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Die Napoleonische Kunstepoche.

1852.

I.

Seit dem 18. Brumaire war die in der revolutionären Verwilderung vergessene Kunst als eine Sache des Anstandes wieder in Erinnerung gekommen. Es gehörte von nun an in Paris nicht mehr zum guten Ton, möglichst schmutzig und abgerissen über die Straße zu gehn, und mit der Freude am saubern Rock kehrte auch die Freude an Kunstwerken zurück. Als die Franzosen später gar kaiserlich wurden und demgemäß abermals um eine Stufe anständiger, und nun ihren Kleiderschnitt erst wieder ganz fein machten, erschloß sich auch erst die volle Pracht der Napoleonischen Kunstblüthe, breit und üppig gleich einer tellergroßen Sonnenblume.

Das ist eine seltsame Kunstepoche, deren Stufengang nach Staatsstreichen sich abmißt, und wo das Gedeihen des Künstlerthums und des Schneiderhandwerks in so verdächtiger Wechselwirkung steht.

Der verkümmerten, herrenlosen deutschen Nation schlug damals wenigstens die Musik und die Dichtkunst Feuer aus dem Geiste, und die bildenden Künste schickten sich eben an, aus dem lange verschütteten Brunnquell der altdeutschen Denkmale neues Leben zu trinken, während eine ähnliche Verjüngung in Frankreich zurückgehalten wurde durch die innere Unwahrheit und den äußeren Zwang des Gesellschafts- und Staatslebens. In der Napoleonischen Kunstepoche war durch des Dictators Spruch dem Zopfstyl, die letzte Galgenfrist erwirkt.

Schon darum weil man die Kunst zunächst als Sache des Anstandes, dann des Prunkes von oben her gefördert hatte, stellte man sich durchaus auf den Standpunkt der ächten Zopfzeit des achtzehnten Jahrhunderts und leitete sie in's neunzehnte hinüber. Die Kunst entartet bei so äußerlichem Beruf und wird unwahr.

Das Zeitalter Ludwigs XIV. war wenigstens neu und französisch national gewesen in den Verkehrtheiten seines Kunststyls; das Napoleonische Künstlerthum war verkehrt, ohne national und neu zu sein. Wir ertragen das conventielle, d.h. eben das gemachte und unwahre Wesen in vielen der energischen französischen Kunstschöpfungen aus jener früheren Periode, weil es so entschieden und unbewußt aus dem Volks-Charakter der Franzosen hervorwuchs und darum doch wieder eine gewisse voltsthümliche Wahrheit erhielt. Diese nationale Energie fehlt der Napoleonischen Kunstperiode, vielleicht gerade weil sie sich im politischen Leben den Franzosen bis zum krankhaften Uebermaße gesteigert hatte. Die Kunstschulen der Kaiserzeit waren förmlich commandirt zur Verherrlichung des nationalen Ruhmes, und dennoch verloren sie mehr und mehr jenes ächt französische Gepräge, welches in der eigentlichen Zopfzeit ganz Europa den Pariser Klassikern tributpflichtig gemacht hatte. Während in der großen Mineraliensammlung der Bergschule zu Paris die Steine abgetheilt waren in französische und in »mineraux des pays conquis,« während bei einem Festspiele am Namenstag der Kaiserin Marie Luise ein Maskenzug, der die Volkstrachten der französischen Nation darstellte, zwischen den Languedokern und Picarden auch »die Deutschen« brachte, verlor die französische Kunstschule die letzten Reste ihrer eroberten Länder, und selbst die Komödie ging bei Kotzebue Lustspiele borgen, was auf französisch » imité de l'allemand« hieß. Die Pariser Tanzmeister, sonst die Herren der Welt klagten in der Kaiserzeit, daß durch die vielen Fremden, namentlich durch die Deutschen, die Zierlichkeit des französischen Contretanzes verdorben, und die Barbarei des schottischen Tanzes, des schnellen Walzers und Hopswalzers der reinen französischen Tanzkunst aufgedrungen werde. Das war ein bedenkliches Symptom. Auch der Hof Ludwigs XIV. hatte Schaaren vornehmer Fremden nach Paris gezogen, aber sie hatten dort nicht den Tanz verdorben, sondern umgekehrt nach der französischen Pfeife erst recht tanzen gelernt. In derselben Zeit, da der große Korse halb Europa eroberte, vollendete sich in Deutschland die Befreiung unserer Kunst und Litteratur von der französischen; trotz aller fremden Heerführer und Proconsuln, die damals in unserm Vaterlande hausten, ein bedenkliches Zeichen für den Staatsmann mit scharfem, prophetischem Blick.

In den Tagen jenes Ludwig, wie Napoleons, wollte man das römische Alterthum in der modernen Welt wiederholen. Allein das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert hatte doch wenigstens den Muth der Kunstbarbarei, die antiken Gestalten ganz nach seinem Geschmack zu travestiren. Dadurch kam Wahrheit in die Lüge, wie ja überhaupt die ästhetische Unwahrheit der ächten alten Zopfzeit zugleich ganz naiv sich selbst betrog und darum vergleichbar ist jenen Renommirlügen, die ein Erzähler den Andern so lange auftischt, bis auch er zuletzt daran glaubt und sich selber mit belügt. Ich meine, wenn die alte Zopfzeit ihre römischen Helden und Heldinnen mit Perrücken und Reifröcken bekleidete, so gehörte Naivetät dazu und Courage, ein übermüthiges Selbstbewußtsein und die helle Freude am eigenen Rock. Als dagegen nach dem 18. Brumaire die Kunst wieder Anstandssache geworden war, schämten sich die Französinnen ihres eigenen Rocks und warfen der griechischen Schönheit zu liebe ein Ding wie eine Tunica um, ja vornehme Damen gingen mit bloßen Füßen und Sandalen auf die Straße, steckten aber zum Uebermaß des Widerspruchs kostbare Ringe an die Zehen.

Rubens hatte kraft eigener Machtvollkommenheit das antike Ideal der schönen Menschengestalt breit und rund gemacht, weil die derben Flamänder, unter denen er lebte, auch breit und rund waren; Bildhauer der Napoleonischen Zeit dagegen vermeinten die Statue des Kaisers griechisch stylisiren zu müssen, indem sie dem gedrungenen kleinen Mann möglichst lange Beine gaben, als wäre seine Hauptstärke das Laufen gewesen.

Man hatte über Nacht eine große Geschichte, große Männer erhalten, aber das Dogma des Geschmackes paßte nicht für die Realität dieser Geschichte. Als es galt, dem General Desaix ein ehernes Standbild auf öffentlichem Markte zu errichten, stellte der Künstler den Mann, der eben noch unter seinen Mitbürgern gewandelt war, den Augen derselben pudelnackt dar, den antiken Mantel statt über den Körper über den Arm geworfen. Dies geschah zu einer Zeit, wo die Kunst um des Anstandes und des Ruhmes willen wieder hervorgezogen wurde! Nachdem sich die Pariser Straßenwelt hinreichend an dem nackten General scandalisirt hatte, zerbrachen sich die Techniker den Kopf darüber, ob man dem Erzbild nicht nachträglich einen Rock anthun könne. Wo solchergestalt der einfachste ästhetische Takt abhanden gekommen ist, da muh das ganze sociale Leben seiner Natürlichkeit beraubt sein.

Weil die Religion gleich der Kunst unter dem Kaiserthum als eine Sache des Anstandes wieder in Gnade gekommen, so ward einem Bildhauer die Aufgabe gestellt, die Wieder-Anerkennuug Gottes in Frankreich durch eine Gruppe im Schiffe der Abtei St. Denys zu verewigen. Der Künstler entwarf folgende wahrhaft klassische Skizze zu diesem Denkmal: Frankreich in der Gestalt einer kolossalen Minerva, mit Helm und Aegide gewaffnet, hilft der Religion, einer viel kleineren, mit Kreuz und Bibel gerüsteten Figur auf die Beine, während Minerva zugleich mit dem Fuß der Schlange der Irreligiosität den Kopf zertritt. Und diese Minerva, welche das Christenthum wieder aufrichtet, fand Beifall; nur befürchtete man, es möchten die gothischen Hallen der mittelalterlichen Klosterkirche – etwas zu dunkel sein für die Aufstellung der schönen modernen Gruppe! Mit ganz gleichem Takte ließ man bei der Illumination zur Feier der Vermählung Napoleons mit Marie Luise den Altar und die Embleme Hymens auf den ehrwürdigen gothischen Thülmen von Notre-Dame in Brillantfeuer erglänzen. Eine Wiederaufnahme des religiösen Glaubens aus politischen Rücksichten ist eben genau derselbe Trug und Schein, wie die Pflege der Kunst um des Anstandes und Ruhmes willen, und der ästhetische Lug des Zopfes in der Kunst ist nur das äußere Symptom, welches nothwendig aus solch innerer Unwahrheit hervor wächst.

Der glänzende Aufschwung, den die französische Malerei in der Gegenwart gewonnen, schreibt sich nicht aus der Epoche der ersten Revolution, und nur zum Theil aus der Kaiserzeit, entschiedener dagegen aus den politisch so viel weniger glorreichen, aber das sociale Leben doch wohl freier und natürlicher entwickelnden Tagen der Restauration und der Juliusmonarchie. Die gesellschaftlichen Zustände wirken überhaupt weit tiefer auf die Kunst zurück als die politischen. Gewöhnlich wirft man beide zusammen und kommt dadurch zu kunstgeschichtlich und culturgeschichtlich gleich falschen Resultaten. Napoleon hatte die Macht des Staates wieder aufgerichtet, aber die durch die Revolution vollständig zertrümmerten Gesellschaftszustände konnten erst nach Menschenaltern wieder zu einem neuen Organismus erwachsen. Ein fröhliches Aufblühen der Kunst setzt aber vor allen Dingen Wahrheit, Ruhe und Behagen des socialen Lebens voraus. Schon deßhalb hatte die Napoleonische Kunstepoche nur eine negative Bedeutung gleich der Napoleonischen Gesellschaft. Das angebliche Wiederaufleben des antiken Styles in der damaligen französischen Kunstschule ist genau vergleichbar der gleichzeitigen Wiederherstellung der alten Aristokratie in dem neuen kaiserlichen Hofadel. Auch dieses Fragment der Gesellschaft war wie die Kunst, wie die Religion anstands- und sicherheitshalber restaurirt worden. Aber man hatte wesentlich nur den Zopf der Aristokratie beibehalten, das übrige hatte man weggelassen. Das alte Turnierbuch war zum kaiserlichen Wappenbuch geworden; die Wappenschilde zeigten noch ihren alten Schmuck, wenn auch die Sammet-Toque mit dem Reiherbusch den Helm verdrängt hatte; aber die Wappen selber hatten einen ganz neuen Sinn erhalten: sie symbolisirten in erster Reihe die Staatswürde und erst in zweiter die Würde des Geschlechts. Wir stoßen da in der wunderlichen neuen Gliederung des Reichsadels auf Militär-Grafen und Senatoren-Grafen, auf Staatsraths-Barone und Militär-Barone mit den buntesten, je nach diesen Staatswürden sich gruppirenden Wappenschilden, von denen das des Senatoren-Grafen Sieyes wenigstens zu den »sprechenden« zählt, indem sich derselbe einen goldenen Boreaskopf in blauem Feld wählte, der silbernen Wind ausbläst. Neue Thaten und neue Männer wollte man durch das Anheften alter Formen und Würden auf den Kothurn eines conventionellen historischen Styles erheben, ganz wie in der Kunst, wo dann aber auch ein solches Verfahren gerade als eines der schärfsten Kennzeichen des Zopfes angesehen wird.

Bei jedem Schritt stoßen wir auf ähnliche Widersprüche. Napoleon wollte eine Reihe historischer Denkmale zwischen dem Louvre und der St. Antonsstraße niederreißen lassen, um im Interesse des guten Geschmacks auf ihren Trümmern eine neue geradlinige »Kaiserstraße« aufzuführen. Im Dienste der Kunst zerstörte man die Kunstdenkmale, dazu die Denkmale der Geschichte, während man beklagte, daß man keine Geschichte habe, und begann den Aufbau der historischen Gesellschaft damit, daß man ihre Ueberlieferungen auf den Kopf stellte. Die Idee, Geschichte machen zu wollen, ist überhaupt eine speciell Napoleonische. Gerade so, wie man etwa nach der Schlacht bei Jena oder nach dem Wiener Frieden in Paris sprach, hat dann auch vor etlichen Jahren Herr von Persigny gesprochen, indem er mit dem Wiederaufleben des Napoleonischen Staates und der Napoleonischen Gesellschaft »eine ganz neue, nie erlebte Kunstepoche« verhieß. Dergleichen Dinge kommen aber fast immer nur unverheißen, und es geht mit solchen Prophezeiungen der Zukunftskunst gemeiniglich wie mit den Wetterprophezeiungen: man braucht nur für den nächsten Tag Sonnenschein zu verkünden, so stellt sich ganz gewiß ein Landregen ein.

In der alten Napoleonischen Zeit sollte eine neue officielle Kunstblüthe aufsprossen aus dem Boden einer Gesellschaft, die officiell doch eigentlich nur aus Generalen und Soldaten, aus Beamten und Unterthanen bestand. Es ist aber in der modernen Welt niemals eine wirkliche Blüthe der Kunst dagewesen, ohne die Voraussetzung eines selbständigen, machtbewußten oder mindestens in kräftiger Originalität abgeschlossenen Bürgerthums. Sowie die natürlichen Gruppen der Gesellschaft verschoben werden, sowie das Bürgerthum aus dem Centrum derselben gerückt wird, tritt allemal diese Unwahrheit wie ein Krankheitsstoff auch in den Blutumlauf des Kunstlebens. Der bekannte Witz der französischen Soldaten in Aegypten: »Man nehme die Esel und die Gelehrten in die Mitte,« ist ein bitter wahres Epigramm auf die gesellschaftlichen Zustände jener Tage. Es kann keine wahre Kunst geben, wo die Soldaten vorn und die Soldaten hinten und neben den Gelehrten nur noch die Esel in der Mitte stehen.

Mustert man freilich die französischen Zeitungen und Flugschriften, von denen mir aus den Jahren 1806 bis 1812 ein stattlicher Haufe vorliegt, so scheint es, schier eine Perikleische Kunstepoche sei damals über Paris aufgegangen. Wenigstens wenn die Fülle der Kunst der Fülle der Kunstschwätzerei entspräche. Namentlich wird mit den bildenden Künsten äußerst wichtig gethan, und man möchte fast glauben, in den Gemälden eines David, Gros, Lefevre, Gerard, Guerin, Girodet, Thevenin, Lethiers, Regnault sei der Genius Rafaels und Tizians wiedergekommen. Die Kunstkritiker und Theaterrecensenten konnten das Zeitungspublikum in die Tasche stecken, indeß Frankreich und das übrige Europa zu einander standen wie zwei Ringer, die sich kämpfend am Rande eines Abgrundes hinwälzen. So sind in der russischen Journalistik die litterarischen und artistischen Tagesrecensenten die einflußreichsten Leute; in Oestreich waren sie es unter Metternichs Regiment. Sie stehen allemal auf, wenn die politische Presse schlafen gegangen ist. Wird aber dann die ästhetische Debatte überlaut, weil die politische schweigen muß, so ist der Nachtheil für die gesunde ästhetische Entwickelung des Volkes noch größer als für die politische. Denn jener Dilettantismus der allgemeinen Kunstschwätzerei, womit man das politische Gewissen eines Volkes einschläfern will, ist immer unwahr und ungesund, weil er aus einer gewaltsamen Verschiebung des Schwerpunktes unsers gesammten öffentlichen Lebens hervorgeht, und wird auch rasch seinen übeln Einfluß auf das künstlerische Schaffen selber zeigen. Der Versuch, die Kunst willkürlich abzulösen von der übrigen Geistesentwicklung der Nation gehört, zu den eigensten Verkehrtheiten der Zopfzeit, und wo man ihn später wiederholt hat, da gewann auch die Kunst sofort ein unverkennbar zopfiges Gepräge.

Es ist natürlich, daß man in der Napoleonischen Aera, da ein Welttheil zu klein erschien, um noch für zwei Herrscher Raum zu bieten, auch in der Kunstbegeisterung und dem Kunsturtheil mit dem großen Löffel schöpfte, und ganz entsprechend der späteren Politik des Kaisers, die äußere Größe für die innere nahm. Bei den Bildern aus der damaligen Pariser Malerschule war diese Größe ein förmliches Dogma geworden; ich meine die Größe der Leinwand. Von Regnault schrieb eine geistvolle Beobachterin, sie glaube, daß die ganze alte italienische Schule vereint nicht so viel ungebrochenes Roth und Azurblau verbraucht habe, als der gute Mann zu einer einzigen Venus.

Neben dieser leeren, zopfigen Ellengröße der idealen Compositionen zeigt sich aber auch die erfreuliche Thatsache, daß die Genremalerei damals auf innerlich größere Gestaltung drang und sich in der Darstellung der Kaiserschlachten und ähnlicher zeitgeschichtlicher Scenen zum historischen Genrestyl erweiterte. Hier stand man auf dem Boden der Wahrheit, hier sprach das durch den Soldatenruhm Bonaparte's und seiner Heere vollberechtigte kriegerische Selbstbewußtsein der Nation aus den ächten und lebendigen Gruppen des Künstlers. Darum hatte man auch auf diesem Punkte den lügnerischen Manierismus des Zopfes aufgegeben und wußte selbst nicht wie. In der sinnigen Natürlichkeit der kleinen Kabinetsbilder hatte die alte Rococozeit ihr Frischestes und Wahrstes geleistet: so haben auch jene späteren französischen Maler in der kecken Natürlichkeit zeitgeschichtlicher Genrebilder gleichfalls wahr und lebensvoll sich ausgesprochen. Die niedlichen Blumen- und Frühstücksbildchen waren zur breiten Darstellung von Völkerschlachten geworden, und doch war es dieselbe genrehaft naturalistische Behandlungsweise, welche beide gemeinsam emporhebt, wie bei der idealen Stylisirung der großen antik heroischen und mythologischen Stoffe die gleiche innere und äußere Hohlheit aus dem Zeitalter Ludwigs XIV. in die Napoleonische Kunstepoche herüberragt. An Bilder wie David's »Uebergang Bonaparte's über den St. Bernhard,« wie Gerard's »Schlacht bei Austerlitz,« wie Gros' »Pest von Jaffa« u. s. w. knüpft sich die selbständige, durch ihre derbe Naturkraft und ihr übergewaltiges Pathos in unser gegenwärtiges Kunstleben so tief einschneidende Fortbildung, in welcher die französische Schule erst wieder recht national geworden und siegreich aus dem Zopf zur modernen Zeit vorgedrungen ist. Und doch wollte sich die Kritik der Kaiserzeit oft nur schwer versöhnen mit dieser zukunftreichen und volksthümlichen Porträtmalerei der Zeitgeschichte, und mahnte wiederholt, daß es gerathener sei, die Thaten des Kaisers allegorisch darzustellen! Darin zeigt sich eben wieder die Epoche als die Galgenfrist des Zopfes.

Die begünstigten Künstler jener seltsamen Zeit, die so fleißig in's Große arbeiteten, ließen sich übrigens auch in's Große bezahlen. Selbst an die baare Mittelmäßigkeit wurden damals oft ungeheure Summen verschwendet. Wo so übermäßig von der Kunst geredet wird, zahlt man auch übermäßig dafür. Der Pariser Sänger Lainez bekam (1810) für eine einzige Benefizvorstellung 30,000 Livres. In Wien bezahlte man ein Jahr später einem Pariser Tänzer jede einzelne Rolle mit 1000 Gulden. Das erinnert an das Jahr 1847, wo Jenny Lind in jeder Rolle 1000 Gulden galt, und das Pfund Schwarzbrot 8 Kreuzer. Auf 1847 aber folgte 1848 und auf 1811 1812. Kaum ein Jahr nach der Schlacht von Aspern ward von dem Pächter der Theater zu Pesth und Ofen schon wieder ein jährlicher Pachtschilling von 15,000 Gulden gefordert. Ungefähr zur selben Zeit, wo unser trefflicher Carstens materiell und geistig verkümmerte, weil er bei dem vornehmen Kunstpöbel nicht Verständnis und Anerkennung seines ernsten Strebens fand, hatte David als bloßen Eintrittspreis für die Beschauung seines brillanten »Raubes der Sabinerinnen« 60,000 Livres eingenommen, und während man seinen Nachahmern die großen geistlosen Bilder ihrer ganzen Fläche nach mit Goldstücken bedeckte, mußte der reformatorisch strenge Wächter Taschenbuchkupfer für's tägliche Brod zeichnen. Wo aber die technische Virtuosität so über Maßen belohnt wird, da ist meist ein noch tieferer Verfall der Kunst und der Gesellschaft angezeigt, als wo die Kunst in Vergessenheit um ihre Existenz ringen muß.

Bei einseitig übermäßigem Künstlersold trifft überhaupt ein nationalökonomisches Bedenken mit dem ästhetischen zusammen, um uns einen wunden Fleck im öffentlichen Leben zu verrathen. Unter despotischen Regierungen, welche ganzen Zweigen der Wissenschaft und Litteratur die Adern polizeilich unterbinden, wird das Angebot der Geistesprodukte unnatürlich beschränkt, die Nachfrage aber in demselben Grade unnatürlich gesteigert. Denn Tausende, die in freien Staaten in der Theilnahme an den politischen und socialen Interessen ihren Geist erfrischen und in Spannung halten, machen, wo ihnen diese Bewegung in frischer Luft versagt ist, zu gleichem Zweck eine Stubenpromenade zu den Virtuosen und Gauklern der Kunst und Litteratur. Der Prohibitivzoll, welcher auf der freien Wissenschaft und auf der strengen, ernsten Kunst liegt, wirkt als Monopol für die äußerliche, belustigende Kunsttechnik. Bei verminderter Concurrenz und vermehrter Nachfrage steigen dann die Virtuosen unglaublich im Preise, und das natürliche Verhältniß des letzteren zum inneren Werthe der Leistungen wird in's Abenteuerliche verrückt.

Eine andere Art von Monopolisirung und folglich Ueberwerthung der Kunst zeigte sich während der Napoleonischen Epoche in England. Bei den Britten nämlich herrschte damals ganz dieselbe Prahlerei mit den Leistungen der nationalen Malerschule wie in Frankreich, aus social grundverschiedenen, doch nationalökonomisch ganz ähnlichen Gründen der ausgeschlossenen Concurrenz. Während zur Zeit der Continentalsperre das Festland sich bemühte, vaterländische gebrannte Gelberüben für ebenso gut wie Kaffee und getrocknete Erdbeerblätter wie Thee zu erklären, meinten die Engländer, dann sei ihr vaterländischer Reynolds auch so gut wie Rafael, und Barry und Fueßli so gut wie Michel Angelo, und wenn man Leute wie Hoppner, Shee, Beechy, Philipps und Owen habe, dann könne man auch alle alten Venetianer des Continents füglich entbehren.

Wie man durch das Monopol die ächte Kunst nicht fördern konnte, so auch nicht durch treffliche positive Anregungen, die bei einem gesunden Volks- und Staatsleben gewiß epochemachend gewirkt hätten. Die unvergleichlichen Kunstsammlungen, welche Napoleon aus aller Herren Ländern nach Paris geschleppt hatte, übten nicht den entsprechenden Einfluß auf das künstlerische Schaffen. Auch dieses riesige Sammeln war ja nicht durch eine innere Nothwendigkeit geboten, sondern, wie auch bei vielen Privatgallerien der Napoleonischen Großen, zunächst eine Sache des Ruhmes, des guten Tones und der Politik. Die köstlichsten historischen Studienbilder waren zu Tausenden aufgestellt, aber die rechten Studenten fehlten. Ohne Vergleich größeren Nutzen als die Kunst zog die Gelehrsamkeit aus Napoleons Sammlungen. Was Denon und D'Agincourt geleistet, ist für die Neubelebung des ächten Kunststudiums gewiß höher anzuschlagen als die gesammte Thätigkeit der Napoleonischen Malerschule. Und doch wagte selbst D'Agincourt, dieser Johannes in der Wüste, seine Kunststudien über das Mittelalter (vom 4. bis 15. Jahrhundert) nicht anders zu betiteln als: Recherches et études sur 12 siècles de ténèbres et de barbarie. In diesen »zwölf Jahrhunderten der Finsterniß und der Barbarei« steckt eben immer noch der ganze lange Zopf der Kunstanschauung des achtzehnten Jahrhunderts, dem das Napoleonische Regiment die letzte Galgenfrist vergönnt hatte. Ich sage die Galgenfrist, denn dem Zopfe, der auf dem Titel des Werkes von D'Agincourt steht, ist durch den Inhalt des Buches selber bereits der Stab gebrochen.

Zu den Vorzeichen modernen Kunstlebens, die in der Napoleonischen Zeit aus dem gekräuselten Wolkenhimmel der Zopfideale aufdämmern, gehören auch die Kunstausstellungen, welche von da an immer breitere Wurzel fassen, und nicht blos in Paris. So veranstalteten selbst die Engländer schon 1810 die ersten Ausstellungen außerhalb London, nämlich in Edinburg, Leeds und Liverpool, wobei die Absperrung des Continents gewiß nicht ohne Einfluß war. Und sogar die Koketterie und Prahlerei, welche man in Paris mit den Sammlungen ohne Gleichen und mit der »neuen Kunstepoche« trieb, hatte doch auch einen tieferen Sinn. Die Kunstpflege war eine Ehrensache der ganzen Nation geworden; während sie im achtzehnten Jahrhundert höchstens eine Ehrensache der Großen gewesen war; man appellirte in Kunstsachen an die Volksstimme, weil man in politischen nicht an dieselbe appelliren wollte. Napoleon hat die Kunst mehr als einer seiner Vorgänger vor die Oeffentlichkeit gebracht. Waren auch die Motive nicht die ächten, so blieb doch die Thatsache und verhieß Frucht für eine spätere Zeit. Das Unternehmen des » Musée Français«, eines riesigen Kupferstichwerkes, in welchem alle Bilder des Napoleonischen Museums wiedergegeben werden sollten, ist ein leuchtendes Zeugniß, wie gewaltig der Geist der Zeit zur Popularisirung der Kunst drängte. Das Werk nahm einen wunderbar raschen Fortgang unter der Begünstigung des Kaisers; 80 Kupferstecher aus allen Ländern wirkten fortdauernd für dasselbe, und es ward bei den vier ersten Bänden allein eine Kapitalauslage von 1,700,000 Franken nicht zu hoch befunden, um auf dem Gebiete der Kunst einer Erweckung des Volksbewußtseins den Weg zu bahnen, die auf das Gebiet des socialen und politischen Lebens überspringend, das Regiment des Kunstprotektors selber zertrümmern mußte. Man hat Napoleon mit Cromwell verglichen. In diesem Punkte wenigstens könnte man von ihm sagen, was man von dem englischen Dictator gesagt hat: daß er – unbewußt und wider Willen – der »Zuchtmeister zur Freiheit« gewesen sei.

Die von Napoleon gestifteten zehnjährigen Preise für die Meisterwerke in Kunst und Wissenschaft ruhten mit der gelehrten Jury des Nationalinstituts, mit all den Formen der öffentlichen Verkündigung und Vertheilung der Preise auf einem in der Revolutionszeit geweckten Gedanken, der sich in die Kaiserzeit herübergestohlen hatte. Höchst merkwürdig ist aber die Eintheilung der Preise bei der bildenden Kunst: denn sie zeigt uns den Zwiespalt, der zwischen der alten conventionellen Richtung und der neuen nationalen Tendenzmalerei hervorzubrechen begann, in naivster Offenherzigkeit. So stand ein Preis aus »für das beste historische Gemälde,« und ein zweiter »für die beste Darstellung eines den französischen Ruhm betreffenden Gegenstandes.« Das eine schließt aber das andere nicht aus, und man begreift nicht, warum gerade der »französische Ruhm« kein Object der Historienmalerei sein und eine aparte Kunstgattung für sich beanspruchen soll. Ebenso war ein Preis für die beste Bildhauerarbeit »im größeren Style« ausgesetzt und ein anderer für das beste plastische Werk, »welches sich auf die glorreichen Thaten der französischen Geschichte bezieht.« Hier traf sich's bei der Preisvertheilung von 1810, daß derselbe Gegenstand in beiden Rubriken erwähnt wurde, nämlich ein Standbild Napoleons. Von den gemeißelten glorreichen Thaten der französischen Geschichte aber erhielt ein Basrelief von Lemont den Preis, welches – den Ausbau des Louvre allegorisch darstellte! Daß ein solcher Stoff binnen zehn Jahren die Anregung zum besten Sculpturwerke gegeben, dies zeichnet recht klar die Dürftigkeit der damaligen plastischen Kunst.

Ein Jahr des größten Napoleonischen Glanzes, »Anno elf,« ist sprüchwörtlich geworden im deutschen Volksmund. Was dem gemeinen Mann als ein altfränkisches, zopfiges Ding erscheint, von dem sagt er, es sei »von Anno elf.« Dies wollen wir festhalten. Und wenn uns jetzt die alten Napoleonischen Kunstherrlichkeiten wieder angepriesen werden, dann soll man vorerst nachsehen, ob sie nicht in jenem Doppelsinne von Anno elf stammen.

Der nationale Ruhm ist ein hohes Ding, und doch wird die Kunst zur Buhldirne erniedrigt, wo man sie blos um des nationalen Ruhmes willen betreibt. Die ächte Kunst kann nur aus einem Grunde geübt werden, nämlich aus der reinen Freude und dem vollen Genügen an der geisterfüllten schönen Form, aus dem lauteren Triebe, die Harmonie und Herrlichkeit von Gottes schöner Weltordnung auch in dem kleinen, in sich beschlossenen Gebilde der Menschenhand widerzuspiegeln. Vor Alters sagte man darum, die wahre Kunst schaffe um Gotteswillen. So setzte Sebastian Bach drei mystische Buchstaben, gleich als sein Wappen und Künstlerzeichen, über die Handschrift seiner Partituren: S.D.G. – Soli Deo Gloria. Und dieser Mann, der absichtslos und unbefangen wie kaum ein anderer um des seligen Genügens an der gottinnigen Schönheit, um Gotteswillen schuf, und nicht an die Arbeit gehen wollte, ohne sich erst diese Signatur seines Künstlerthums auf's Papier gesetzt zu haben, trug selbst zwar noch eine Perrücke, seine Werke aber tragen keine.

II.

Man pflegt die französische Malerschule der Napoleonischen Zeit als eine Schule des theatralischen Effektes zu bezeichnen. Dieses Beiwort gebührt jedoch auch vielen bedeutsamen Künstlerkreisen der beiden vorhergegangenen Jahrhunderte. Watteau in seinen schäferlichen Salonbildchen, die van der Werff in ihren biblischen Darstellungen sind ebenso gut theatralisch, wie David in seinen großen Historienbildern, ja ein großer Theil aller Rococokunst ist theatralisch. Denn die Manier des Theatralischen tritt überall da ein, wo die Gestalten des Künstlers nur die Maske seiner Ideen tragen, statt uns deren leibhaftes Gesicht zu zeigen, wo sie, gleich mittelmäßigen Schauspielern, Empfindungen nur vorstellen und aussprechen, ohne in Leib und Seele durch dieselben bestimmt zu sein; das Theatralische ist also nur ein Ausfluß der inneren Unwahrheit und Heuchelei, die dem Zopfe überhaupt zu Grunde liegt.

Man sollte nun denken, in einer so theatralischen Zeit wie die Napoleonische, müßte das französische Theater selbst einen großen Aufschwung genommen haben. Dies ist aber nur sehr bedingt der Fall. Es gab wohl eine Reihe bedeutender, ja großer Darsteller, aber der dramatischen Dichtung war die zeugende Kraft ausgegangen. Denn auch das Theater muß auf dem Boden der künstlerischen Wahrheit stehen; auch das Theater verdirbt unter der Herrschaft des »Theatralischen.«

Mit der Revolution war in Frankreich ein theatralisches Element des socialen Lebens in alle Volksschichten gedrungen. Der Pöbel spielte jetzt den Römer, wie vordem der Hofherr den arkadischen Schäfer. Der Demagog in Lumpen, der mit der Maske des Brutus prahlte, der auf dem Blutgerüste statt mit einem Gebet mit einem Calembourg vor den Richterstuhl des Ewigen trat, war jetzt ebenso gut theatralisch geworden, wie es ehemals jene Prinzen und Marquis gewesen, die man eben erst mit derselben Guillotine aus der Welt geschafft hatte. Darunter litt nicht blos das wirkliche Theater, sondern selbst die später oft versuchte Ausbeutung der Helden der Revolution für die Bühne mußte mißglücken; die Republikaner von Anno neunzig taugen nichts für's Theater, weil sie in Natura schon zu theatralisch sind.

Als Napoleon die Erbschaft der Revolution cum beneficio inventarii antrat, nahm er auch dieses Erbstück in sein Kaiserthum mit herüber. Die Manier des Theatralischen hatte alle Gesellschaftskreise gepackt. Wo vordem blos die Leibgarde des Hofes in Parade aufmarschirt war, da stand jetzt die ganze Nation in Parade. Dies mußte auf die Kunst zurückwirken. Es war nicht mehr blos ein einzelner Zweig derselben mit der theatralischen Manier behaftet, sondern das Ziel der gesammten Kunstthätigkeit war der theatralische Effekt geworden. Die Kunst war eine Dekoration neben andern in dem großen Komödienhaus des öffentlichen Lebens, und wo die Staatsmänner mit den Komödianten von Profession concurriren, da kann das Theater nicht gedeihen. Die äußeren Formen der Kunstwerte wurden entschieden correcter als in der vollgültigen Zopfzeit; man studirte wieder gewissenhaft die Antike. Aber bei den unreinen Formen aus dem Zeitalter Ludwigs XIV. hatten die höfischen Künstler ihre Kunstwerke in theatralischem Geiste gedacht, weil sie sich damit den vornehmen Kreisen bequemten, die ihnen Brod gaben; wo die Kunstübung sich rein in den bürgerlichen Kreisen abschloß, da war sie auch noch keineswegs theatralisch. Bei den correcteren Formen der Napoleonischen Zeit dagegen hatten die Künstler ihre Schöpfungen nothwendig im Geiste des theatralischen Effektes denken müssen, weil die ganze Nation in deren Mitte sie standen, die Lebensluft, in der sie athmeten, von diesem Geiste erfüllt war. In diesem scheinbaren Rückschritte liegt aber doch culturgeschichtlich ein großer Fortschritt: die Gemeinsamkeit der Schwäche bekundet, daß seit der Revolution die politischen, socialen und künstlerischen Interessen viel inniger in einander verwachsen waren als je vorher, und daß die Entwicklung einzelner Stände von nun an nicht mehr den ganzen Geist der Kunst bedingen konnte.

Doch kehren wir zurück zum Theater der Kaiserzeit.

Die Prunkwerke, welche damals der Dekorateur der großen Oper bei Hof- und Nationalfesten aufzustellen wußte, waren neuer und origineller, als die Poesien der Bühnendichter. Die Schauspiele, welche man dem Volk auf offenem Markte gab, waren überhaupt auch ästhetisch oft interessanter, als die in den Theatern abgespielten. Gerade bei diesen Sieges- und Vermählungsfeierlichkeiten, bei diesen Pracht- und Kabinetsstücken von Heerschauen und Heldenbegräbnissen ließ sich ja das äußerlich Theatralische weit glänzender entfalten, als im Theater selbst. Während die Weltgeschichte mit Sturmeseile vorwärts brauste, durfte der Leichenzug des Marschalls Lannes die Strecke von Straßburg nach Paris, um des gemessenen theatralischen Pompes willen, nicht rascher als in vierzig Tagen zurücklegen. Weil das Sterben in dieser blutigen Zeit so erschreckend wohlfeil geworden war, machte man das Begrabenwerden um so theuerer. Es widert aber das Raffinement, womit man in der Kaiserzeit die Beisetzung berühmter Männer ausbeutete, um der großen Oper würdige Aufzüge auf der Straße und in der Kirche zu improvisiren, unser Gefühl nicht minder grauenhaft an, als die stehenden Calembourgs der alten Republikaner auf dem Schaffott. Hier wie dort tritt man mit einem Theatercoup vor das offene Grab.

Selbst das Lustspiel, die nationalste Form der französischen Bühnendichtung, wollte in der Napoleonischen Zeit nicht gedeihen, ja es mißrieth noch ärger als die Tragödie. Bei der großen Preisvertheilung wurde unter allen von 1800 bis 1810 geschriebenen Lustspielen kein einziges des Preises würdig erachtet. Für der Erwähnung zumeist werth erklärten die Geschwornen des Kunsttribunales damals den »Haustyrannen« von Duval: wenn das Stück mehr komische Kraft hätte, wenn die Lösung des Knotens besser vorbereitet, wenn der Styl zierlicher wäre und die Verse harmonischer! Man wird da begierig, zu erfahren, was denn nach solchen Einschränkungen überhaupt noch Gutes an diesem besten Stück gewesen sei. Dagegen trieb die komische Oper in Frankreich noch immer köstliche Nachblüthen in dieser selben Zeit, wo das Lustspiel so tief heruntergekommen war.

Der vollständige Bankerott der Lustspieldichtung war damals freilich nicht blos ein französischer, sondern ein europäischer, und der Culturhistoriker mag darüber nachdenken, inwiefern diese Thatsache mit dem Charakter einer Zeit zusammenhängt, welche alle sociale Originalität schonungsloser als irgend eine frühere zu zerstören trachtete. Denn der Urquell der ächtesten Lustspielstoffe ist von Aristophanes bis Molière die sociale Originalität gewesen. Obgleich es nun die Franzosen, wie schon bemerkt, in der Kaiserzeit durchaus nicht verschmähten, Lustspiele aus dem Deutschen zu übersetzen, ja selbst ursprünglich französische Lustspielstoffe nach deutschen Bearbeitungen wieder zurück zu bearbeiten, so begannen doch allmählich auch bei uns die »Bearbeitungen nach dem Französischen« wiederum massenhaft einzubrechen. Ich kann einige Zahlen reden lassen für das Steigen dieses internationalen Kunstverkehrs. Von 1794 bis 1800 waren an den beiden Wiener Haupttheatern nur 6 übersetzte Opern und 12 derartige Lustspiele gegeben worden. Von 1800 bis 1806 kamen schon 30 solcher Opern (und Operetten) und 45 solcher Lustspiele vor, und 1806 bis 1810 hatte man mit der Darstellung neuer Originalwerke an diesen Bühnen fast ganz aufgehört.

Hier begegnen wir einer seltsamen Kreuzung politischer und künstlerischer Einflüsse. Die politische Uebermacht des Franzosenthums zwingt uns die altersschwach gewordene Komödie der Pariser Theater, und zwar recht eigentliche Fabrikarbeit, auf, während die Franzosen ihrerseits das Eindringen neuer Stoffe und Muster aus unserer poetischen Fabrikindustrie nicht ganz von sich abweisen können. Dagegen bleiben die Franzosen von der gerade damals so reich entfalteten ächten Poesie unserer größten Dichter nahezu unberührt.

In denselben Jahren, da die deutschen Kritiker über das Ueberwuchern der französischen Schablonen-Lustspiele auf unsern Bühnen klagten, lesen wir in den Pariser Tageblättern bittere Beschwerden, daß auf den französischen Volkstheatern der deutsche Geschmack am Wunderbaren so sehr einreiße, wobei zu fürchten sei, wie die damaligen Annales de la politesse bemerken, »daß die Vernunft des Volkes geschwächt werde; auch werde man endlich wohl gar die Rückwirkung auf den großen Theatern spüren. Denn die Volksmeinung,« heißt es schließlich treffend, »pflanzt sich fort wie ein elektrischer Schlag bis in die entferntesten Glieder.« (Man sieht, in den Annales de la politesse durfte man damals deutlicher von der Vernunft des Volkes sprechen, als in den Annales de la politique.) Es ist aber hier mit dem »Geschmack am Wunderbaren« nichts anderes gemeint, als die Lust an der rohen Romantik, welche in der Teufelsmühle, im Donauweibchen und ähnlichen Produkten jener von plump komischer Naturkraft erfüllten Wiener Volksposse damals wie im Siegeszug nicht nur zu allen deutschen Bühnen, sondern auch zu den englischen und französischen Volkstheatern durchdrang. Diesseit der Vogesen bewies A. W. v. Schlegel, daß es mit der Bühnen-Dichtung der Franzosen nichts sei, jenseit der Vogesen galt es ziemlich allgemein als ausgemachte Sache, daß die deutsche dramatische Poesie trotz Lessing, Goethe und Schiller noch »in der Wiege der Kindheit« liege, und diesseits und jenseits verschlang trotzdem die eine Nation gerade das roheste Bühnenfabrikat der andern mit größtem Behagen.

Man kann sagen, daß die Franzosen den Manierismus des Theatralischen eben auf dem Theater zuerst satt bekommen haben. Man entsetzte sich über die Komödie in der Komödie viel früher, als über die Komödie im politischen Leben. Die regelrechten, deklamatorischen fünfaktigen Trauerspiele der alten französischen Schule waren niemals langweiliger, als in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts. Man ertrug sie noch aus Etikette, um des nationalen Herkommens willen. Dagegen griff die Mode, wo möglich ein halbes Dutzend einaktiger Possen, Dramen und Operetten auf einen Abend zusammenzuwerfen, immer mehr um sich und verbreitete sich auch nach Deutschland. Durch die theatralischen großen Bilder der Historienmaler war die sinnige kleine Genremalerei fast ganz verdrängt worden; in diesen kleinen Theaterstückchen dagegen, so bedeutungslos sie an sich sein mochten, hatte sich die Tradition des anspruchlosen Genrestyles wenigstens auf die Bühne hinüber gerettet. Etwas ähnliches war es mit der gleichzeitigen Liebhaberei an dem Ausverkauf des Kurze-Waaren-Lagers der lyrischen Poesie durch die zahllosen Almanache. Ein französisches Blatt von 1811 berichtet uns, daß zu Neujahr bei einem einzigen Buchhändler des Palais Royal nicht weniger als 43 neue Musenalmanache ausgestellt gewesen seien, mit einem Gesammtinhalt von beiläufig 6459 neuen Gedichten. In diesem »Dichterwald« waren die Leute doch wenigstens einigermaßen vor dem »großen Styl« sicher, der sie sonst auf Schritt und Tritt verfolgte.

Als Platen seine Lustspiele geschrieben, stand in unsern Feuilletons geraume Zeit in stehenden Lettern die Klage zu lesen, daß unsere Komödie nur noch für die rein litterarische Satyre Raum biete, und daraus wurde – nicht mit Unrecht – ein Schluß auf die Abgestorbenheit des öffentlichen Lebens gezogen. Ganz dieselbe Erscheinung finden wir aber auch in der Napoleonischen Kaiserzeit. Hier handelt es sich nicht einmal um blos gedruckte Lustspiele, sondern die rein litterarische Satyre droht sogar die Bühne zu beherrschen. Ein großer Theil der neuen Komödien, namentlich der doch so volksthümlich ursprünglichen Vaudevilles, sind bloße Parodien der ernsten Stücke des Theatre français und der großen Oper.

Es war eine recht drollige Bettlerwirthschaft. Die Tragödie war so arm geworden, und das Lustspiel so arm, daß das Lustspiel nichts besseres zu thun wußte, als sich lustig zu machen über die Armseligkeit der Tragödie. Dadurch zeigte es aber, daß es eigentlich noch ärmer sei, als jene. Besonders wurden die schwerwuchtigen heroischen Sujets – Brunhild, der Tod Adams, der Triumph des Trajan, Tamerlan, Abel v. – mit denen sich ein kaiserlich französisches Publikum gleichsam officiell langweilen zu müssen glaubte, weil es selber in einem so heroischen Zeitalter lebte, auf dem Vaudeville-Theater gehörig durchgehechelt. Weil man die Kritik des öffentlichen Lebens in der Komödie nicht spielen durfte, spielte man Litteraturkritik. Ja man begnügte sich nicht einmal mit der Parodie einzelner litterarischer Erscheinungen. Wie die Journalisten zu Zeiten durch Collectivkritiken auf ihrem Büchertisch aufräumen und ein Halbdutzend neuer Bücher gleich in einem Artikel abthun, – sogenannte Hinrichtungen – so finden wir hier auch Komödien, die sich als Collektivkritiken darstellen, und in einem einzigen Akt eine ganze Reihe dramatischer Novitäten mit Spott begießen. 1810 erschien z. B. auf dem Pariser Vaudeville-Theater ein Stück: »die Herberge in den Wolken,« welches sich schon im Untertitel als »petite revue de quelques grandes pièces« ankündigte, und nicht weniger als sechs neue Opern und Schauspiele auf einmal persiflirte. Als Nicolo Isouards Aschenbrödel so glänzenden Erfolg gewann, erschienen Dutzende von Parodien; jedes Theater wollte ein eigenes Aschenbrödel für sich geben, und zuletzt brachte man eine Posse auf das Vaudeville-Theater, in welcher »die ganze Familie der Aschenbrödel,« die selbst schon zum Theil Parodie waren, gemeinsam wieder parodirt und kritisirt wurden. Aecht französisch hatten an dieser Komödie, die sich eine ganze Sammlung anderer Komödien zum Gegenstand genommen, auch nicht weniger als drei genannte Verfasser gearbeitet.

Aschenbrödel ist überhaupt für die culturgeschichtliche Charakteristik der Glanzjahre des Kaiserthums sehr interessant. Das Stück wurde ursprünglich (1810) für die vierzehnjährige Alexandrine St. Aubin geschrieben, welche mit demselben das Theater Feydeau vor dem Bankerott rettete. Das Textbuch, das kecke Wagniß, ein altes Kindermährchen für die Oper zu bearbeiten und einem vierzehnjährigen Kind die Hauptrolle darin zuzutheilen, verrückte anfänglich den Parisern förmlich die Köpfe; die Musik wurde weniger beachtet. Bei den zwanzig ersten Vorstellungen sollen 110,000 Livres eingegangen sein. Jetzt ist es umgekehrt fast nur noch die anmuthige Musik, welche diese Oper frisch erhält, während das Textbuch veraltet ist. Die heutigen Darstellerinnen Aschenbrödels sind auch entsprechend im Alter vorgeschritten und, abweichend von Alexandrine St. Aubin, sämmtlich unzweifelhaft bereits confirmirt. Dieser Jubel der Pariser über das unerhörte Ereignis, ein dramatisches Kindermährchen in der komischen Oper zu sehen, hing aber schwerlich zusammen mit jenem »Geschmack am Wunderbaren,« der bei den Volksbühnen eingerissen war. Etienne, der Textdichter, hatte hinreichend dafür gesorgt, daß von der inwendigen, die handelnden Gestalten selbst durchleuchtenden Romantik des Volks- und Zaubermährchens, wie man sie gleichzeitig in Deutschland träumte, in seinem Aschenbrödel nichts zu finden sei. Er hatte nur das Mährchenhafte der Intrigue und ihrer Lösung beibehalten und die vom Maschinisten exercirte Coulissen-Romantik. Aschenbrödel eröffnete darum auch keineswegs eine dramatische Mährchen-Epoche, etwa wie wir Deutschen jetzt – Dank Herrn Andersen – in einer Epoche der Mährchen-Novelle leben. Aschenbrödel, oder richtiger die Familie der Aschenbrödel, blieb vereinzelt stehen. Der neue theatralische Effekt des Kindlichen auf der Bühne war das Bestrickende, und ein solcher Effekt ist eben nur möglich, so lange er neu und einzig ist. Unmittelbar nach dem Wiener Friedensschlusse, zur Zeit der größten politischen Macht und Herrlichkeit, welche die französische Nation jemals erlebt, liegt Paris gefangen in den Banden – der »Cendrillomanie!« Das ist die bitterste Satyre auf den »großen Styl,« auf die »große Kunstepoche,« auf die »große Epoche« überhaupt! Wie froh war man, alle diese theatralische Größe gegen ein Stückchen Kinderei vergessen zu dürfen, die selbst wieder den Manierismus des Theatralischen an der Stirne trug! Die Cendrillomanie war eine Weissagung auf die Tage des tiefsten Falles und auf die Tage der Bourbonischen Restauration.

Die Wirkung Aschenbrödels und der komischen Oper der Napoleonischen Zeit überhaupt hat aber auch noch einen tiefern Grund. Man schlug, wie gesagt, die Bedeutung von Nicolo's Musik gegenüber dem Textbuch Etienne's damals nicht als die höhere an, wie wir es jetzt thun. Allein eine Nummer wenigstens griff den Leuten gleich Anfangs wunderbar in's Herz hinein: die kleine aus wenigen Tönen aufgebaute Romanze Aschenbrödels. Sie war ein Volkslied, und zwar ein ächt französisches. Hier stoßen wir auf ein merkwürdiges kunstgeschichtliches Phänomen. Während fast alle übrige Kunst in Frankreich in einen theatralischen Manierismus, in einen gemacht großen Styl verfallen war, griff die komische Oper die alte nationale Form des Volkslieds, die Romanze, wieder auf, und hauchte ihr ein anmuthvolles neues Leben ein. Wie der Charakter eines einzelnen Menschen nie ganz der eines Bösewichts, eines Tugendhelden, eines Pedanten ist, sondern stets gemischt aus allerlei widersprechenden Grundstoffen, so auch der culturgeschichtliche und kunstgeschichtliche Charakter ganzer Völker und Zeitabschnitte. Die versteifte bildende Kunst in der Spätzeit des siebzehnten Jahrhunderts hatte immer noch ihre Ergänzung in der volksthümlichen Naturkraft der Genremalerei gefunden, und in dem Maße, als die theatralische Manier des großen Styls das gesammte französische Kunstleben austrocknete, begann auf der einzigen grünen Oase der komischen Oper der Born des einfachen volksthümlichen Gesangs immer reichlicher zu fließen. Die großen Stylübungen der David'schen Malerschule sind veraltet, und von den Prunkwerken der Pariser großen Oper aus Napoleons Zeit haben sich nur noch Spontini's Tondichtungen lebendig erhalten, aber die schlichten, fröhlichen Romanzen und Chansons Dalayrac's, Della Maria's, Mehul's, Boieldieu's, Nicolo's sind frisch geblieben, und leben nicht blos auf den Brettern, sondern auch im Munde des Volks fort bis auf diesen Tag.

Während aber die gebildeteren Franzosen der Napoleonischen Zeit bei dem volksthümlichen musikalischen Humor der komischen Oper die theatralische Manier des großen Styls eine Weile vergaßen, suchte das »eigentliche Volk« im Théâtre de la Gaieté und im Ambigue comique, die doch schon ihrem Namen nach der Heiterkeit geweiht waren, Schauerstücke als Volksbelustigung auf und gräuelvolle Melodramen statt harmloser Possen. In diesen Stücken war die theatralische Manier des großen Styls oft bis zum ästhetischen Wahnsinn gesteigert. Sollten sie besonders schauerlich sein, dann nahm man ihren Stoff aus der deutschen Geschichte. Räuberstücke ersten Rangs mußten im Schwarzwald spielen, wie überhaupt in der Volkslitteratur der Franzosen le forêt noir geraume Zeit als die eigentliche Urwildniß mitten in Europa erscheint. Geschah es doch auch noch in späterer Zeit, daß ein Franzose, dem man in Baden-Baden den Fürsten von Fürstenberg als den größten Standesherrn des Schwarzwaldes zeigte, voll Erstaunen ausrief: » Mais il n'a pas l'air d'un sauvage!« Jene Melodramen sind die Vorläufer der Gräuelstücke aus dem Leben des Proletariats auf den heutigen Parisern Volkstheatern. Bei beiden zeigt sich, wie tief die wollüstige Freude an dem Schauspiel gewaltsamer Leidenschaft, am Anblick von Elend, Verzweiflung, Wahnsinn, Mord und Todschlag und Spitzbüberei dem rohen Menschen eingepflanzt ist. Man zog die Schauerstücke auf die der Komödie bestimmten Bretter, weil das haarsträubende Entsetzen eine drastischere Komödie abgab, als gutmüthiger Humor und stacheliger Witz. Hier findet das Volk die Theatereffekte wieder, an welchen es vor dem Blutgerüst der Schreckenstage Geschmack gefunden hatte, und die letzten rothen Schlaglichter jener theatralischen Revolution fallen auf die Coulissen der Napoleonischen Volksbühne. Und hier erinnere ich wieder an meine oben aufgestellte Behauptung, daß nicht etwa einzelne Kunstkreise, sondern daß der Volksgeist selber erfüllt gewesen sei von dem Manierismus des Theatralischen.

Die kaiserliche Polizei ließ diese gräuelvollen Volksschauspiele gewähren, während sie die schüchternste Satyre über die öffentlichen Zustände auf der komischen Bühne mit Stumpf und Stiel ausrottete. Als der Komiker Brunet bei der Anwesenheit mehrerer gekrönten Häupter in Paris ein Talglicht, welches ihm auf der Bühne vorgesetzt wurde, mit dem sehr unschuldigen Wortspiel zurückwies: » Eh comment! il y a tant de cire /Sires) à Paris et on m'apporte toujours de la chandelle,« wurde er gleich in's Gefängniß gesteckt. Eine leise Anspielung auf die beabsichtigte Landung in England hatte ihm vorher schon acht Tage Arrest gebracht. Dergleichen Dinge begreift und greift die Polizei. Die sociale Gefährlichkeit jener Melodramen aber, die freilich im Schwarzwald oder in den Apenninen spielten, begriff sie nicht, weil sie selbst auch mitbefangen war in der krankhaften Verstimmung des Volksgeistes, welche jenes wollüstige Gefallen an dem theatralischen Effekt des im Großen organisirten Mordes und Todschlags erzeugt hatte.

So ließ Napoleon seinerseits das Theaterpublikum die ästhetische Volkssouveränetät nach Belieben entfalten, und wenn er in der Loge saß, so pfiff man ein mißfälliges Stück ebenso gut aus, oder wehrte gar, daß es zu Ende gespielt wurde, wie wenn er nicht zugegen gewesen wäre. Von Goethe wird erzählt, daß er bei der Aufführung des Schlegel'schen Jon in Weimar dem Publikum, welches zu zischeln und zu lachen begann, mit mächtiger Stimme zugerufen habe: »Man lache nicht!« Und sie wurden still. Napoleon glaubte den aus der Revolution herübergekommenen republikanischen Tumult des Theaterparterre's schon zulassen zu können, wenn er nur sein Parterre von Königen in Ruhe und Ordnung hielte. Allein er übersah, daß zumeist durch sein Regiment der Manierismus des Theatralischen auch in der Politik zum Princip erhoben und geheiligt worden war, daß er selber die Nation daran gewöhnt hatte, die öffentlichen Angelegenheiten aus der Perspektive eines Theaterpublikums zu betrachten. Es war daher kein Wunder, daß dieses Publikum, welches so ganz gewöhnt war, die Stücke in des Kaisers Gegenwart nicht zu Ende spielen zu lassen, endlich auch das Fallen des Vorhangs begehrte, als der Kaiser selber sein Stück gerne noch viel länger fortgespielt hätte.

Das unvergleichliche Genie des Helden und des Staatsmannes konnte Napoleon dennoch nicht zum wahrhaft großen Manne machen, weil ihm jene sittliche Größe gebrach, welche um der Wahrheit und Gerechtigkeit willen den Egoismus und den persönlichen Ehrgeiz hätte opfern müssen, als Gott ihm den zermalmenden Beruf in die Hand legte, die Geschicke der Völker eines Welttheils abzuwägen. Mit der Glorie des Helden theilte seine ganze Epoche und mehr noch seine Nation diese seine sittliche Schwäche. Die innere Hohlheit eines mehr auf Eigensucht und Ehrgeiz, als auf Wahrheit und Gerechtigkeit gegründeten öffentlichen Lebens ließ auch die Kunst der Napoleonischen Epoche hohl und unklar werden. Und da sie mit allen ihren Ueberlieferungen noch so enge dem achtzehnten Jahrhundert verwachsen war, wo eine ähnliche innere Unwahrheit die äußere Unnatur des Zopfstyles erzeugt hatte, so konnte sie viel weniger Neues schaffen, als vielmehr das Alte zum völligen Ausleben und Absterben bringen. Dies war die Galgenfrist, die sie dem vor der Revolution principiell bereits gerichteten Zopfstyle gewährte. Den Odem eines neuen Lebens brachte die sittliche Erhebung der Völker in den Befreiungskriegen, und damit zugleich eine bei allen Mängeln dennoch ohne Vergleich wahrere, in vielen Stücken auch neue Kunst, den vollständigen Bruch des neunzehnten Jahrhunderts mit dem Zopf. Denn nicht nur das große Drama der Weltgeschichte, auch die bloße Episode der Kunstgeschichte umschließt in dem Walten ihrer heiteren Mächte ein Weltgericht.


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