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Studien in alten Briefstellern.

1854.

Es ist nicht allezeit gewesen wie heute, wo ein gebildeter Mann sich schämt, einen Briefsteller auf sein Bücherbrett zu stellen. Im siebzehnten Jahrhundert noch gehörte mehr Bildung dazu, einen Briefsteller zu lesen, als gegenwärtig einen zu schreiben. Dieser höchst populäre Literaturzweig, dessen Sprößlinge zuletzt Geschwisterkinder mit den Quedlinburger Complimentirbüchern geworden sind, erscheint dermalen wie eine heruntergekommene Sippschaft aus altem, weiland gutem Hause, Selbst in der Geschichte der Buchdruckerkunst wird der Ahnherr der deutschen Briefsteller mit Ehren genannt. Wenige Jahrzehnte nach der Erfindung Guttenbergs druckte der berühmte Meister Anton Sorg in Augsburg bereits den ersten deutschen Briefsteller. Dieses Buch war also ein wahrer Vorder- und Flügelmann in der langen Front der sogenannten gemeinnützigen Bücher, die sich allmählich breit über unser ganzes literarisches Schlachtfeld gepflanzt hat.

In diesen stolzen, gelehrten, alten Briefstellern möge man mit mir eine Weile behaglich blättern, und die gravitätischen Herren und Frauen der alten Zeit werden aus den kleinen Pergamentbänden leibhaftig vor unsern Augen aufsteigen, die bedächtigen frommen Urväter, die noch mit einer gewissen Feierlickkeit Briefe schrieben, kein Datum darunter setzten, außer mit einem: Laus Deo, keine Wechsel ausstellten, außer mit der Schlußformel: »Gottes Schutz eingeschlossen,« die einen Frachtbrief etwa mit den Worten anhuben: »Unter dem Geleit Gottes und des Fuhrmanns N. N. übersende ich beifolgend drei Tonnen Häringe,« die einen Ehevertrag nicht wie ein gerichtliches, sondern wie ein kirchliches Aktenstück begannen, mit der feierlichsten Anrufung: »Im Namen der heiligen und untheilbaren Dreieinigkeit,« und die in einem soliden Briefsteller gar keine Formularien zu Liebesbriefen duldeten, sondern nur zu Hochzeits- und Gevattersbriefen.

Die Briefsteller sind jetzt ein Hausbuch der Ungebildeten, früher im Gegentheil der Gebildeten: sie waren kleine Encyklopädien der Kanzleigelehrsamkeit, summarische Staatsadreßkalender, Musterbücher für die gangbarsten Formularien und Aktenstücke aus dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit, kaufmännische Geschäftshandbücher; ja in unsern ältesten Briefstellern sind sogar die ersten naiven Versuche zu einer gemeinfaßlichen deutschen Grammatik und Rechtschreiblehre für das große Publikum niedergelegt. Solche Bücher wurden dann auch nicht fabrikmäßig gemacht, sondern von gelehrten Leuten, namentlich von Juristen, Notarien und Kanzleibeamten mit sonderlichem Fleiß ausgearbeitet. In unsern Tagen pflegt der Autor eines Briefstellers seinen Namen verschämt zu verschweigen. Vor zweihundert Jahren dagegen durfte auch ein gelehrter Mann noch stolz darauf sein, einen Briefsteller geschrieben zu haben. Ich besitze einen solchen, im Jahre 1663 herausgegeben von dem kaiserlichen Notar Alhard Moller, der sich hinter der Vorrede von seinen Freunden und Brüdern in lateinischen Distichen und deutschen Alexandrinern besingen läßt, für das ruhmreiche Werk, den nachfolgenden Briefsteller geschrieben zu haben. Es gemahnt das an gefeierte Sängerinnen, die nach ächtem Komödiantenbrauch ihre sämmtlichen Lorbeerkränze im Vorzimmer aufhängen. Aber unser kaiserlicher Notar geht noch weiter. Denn nachdem er die sämmtlichen Lobgedichte seiner Freunde im Vorzimmer des Buches aufgehangen, singt er selber auch noch in lateinischen Versen Ad Librum seinen eigenen Briefsteller an, und dann erst öffnet er uns die Thüre, die zunächst zu der Untersuchung über den »Begriff einer Epistel« führt.

Im siebzehnten Jahrhundert mußte ein Briefsteller mit griechischen und lateinischen Citaten fett gespickt seyn, wie ja damals auch die schlichteste Predigt solcher Ornamentik nicht entbehren durfte, und wenn sie auch vor einer Bauerngemeinde gehalten wurde. Den meisten Menschen sind überhaupt die Dinge am erbaulichsten, die sie nicht verstehen. Auch that der Handwerker damals immer wichtiger mit den Zunftgeheimnissen, je mehr Zunft und Handwerk verfiel: das lateinische Citat aber war das Zunftgeheimniß des gelehrten Handwerks.

Je unfruchtbarer die Gelehrsamkeit geworden war, um so mehr citirte und classisicirte sie. Weil man die lebendige Fülle der wissenschaftlichen Gestalten nicht mehr zu fassen vermochte, suchte man von denselben möglichst sauber das Skelett herauszuschälen. Wer ein jeglich Ding in die meisten Arten und Unterarten zerfällte, der hatte den Preis der Gelahrtheit. So soll nach den Briefstellern des siebzehnten Jahrhunderts ein einfacher, aber ächter und gerechter Brief aus zwölf Theilen bestehen, als salutatio, exordium, narratio, confirmatio, petitio etc.; der letzte »Theil« ist sigilli impressio. Diese zwölf Theile werden dann wieder dreifach gruppirt als »wesentliche,« »mitfolgend-nothwendige« und »willkürlich-beliebige.« Die Gliederung der Briefarten selbst aber spaltet sich vollends ins Unendliche. Am ergötzlichsten wird dieser maßlose Formalismus der Zopfzeit in einer besonderen Gattung von Briefen, die man »Grußbriefe« nannte. Dies waren nämlich solche Briefe, die man ohne einen bestimmten Stoff des Schreibens blos wechselte um sie zu wechseln, eine Correspondenz um der Correspondenz willen. Die alten Briefsteller geben nicht nur reichliche Anleitung zu derlei Briefen, sondern sie zweigen auch hier wieder Unterarten ab, und lehren z. B. wie Einer, der auf einen Grußbrief, welcher nichts enthielt, keine Antwort bekommen hat, einen zweiten Grußbrief abfassen solle, der nun einen Inhalt gewinnt, indem er das Bedauern ausspricht, daß auf den ersten inhaltlosen Brief eine Antwort nicht erfolgt sei. Es wird dann wieder unterschieden zwischen Grußbriefen im bürgerlichen Ton und im Hofton, von denen namentlich letztere eine wahre Fundgrube sind für das Studium der grammatischen und logischen Sinnlosigkeit und des rhetorischen Ungeschmacks jener traurigen Zeit. Ich will zur Probe einen solchen Grußbrief mittheilen, und zwar den kleinsten, den ich finde und der »zufolge jetzt üblichem Hof- stylo eingerichtet« und ganz besonders kurz und dumm ist: »Groß geneigt-sehr-werther Herr! Alldieweilen eine herztreugemeinte Freundschaft erfordert, einen liebwerthen Herrn dann und wann schriftlich heimzusuchen, so habe zu Bezeugung dienstschuldigster Aufwärtigkeit mich kraft dieses verschreiben wollen, daß meines Herrn Gebieten mein Erbieten sein und verbleiben solle, inmaßen ich lebenslangwierig verbleibe – meines Herrn treu- und dienstwilliger Knecht N. N.«

Solche Grußbriefe schreiben wir nun zwar nicht mehr, aber wir machen noch eben so inhaltlose Grußbesuche »zufolge jetzt üblichem Hof- stylo,« und haben darum kein sonderliches Recht, uns über die Briefschreiberei der Vorfahren lustig zu machen.

Einen Hauptbestandtheil der alten Briefsteller bildet das sogenannte »Titularbuch.« Im späteren Mittelalter noch hatten die Titel und Höflichkeitsprädikate auf einer natürlichen und principiellen Grundlage geruht, als Zeichen des Berufes und Standes; im siebzehnten Jahrhundert dagegen waren sie bloß Zeichen eines bald wirklichen, bald nur angeschmeichelten Ranges geworden, und eben dadurch ein willkürliches Formelwesen, Dennoch sprach man gerade in dieser Zeit, wo der Titel seine sociale Währung und eben damit seinen vernünftigen Sinn verloren hatte, von einer »Titelwissenschaft,« und ein damaliger Autor classificirte dieselbe sofort als die »vornehmste unter den Wissenschaften zweiten Ranges.« Wo man aber einer eigenen »Titelwissenschaft« bedarf, da müssen die natürlichen Gliederungen der Gesellschaft bereits zerstört sein: denn in einer gefunden und lebenskräftig gegliederten bürgerlichen Gesellschaft muß alles, was über den Titel wissenschaftliches zu sagen wäre, in der Lehre von Stand und Beruf zu suchen sein. Je mehr sich daher in der neueren Zeit eine neue und bessere sociale Gliederung zu entwickeln beginnt, um so lächerlicher ist auch der bloße Gedanke an eine »Titelwissenschaft« geworden. Was Jeder ist, das soll er auch heißen: dies muß die Summe aller Titelwissenschaft werden.

»Wohlgeboren« war im Mittelalter ein Prädicat des Adels gewesen; gleichbedeutend mit freigeboren war es mehr als eine Höflichkeitsphrase, es hatte einen socialen und staatsrechtlichen Sinn. Als man später »Hochwohlgeboren« daraus machte, weil der inzwischen social emancipirte Bürgerstand sich mit gutem Grund nun gleichfalls wohlgeboren nannte, war ein in seiner sprachlichen Zusammensetzung sinnloser Rangtitel aus dem alten Standesprädicat geworden. Im achtzehnten Jahrhundert trieb man nun gar mit Hülfe der »Titelwissenschaft« die logische Confusion so weit, daß man das ursprünglich dem »Wohlgeboren« gleichbedeutende »Edelgeboren« den ganz geringen Bürgern und Proletariern zuwies, die nicht vornehm genug erschienen, daß man sie noch wohlgeboren hätte nennen mögen!

Noch im vierzehnten Jahrhundert hatten Grafen und Fürsten die Worte »Ehrsam« oder »Ehrbar« als vornehmen Standestitel geführt. Schon nach zweihundert Jahren war derselbe zum untersten Rangtitel, zum Titel der Bauern herabgesunken, der sich z. B. in Altbayern bis auf diesen Tag erhalten hat, indem die Bauern ihren Verstorbenen auf den Grabkreuzen das Prädicat »Ehrsam« oder »Ehrengeachtet« beizulegen pflegen. Unter diesem »Ehrsam« war aber ursprünglich keineswegs die sittliche Achtbarkeit gemeint, sondern es galt dem adeligen, zu ritterlichen Ehren geborenen Mann. In diesem Sinne finde ich in einem Briefsteller des siebzehnten Jahrhunderts die ganz treffende Bemerkung: daß der Bauer, indem man ihn »ehrbar« nenne, nunmehr »zu einem unschuldigen Edelmann gemacht worden sei.«

Wie die gesellschaftlichen Neubildungen, welche aus der zertrümmerten Welt des Mittelalters aufwuchsen, durch viele Menschenalter noch schwankend und wandelnd waren, so ging es auch mit der an dieselben sich anrankenden Schmarotzerpflanze des Titelwesens. Selbst nach dem dreißigjährigen Krieg noch klagte man, daß in den letztverflossenen Zeiten fast je alle zwanzig Jahre neue Titel aufgekommen seien. Erst gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts festigten sich die neuen Rangtitel und blieben im wesentlichen bis zur französischen Revolution. Die meisten altadeligen Häuser waren binnen kurzer Frist zum Reichsfreiherrn- und Reichsgrafentitel gekommen, Grafen waren Fürsten geworden; der »Jungherr« war zum Prinzen avancirt und alle Söhne des Adels zu Junkern; jeder Edelmann hieß nun »gestreng,« während vordem nur gestreng geheißen, wer auch wirklich gestreng sein, d. h. in eigener Gerichtsherrlichkeit seinen eigenen Galgen aufpflanzen konnte.

Dieses große Avancement im Titel ging hinauf bis zum Kaiser: denn erst durch den Vorgang Karls V. ward es allgemein, Kaiser und Könige, die sich bis dahin meist mit »Hoheit« und »Gnaden« begnügt hatten, »Majestäten« zu nennen. Natürlich. Die großen Münzen waren im Curs gefallen; nun mußte man neue prägen, um hohe Werthe auszudrücken. Es ist aber äußerst komisch, daß nun Alle wähnten, vornehmer geworden zu sein, in der That aber waren sie Alle im alten Range verblieben; denn der Rang des Einzelnen ist ja immer nur etwas Relatives, er mißt sich an dem Range der Anderen, und wenn Alle gleichmäßig vorrücken, so bleibt Jeder in der Kette des Ganzen doch eigentlich wieder auf demselben Fleck. Keine Periode ist so reich an komischen Selbsttäuschungen wie die Uebergangsjahrhunderte vom Mittelalter zur modernen Zeit. Es beruht darin eine der reichsten Quellen jener Selbstironie von Rococo und Zopf, wie sie so viele humoristische Dichter und Maler geahnt haben, indem sie ihren Stoff mit Vorliebe aus den Tagen der Puderköpfe nehmen. Ein alter Briefsteller kann uns die Ahnung dieser Selbstironie zum klaren Bewußtsein erheben.

Zu früh hatte man schon im siebzehnten Jahrhundert das baldige Ende des Titelwesens prophezeit, und vergeblich die Geißel der Satire über demselben geschwungen. Zu früh hatte man selbst in den radicalen Tagen der französischen Revolution gejubelt. Jeglicher spottet über die Titelnarren und doch trägt Jeder auch heute noch immer ein ganz gehöriges Stück von dieser Narrheit in sich.

Im siebzehnten Jahrhundert war man systemastischer, haarspaltender mit den Titeln verfahren, die Subtilität, mit welcher man sie nach Arten und Unterarten abstufte, erreichte ihren Gipfel. Dagegen nahm man in der folgenden Zeit den Mund noch weit voller mit großtönenden Prädicaten; was quantitativ vereinfacht worden war, wurde qualitativ mit Zinsen wieder eingebracht. Rococozeit und Zopfzeit verwechselten hier ihre Rollen. Denn die erstere hatte ihre Freude am Classificiren der Titel, die letztere an deren willkürlich phantastischer Verschnörkelung. Im siebzehnten Jahrhundert z.B. hütete man sich sehr, einem Doctor der Philosophie oder Medicin denselben Titel zu geben, wie einem Doctor der Rechte. Dieser war Wohledelgeboren, die andern dagegen nur Edelgeboren. Es deutet das zurück auf den alten höhern Rang der Juristen, die schon im fünfzehnten Jahrhundert das Vorrecht erhielten, Wappen und Siegel zu führen, welches sonst nur dem erblichen Adel zugestanden hatte. Selbst bei den Studenten war ein Unterschied zwischen angehenden und älteren im Titel gesetzt. Ein Fuchs wurde blos »Ehrenvester und Gelehrter« angeredet, ein altes Haus dagegen »Ehrenvester, Vorachtbarer und Wohlgelehrter.« Ganz titellos waren nur die Juden. »Als Christi Erz- und Herzfeinde« sollte man sie – wunderlich genug – höchstens »mein Freund« anreden. Das Prädikat des höchsten Vertrauens galt für ein halbes Schimpfwort, lediglich weil es kein Titel war. Den Bauersmann redete man mit hoffärtiger Herablassung schon etwas klangreicher als »ehrbarer, lieber und guter Freund« an.

Solche subtile Unterschiede schwanden allmählich im folgenden Jahrhundert, die Titel wurden aber im allgemeinen noch weit vollwichtiger. Im siebzehnten Jahrhundert war der Dorfpfarrer noch »Ehrwürden,« im achtzehnten ward er »Hochehrwürden;« der hochwohlgeborene Graf ward hochgeboren, der hochgeborene Erlaucht. Ja unsere Zeit, die sich so bequem lustig macht über das Titel- und Ceremonienwesen der alten Zeit, hat hier in vielen Stücken erst recht den Gipfel der Devotion und Schmeichelei erstiegen. Der Briefsteller des siebzehnten Jahrhunderts schreibt noch vor, daß man in Sendschreiben an Kaiser und Könige »zur Bezeugung unterthäniger Demuth und demüthiger Unterthänigkeit« zwei Daumen breit Raum lasse zwischen der Anrede und dem Anfang des Briefs, bei hohen Staatsbeamten nur anderthalb Finger breit. Heutzutage würde sich aber ein hoher Staatsbeamter sehr beleidigt fühlen, wenn man ihm keinen größern Respectsraum als den weiland kaiserlichen von nur zwei Daumen Breite gönnte.

Vor mehr als fünfzig Jahren schrieb Herder: »Im geselligen Umgange sogar ist Jemanden bei seinem Namen zu nennen Schimpf; Titel und Würden bei Männern und Weibern dürfen allein genannt werden: dem Ohr wie dem Auge wollen wir nur in der Livrei erscheinen. Wie leicht haben sich andere Nationen dies alte Joch gemacht oder es gar abgeworfen: der Deutsche trägt's geduldig.« Er trägt es auch heute noch. Ja nicht nur von Andern bei unserm bloßen ehrlichen Namen titellos angeredet zu werden, dünkt uns eine halbe Beleidigung: wir schämen uns sogar unsern eigenen Namen ohne Titel selber auszusprechen; es wird uns dabei zu Muthe, als ob wir uns nackt sähen, und wenn wir uns bei dem besten Freunde melden lassen, so halten wir angesichts des meldenden Hausknechtes verschämt das Feigenblatt des Titels vor.

Doch zurück zu meinen alten Briefstellern.

In der Zeit da sich Deutschland politisch, social und literarisch am tiefsten unter französischem Einfluß beugte, blühten in Frankreich – wie in Italien und England – classische Muster eines feinen, wohlgeglätteten Briefstyls. Allein bei allem Hang zur Ausländerei ahmte man das Ausland nur in diesem lobenswerthen Punkte nicht nach. Unsere Philologen schrieben damals die zierlichsten lateinischen Briefe, aber deutsche Briefe konnten die Deutschen des siebzehnten Jahrhunderts durchaus nicht schreiben. Man ist wohl in keinem andern Literaturzweig zu selbiger Zeit plumper und unbehülflicher gewesen. Die Schnörkel der Etikette umstrickten und erstickten als wucherndes Schlingkraut jeden Versuch eines gesunden und einfachen Briefstyls. Es ist sehr bedeutsam, daß wir während der ganzen Rococozeit keinen ordentlichen Brief schreiben lernten. Die Deutschen fanden sich am schwersten in die damaligen neuen Formen des gesellschaftlichen und geselligen Lebens, und sind später am leichtesten wieder herausgekommen. Die deutschen Familienbriefe aus dem Zeitalter Ludwigs XIV. sind ein oft wahrhaft rührendes Zeugniß dafür wie hart es uns ankam, den französischen Ton in das Heiligthum des bürgerlichen Hauses aufzunehmen. Trotz allen Modephrasen spricht aus ihnen der Geist des patriarchalischen Hausregiments. Mann und Frau behandelten sich in ihren Briefen noch mit einer altväterlich treuherzigen Etikette, gleich als sei ihre eheliche Stellung mit einer öffentlichen Würde umgeben. In jenen Tagen, wo die eheliche Treue ziemlich rar zu werden begann, war es wenigstens in den deutschen Briefen noch der Brauch, daß der Mann ein Schreiben an seine »hochgeliebte Hausehre« mit den Worten begann: »Eheliche Lieb und Treu zuvor.« Die Frau redete ihren Mann noch an als ihren »vielwerthen Eheherrn,« und die Kinder wagten es nicht, im brieflichen Verkehr ihre Eltern anders als »Herr Vater« und »Frau Mutter« zu nennen. Es waren das Ueberlieferungen einer früheren Zeit, die bis tief in's achtzehnte Jahrhundert hinein ragen. Die Welt der Familie blieb in Deutschland noch lange die alte, als die sociale Welt schon längst eine neue geworden war. Dem feierlichen Ton im Familienverkehr suchte man dann andererseits wieder durch die übertriebensten Zärtlichkeitsworte eine herzlichere Farbe zu geben. Die Meisten würden sich heutzutage schämen, ihre Braut mit so süßen Liebesausdrücken zu überhäufen, wie sie vor zweihundert Jahren der würdevolle Eheherr gleichsam officiell an seine Frau schreiben mußte. Welch wunderliche Mischung von Förmlichkeit und verrücktem Schwulst kam aber dann erst in dem damaligen Briefe eines Bräutigams an die Braut zu Tage, der – laut dem Briefsteller – etwa die Anrede führte: »Hochedelgeborene, großehrenreiche Jungfrau, schönste und hochtugendseligste Nymphe.« – (Man sieht übrigens, diese Anrede hat kein Ausrufezeichen, ist also doch wieder in einem etwas trockeneren Tone gedacht, als wir es jetzt bei Briefüberschriften zu halten pflegen. Das geschriebene Pathos der vielen, wohl gar doppelten und dreifachen, Frage- und Ausrufezeichen ist ein Erbtheil aus dem litterarisch so aufgeregten achtzehnten, nicht aus dem trocken schwülstigen siebzehnten Jahrhundert.)

Nur die Männer der kosmopolitischen, social ausgleichenden Geldmacht, die Kaufleute, wagten es mitten in der Perücken- und Zopfzeit, sich aller müßigen Titel und Prädikate in ihren Geschäftsbriefen zu enthalten. Sie copirten zuerst den italienischen, dann den holländischen und englischen Briefsteller mit wahrhaft barbarischer Treue. So zeichnete sich der Brief des deutschen Kaufmanns sehr frühe schon durch jene gedrungene Kürze aus, die häufig durch Fremdwörter und allerlei technische Barbarismen erkauft werden muß, und ist sich während der letzten drei Jahrhunderte merkwürdig gleich geblieben. Selbst mancherlei willkürliche Formeln sind hier sehr alten Ursprungs. Es galt z.B. schon vor 250 Jahren die heute noch nicht ganz erloschene Regel, daß man in kaufmännischen Briefen das Datum an den Anfang, in Höflichkeitsbriefen aber an den Schluß des Schreibens setzen solle. Auch die Unsitte, deutsche und in Deutschland laufende Briefe aus Renommage mit französischen Adressen zu versehen, wird schon vor zweihundert Jahren gerügt. Doch soll sie damals vorzugsweise bei Kaufleuten und Gelehrten im Schwange gewesen sein, während sie heutzutage in der Regel nur noch von Frauenzimmern geübt zu werden pflegt.

Der nach dem dreißigjährigen Krieg erwachte Eifer für Sprachreinigung klingt selbst in den damaligen Briefstellern durch. In solchen Werken des litterarischen Handwerks zeigen sich aber die Tendenzen der Zeit in der Regel weit mehr in ihrer ganzen Naivetät, d.h. auch in ihrer ganzen Schwäche, als in den höheren Erzeugnissen der schriftstellerischen Kunst. Ein durchaus puristischer Briefsteller, welcher mir vorliegt, enthüllt gerade den steifen schulmeisterlichen Zopf der damaligen Sprachreiniger anschaulicher, als es sämmtliche Acten von Zesen's »deutschgesinnter Genossenschaft« zuwege bringen könnten. Während der Geist der Sprache so undeutsch wie nur möglich ist, wird fortwährend über den Glanz der »Haupt- und Heldensprache des auf diesem großen Fußschemel Gottes wallenden Japhetischen Geschlechtes der hochedlen Deutschen« declamirt. Selbst die directe Fehde wider die Gegner der deutschgesinnten Genossenschaft, die höchst zierlich bezeichnet werden als »ihr selbstes Herz abnagende Schlangenköpfe,« spielt sich bis in den Briefsteller hinab. Gegenüber diesem gereinigten Deutsch kommt es einem freilich vor als ob die mit Fremdwörtern ganz durchspickte, aber doch bündige und verständige Sprache der kaufmännischen Briefmuster erst das eigentliche reine Deutsch sei. Man sieht ein, wie nothwendig die Verwälschung der deutschen Sprache war, damit sie aus diesem Schlammbad nicht blos rein, sondern auch gekräftigt wieder hervorgehe. So mußte die deutsche Musik des achtzehnten Jahrhunderts ihren Durchgang durch die italienische nehmen, auf daß sie nicht vor der Zeit steif und verknöchert würde im contrapunktischen Scholasticismus.

Beim Anblick der schwindelerregend unerschöpflichen modernen Bücherproduction mag uns wohl der Gedanke beschleichen, als sei das doch noch eine idyllische, eine wahrhaft arkadische Zeit gewesen, wo ein Briefsteller noch eine Encyklopädie von einem halben Dutzend Wissenschaften war, wo Marpergers »allzeit fertiger Handelscorrespondent« im Vorbeigehen die ganze Nationalökonomie, Finanz- und Handelswissenschaft als Zugabe zu den Briefformularien tractirte, wo man den König David noch als ältesten Classiker des Briefstyls hinstellte, weil er den Uriasbrief geschrieben, und dann eine Geschichte der Epistolographie von David bis auf die Gegenwart noch auf zwei bis drei Octavseiten abzuhandeln pflegte. Die gemeinnützige Litteratur der Haus- und Handbücher, die jetzt eine so ungeheure Ausdehnung gewonnen hat, war zu unserer Urgroßväter Zeiten in drei bis vier Bücher keimartig zusammengedrängt. Aus dem Kalender brachen die Lokalzeitungen hervor zusammt dem Heer der tagesgeschichtlichen Flugschriften; aus dem Briefsteller stiegen Geschäftshandbücher aller Art auf, Staatskalender und genealogische Taschenbücher, Sprachlehren und Encyklopädien, und nur als Hefe blieb der moderne Briefsteller zurück. Wo jetzt der Mann des gebildeten Mittelstandes eine bändereiche »Weltgeschichte für's deutsche Volk« in seiner Hausbibliothek aufstellt, da begnügte sich der Urahn mit der einzigen Acerra philologica, dem merkwürdigen Schatzkästlein »nützlicher, lustiger und denkwürdiger Historien,« welches noch in Goethe's Jugenderinnerungen eine Rolle spielt, und fast durch ein Jahrhundert als eines der gelesensten Hausbücher vorgehalten hat. Wo gegenwärtig hundert gemeinnützige Schriften erscheinen, da erschien vordem kaum eine, ward aber bei gutem Glück hundert Jahre gangbar, während von jenen hundert Büchern ein Theil nur wenige Jahre geht, die andere Hälfte aber überhaupt niemals gehen lernt. Trotz dem schützenden Privilegium kaiserlicher Majestät griffen auch die Nachdrucker fleißig zu bei den alten Hausbüchern. Der mangelnde Rechtsschutz förderte die Concentrirung dieser Litteratur. Schon Luther mußte wider den Nachdruck seiner Schriften eifern. Der Verleger der Acerra philologica, stellt den Teufel als Executor der gerechten Strafe des Nachdrucks unmittelbar hinter das kaiserliche Privilegium, gleichsam als einen Succurs für die in der Execution säumigen Juristen, indem er die Vision Philanders von Sittewald aushebt, der in der Hölle einem Buchdrucker begegnet, welchem ein nachgedrucktes Buch feuerglühend im Halse steckt, daran er fort und fort in alle Ewigkeit würgen muß, und kann es niemals hinunterschlucken.

Als die Hausbücher noch so compact waren, daß der Briefsteller allein eine ganze Encyklopädie von allerlei Wissenschaften darbot, waren auch die Persönlichkeiten compacter als gegenwärtig. Sie lebten sich ein in ihre wenigen, oft sehr naiven und rohen Bücher, behielten dabei aber auch Sammlung, sich in sich selber einzuleben. So hängt ein Stück des eigentlichen Seelenlebens vergangener Geschlechter an jenen für sich vielleicht ganz bedeutungslosen alten Scharteken, und nicht ohne Rührung, ja nicht ohne Ehrfurcht kann man manche dieser Noth-Hülfsbücher betrachten, aus denen unsere Vorfahren manchmal durch hundert Jahre sich den bescheidenen Schatz ihrer Kenntnisse sammelten, um sich dann im Vertrauen auf Gott und ihren Mutterwitz im praktischen Leben oft weiter zu bringen, als wir mit unserer bändereichen Gelehrsamkeit.


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