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Das landschaftliche Auge.

1850.

In topographischen Büchern der Zopfzeit kann man lesen, daß Städte wie etwa Berlin, Leipzig, Augsburg, Darmstadt, Mannheim in einer »gar feinen und lustigen Gegend« liegen, wo hingegen die malerisch reichsten Partieen des Schwarzwaldes, des Harzes, des Thüringer Waldes als »gar betrübte,« öde und einförmige oder mindestens »nicht sonderlich angenehme« Landschaften geschildert sind. Das ist keineswegs blos die Privatmeinung der einzelnen Topographen: es war die Ansicht des Zeitalters. Denn jedes Jahrhundert hat nicht nur seine eigene Weltanschauung, sondern auch seine eigene Landschaftsanschauung.

Zahllose Lustschlösser baute man vor hundert Jahren in kahle, langweilige Ebenen und glaubte ihnen dadurch die möglichst schönste Lage gegeben zu haben, während die alten Herrensitze in den reizendsten Gebirgsgegenden, als zu wenig »pläsirlich« gelegen, verwitterten und verfielen. Nicht nur prachtvolle Sommerresidenzen und Prunkgärten legten damals die bayerischen Kurfürsten in die öden Wald- und Moorflächen von Nymphenburg und Schleißheim an: Max Emanuel ließ sogar mitten in einem dieser Gärten, der die natürliche Wüste schon rings um seine Mauern hat, noch einmal eigens eine künstliche Wüste herstellen, Karl Theodor von der Pfalz baute zwei Stunden seitwärts von den herrlichen Heidelberger Gründen seinen Schwetzinger Garten mitten in das einförmigste Flachland hinein. Wenn nur eine Gegend recht eben und baumlos war, dann getraute man sich schon die ergötzlichste Landschaft aus ihr hervorzaubern.

Noch vor fünfzig Jahren hielt man den zwar keineswegs reizlosen, doch in seiner Fläche immerhin eintönigen oberen Rheingau für den wahren Paradiesgarten landschaftlicher Schönheit und schätzte die weitere Strecke des Rheinlaufes von Rüdesheim bis Coblenz mit ihrer reichen Pracht von Schluchten, Felsen, Bürgen und Wäldern mehr nur um des Gegenspiels willen. Im obern Rheingau reihte man damals Villen an Villen, die jetzt großentheils verlassen stehen, während man an der früher vernachlässigten, von den Bergen eingeengten Strecke jetzt wiederum auf jede Felsspitze ein neues Lustschloß zu kleben oder wenigstens die dort hängenden Ruinen wieder wohnlich zu machen beginnt. Unsere Väter, die in dem oberen Rheingau den schönsten Winkel Deutschlands erblickt, schmückten ihre Zimmer mit den damals so beliebten Kupferstichen nach Claude Lorrain's verwandten weithin offenen, breiten, in Friede und Anmuth gesättigten Landschaften. Wir sind von diesem klassischen Landschaftsideal wieder zum romantischen zurückgekommen und die Dome des Hochgebirgs verdrängten die Laubtempel von Claude's Götterhainen mit dem endlosen sonneglänzenden Meereshintergrund.

Im siebzehnten Jahrhundert galten noch die in engen, steilen Berggründen gelegenen Badeorte, deren viele jetzt ganz eingegangen sind, mehrentheils für die besuchtesten und schönsten; im achtzehnten Jahrhundert gab man den gegen die Ebene hin gelegenen den Vorzug; jetzt werden gerade die Badeorte im steilsten Gebirg, wie im Schwarzwald, in den böhmischen Bergen, in den Alpen, wegen ihrer Lage aufgesucht. Der hessenkassel'sche Leibmedicus Welcker sagt in seiner 1721 erschienenen Beschreibung des Schlangenbades, dasselbe liege zwar in einer öden, wüsten und unfreundlichen Gegend, in welcher nichts als »Laub und Gras« wachse, allein durch die kunstreiche geradlinige und kreisförmige Anpflanzung mit der Scheere zugeschnittener Bäume habe man dem Ort wenigstens etwas malerische Raison beigebracht. Heutzutage hält man umgekehrt Schlangenbad für eines der schönst gelegenen Bäder Deutschlands, das »Oede« und das »Wüste« nennen wir jetzt das Romantische und Malerische, und der Umstand, daß an diesem Orte nichts als »Gras und Laub« wächst, daß nämlich der duftige Wiesengrund vor der Thüre anhebt und das grüne Gezweig des Waldes überall zu den Fenstern hereinlugt, lockt jetzt vielleicht eben so viele Gäste dahin als die Kraft der Heilquelle.

Die mittelaltrigen Maler glaubten ihren Geschichtsstücken und Brustbildern keine schönern Hintergründe geben zu können, als indem sie möglichst abenteuerliche, zackige Berg- und Felsformen einschoben, obgleich sich das neben einem milden, still verklärten Madonnenantlitz oder auch bei dem Conterfei irgend eines prosaisch ehrwürdigen reichsstädtischen Spießbürgerkopfes oft seltsam genug ausnimmt. Damals hielt man also die wild zerrissene, kahle Gebirgsnatur für ein Urbild landschaftlicher Schönheit, während man einige Jahrhunderte später solche Formen viel zu ungehobelt und regellos fand, um sie überhaupt nur schön finden zu können. Selbst alte niederländische Historienmaler, die vielleicht nie in ihrem Leben dergleichen zerklüftete Felsblöcke gesehen, nahmen sie gern in ihre Hintergründe auf. Die schroffen Bergspitzen auf manchen Bildern Hemmling's und Van Eyck's sind auch nicht in der Gegend von Brügge gewachsen. Dieser Typus landschaftlicher Schönheit wurde also herkömmlich sogar da, wo er nicht einmal vaterländisch war. Auf einem niederdeutschen Bilde, welches die Legende von den eilftausend Jungfrauen darstellt, ist die Stadt Köln als mit zackigen Felsgruppen umgeben im Hintergründe zu sehen. Das naturtreue Porträt der flachen Gegend hatte also dem Schönheitssinn des Malers nicht genügt, der doch wohl wußte, daß Köln nicht am Fuße der Alpen liegt. Dagegen würde ein Historienmaler der Zopfzeit, wenn er die wirklichen Alpen im Hintergründe eines Geschichtsbildes zu malen gehabt hätte, dieselben möglichst abgerundet, geebnet und geglättet haben.

Ist es bloßer Zufall, daß in der ganzen großen Epoche der Landschaftsmalerei von Ruysdael bis gegen die neuere Zeit das Hochgebirg so gar selten zu bedeutsamen landschaftlichen Compositionen ausgebeutet wurde? Auch das landschaftliche Auge hatte sich damals von den Anschauungen des Mittelalters abgewandt und sättigte sich in den milderen Formen des Mittelgebirges und des Flachlandes. Selbst wo ein Everdingen die Felsschluchten und Wasserfälle Norwegens uns vorführt, mäßigt er die abenteuerlichen Formen und sucht die nordische Alpenwelt dem deutschen Miitelgebirgscharakter möglichst zu nähern. Joseph Koch, der Sohn des Tyroler Hochgebirgs, konnte trotzdem mit der Darstellung der Alpenwelt nicht halb so gut fertig werden, wie mit den klassisch maßvollen, dem landschaftlichen Auge der Zeit weit näher liegenden Gegenden Italiens, und Ludwig Heß würde von dem Studium Claude Lorrain's und Poussin's schwerlich den Weg zu seiner eigenthümlichen Auffassung der schweizerischen Gebirge gefunden haben, wenn er nicht um Schlachtvieh für des Vaters Fleischbank einzuhandeln, zu den Sennen hätte steigen müssen, wobei er in seinem Rechnungsbuche auf der einen Seite die eingekauften Ochsen verrechnete und auf der andern dieselben skizzirte zusammt den Matten und Bergen und Gletschern. Zu derselben Zeit, wo die romantische Schule bei den Historienmalern in München sich Bahn zu brechen begann, war es auch, wo Joh. Jak. Dorner den »heroischen« Styl der Landschaft, wie man es damals nannte, verließ und zum »romantischen« überging. Das heißt, Dorner und seine Genossen, die bis dahin die Formen Claude Lorrain's Claude Lorrain selbst, welcher der Sage nach ja auch bei München Studien gemacht haben soll, war nicht in's Hochgebirg gegangen, sondern, ganz dem landschaftlichen Auge seiner Zeit gemäß, auf der Hochfläche geblieben. als bestes Vorbild nachgeahmt hatten, gingen jetzt in's bayerische Hochgebirg, entdeckten diese wilde, großartige Natur erst wieder für das landschaftliche Auge ihrer Zeit und führten so allmählig zu einem neuen Canon landschaftlicher Schönheit, der sich dem mittelalterlichen wieder in ähnlicher Weise näherte, wie überall die moderne Romantik zum Mittelalter zurückgriff.

Der Genfer Calame zeigt in seinen Alpenwildnissen so ganz und gar das landschaftliche Auge der Gegenwart, daß diese Bilder in keiner früheren Zeit gedacht werden können. In den grellen Gegensätzen mächtiger oft harter Formen und extremer Töne ersteht hier eine Gattung landschaftlicher Schönheit, die mit der plastischen Würde eines Poussin'schen Gebirgsprospektes wie mit dem stillen Frieden eines Ruysdael'schen Waldesdickichts gleich wenig gemein hat. Wie ganz anders als bei Calame wurde dieselbe schweizerische Natur von den zahlreichen Malern angeschaut, die zu Anfang dieses Jahrhunderts Alpenveduten malten! Sie suchten fast überall das Hochgebirg zum Mittelgebirg herabzudrücken und geben weit eher einen landschaftlichen Commentar zu Geßner's Idyllen als zu der Riesennatur der Alpen, wie wir sie jetzt fassen. Die Natur ist aber die gleiche geblieben, auch das äußere Auge der Menschen: aber ihr inneres Auge änderte sich.

Die älteren Meister nahmen den Standpunkt für den Aufbau eines Landschaftsbildes, wie heutzutage, gerne aus der Tiefe, wo sich alle Umrisse in den bestimmtesten Linien herausheben. Es war fast Regel, daß der Vordergrund scharf in's Profil gestellt war und oft so tief beschattet, daß er wie eine Silhouette, gegen die ferneren Gründe abstach. Dagegen ist es eine Lieblingsgrille der ächten Zopfzeit, Landschaften und Städteprospekte aus der Vogelperspektive zu zeichnen, wo jede Erhebung des Bodens möglichst verflacht, jede klare Sonderung der einzelnen Gründe möglichst verwischt erscheint.

Als Goethe von Messina nach Neapel zurückschiffte, schrieb er beim Anblick der Scylla und Charybdis: »Man hat sich bei Gelegenheit beider in der Natur so weit aus einander stehenden, von dem Dichter so nahe zusammengerückten Merkwürdigkeiten über die Fabelei der Poeten beschwert und nicht bedacht, daß die Einbildungskraft aller Menschen durchaus Gegenstände, wenn sie sich solche bedeutend vorstellen will, höher als breit imaginirt und dadurch dem Bilde mehr Charakter, Ernst und Würde verschafft. Tausendmal habe ich klagen hören, daß ein durch Erzählung gekannter Gegenstand in der Gegenwart nicht mehr befriedige; die Ursache hiervon ist immer dieselbe: Einbildung und Gegenwart verhalten sich wie Poesie und Prosa; jene wird die Gegenstände mächtig und steil denken, diese sich immer in die Flächeverbreiten. Landschaftsmaler des sechzehnten Jahrhunderts gegen die unsrigen gehalten geben das auffallendste Beispiel.«

Aus dieser kleinen Bemerkung ließe sich eine Fülle der treffendsten Sätze entwickeln. Für uns nur das Eine: Um ihres ganzen phantastisch-romantischen Kunstideales willen mußten die mittelalterigen Maler ihre Landschaften steil, schroff, eng gepackt zur Höhe führen. Ihre landschaftlichen Hintergründe sind – in jenem Goethe'schen Sinne – mehr gedichtet als gemalt. Es ist nicht die porträtirte irdische, sondern eine gedachte heilige Landschaft, welche überall so alpenhaft vor ihrem Geiste stand. Sie übertrug sich dann aber auch auf das eigentliche Naturporträt und bestimmte das landschaftliche Auge der Zeit. Aus der biblischen Poesie der Hebräer hatte die christliche Welt (und nicht bloß die germanische) eine Begeisterung für das Naturschöne gewonnen, wie sie sich an der antiken Kunst nicht entzünden konnte. Mit der tieferen christlichen Erkenntniß Gottes kommt auch die tiefere poetische seiner schönen Erde; und erst als man das Vergängliche dieser schönen Erde auf's schmerzvollste empfand, begann man sie so sehnsüchtig zu lieben. Es ist darum eine durchsichtige, antirealistische Landschaftsmalerei, wie des Psalmisten, bei jenen frommen Malern; sie strebt auch für den äußeren Sinn nach hohen Formen, nach oben und nach dem Einblick in eine ganze Welt, in einen Kosmos zusammengedrängten Naturlebens, dessen Urbild sie bei allem kindlichen Naturalismus vielmehr in dem Paradies der Phantasie als in der Wirklichkeit geschaut. Die hohen, lichten Bergzacken, nur dem Auge, nicht dem Fuße erreichbar, gehören ja an sich schon halb dem Himmel an. In's Breite dagegen streben die rein von der irdischen Schönheit ausgehenden Landschaften des siebzehnten Jahrhunderts, wie ja auch alle Landschaft in Wirklichkeit breit und langgestreckt vor uns liegt. Das klassische Alterthum hatte so wenig als die ihm nacheifernde Zeit der Renaissance und des Rococo ein ausgebildetes Auge für die Alpenschönheit. Humboldt erwähnt, daß kein einziger römischer Autor der Alpen anders als etwa mit Klagen über ihre Unwegsamkeit u. dgl. malend gedenke, und daß Julius Cäsar die Mußestunden einer Alpenreise benutzt habe, um eine – grammatische Schrift de analogia anzufertigen.

Auf Bibelvignetten aus dem achtzehnten Jahrhundert ist das Paradies, also das Urbild jungfräulicher Naturherrlichkeit, als die langweilige Ebene' eines völlig hügellosen Gartens dargestellt, in welchem der liebe Gott seine eigene Arbeit bereits corrigirt und mit der Scheere eines französischen Gärtners aus den Baumgruppen geradlinige Alleen, Pyramiden u. dgl. herausgeschnitzelt hat. Dagegen ist auf älteren Holzschnitten das Paradies wohl als eine wirkliche hoch anstrebende Wüstenei gegeben, wo dem Adam überhangende Felsblöcke in den Weg treten, die mit dem Begriff des mühe- und gefahrlosen Naturlebens gar seltsam contrastiren. Unsere Väter sahen in einer lieblichen, reich angebauten Gegend noch häufig ein Bild des Paradieses, während wir viel eher mit jenen mittelalterigen Meistern in einer Urwildniß ausrufen möchten:

»Die unvergleichlich hohen Werke
Sind herrlich wie am ersten Tag

Bei den landschaftlichen Episoden in mittelaltrigen Bildern findet man fast nie den Wald gemalt. Sollte dies, sollten die blos dünn, gleichsam mit gezählten Blättern belaubten Bäume der alten Italiener lediglich aus mangelhafter Technik so geworden sein? Das damalige Geschlecht halte doch noch ein ganz anderes Urbild von der ungefälschten und unverkümmerten Herrlichkeit des Waldes als wir, für die fast nur noch ein nach Maß und Elle abgegrenzter, vom Beil verwüsteter forstculturlicher Wald besteht. Die dichterische Schönheit des Waldes haben die mittelalterigen Dichter tief genug empfunden; aber ein landschaftliches Auge für denselben gewannen die Menschen erst, als sie aus dem Walde herausgekommen, als sie ihm fremder geworden waren und er selber zu verschwinden begann. So weiß der Bauer im Volksliede manchen zarten Reiz der Naturschönheit dichterisch zu enthüllen: für die malerische Schönheit der Landschaft dagegen hat er höchst selten einen Blick. Es geht ihm hier noch wie weiland dem Pastor Schmidt von Werneuchen, der den Berlinern den Blick auf ein Gerstenfeld als ein »Wunder der Aussicht« in Hexametern besungen hat. Als der Wald noch die Regel und das Feld die Ausnahme in Deutschland bildete, galten unstreitig die Rodungen, die Oasen des geklärten Landes, das Lichte, Freie für das landschaftlich Anziehendste, während uns, die wir zu viel des Lichten erhalten haben, jetzt wieder die Oase des Waldesdunkels verlockender erscheint.

Nur wer dies erwägt, der begreift, wie z. B. der Palast Karls des Großen zu Ingelheim als ein wahres Lustschloß auf einem für die damalige Zeit überaus reizenden und malerischen Punkte gelegen gelten mußte. Mit modernem Auge betrachtet, sind diese Flächen des linken Rheinufers mit ihren Feldern, Weingärten, Sandböden und krüppelhaften Tannenwäldchen höchst langweilig, und man sieht nicht ein, wie ein Kaiser gerade Ingelheim zu seinem Lustsitz erküren konnte, wo er nur den Fluß zu überschreiten oder wenige Stunden stromab zu gehen brauchte, um in einer Gegend von unverwüstlicher Naturschönheit seinen Palast zu bauen. Stellt man sich aber auf die Mauertrümmer des Kaiserhauses und blickt hinaus in die breiten Ebenen des Rheinthales, die damals schon geklärtes Land waren, während die jetzt so eintönigen Höhenzüge des linken Ufers noch der Wald deckte, dann mag man wohl die Augenweide des Kaisers ermessen, dessen Schloß am Ausgange des Waldes, gleichsam an der Gränzmark der Nacht und der alten Barbarei in's Lichte hineinschaute, während sich das weite Culturland des Rheingau's, aus dessen jungfräulichem Boden eben die ersten Reben zu sprossen begannen, vor den Fenstern lagerte, mit den neuen Siedelungen und Straßen geschmückt, gewiß für das Auge jener Zeit ein königlicher Anblick. Es war gleichsam der ganze weltgeschichtliche Beruf nicht blos des Kaisers, sondern des gesammten Zeitalters versinnbildet, nämlich der Beruf zu roden, zu klären, Licht zu machen. Und so mag dasselbe Landschaftsbild vor tausend Jahren den Leuten imposant und kaiserlich erschienen sein, das uns jetzt, wenn nicht alltäglich, doch höchstens idyllisch vorkommt.

Eben wegen dieses wechselnden landschaftlichen Auges, das ein Auge der weltgeschichtlichen Geschlechterreihen ist, gehört die Landschaftsmalerei, die uns die sicherste Kunde von diesem Wechsel des Blickes gibt, nicht blos dem Aesthetiker: der Culturhistoriker hat auch seine Studien an diesen subjectivsten aller bildlichen Darstellungen zu machen.

Bekanntlich ist auch die schönste Gegend an sich noch kein wirkliches Kunstwerk. Nur der Mensch schafft künstlerisch, nicht die Natur. Eine Landschaft, wie sie sich draußen unserm Blicke zeigt, ist nicht schön an sich, sie hat nur möglicherweise die Fähigkeit in dem Auge des Beschauers zur Schönheit vergeistigt und geläutert zu werden. Sie ist nur insofern ein Kunstwerk, als die Natur den rohen Stoff zu einem solchen gegeben, während jeder einzelne Betrachter denselben erst in dem Spiegel seines Auges kunstmäßig gestaltet und beseelt. Die Natur wird nur schön durch einen Selbstbetrug des Beschauers. Darum lacht der Bauer den Städter aus, der sich solchergestalt selbst betrügt, der über die Schönheiten einer Gegend schwärmt, die jenen ganz nüchtern lassen. Denn wer nicht selbst bereits ein Stück von einem Künstler ist, wer nicht im Kopfe selber schöne Landschaften malen kann, der wird draußen nie welche sehen. Die schöne Natur, dieses subjectivste aller Kunstwerke, welches anstatt auf Holz oder Leinwand auf die Netzhaut des Auges gemalt ist, wird jedesmal ein anderes mit dem geistigen Standpunkt des Sehenden. Und wie bei Einzelnen, so also auch bei ganzen Generationen. Die Erfassung des Kunstschönen ist nicht halb so abhängig von den großen culturgeschichtlichen Voraussetzungen wie des Naturschönen. Mit jedem großen Umschwung der Gesittung erzeugt sich auch ein neuer »Blick« für eine andere Art landschaftlicher Schönheit.

Dieß greift so tief, daß man sich wohl gar der Täuschung hingeben könnte, verschiedene Zeiten hätten nicht nur mit unterschiedlichem Geistesauge, sondern auch mit anderer Sehkraft die Naturschönheit angeschaut. Die meisten alten Meister haben ihre Landschaften gemalt mit dem Blicke eines Fernsichtigen: wir glauben in der Regel weit größere Naturwahrheit zu erreichen, wenn wir sie gleichsam aus dem Blicke eines Kurzsichtigen heraus malen. Ein fernsichtiger Maler wird in der Regel geneigter sein, da eine plastische Landschaft zu malen, wo ein Kurzsichtiger sich ein Stimmungsbild herausschaut. Schon die Bäume der alten Italiener, an denen die Blätter gezählt sind, mögen diesen Vergleich erläutern. Die landschaftliche Scenerie Van Dyck's und seiner Schüler ist nicht selten gemalt, als ob der Künstler die Hintergründe durch ein Perspektiv und den Vordergrund unter einem Vergrößerungsglas betrachtet hätte. Johann Breughel malt seine lieblichen kleinen Landschaften noch mit einer so detaillirten Bestimmtheit der Umrisse, namentlich des Baumschlags, er zeichnet das Gewimmel seiner kleinen Figuren mit so scharfen Linien hinein, daß uns das Ganze viel mehr wie in dem Auge eines Adlers als eines Menschen angeschaut erscheint. Dagegen vermissen wir das Einheitliche und Unterscheidende der Gesammtstimmung, das Zusammenfassen großer Gruppen, den Blick für die »Landschaft« als organische Totalität. Erst Claude Lorrain und Ruysdael weiden hiefür epochemachend; sie sind auch in diesem Sinne die Ahnherrn der modernen Landschaftsmalerei: wo die Alten noch die Blätter, Blumen und Gräser gezählt und mühselig nachgebildet haben, da haben wir jetzt breite, allgemeine, bis auf einen gewissen Grad conventionelle Formen des Baumschlages, der Wiesengründe ec. angenommen. Diese sind im Einzelnen viel weniger naturgetreu als die miniaturartigen Nachbildungen des Details, im Ganzen haben sie aber doch wiederum eine tiefere Naturwahrheit und Kunstwahrheit. Sehen wir doch gegenwärtig mitunter Künstler, die fast ihre ganze Lebensaufgabe darein setzen, Landschaften zu malen, die fast gar keine plastisch bestimmten Formen mehr haben, reine Stimmungsbilder, wie wenn etwa Zwengauer nicht müde wird, kahle Moorgründe darzustellen, etwas Wasser im Vordergrund, eine gestaltlose Fläche Landes in der Mitte, die Feuergluth des Abendroths darüber, die mit einem gewaltigen Stück immer dunkeler werdender Luft den größten Theil des ganzen Bildes ausfüllt. Es werden uns da gleichsam Feuer, Wasser, Luft und Erde, die vier Elemente als solche, am Dachauer Moose vordemonstrirt und zu einem landschaftlichen Accord verbunden. Für solche reine Stimmungsbilder hatten die alten Meister entschieden gar kein Auge. Erstünde ein Maler des fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhunderts aus seinem Grabe und schaute selbst unsere besten Landschaftsgemälde, so würde er sicherlich wenig Freude daran haben; er würde sie für eine Kleckserei halten, ausgeführt nach dem Recept, nach welchem man den schönsten Baumschlag erhalten soll, wenn man einen in grüne Farbe getauchten Schwamm wider die Wand wirft.

Es ist auch nicht blos das landschaftliche Auge, welches solchergestalt in den letzten drei Jahrhunderten von dem Blick für's Einzelne zu dem Blick für's Ganze fortgeschritten ist. Bei den Historienmalern finden wir dieselbe Erscheinung, bei den Dichtern, den Musikern, den Gelehrten nicht minder. Eine Bach'sche Suite ist ganz ähnlich wie eine Breughel'sche Landschaft gleichsam unter dem Mikroscop gearbeitet, und man findet jetzt leichter hundert Geschichtsphilosophen, die sich die Geschichte »als Kunstwerk« im Großen und Ganzen vortrefflich zu construiren verstehen, denn einen einzigen Chronisten, der sich mit dem todten, blätterzählenden Fleiß vergangener Jahrhunderte in unendliches Einzelwerk verlöre. Nicht blos Landschaften, die ganze Welt schauen wir mehr auf die Gesammtharmonie als auf das Auseinandergehen der Einzelfiguren an.

Für die Erkenntniß des landschaftlichen Auges einer Zeit sind oft die wirklich künstlerischen Darstellungen viel weniger richtig als die fabrikmäßigen Modestücke des künstlerischen Handwerks; denn sie lassen am meisten auf das Auge des ganzen Publikums schließen. Daher ist uns z. B. jene Passion für nach einem bestimmten Leisten handwerksmäßig gefertigte Rheinlandschaften, Schweizerbilder, italienische Vedutten u. s. w., wie sie periodisch hervorbricht und wieder verschwindet, hier wichtiger als die Auffassung so manches genialen Chorführers der landschaftlichen Kunst, welche vielleicht für die Zukunft, selten aber für die Gegenwart den Ton angibt. Es existirt eine eigene Anleitung, Rheinlandschaften zu machen und dieselben untrüglich in dem ächten Rheincolorit zu färben, die neben den Anleitungen, besten Essig, bestes Siegellack u. dgl. zu bereiten vor etwa fünfundzwanzig Jahren – ich weiß nicht, ob etwa auch gleich jenen als Geheimrecept versiegelt – im Buchhandel versandt worden ist. Unter dem ächten Rheincolorit war darin der weiland beliebte sentimentale, neblig verschwommene Ton bei möglichst matten Halbtinten gemeint, und daß man ein solches Büchlein schreiben und mit Vortheil verkaufen konnte, gibt eben lehrreiche Winke für das damalige landschaftliche Auge der großen Menge, und der Ton jenes untrüglichen Rheincolorits ist in seiner Art auch ein Farbenton der Zeit. So ließe sich jetzt, wo man Alpenlandschaften selbst auf rohe Geschiebsteine aus den Alpenflüssen (zu Briefbeschwerern) malt, sehr bequem ein Recept für das ächte Hochgebirgscolorit schreiben. Von einem fast mit reinem Berlinerblau gemalten Himmel müssen sich möglichst schroffe Bergspitzen im dicksten Venetianerweiß abheben, gegen diese contrastirt dann wieder ein Mittelgrund, halb aus schwarzgrünen Föhrengruppen, halb aus einem recht giftig gelbgrünen Wiesenplan zusammengesetzt; die Felsen des Vordergrundes endlich müssen in jenen grellen Ockertönen gehalten sein, wie sie direct aus der Farbenblase herauslaufen. Solche Fabrikware ist für den Culturhistoriker eine eben so nothwendige Ergänzung zu Zimmermann und Schirmer und Calame, wie jenes »ächte Rheincolorit« zu Koch und Reinhard, zu Schütz und Reinermann.

Verweilen wir noch einen Augenblick bei den Rheingegenden, die fast zwei Jahrhunderte lang der gangbarste landschaftliche Modeartikel in Deutschland waren. Bereits im siebzehnten Jahrhundert bildete es eine Art Industriezweig, sogenannte »Rheinströme« handwerksmäßig zu verfertigen. Wie wir jetzt Rheingegenden auf Tellern, Tassen, Blechwaaren und Taschentüchern anbringen, so wurden damals spanische Wände, Kamine, Fensternischen, selbst Thürgewandungen, namentlich aber die Flächen über den Thüren (wenn auch im Frescostyle des Weißbinders) mit »Rheinströmen« geschmückt. Aber diese Rheinströme sind himmelweit verschieden von dem, was jetzt, unsere Rheinansichtfabrikanten liefern. Ein ganz anderes Auge steckt in beiden. Sie haben höchstens das Wasser gemein. Bei den alten »Rheinströmen« sind meist gerundete Bergformen, wo wir jetzt das Eckige der wirklichen Rheinberge wo möglich noch eckiger machen; die Burgen sind, als zu barbarischen Geschmackes, oft weggelassen oder in eine Art römischer Ruinen umgewandelt; die Porträtirung ist so frei, daß sie aufhört, Porträt zu sein, und doch glaubte man das eigentliche Motiv der rheinischen Natur nur um so mehr festgehalten zu haben. Das bunteste Treiben von Menschen und Thieren, Schiffen, Flößen und allerlei Landfuhrwerk bildete die Hauptzierde; es mußte ameisenartig wimmeln auf einem solchen Rheinstrom, wenn er recht schön sein sollte. Schon in Saftleewen's Rheinströmen wird uns diese Liebhaberei anschaulich. Obgleich dort noch ein sehr reines Auge für die Bergformen und den architektonischen Schmuck der Gegend sich bekundet, so zeigt doch das eintönige, unnatürlich weiche und duftige Colorit das Streben, die Gegensätze der Formen wieder zu sänftigen und auszugleichen, während das Leben erst durch die maßlos reiche Staffage, die jeden Fels, jedes Thal und besonders den ganzen Fluß von Menschen wimmeln läßt, in die Landschaft gebracht werden soll. Das sind recht eigentlich Culturlandschaften, die uns in der Spur der menschlichen Arbeit den schönsten Reiz der Gegend erschauen lassen, wie sich dann die ganze Zeit, da sie gemalt wurden, aus den Verwüstungen des dreißigjährigen Krieges hinaussehnte nach jenem Gewimmel der Arbeit und des festlichen Vergnügens, das sich aber weit weniger auf dem wirklichen Rhein als auf den gemalten »Rheinströmen« des siebzehnten Jahrhunderts bereits wieder finden mochte. Einen noch deutlicheren Begriff als Saftleewen gibt uns Johannes Griffier von den Musterbildern der handwerklichen alten Rheinströme. Griffier malt aus seiner Phantasie heraus ein idyllisches Flußthal, geschmückt mit römischen Ruinen, wie sie niemals am Rhein standen, belebt von allerlei vergnüglichen Menschen, wie sie damals schwerlich so schaarenweise in unsern verödeten Gauen zu finden waren. Das heißt dann ein »Rheinstrom.« Griffier glaubte aber gewiß die ganz reale rheinische Natur erschaut zu haben; er klügelte sich seine Bilder nicht in der Stube aus, sondern auf dem Kahn malte er seine Phantasiestücke frischweg nach der Natur. Er hat auch die reale rheinische Natur erschaut, aber er erschaute sie mit dem idealistischen Auge des siebzehnten Jahrhunderts.

Hält man derlei Werke zusammen mit den späteren Arbeiten eines Schütz oder Reinermann, die den gleichen Gegenstand behandeln, und vergleicht beides wiederum mit unsern modernen Rheinlandschaften, dann begreift man oft kaum, wie in diesen unendlich verschiedenartigen Auffassungen auch nur derselbe Naturcharakter, geschweige denn das nämliche Porträt wiedergegeben sein soll. Während wir z.B. bei Saftleewen die Rheingegenden immer wie in einen zarten Duft gehüllt schauen, rühmte man es vor siebenzig Jahren umgekehrt von dem älteren Schütz, daß er seinen Rhein- und Mainbildern immer die reinste Luft gebe und nie eine Spur von Dunst in der Atmosphäre zeige! Gegen beides halte man nun wieder die Rheinvedutten in der modernen Stahlstichmanier mit den schweren tropischen Gewitterhimmeln, den schwarzen Wolkenschichten, zwischen denen dicke, grelle Lichtströme durchbrechen und ähnlichen gewaltsamen Beleuchtungseffekten! Man könnte meinen, Sonne, Luft und Wolken, Wasser und Berge und Bäume und Felsen seien mit den Jahrhunderten anders geartet, die Natur selber habe sich umstylisirt, wenn wir nicht zu genau wüßten, daß nur das Auge des Menschen inzwischen anders geartet ist, daß jede Generation in einem andern Style sieht.

Die Meister des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts schauten die Landschaft noch unvergleichlich objectiver an wie wir. Wo heller Frühling oder Sommer ist, wo alle Bäume grünen und alle Blumen blühen, der Himmel wolkenlos im tiefsten Blau erglänzt, das volle, freudige Mittagssonnenlicht alle Formen in leuchtender Klarheit von einander abhebt: da ist ihnen die ächte landschaftliche Schönheit. Es war nicht mangelnde Technik, daß jene Leute keine falben Herbstbilder, keine Donnerwetter- und Regenlandschaften, gleich uns, malten. Sie waren in anderen schwierigeren Stücken technisch so weit, daß sie gewiß auch einen grauen Himmel statt eines blauen und rothgelbe Bäume statt grüner herausgebracht hätten, wenn es ihnen ernstlich darum zu thun gewesen wäre. Aber mit ihren viel helleren Augen sahen sie die Landschaft viel heller als wir, und darum mußten sie nothwendig dieselbe auch also malen. Wer mittelalterliche Lyrik, wo der gleiche sonnige Frühlingston über allen Versen schillert, moderner Lyrik gegenüberhält, der wird dieser Nothwendigkeit noch tiefer inne werden. Uns ist es eben so nothwendig, den Spiegel unserer eigenen leidenschaftlichen Erregtheit in dem Pathos der stürmenden, trauernden, herbstlich absterbenden, verödeten, verwilderten landschaftlichen Natur zu suchen, wie jene Männer ihr beruhigtes Wesen in der Mittagsklarheit des friedlichsten Frühlingstages wiederfanden. Sie malten also eigentlich Stimmungsbilder so gut wie wir. Nur daß sie gleichsam die allgemeinste Grundstimmung der Naturschönheit festzuhalten suchten, indeß wir nach den individuellsten, wandelbarsten Stimmungen haschen. Sieht man doch gegenwärtig bereits landschaftliche Theatercoulissen, die als sentimentale Stimmungsbilder gemalt sind, Bäume als Vordergrundsversetzstücke, auf deren verwaschenem braungrünem Laub ein elegischer spätherbstlicher Ton ruht und die dann allabendlich zu jeder Conversationsscene, zu jeder leichtfertigen Lustspielsituation wieder hervorgeschoben werden, eine Satyre auf das innere Auge unserer Zeit. Ja man kann in einer deutschen Kunsthauptstadt Schilder von Wurstmachern sehen, auf denen Würste, Schinken, gesalzene Schweinsrippen und Schwartenmagen in glänzender Technik appetitlich gemalt sind und zwar auch als »Stimmungsbild,« indem sich jener weiche melancholische Duft, mit dem unsere Landschaftsmaler so gern kokettiren, auch über diese Würste und Schinken lagert, daß es fast aussieht, als seien sie alle schimmelig geworden. Das ist auch noch etwas vom landschaftlichen Auge unserer Zeit.

Der Wechsel des durch große Meister conventionell gewordenen Styls, die Ausartungen und Fortschritte der Technik u.s.w. spielen bei allen diesen Dingen allerdings eine große Rolle mit und neben dem wechselnden Blick. Allein wie wesentlich es doch auch immer auf den letzteren ankommt, das mag man da recht deutlich merken, wo es sich um Architekturlandschaften, überhaupt um die Porträtirung alter Werke der Bildnerei und Baukunst handelt, die man in verschiedenen Zeiten gar verschiedenartig angesehen und also auch dargestellt hat, während doch die Originale wahrlich durch alle Jahrhunderte dieselben geblieben sind.

Die reinste gothische Architektur, in der Zopfzeit porträtirt, sieht fast immer zopfig aus. Der in organischer Nothwendigkeit durchgeführte Blätter- und Rankenschmuck wird, ohne daß es der Zeichner merkt, zum willkürlich geschweiften Rococoschnörkel, die zur Höhe aufstrebenden Proportionen dehnen sich in die Breite, so daß man meinen sollte, auch das Augenmaß wechsele. An dem Gebäude selber aber ist seit seiner Erbauung vielleicht kein Stein verrückt worden; der Zopf war gewiß nicht in das Original gefahren, er steckte nur im Auge des Kopisten. Am auffallendsten mag man dieß sehen an den Städte- und Architektur-Prospekten, wie sie im Holzschnitt den zahlreichen topographischen Weilen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts beigegeben sind. Fast jeder mittelalterliche Thurm trägt hier das Gepräge der Renaissance, jeder Spitzbogen wird möglichst zum Rundbogen zusammengedrückt, so fest saßen diese neuen Formen damals den Leuten in Auge und Hand. Man hatte auch in diesem äußeren Sinn kein Organ mehr für die alten Linien. Peter Neefs, der berühmte Architekturmaler dieser Zeit, stand freilich auf solcher Höhe der Kunst und Technik, daß er die Perspektiven seiner gothischen Kirchen vollkommen correct wiedergibt; er hatte sich in diesem Stück die Objektivität des künstlerischen Blickes gerettet, die in den vorgedachten handwerksmäßigen Arbeiten durchaus fehlt: dennoch verläugnet er auch hierin nicht ganz das Kind seiner Zeit. Er malt z. B. seine Innenräume gothischer Dome fast immer auf breite Tafeln von geringer Höhe, wodurch die Spitzbogen und Gewölbstrukturen des Vordergrundes oben abgeschnitten werden. Trotz der mathematisch genauen Zeichnung bekundet also doch die Gesammtanlage des Bildes, daß die Zeit Peter Neefs kein rechtes Auge mehr für das Princip, den Geist der Gothik hatte, sonst würde der Meister nicht gerade die entscheidenden Schlußformen der Pfeiler und Wölbungen durch die willkürliche Horizontallinie des Rahmens weggeschnitten haben. So malt Neefs in der That strenge Gothik, aber doch sehen wir seinen Bildern das siebzehnte Jahrhundert an, welches die mittelalterlichen Formen, wenn's hoch kam, mit dem äußeren, nicht aber mit dem inneren Auge richtig zu schauen vermochte.

Die antike Statue quillt in allen Umrissen auf unter dem Bleistift des Zeichners aus dieser Zeit, jeder Muskel wird breiter, voller, üppiger, obgleich der Zeichner sicherlich glaubte, er habe ihn mathematisch genau wiedergegeben. Die griechische Göttin sieht gar nicht mehr so spröde drein, sie ist kokett geworden: die Jungfrau wird zum Weibe, weil dem Zeitalter das jungfräuliche Auge fehlte, weil sie die vollbusigen Rubensschen Frauengestalten und Buonarotti's aufquellendes Muskelspiel überall nicht blos in das schaffende, sondern auch in das empfangende innere Gesicht vorschoben. Mignon malte damals die Blumen am liebsten auf der Stufe ihrer voll entfalteten Pracht, die Früchte in ihrer zum Platzen saftigen Reife; er verschmähte die geschlossene Knospe. Es ist das mehr als eine bloße Liebhaberei dieses einzelnen Meisters: es ist ein Wahrzeichen für das Auge des ganzen Geschlechts, welches stumpf war für die Schönheit der Knospe, nicht blos im Blumenstück, sondern in allen Stoffen der bildenden Kunst.

Dieses Wechselspiel des »Blickes« findet überall statt, wo das Schöne angeschaut wird, am meisten aber bei dem Naturschönen, weil dieses als solches im Blicke erst erzeugt werden muß. Stätiger bleibt schon das Auge für das Kunstschöne.

In der Jugend hat man ein ganz anderes landschaftliches Auge als im Alter. Darum fühlen wir uns oft sehr enttäuscht, wenn wir nach Jahr und Tag eine bekannte Gegend wiedersehen. Es gibt kein undankbareres Geschäft, als einen Andern von landschaftlichen Schönheiten überzeugen zu wollen; man bemüht sich dann gleichsam, ihm sein eigenes Auge einzuimpfen, was selten gelingt. Dies ist dann weiter die Aufgabe des Landschaftsmalers, sein landschaftliches Auge dergestalt Jedem, der sein Gemälde beschaut, einzuimpfen, daß derselbe die nämlichen Schönheiten aus der Landschaft heraussieht, welche das Auge des Künstlers hineingesehen hat. Man muß ihm, wo er das erreicht, wenigstens zugestehen, daß er klar, logisch und im Bewußtsein seiner Effekte gearbeitet habe.

Das landschaftliche Auge ist niemals ein absolutes, und wenn von zehn Menschengeschlechtern jedes den Urkanon landschaftlicher Schönheit in etwas anderem findet, dann hat doch keines durchaus recht oder unrecht. Diese Unsicherheit des landschaftlichen Auges könnte einen Maler verrückt machen, der dann doch einmal definitiv wissen möchte, ob nicht etwa das folgende Jahrhundert mit eben solchem Fug sein Ideal der Naturschönheit belächeln wird, wie wir die landschaftlichen Neigungen des vorigen und vorvorigen Jahrhunderts belächeln. Er könnte dann im Rückblick auf die ungeheuern Schwankungen im Begriff des Naturschönen so irr an seinen Augen werden, daß er zuletzt keine Garantie mehr hätte, ob der Berg, den er als rundförmige Kuppe zeichnet, nicht vielleicht in Wirklichkeit spitzig und zackig ist, während der rundliche Linienschwung nur wie bei jenen Zopfmalern überall sein Auge gefangen hielte. Wenn aber das landschaftliche Auge nur, wie die Juristen sagen, bona fide sieht, dann hat es auch für seine Zeit richtig gesehen. Ob uns nun unsere Enkel darüber auslachen werden, daß wir so und nicht anders gesehen, das können wir getrost auf sich beruhen lassen; denn keine Gegenwart hat überhaupt irgend eine Gewähr dafür, daß sie nicht von der nächsten Zukunft ausgelacht wird.


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