtsgrausigen musikalischen Vampyrismus aus D moll herauszuhören, wie ja schon die Königin der Nacht der »Hölle Rache,« die in ihrem Herzen kocht, in D moll Luft macht, und im Freischütz die Hölle in D moll triumphirt. Von C Dur, der jonischen Tonart, sagt Sethus Calvisius im sechzehnten Jahrhundert, sie sei früher gern zu Liebesliedern gebraucht worden und daher in den Geruch einer etwas muthwilligen und schlüpfrigen Weise gekommen: jetzt dagegen klinge dieser Ton als der helle, kriegerische, mit dem man die Mannen zur Schlacht führe. Das siegesfreudige Kriegslied der protestantischen Kirche, »Ein feste Burg ist unser Gott,« steht darum auch im jonischen Tone, Calvisius wird aber selber stutzig über diesen unglaublichen Wandel in der Auffassung der nämlichen Sache und fügt hinzu, man möchte fast argwöhnen, was jetzt jonische Tonart heiße, das sei früher phrygische genannt worden und umgekehrt. Die Namen haben aber in der That nicht gewechselt: das Ohr hat gewechselt. Wenn vor Calvisius C dur die erotische Tonart war, dann galt im siebzehnten Jahrhundert G dur dafür, im achtzehnten dagegen, wo die Liebespoesie vom Lustigen und Tändelnden ins Sentimentale umspringt, hat sich auch das musikalische Ohr entsprechend umgestimmt, und schon vor Werthers und Siegwarts Zeit ist das sehnsüchtige, weich schwermüthige G moll der eigentliche erotische Modeton gewesen, ja Matheson erklärt ihn geradezu für den »allerschönsten Ton,« was für die Nervenstimmung der damaligen Bildungswelt gewiß bezeichnend ist. Wir sind wieder hinausgekommen über diese thränenvolle, weiche Liebesweise und halten A dur für eine besonders dem Liebeslied nahe liegende Tonart, wie ja auch schon Don Juan seine Liebe der Zerline in A dur erklärt.

Seit den Tagen der Romantiker, seit Beethoven, hat sich unser Ohr auch in der Auffassung der Tonarten entschieden vom Einfachen und Natürlichen dem Absonderlicheren zugewendet. In den Tonarten C,G,D,F,B, und Es dur fand das achtzehnte Jahrhundert noch charakteristische Eigenthümlichkeiten, die wir kaum mehr herauszuhören vermögen. Dem überreizten modernen Ohr klingen diese einfachen Tonarten flach, farblos, leer; dafür haben wir uns dann immer tiefer in die entlegeneren Tonarten hineingewühlt, und Klangweisen, die unsere Väter nur bei den seltensten und stärksten Affekten anwandten, sind unsern Componisten bereits zum täglichen Brod geworden.

Aus diesem Chaos der verschiedenen Ohren kann man sich am Ende nur retten, wenn man der Meinung des alten Quanz, des Flötenmeisters Friedrichs des Großen beipflichtet, der nach breitem Für und Wider zu dem Schlusse kommt, im Princip lasse sich über die Charaktere der Tonarten gar nichts feststellen, in der Praxis aber werde der Tonsetzer schon fühlen, daß auch nicht Alles in allen Tönen gleich gut klinge und darum für jeden einzelnen Fall nach künstlerischem Ohr und Instinkt sich besonders zu entscheiden haben. Ich füge nur noch hinzu: auch nach dem Ohr seiner Zeit. Denn indem Quanz die principielle Entscheidung ablehnt, zeigt er schon, daß sein Ohr sich der damaligen italienischen Tonschule gefangen gegeben hat, die nicht sowohl das Charakteristische, als das einfach Schöne aus der Musik herauszuhören strebte, und, unbekümmert um den damals lebhaft geführten Schulstreit über die Tonarten, ihre Melodien so setzte, wie sie dem Organ des Sängers und den Fingern des Begleiters am bequemsten lagen.

In der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts besah man noch ein sehr feines Ohr für langsame Tanzmusik. Die große Mehrzahl der damaligen Tanzweisen war nur mäßig bewegt. Unserm modernen Ohr und Pulsschlag dagegen erscheint langsame Tanzmusik als ein Widerspruch in sich. Was zu jener Zeit als tanzbegeisternde Weise den Leuten in die Füße fuhr, das würde uns jetzt einschläfern. Wir begehren stürmisch aufregende Tanzmusik, unsere Vorfahren zogen die heiter anregende vor. Welch ein ganz anders geartetes, ganz anders geschichtlich, politisch, social bedingtes Geschlecht ist das gewesen, dem die majestätisch stolzirende Sarabanda, die feierlich bewegte Entrée, Loure und Chaconne, die schäferlich zierliche Musette, der maßvoll schwebende Siciliano, der gemessen graziöse Menuet als Tanzrhythmen ins Ohr klangen, im Gegensatz zu einer Generation, die den wirbelnden Walzer, den stürmisch hüpfenden Galopp, den rasenden Cancan tanzt! In der Oper konnte der tragische Held eine Sarabanda tanzen, und sogar aus den Kirchenchorälen hat das Ohr des achtzehnten Jahrhunderts Tanzmusik herausgehört. Matheson machte (1739) aus dem Choral »Wenn wir in höchsten Nöthen sind« einen sehr tanzbaren Menuet, aus »Wie schön leucht't uns der Morgenstern« eine Gavotte; aus »Herr Jesu Christ, du höchstes Gut« eine Sarabande: aus »Werde munter, mein Gemüthe« eine Bourrée und endlich aus »Ich ruf' zu Dir, Herr Jesu Christ« eine Polonaise, indem er die Choralmelodien Note für Note beibehielt und nur im Rhythmischen änderte, ganz wie wir jetzt aus Opernarien Märsche, Walzer und Polkas machen. Welche ungeheure Gegensätze des musikalischen Ohrs binnen eines Jahrhunderts! Es liegt in ihnen nicht blos eine Revolution der künstlerischen Entwicklung gezeichnet, sondern eine noch viel größere der ganzen gesellschaftlichen Sitte.

Bei mehreren musikalischen Schriftstellern aus dem ersten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts findet man die Bemerkung, der Modegeschmack in der Musik sei damals plötzlich umgesprungen; kurz vorher habe man mit den schnellsten Tempis, den bewegtesten Rhythmen und Figuren den größten Effekt gemacht, jetzt sei langsame, gravitätisch einherschreitende Musik an der Tagesordnung. Im siebzehnten Jahrhundert wurde der Zwölfachteltakt vorwiegend zu Tanzstücken, überhaupt im raschen Zeitmaß gebraucht; im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts fühlte man dagegen etwas ganz anderes aus dieser Taktart heraus: sie ward conventionell für das weiche, sehnsüchtige Adagio. Händel zeigt uns in seinen hüpfenden Giga's und in seinen schleichenden schäferlichen Liebesarien beide Auffassungen des Zwölfachteltaktes neben einander. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts verschwindet diese ehemalige Mode-Taktart fast gänzlich. Ueberhaupt vereinfacht sich in der Haydn'schen Periode das rhythmische Gefühl und viele Taktarten kommen ganz außer Curs. Es gibt in diesem Stück keinen größeren Gegensatz als Haydn und Seb. Bach. Haydn generalisirt die Rhythmen, um den möglichst durchschlagenden und allgemein verständlichen Effekt zu erzielen; Bach individualisirt sie zur möglichst subtilsten Wirkung. Haydn und seine Zeit begnügte sich wesentlich mit dem Vierviertel-, Zweiviertel-, Dreiviertel- und Sechsachtel-Takt; er vereinfachte alle denkbaren rhythmischen Formen dergestalt, daß sie sich in einer dieser vier Weisen ausdrücken ließen. Bach gebraucht wenigstens dreimal so viele Taktarten und ist in ihrer Wahl so haarspaltend, daß es sich häufig mehr um eine Spitzfindigkeit in der Bezeichnung, um eine Zunftkoketterie mit den Meistergeheimnissen der Technik handelt, als um einen Unterschied in der Sache. Allein dies quillt bei ihm doch wieder aus einem Gefühl für die zartesten Feinheiten der Rhythmik, wie es seitdem gar nicht wieder da gewesen ist. Das Ohr der ganzen Bach'schen Periode war eben noch weit mehr geschärft für rhythmische Subtilitäten als das unsrige. Um damals im Tanzsaal zu unterscheiden, ob eine Courante aufgespielt wurde oder ein Menuet, ob eine Gavotte oder eine Bourrée, dazu gehörte eine Schärfung des rhythmischen Instinkts, von der wahrlich wenig mehr übrig geblieben ist bei unsern tanzenden jungen Leuten, die oft sich noch besinnen, ob das ein Walzer oder Galopp ist, was ihnen die Musik eben mit dem rhythmischen Dreschflegel in die Ohren paukt.

In den ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts war ein Ohr für die feineren rhythmischen Schattirungen der Tanzmusik fast gar nicht mehr vorhanden, während sich gleichzeitig in der Concertmusik wieder ein größerer rhythmischer Reichthum entfaltete. Niemals hat man sich durch rhythmisch flachere Tanzweisen anregen lassen, als die jener Walzer, Ecossaisen u., welche man z.B. in den zwanziger Jahren tanzte. Das Ohr für die feineren Abstufungen der »Tanzbarkeit« im musikalischen Rhythmus war damals förmlich verdunkelt und eingeschlafen. Jetzt erwacht es zusehends wieder. Unsere Polkas, Mazurkas u., auf die scharfe, originelle Rhythmik nationaler Volkstänze basirt, sind gute Vorboten dafür. Aber ist es nicht ein bedeutsamer Wink für den Culturhistoriker, daß der Sinn für die feinere Tanzrhythmik zu ersterben begann zur Zeit der französischen Revolution und sich in den rauhen Tagen des Napoleonischen Weltsturmes und dem nächstfolgenden Jahrzehnt am gründlichsten erloschen zeigte, während im Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten das Ohr für die Feinheiten der Tanzrhythmik am allgemeinsten und höchsten ausgebildet erscheint? Und mit der wiedererwachten Lust am Rococo schärft sich auch das moderne Ohr wieder zusehends für die Feinheiten der Tanzrhythmen.

Wir sind ganz in demselben Maße rascher im Tempo geworden, wie wir höher hinaufgestiegen sind in der Stimmung. Wir leben noch einmal so schnell wie das achtzehnte Jahrhundert, darum musiciren wir auch noch einmal so schnell. Schon einen Haydn'schen Menuet vermögen unsere meisten Musiker nicht mehr vorzutragen, weil sie kein Ohr und keinen Puls mehr haben für die behaglich gemäßigte Bewegung dieser Tonstücke. Das ruhig gemüthliche Andante, in welchem unsere klassische Zeit so manches ihrer klarsten und reinsten Tonbilder dargestellt, ist ein von den modernen Romantikern geradezu verpöntes Tempo. Comodo, commodamente, bequem, war vor hundert Jahren eine sehr beliebte Bezeichnung der Vortragsweise einzelner Musikstücke. Diese Überschrift ist bei uns ganz außer Curs gekommen, und wir versteigen uns viel häufiger bis zum Furioso, als daß wir beim Comodo sitzen blieben. Auch die alten Meister hatten eine Gattung von Tonstücken mit der Überschrift Furia es war aber mit dem Wüthen so ernstlich nicht gemeint, denn die Furia war ein Tanz. Die Franzosen hielten vor Alters den ganz langsamen Triller für besonders schön, der uns schülerhaft lächerlich klingt, dagegen würde man die bewunderten rapiden Triller unserer besten heutigen Sängerinnen vor 150 Jahren wahrscheinlich Bockstriller genannt haben. Beiläufig bemerkt hatten die Leute vor 200 Jahren auch noch ein Wohlgefallen daran, den Triller mit der Terze statt mit der Secunde zu schlagen, was schon im achtzehnten Jahrhundert nur noch die Dudelsackpfeifer festhielten, während es unserm Ohr vollends Gräuel und Barbarei geworden ist.

Vor hundert Jahren galt es für ein Wagniß, dem Publikum ein Adagio im Concertsaal vorzuführen. Gleichzeitige musikalische Schriftsteller warnen nachdrücklichst vor diesem Experiment. Ein getragenes, schwermüthig ernstes, in stiller Leidenschaft glühendes Tonstück war der behäbig vergnüglichen Gesellschaft jener Tage eben so selbstverständlich langweilig, wie unserm großen Publikum ein Fugensatz. Man suchte heitere Anregung durch die Musik, keine ergreifende Aufregung. Darum bequem langsames Tempo, aber kein Adagio. Wagte man ja in der galanten Schreibart ein Adagio, so mußte der Spieler dasselbe durch allerlei frei hinzugefügten Schmuck von Passagen und Kadenzen, durch improvisirte Triller, Gruppettos, pincements, battements, flattements, doublés ec. erst amüsant und kurzweilig machen. »Im Adagio,« sagt Quanz in Betreff des Vortrags, »muß jede Note gleichsam caressirt werden.« Beim Vortrag unserer heroischen Adagios verlangt man eher, daß jede Note malträtirt werde. Es ist eine gewichtige culturgeschichtliche Thatsache: die erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts hatte noch kein Ohr für das sentimentale weibliche Adagio. Bachs und Handels Adagios sind noch alle männlichen Geschlechts. Und nun, welche merkwürdige Umstimmung des musikalischen Ohres, als in der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts die butterweichen Adagios der Tagescomponisten mit einemmal alle schönen Seelen in sanfter Rührung zerschmelzen ließen! In derselben Zeit, wo die Werther- und Siegwarts-Periode in der Litteratur eingetreten ist, gewinnen die Laien ein Ohr für das Adagio. Wie wenig hat man noch den innigen Verkettungen der musikalischen Entwicklung mit der litterarischen nachgeforscht! Der ganze Siegwart ist ja nichts anderes, als ein zerfließendes Pleyel'sches Adagio in breite Worte übersetzt. Eine unbezahlbare Stelle im Siegwart handelt vom Adagio. Siegwart und sein Schulfreund spielen eines Abends auf der Geige ein Adagio von Schwindl: »Und nun spielten sie so schmelzend, so bebend und so wimmernd, daß ihre Seelen weich wie Wachs wurden. Sie legten ihre Violinen nieder, sahen einander an mit Thränen in den Augen, sagten nichts als: »vortrefflich« – und legten sich zu Bette.« Drastischer ist das plötzlich dem Adagio erschlossene Ohr der Sentimentalitäts-Periode nirgends gezeichnet worden! Es wurde von da an ein förmlicher Unfug mit der Adagioseligkeit getrieben. In der Jean-Paul'schen Zeit schrieb man sich die Sentenz in die Stammbücher: daß ein schlechter Mensch kein Adagio spielen könne, verwandten blühenden Unsinns nicht zu gedenken. Der Moment aber, wo wir ein Ohr für's Adagio gewonnen, bleibt culturgeschichtlich epochemachend.

Daß in der Harmonie Vieles, was für unsere Vorfahren überraschende Gegensätze bildete, uns im Gegentheil wenig überrascht, vielmehr trivial dünkt, ist nicht auffallend. Aber daß dem Ohre eines Zeitalters Harmonienverbindungen völlig falsch und unsinnig klingen, die dem Ohre einer andern Zeit schön und naturgemäß geklungen haben, dies ist doch eine räthselhafte Thatsache. Schon die grellen und unvorbereiteten Dissonanzen, die wir jetzt häufig für sehr wirkungsreich halten, haben vor hundert Jahren für ohrzerreißend gegolten. Mehr noch. Die schauerlichen Quartenfolgen in den Diaphonien des Guido von Arezzo aus dem eilften Jahrhundert widerstreben unserm Ohr so sehr, daß die äußerste Selbstüberwindung geübter Sänger dazu gehört, um solche Harmonienverbindungen überhaupt nur aus der Kehle zu bringen. Und doch müssen sie dem mittelalterlichen Ohr schön und naturgemäß geklungen haben! Sogar Hunde, welche moderne Terzen- und Sextengänge ruhig anhören, fangen jämmerlich zu heulen an, wenn man ihnen die barbarischen Quartengänge der Guidonischen Diaphonien auf der Geige vorspielt! Diese historisch constatirte Umstimmung des musikalischen Ohres ist in der That unbegreiflich. Sie mag uns aber auch ahnen lassen, wie vollends erst mittelalterliche Hunde heulen würden, wenn man ihnen etwa Modulationen aus dem Tannhäuser vorspielen könnte.

Die Concertmusik der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts war in ihrer trivialen Masse eine »Belustigung des Verstandes und Witzes.« Wie man jetzt »Volksmusiklehren« schreibt, so schrieb man damals Anleitungen, »wie ein Galanthomme einen vollkommenen Begriff und Gout von der Musik erlangen könne,« und Matheson sagt, nicht satyrisch, sondern im Ernst: »Sonst forderte man zu einer Composition nur zwei Stücke, nämlich Melodiam et Harmoniam. Man würde aber bei itzigen Zeiten sehr schlecht bestehen, wofern man nicht das dritte Stück, nemlich die Galanterie hinzufügte, welche sich dennoch auf keine Weise erlernen noch in Reguln verfassen läßt, sondern bloß durch einen guten Goût und gesundes Judicium acquiriret wird. Wollte man eine Comparaison haben, und wäre der Leser etwan nicht galant genug, zu begreiffen, was die Galanterie in der Musique bedeute, so könnte ein Kleid dazu nicht undienlich sein, als an welchem das Tuch die so nöthige Harmonie, die Façon, die geziemende Melodie, und dann etwan die Borderie oder Broderie die Galanterien vorstellen möchte.«

Bei einem so schneidermäßigen Kunstgeschmack der damaligen galanten Welt ist es dann um so mehr zu bewundern, wenn ein einsamer großer Geist wie Sebastian Bach seine besten Gedanken und eigensten Formen auch in der Concertmusik zu entfalten wagte. Freilich mußte er darum auch einsam bleiben.

Jene Musik aber »zur Belustigung des Verstandes und Witzes« liebte kurze Stücke, knappen Periodenbau, kleine Takte, häufige Wiederholungen desselben Gedankens. Das Alles erfaßt das verständige Ohr leicht, und ergötzt sich an der Vergleichung der in gleicher oder veränderter Form wiederkehrenden Themen. Wir bringen dagegen fast immer ein träumendes, selten ein verständig vergleichendes Ohr mit zur Musik. Darum ist die moderne Musik viel einflußreicher, aber auch viel gefährlicher als die alte. Die Musikstücke wachsen von Jahr zu Jahr mehr in die Länge, damit man während des Vortrags derselben gehörig austräumen kann. Der Periodenbau ist unendlich verwickelter geworden. Früher genügten vier Takte für eine einfache melodische Phrase, dann sechs, dann acht, jetzt kaum zwölf und sechzehn. Der alte ehrenwerte Schicht nannte den jungen Beethoven, als er die breitere Architektonik des Periodenbaues in dessen Compositionen zuerst kennen lernte, ein musikalisches Schwein. Er hörte den Mann der Zukunft mit dem Ohr seiner vergangenen Zeit, und hatte in so fern ganz recht. Den Leuten aus der frühen Periode des achtzehnten Jahrhunderts würden Beethovens Compositionen jedenfalls unsäglich confus und schwülstig, ja als Produkte eines musikalischen Wahnsinns, dazu von den gröbsten stylistischen und grammatischen Schnitzern wimmelnd erschienen sein, wie sie es ja mitunter auch noch den älteren Zeitgenossen des Meisters waren. Es ist das Aussprechen dieser Thatsache aber nachgerade bedenklich geworden; denn jeder musikalische Esel folgert jetzt, weil seine Arbeiten Niemand gefallen, darum sei auch er ein Beethoven.

Die knappen Gedanken und Phrasen der alten Meister sind unserm träumenden musikalischen Ohr störend, beunruhigend, sie wecken uns auf. Die modernen Musiker vermögen diese allzu kurz gepackte Schreibart äußerst selten mehr eindringlich vorzutragen, weil sie nicht gewohnt sind, in so kurzen Absätzen Forte und Piano und melodischen Ausdruck zu wechseln: sie haben nur noch Ohr und Hand für breit auslaufende Perioden, ellenlange Fortes, Pianos und Crescendos. Die überwiegende Masse der ältern Kammermusik des achtzehnten Jahrhunderts hat für unser Ohr etwas nüchtern Rationalistisches.

Die verstandesmäßige Tonmalerei jener Zeit verhält sich zur modernen Tonmalerei wie die gemalte Allegorie der Zopfzeit zu Kaulbachs symbolischen Gemälden. Joh. Jak. Frohberger, Kaiser Ferdinands III. Hoforganist, hat die Gefahren, welche er bei einer Ueberfahrt über den Rhein ausgestanden, in einer – Allemande dargestellt. Dem Ohre der Zeitgenossen klang diese Darstellung vollkommen verständlich und deutlich. Dietrich Buxtehude schilderte die Natur der Planeten in sieben Klavier-Suiten. Der Hamburger Organist Matthias Weckmann setzte das dreiundsechzigste Kapitel des Jesaias in Musik, und der damals berühmte Judenbekehrer Edzardi gab ihm das Zeugniß: er habe im Baß den Messias so deutlich gemalt, als ob er ihn mit Augen gesehen habe. Für das Verständnis; solcher verstandesmäßig allegorisirender Musik haben wir schlechterdings kein Ohr mehr, ja wir begreifen das Ohr, welches eine vergangene Zeit für dieselbe hatte, so wenig als wir den Wohllaut begreifen können, den das mittelalterliche Ohr in Guido's Quartenharmonien fand, die doch jetzt selbst die Hunde nicht mehr verdauen.

Ich breche ab mit der Vorführung meiner Urkunden über die Umstimmung des musikalischen Ohrs. Wollte man hier ausführen, statt blos anzudeuten, so würde die Skizze zu einem Buche anwachsen.

Es hat gewiß einen wundersamen Reiz, aus vergilbten Notenblättern den Geist vergangener Zeiten heraufzubeschwören, an der Hand des historischen Studiums in heimlichen, traulichen Stunden sein eigenes Ohr umzustimmen, daß es die Accorde, denen längst Heimgegangene Geschlechter gelauscht, im Geiste so wieder vernehme, wie sie jenen geklungen; es hat einen wundersamen Reiz, den geheimsten, instinktiven Stimmungen des Gefühlslebens einer versunkenen Welt, den Naturlauten ihrer Seele, nachzuforschen, die ganz andere gewesen sind, als die unsrigen, die für uns verloren wären, weil Bild und Wort zu fern stehen, wenn sie nicht in der Tondichtung ihren festen Ausdruck gefunden hätten. Es fehlt dem culturgeschichtlichen Charakterbild der letztvergangenen Jahrhunderte jener eigenthümliche seelische Lichtglanz, jener geheimnißvolle kleine leuchtende Punkt, der aus dem Auge eines gutgemalten Portraits dem Beschauer entgegenschimmert, wenn nicht auch solche Dinge wie die Erkenntniß des landschaftlichen Auges und des musikalischen Ohres der Zeit unter die Züge des Charakterbildes aufgenommen sind.


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