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Achtes Kapitel

Indessen war der denkwürdige 17. August herangekommen.

Der Tag hatte sich hell, sonnig und über und über taugebadet erhoben, bald nach Sonnenaufgang jedoch kam ein trockener Wind auf und fegte dermaßen durch die Straßen, daß die Stadt in atembeklemmenden Staubwolken versank; dieses hinderte die Reichstagspartei der Faktionisten nicht, die schon vom frühen Morgen an in fieberhafter Tätigkeit am Werk war; die Vertrauensmänner von Sievers fuhren herum und suchten die Wohnungen der Reichstagsboten auf. Es fuhr Bielinski, der Reichstagsmarschall, es fuhr Mionczynski, es fuhr der Major Lobarzewski, der Bischof Massalski und viele andere Würdenträger, vornehmlich die litauischen. Eilboten mit Briefen jagten durch die Straßen, es galoppierten Berittene, allerhand Livreebediente waren immerzu unterwegs, darunter selbst solche in königlichen Farben, die Handschreiben mit Siegeln der Reichstagskanzlei brachten. Beim Grafen Ankwicz wurde wie in einem Hetmanquartier vor der Schlacht ununterbrochen beraten, wobei man auch Stimmen probeweise zählte; man stellte eine Liste der Sicheren auf, gab Vorschriften aus, verteilte die Rollen und legte den Plan des Handelns für den Fall eines Kampfes mit den Widersachern fest.

Die Sitzung war auf vier Uhr nachmittags anberaumt, doch schon um zwei wurden Boscamp und Nowakowski, da man die unbedingte Sicherheit des Sieges nicht besaß, zu all denjenigen geschickt, die noch unentschlossen waren, plötzlichen Gewissensbissen Gehör geschenkt hatten, oder sich noch teurer verkaufen wollten, um auf sie einzuwirken, – auf den einen mit Goldgeklirr, auf den anderen durch Versprechungen königlicher Gunst oder durch die Drohung, den Zorn des Gesandten auf sich zu lenken, und durch andere politische Beweggründe. Gegen die ausgesprochene Opposition, hauptsächlich gegen ihre bedeutendsten Vertreter, hatte man den Kastellan in Bewegung gesetzt, der je nach den Umständen sich einmal in seine Senatorenwürde kleidete, dann wieder die barsche Vertraulichkeit des lustigen Bruders Schlachtziz zur Schau trug und mit überlegenem staatsmännischen Verstand sowie tiefgründigen Maximen zu verführen oder zu überzeugen suchte. Viele von den Zelanten hatten sich bereit erklärt, der Mehrheit beizutreten, da sie keine Möglichkeit eines weiteren Widerstandes sahen, erfreut über diesen Erfolg fuhr er auch bei dem Boten der Landschaft Lomza, Skarzynski, vor. Der Schiefmäulige empfing ihn kühl und hörte sich geduldig seinen mit Redeblüten ausgeschmückten Vortrag über den Segen an, der aus der Bestätigung des Traktats mit Rußland für das Land kommen würde, schließlich jedoch durch das unaufhörliche Gesumm seiner Stimme gereizt, bemerkte er voll Würde:

»Was ich dem Vaterland schuldig bin, weiß ich und werde im Einklang mit meinem Gewissen stimmen.«

Darauf begann der Kastellan, indem er seinen Verstand und seine Vaterlandsliebe pries, etwas von einer zu besetzenden Kastellanschaft anzudeuten, die der König geneigt wäre, einem dergestalt verdienstvollen Staatsbürger zu übertragen.

»Jeder einfache Holzstuhl hat für mich dieselbe Bedeutung wie ein Senatorensessel!« brach der andere verächtlich die Unterredung ab.

Sie schieden fast in Feindschaft, der Kastellan jedoch, selbst durch diesen Mißerfolg nicht entmutigt, machte sich auf den Weg, sein Glück bei dem Boten Krasnodembski zu versuchen. Auch dieser zeigte sich aber nicht gefügiger, denn nachdem er sich seine Gründe angehört hatte, führte er den Kastellan ans Fenster und auf einen Grenadier weisend, der davor Wache stand, sagte er gerade heraus:

»Hat es der Herr Kastellan so eilig, der Knecht eines solchen wie jener zu werden? Ich habe nicht das geringste Bedürfnis dazu.«

Auf ein solches Diktum hin verzog sich der Kastellan zornschnaubend, als er jedoch im Flur beim Verlassen des Hauses Zaremba traf, der von dem Hauptmann Zukowski kam, kehrte er sofort ein freundliches Gesicht heraus.

»Ich habe einen kranken Kameraden besucht,« erklärte Zaremba kurz. »Fahren der Oheim gleich zur Reichstagssitzung?«

»Ich muß noch nach Hause, setze dich zu mir,« murmelte der Kastellan und ließ erst in seinem Wagen den zornigen Klagen und dem unterdrückten Haß freien Lauf, indem er die Zelanten zur Ursache fast alles öffentlichen Mißgeschicks machte. »Zum Glück,« schloß er beim Aussteigen, »ist die Mehrheit auf seiten der wirklichen Patrioten und maßvollen Staatsbürger, die sich nur durch gesunden Verstand lenken lassen und nicht gestatten werden, daß sie ein Häuflein Demagogen und Landtagsschreier überstimmt.«

»Um so glücklicher für das Vaterland!« brummte ihm nachfolgend Zaremba in den Bart.

»Sieh inzwischen zu den Frauen ein, ich gebe nur meine Verordnungen an Klotze und wir fahren dann gleich.«

Im Saal hatte sich eine gewählte, kleine Damengesellschaft mit der Kammerherrin an der Spitze um einen französischen Gecken versammelt, der nach der neuesten Mode gekleidet war und soeben aus Paris mitgebrachte Kleiderpuppen vorzeigte; in einem fort redend und zugleich aus verschiedenen Kästen immer neuen Putz, Schärpen, Glitzertand, spinnwebfeine Tücher und Hüte hervorziehend, legte er, all diese Herrlichkeiten in die sich ihm entgegenstreckenden gierigen Hände der Damen, und als sich diese an dem Anblick schon etwas gesättigt hatten, überschüttete er sie ganz plötzlich mit einer Flut von seidenen Eternelle-Stoffen, Damasten, Berkanen, Sarschen, Piques, Kamelotten, Cannevas und Atlassen, indem er vor ihren geblendeten Augen wie in allen Regenbogenfarben schillernde Wolken auftürmte.

Die Damen, ganz stumm über den Anblick solcher Wunder, tauchten wollüstig ihre Hände in die Seidenstoffe, labten sich an ihrem Knistern, ihren Farbentönen und ihrer Weichheit und trugen dabei das Aussehen Himmelentrückter zur Schau. Der französische Verkäufer aber erlaubte ihnen, als wirklicher Meister seines Fachs, nicht zur Besinnung zu kommen, denn in einem besonders geeigneten Augenblick ließ er vor ihren Augen einen bis an den Rand gefüllten Juwelenbehälter aufblitzen. Es erhob sich ein Gemurmel anbetender Bewunderung. – Charmant! rief eine mit Augen voller Tränen. – Manifique! schluchzte eine andere Seele, vor der sich die paradiesischen Tore geöffnet hatten. – Delicieux! hörte man einen extasischen Seufzer. – Inoui! sangen die ersterbenden Stimmen grenzenlosen Rausches.

»Madame la princesse, s'il vous plait« zwitscherte der Commis voyageur und schmückte mit einer Affengeschicklichkeit eine der Damen mit einer Anzahl Perlenschnüre.

»Madame la comtesse, s'il vous plait!« schon hatte er eine zweite mit einem Schmuck aus Smaragden bedacht.

»Madame la baronne, s'il vous plait!« er knüpfte einer dritten Brillanten ins Haar.

»Madame la marquise, s'il vous plait!« eine Anzahl Ringe schob er über schöne, zarte Finger.

Er sprang dabei wie ein Hampelmann, lächelte, verbeugte sich, zerfloß in Entzücken über jede einzelne, reichte den Spiegel hin und holte immer neue Kostbarkeiten hervor.

»Ein wahrer Sabbat der Eitelkeit!« spottete der Kammerherr, der am Fenster saß und seinen Kubusch zur Seite hatte, als Zaremba auf ihn zutrat, um ihn zu begrüßen.

»Jeder betet zu seinem Gott,« entgegnete dieser, sich darauf der Kastellanin zuwendend, die wie immer erschreckend blaß aussah, wie ein in Kreppschleier gehülltes Licht, und etwas abseits saß mit einem irren Lächeln auf den Lippen.

»Ich habe meinen Bankier Kapostas gebeten, dir ein Horoskop zu stellen,« murmelte sie, indem sie seine Hand in der ihren behielt.

»Es hat sich dabei ergeben, daß ich im Krieg sterbe oder das biblische Alter erreiche; selbstverständlich!« scherzte er.

»Nein,« sie zögerte eine Weile: »es warten deiner scheinbar lange Reisen ...«

»Das kann auch nach Sibirien heißen!« ein Schauer überkam ihn. »Wir wollen sehen, was seine Prophezeiungen wert sind,« entgegnete er und verließ das Zimmer, denn der Kastellan hatte schon nach ihm gesandt.

Sie fuhren sofort in die Reichstagssitzung.

Der Schloßplatz war mit Soldatenvolk dicht angefüllt; die Grenadiere des Fürsten Cycyanow hatten mit dichten Postenketten die Straßenmündungen, die Schloßgräben, die Brücken, die Njemenufer und auch noch den Schloßplatz selbst umstellt, die Kanonen richteten ihre erzenen Schlünde auf den Sitzungssaal und die Stadt.

Der General Rautenfeld, derselbe, der vor einem Monat sich erdreistet hatte, in voller Bewaffnung während der Reichstagssitzung neben dem Thron Platz zu nehmen und der mit der Gewalt der Bajonette von den beratenden Ständen den neuen Vertrag mit Rußland erzwang, war auch heute im Besitz des Oberbefehls und erweckte den Anschein, wenn man ihn im Säulengang am Eintritt in der Umgebung seiner Offiziere stehen sah, als machte er die Honneurs des Hauses, wenn er jedesmal die vorfahrenden Reichstagsboten begrüßte.

In der großen Vorhalle herrschte schon ein ungewöhnliches Treiben und ein gedämpftes Stimmengewirr; die Boten waren fast vollzählig erschienen, man wartete bloß noch auf den Reichstagsmarschall und den Großkanzler. Die Tagesordnung der Sitzung kreiste von Hand zu Hand. Die Faktionisten bewegten sich trotz der entscheidenden Mehrheit, die sie innehatten, etwas unruhig umher, allerhand Zettel gingen unter ihnen um, sie flüsterten sich dabei verschiedenes zu; verständnisvolle Blicke, Händedrücke und geheimnisvolle Losungen wurden gewechselt. Der Major Lobarzewski suchte, da der Tag sehr heiß und sehr trocken war, Abkühlung beim Bier an einem Tisch, an dem man kalte Gerichte verabreichte, und als sichtbarer Anführer der ganzen Falange erteilte er jeden Augenblick neue Aufträge, prüfte die Liste der Anwesenden und sandte Heiducken aus, um die Verspäteten holen zu lassen.

Die Türen nach dem Sitzungssaal und der Kanzlei klappten unaufhörlich auf und zu, immer wieder sah man dort jemanden eintreten oder hinausgehen; ab und zu tauchten königliche Livreediener auf, um irgend jemanden in der Menge der Anwesenden zu suchen, dann erschien Friese oder Pater Ghigiotti und nach einer leisen Unterredung hier und dort verschwanden beide hinter den Türen, die in die Königsgemächer führten; für Augenblicke hörte man von der Galerie des Sitzungssaales eine Flut stürmischer Stimmen und den Donner des Fußgetrampels heranbrausen, denn auch die Galerien waren bis zum letzten Platz angefüllt, trotz Kettenposten und Schwierigkeiten, die man den Arbitern bereitet hatte.

Es war, als rannte ein Windsturm ein ums anderemal gegen die Mauern des Gebäudes an, als wühlte er sich durch die Vorhalle ein, und plötzlich verstummte selbst das Geflüster und ängstliche Blicke blitzten auf. Vergeblich lief dann der dicke Rochus, der Älteste der Schloßbediensteten, nach den Galerien hinauf, vergeblich mühten sich die Marschallsknechte Ruhe zu stiften: die Galerien machten sich immer häufiger durch einen Lärm und durch Ungeduld des Wartens bemerkbar, welches übrigens auch für alle anderen schon recht quälend zu werden begann. Selbst die Mirower Gardisten, die im Inneren des Gebäudes Wache hielten, jedoch mit ungeladenen Karabinern ohne Bajonett, konnten nicht mehr ruhig auf ihren Plätzen stehen bleiben; es ließ sich ein unaufhörliches Rücken von Kolben hören, die gegen die Fließen des Fußbodens leise knirschend anstießen.

Einzig und allein die Zelanten zeigten ruhige Gesichter, diese Ruhe war aber nur Schein, denn es quälte sie furchtbare Sorge um den Ausgang dieses Kampfes, den sie jeden Augenblick beginnen sollten und die Sicherheit der Niederlage erfüllte sie mit unaussprechlicher Verzweiflung. Aber was auch kommen sollte, sie stellten sich mit pflichttreuem Opfermut und stoischer Gefaßtheit dem Feind. Der Bote Kimbar ließ kühn und herausfordernd seine Adleraugen rollen, Skarzynski, der Schiefmäulige, stand ganz in Nachdenken vertieft, Mikorski machte eifrig Aufzeichnungen, Krasnodembski hüllte sich ohne seine Pfeife aus dem Mund zu nehmen, in dicke Rauchwolken, Szydlowski aber, Ciemniewski, Karski, Zielinski, Goslawski, Plichta und die anderen zeigten undurchdringliche Gesichter und eine hoheitsvolle Gleichmütigkeit.

Es waren auch einige von den Verschworenen zugegen: General Dzialynski mit seinem blassen, asketischen Gesicht, mit einer schwarzen Kontusche angetan wie mit einem Trauergewand, schaute in den Hof hinaus auf die funkelnden Bajonette der Grenadiere; der Oberst Jasinski wandelte mit gleichmäßigem, gemessenen Schritt durch die Halle, Kaczanowski trank dem Major Lobarzewski zu, als wäre er mit ihm im besten Einvernehmen, Zaremba saß in einer Ecke mit dem Hauptmann Zukowski, der dem grabentstiegenen Piotrowin glich und durch seine ungewöhnliche Blässe und seine flammenden Augen die Blicke auf sich zog. Auch recht viele hochgestellte Persönlichkeiten waren erschienen, die zu den Reichstagssitzungen wie zu einem amüsanten Theatrum für Faulenzer kamen und nach Neuigkeiten herumschnüffelten. Zuletzt tauchte Woyna auf, was Zaremba sehr verwunderte, aber in diesem Augenblick traten auch schon unter lautem Trommelwirbel und Präsentieren der Gewehre die mit solcher Ungeduld erwarteten Würdenträger ein.

Zaremba zwängte sich durch das Gedränge auf der Galerie hindurch, wo er einen Platz neben der Vizekämmerin fand.

»Ich fühle, daß es heute Skandale geben wird,« murmelte sie. »Mein Gott, ich werde mich heute ganz auflösen!« stöhnte sie, kaum schon vor Hitze atmend, und versuchte ihr mit Schweißfurchen durchzogenes Gesicht neu zu bepudern. Der kleine Mohr fächelte ihr ununterbrochen Kühlung zu, was jedoch nicht viel half, denn die Hitze war nicht zum Aushalten. Die Sonne, obgleich schon die fünfte Stunde des Nachmittags nahe war, ergoß eine Feuerflut von Licht und Hitze durch die Fenster; der Saal schien in einen glühenden Ofen verwandelt zu sein, voll flimmernder, atembeklemmender Glut, die Luft zum Atmen fehlte in dieser Schwüle und diesem überall herrschenden Gedränge, und immer wieder ließ sich Gezänk um die Plätze und das Geschrei der Niedergetretenen vernehmen. Einige ohnmächtig gewordene Damen wurden unter dem Hohngelächter der Menge aus dem Saal hinausgetragen. Die Zuschauer, durch die Hitze und das lange Warten erregt, ließen sich bei jeder Gelegenheit gehen und begrüßten die eintretenden bedeutenderen Zelanten mit reichlichem Beifallklatschen, die verhaßten Freunde von Sievers hingegen mit drohendem Murren und allerhand Schimpfnamen.

»Jemand muß den Pöbel aufstacheln, denn er nimmt sich etwas viel heraus,« knurrte die Vizekämmerin.

Gerade nahmen die Senatoren ihre Plätze vor dem Thron ein, als sich mit einemmal das Hornsignal einer Hetzjagd vernehmen ließ, ganz wie jenes, das die Hetzer ausstoßen, die die Hundemeute loslassen, dann folgte das kurze Gebell der Hetzhunde und das verbissene Gekläff der sich auf die Beute stürzenden Meute, bis zuletzt der herzzerreißende Klageruf des verendenden Wildes durch die Luft stieß – dieses alles war dermaßen wahrheitsgetreu wiedergegeben, daß ein schallendes Gelächter den Spaßmacher belohnte.

Es wurde aber sofort wieder still, denn die Boten erhoben sich von ihren Bänken zum Eintritt des Königs, der in der üblichen Begleitung seiner Kadetten erschienen war. Er nahm auf dem Thronsessel Platz und sah sehr mitgenommen und düster aus; seine Augen schienen eingefallen und ein bitteres Lächeln spielte um seine Lippen; er hob häufig die goldene Balsambüchse mit erfrischenden Wohlgerüchen an die Nase.

Der Marschall klopfte dreimal mit seinem Stab zum Zeichen des Beginns und forderte gleich darauf die Arbiter auf abzutreten, da sich aber niemand vom Platz rührte, drangen die Grenadiere sofort auf die Galerien ein und fegten sie unter Höllengeschrei und Fluchen leer. Es blieben nur einige Offiziere der alliierten Puissancen in Zivil und die Dienerschaft zurück.

Die Sitzung nahm sofort eine sehr stürmische Wendung, und zwar durch das Verhalten des Marschalls selbst, der zum Schluß seiner Anrede sagte: daß »die dem allgemeinen Regierungssystem Europas widersprechende Verfassung die Republik ins Verderben gestürzt hätte, und lediglich die Größe und Hochherzigkeit Katharinas sie wieder retten könnte.«

Es erhoben sich leidenschaftliche Proteste gegen eine solche Schlußfolgerung, er jedoch empfahl, als hätte er diese gar nicht gehört, den Ständen eine einstimmige Annahme des Vertrags mit Rußland, welchen er durch den Reichstagssekretarius vorlesen ließ.

»Wir bitten um das Wort!« riefen die Zelanten Skarzynski, Mikorski, Krasnodembski und Szydlowski zugleich.

»Zuerst hat der Vertrag vorgelesen zu werden,« entschied der Marschall, indem er das Papier dem Sekretarius reichte.

Der Sekretarius Jeziorkowski erhob sich, doch ehe er das Schriftstück aufschlagen konnte, sprangen die Zelanten auf ihn zu und versuchten es ihm zu entreißen. Der Bote Podhorski mit seiner Sippe stürzte dem also Bedrängten zu Hilfe und es entstand ein wütendes Hin- und Hergezerre – alle Anwesenden erhoben sich von den Sitzen.

»Lesen! Lesen!« heulte die Mehrheit, mit den Fäusten auf die Pulte trommelnd.

»Untersteh' dich! Wir verbieten es!« schrie die Opposition, Jeziorkowski aber, den man von allen Seiten bedrängte, stotterte etwas, das von dem allgemeinen Lärm und Geschrei ganz übertönt wurde.

Schließlich entriß ihn der Bote Podhorski den Zelanten und hatte ihn schon fast in den Schutz der Genossen gebracht, als die Boten Karski und Krasnodembski seiner wieder habhaft wurden, und nachdem sie ihn auf ihre Seite hinübergerissen hatten, niemanden mehr an sich herankommen ließen.

Es entstand ein furchtbarer Tumult, zornentbrannt ging man aufeinander los, alle schrien wie besessen, so daß der Marschall vergeblich mit seinem Stab auf den Tisch schlug, zur Ruhe und Rückkehr auf die Plätze ermahnend, die Mehrheit forderte immer wieder, daß der Vertrag vorgelesen würde, während die Zelanten dieses nicht zugeben wollten und unermüdlich zu Wort gelassen zu werden verlangten. Der Marschall aber erteilte immer noch keine Erlaubnis dazu, so daß der Bote Goslawski ihm wütend und so laut, daß die Kristallbehänge der Kronleuchter aufklirrten, zuschrie:

»Wem hast du deine Eide geschworen, dem Vaterland oder Sievers, daß du das Recht der freien Äußerung beschneidest!«

Der Marschall Tyszkiewicz warf einen finsteren Blick in der Richtung des kleinen Fensters über dem Thronsessel und wandte sich abermals an den Sekretarius:

»Ich bitte Euer Wohlgeboren zu lesen, wir warten.«

Jeziorkowski, der sich von seinen Bedrängern befreit hatte, trat in die Mitte des Saales und begann nun unter dem Schutz seiner Freunde und trotz eines nicht für einen Augenblick aufhörenden Stimmenlärms, der von den Zelanten eifrig unterstützt wurde, den Wortlaut des Vertrags vorzulesen. Man schrie auf der Zelantenseite aus Leibeskräften und schlug mit Gegenständen gegen die Bänke, wobei immer wieder versucht wurde, dem Lesenden das Papier zu entreißen; einer der lautesten war Krasnodembski, der wie ein wütender Auerochs brüllte, und wenn ihm die Seinen nicht zuzureden versucht hätten, würde er sicherlich zum Schwert gegriffen haben.

Der entsetzte und halb ohnmächtige König äußerte die Bitte um Aufgabe des Widerstandes.

»Laß ihn die Sitzung vertagen, dann wollen wir bis zur nächsten Ruhe halten!« warf jemand höhnend hin, denn sie wollten wenigstens die Bestätigung des Teilungsvertrags vertagen, in der Hoffnung, daß vielleicht noch irgend eine günstige Gelegenheit erlauben könnte, die bereitgehaltenen Ketten zu zerreißen. Der Sturm brach abermals los mit der verdoppelten Kraft der Verzweiflung, bis der Kattunvorhang oben, hinter dem Fenster über dem Thron, sich jäh bewegt hatte, und hinter ihm sich das vor Zorn blau angelaufene Gesicht des Gesandten zeigte, in der Tür aber erschien der General Rautenfeld und hinter ihm eine Mauer drohend blitzender Bajonette, hinter der die russischen Grenadiere sichtbar wurden.

Es machte sie nicht bange, die freien für die Freiheit kämpfenden Volksvertreter, aber trotz ihrer übermenschlichen Anstrengungen und obgleich niemand ein Wort verstehen konnte, las der Reichstagssekretarius den Vertragsentwurf zu Ende und setzte sich auf seinen Platz. In diesem Augenblick schrie der Bote Zielinski mit dröhnender Stimme:

»Ein solches Projekt kann nur das Werk eines Vaterlandsverräters sein und derjenige, der es bewirkt hat, daß es hier vorgelesen wird, ist ein Vaterlandsverräter!«

Daraufhin schnellte Graf Ankwicz von seinem Sitz auf und zu dem Reichstagsmarschall stürzend, rief er empört:

»Ich bitte um Gerechtigkeit und stelle mich unter den Schutz des Marschallstabs!« Denn er war es gewesen, der die Vorlesung beantragt hatte.

»Auch wir bitten um Gerechtigkeit und stellen uns unter den Schutz des Marschallstabs!« erklangen heftige Zurufe, und die ganze Opposition setzte sich auf den Marschalltisch zu in Bewegung. Nur mit Mühe konnte der Marschall Tyszkiewicz diesen stürmischen Zwist besänftigen, worauf er sodann in einer gefühlvollen Ansprache Ruhe und Fügung in das Unerläßliche anempfahl. Auch der König versuchte die Vergeblichkeit des Widerstandes darzulegen und gab unter Tränen die Versicherung, daß er der Targowicaer Konföderation nur auf Grund der die Ganzheit des Landes gewährleistender Garantien beigetreten sei, auf dem Fundament der Erklärung der Imperatorin, daß das Land nicht geteilt werde – »aber ich wurde getäuscht,« und er schloß mit den Worten, daß ihnen jetzt nichts anderes mehr übrig bliebe, als sich mit dem Schicksal abzufinden. Und der Bischof Kossakowski bewies mit zwiespältigen Worten, daß diese Allianz dem bedrängten Vaterland nur Glück und seinen Bürgern Segen bringen würde. Honig schien von den Lippen des Redners zu träufeln, nur herzliche Sorge um das allgemeine Glück und hochtönende Grundsätze voll tugendvollen Pflichtgefühls ihn zu beseelen, so daß aus den Bänken der Mehrheit der Beifall tiefer Befriedigung erklang, aber die Opposition blieb ungerührt und der Bote Mikorski erhob seine protestierende Stimme:

»Lieber will ich tot auf der Leiche des Vaterlandes liegen bleiben, als in der Gestalt einer Afterbrut mein Leben fristen. Es mögen diejenigen, die dazu angelernt sind,« er blickte drohend auf die Söldlinge – »Ehre und Ruhm in selbstsüchtigen Gewinn einzuwechseln, von diesem scheußlichen Gewerbe ihren Vorteil ziehen, ich halte es für besser, ehrenvoll zu sterben und protestiere gegen den Vertrag.«

Und der Bote Kimbar fügte schneidend hinzu:

»Wozu braucht ihr noch eine Bestätigung des Vertrags? Das ist doch eine gänzlich überflüssige Sache. Es wird genügen, den Herrn Gesandten zu fragen, was er zu befehlen beliebt! Gewalttat hat den Anfang gemacht, durch Gewalt wird auch das Ende kommen ...«

Während dieser Reden bereitete die Mehrheit einen Antrag, der dem Reichstagsmarschall überreicht wurde und den dieser den beratenden Ständen sofort vorlas.

Ob das Projekt der Bestätigung des Vertrags mit Rußland ad turnum Ad turnum gehen hieß im polnischen Reichstag, ob über ein Projekt, das schon vor vollem Hause gelesen worden sei, gestimmt werden könne. gehen kann oder nicht?

Ein neuer Sturmausbruch erschütterte den Saal, denn die Zelanten widersetzten sich diesem Antrag mit ganzer Gewalt, indem einer nach dem anderen das Wort ergriff, jeder von ihnen bat und beschwor die Verblendeten mit allen Gründen des Herzens und Verstandes, Erbarmen mit dem Vaterland zu haben; ein jeder stellte das Unglück dieser Mutter aller dar, entblößte ihre Wunden und flehte um Gnade für die in Schande und Verlassenheit Dahinsterbende; ein jeder beweinte in blutiger Verzweiflung, daß sie die Beute des grausamen Feindes werden sollte. Aber die in Niedertracht und elender Feigheit erstarrten Herzen und Gewissen ließen sich nicht wachrütteln, der Antrag wurde mit einer großen Mehrheit angenommen.

Gleich darauf gab man eine Unterbrechung der Sitzung bekannt, denn eine allgemeine Abspannung und Erregtheit machte sich geltend.

Zaremba trat blaß, mit schmerzverzerrtem Gesicht und wie zerschlagen in die Vorhalle.

»Sie werden allem zustimmen,« murmelte er dem Hauptmann Zukowski zu, der noch immer auf seinem alten Platz saß.

»So lange noch Atem in unserer Brust ist, so lange ist noch Hoffnung!« gab Zukowski laut zur Antwort, so daß mancher von denen, die sich am Büfett an schmackhaften Vorspeisen gütlich taten, ihm neugierig seine Blicke zuwandte.

Nach der Pause hatte es Zaremba nicht mehr eilig, den Sitzungssaal zu betreten, er blieb in der Halle, wo eine ganze Anzahl Menschen ebenfalls bebenden Herzens die Ergebnisse des Turnus abwarteten. Alle waren von der gleichen Sorge gepeinigt und horchten im düsteren Schweigen auf die Stimmen, die aus dem Sitzungssaal kamen. Es war dort wieder ein heftiger Sturm ausgebrochen, denn die Zelanten versuchten auf jegliche Weise, eine Abstimmung zu verhindern und die Sitzung in die Länge zu ziehen, in der Hoffnung, daß der König den Reichstag vertagen würde. Sie traten darum immer erbitterter auf, und ihre Worte fielen wie Axthiebe und Ohrfeigen auf die erkaufte Mehrheit, weckten wütende Proteste und lange Entgegnungen.

Ab und zu, wenn die Türen, die in den Sitzungssaal führten, geschlossen waren, versank die Halle in ein dumpfes Schweigen, so daß man nur vom Hof her die gemessenen Schritte der Wachen und das Pfeifen des Sturmes hörte, der wie mit der Stimme der Millionen, die jetzt verkauft wurden, durchdringend heulte, als trüge er ihr Verzweiflungsschluchzen und ihre kläglichen Hilferufe mit sich fort.

»Die reine Teufelshochzeit oder sonst dergleichen!« fluchte Kaczanowski und sprang hinter seinem vollen Glase auf, als sich der Sturm wieder einmal gegen das Haus warf, daß die Wände zu beben begannen und die Lichter aufflackerten. Er trat in den Säulengang; die Nacht war trüb und heiß, über den sternenglitzernden Himmel flogen weiße Wolkenfetzen; aus den Gräben tönte das einschläfernde Unken der Frösche, die Luft duftete nach Linden, über den Biwakfeuern der Grenadiere züngelten rote Flammenschlangen empor.

Wie träge und schwerfällig schleppten sich die endlosen Stunden des Wartens dahin, mit welchen Angstschauern erfüllte jeder Uhrenschlag die Herzen! Und als endlich die Mitternachtsstunde gekommen war, die durch die Posaunen des Königsschlosses angekündigt wurde, schien eine Schar von Höllengespenstern die Halle erfüllt zu haben, und man glaubte das Hämmern der letzten Lebensstunde zu hören; ein abergläubischer Schreck schoß manchem in die Glieder, so daß er ein Kreuz schlug, einzelne fingen an zu beten, als wäre die Zeit für Sterbegebete gekommen, andere sprangen von ihren Sitzen auf ...

Aber die Sitzung dauerte immer weiter, und weiter fort dauerte der hoffnungslose Kampf des Häufleins, das wie die Besatzung eines sinkenden Schiffes bis zuletzt den wütenden Anstürmen der Wogen und aller Mächte der Dunkelheiten standhielt; sie gingen zugrunde, der Tod ließ schon seine siegreiche Fahne über ihnen wehen, ihre Stimmen verloren sich im Toben der brüllenden Elemente – aber sie kämpften bis zum letzten Atemzug.

Im Saal herrschte ein Chaos, ein Tumult und ein wirres Durcheinander. Das Knäuel der durch den Widerstand zur rasenden Wut angestachelten Leidenschaften ließ winselnde Schreie der Zornesraserei gellen. Jeden Augenblick brachen persönlich zugespitzte Animositäten aus und wahre Stürme gegenseitigen Grolls und wilder Flüche, denn es war, als hätte ein Wahnsinn die Mehrheit erfaßt, mit solcher Leidenschaft drängten sie zum Untergang, ein Fieber verzehrte sie, das Gewissen begann zu beißen, die Schande des öffentlich vorgeworfenen Verrats brannte auf ihren Gesichtern, darum hatten sie es eilig, zum Abstimmen zu kommen, sich in den Abgrund der Schande und des Verbrechens zu stürzen, denn es konnte auch der Gesandte durch die Langwierigkeit der Verhandlungen ungeduldig werden; man sah hin und wieder droben über dem Thron seine unzufriedenen Blicke und sein verächtliches Lächeln, die wie Peitschenhiebe waren. Denn er hatte sich in seinem Fenster über dem Thronsessel wie eine Spinne inmitten eines klug gesponnenen Netzes auf die Lauer gelegt und wartete geduldig auf die sichere Beute.

Aus der königlichen Küche brachte man ihm Kraftbrühen und kühlende Getränke zur Aufrechterhaltung der geschwächten Kräfte, und die Schwestern des Königs kamen zu ihm hinauf, seine Einsamkeit und die ermüdenden Stunden des Wartens erträglicher zu machen. Mitten in galanten Gesprächen verlor er jedoch nicht ein Wort von den Reden der Widersacher, sandte mit Bleistift hingekritzelte Kärtchen mit Ratschlägen an den König, unterwies den Reichstagsmarschall in der Angelegenheit einer strengeren Handhabung der Reichstagsordnung, weckte den Eifer des Bischofs Kossakowski, übermittelte seinen Vertrauten Entwürfe für Repliken, gab Befehle, die Arbiter, die immer wieder die Galerien überfluteten, herauszujagen, und wachte unermüdlich über allem. Der General Rautenfeld sah häufig zu ihm ein, um zu fragen, ob es nicht vielleicht schon Zeit wäre, das Bajonett in Wirkung treten zu lassen? Er befahl geduldige Langmut, indem er sich den Damen gegenüber über die Verblendung der wahnsinnigen Opposition beklagte. Denn alles, was er begann, hatte doch lediglich das Gedeihen dieser leichtsinnigen Polen im Sinn, die er glücklich zu machen versprach, selbst ihnen zum Trotz. Und als der Graf Ankwicz in einer seiner Reden gesagt hatte: »denn die alten Vergewaltigungen der Einzelpersonen haben sich später in Vergewaltigungen verwandelt, die gegen das ganze Land gerichtet sind,« sandte er ihm einen Verweis für die demagogische Wendung und sagte dabei mit beißendem Spott:

»Der Herr Graf sucht sich scheinbar für alle Fälle die Gunst der Zelanten zu gewinnen.«

Die Schwestern des Königs konnten nicht genug Worte finden, um die Menschlichkeit und den Edelmut des Gesandten zu preisen, dafür flüsterte er ihnen das warme Lob ihres Bruders zu, indem er ihn zum erhabenen Vorbild eines Herrschers machte, der sich ganz nur der schweren Pflicht der Beglückung seiner Untertanen gewidmet habe. Er war bis zu Tränen über seine Ermüdung gerührt, doch stimmte er nicht bei, daß die Sitzung bis zum nächsten Montag vertagt würde und erklärte, daß er niemanden aus dem Saal lassen würde, so lange sie nicht die Annahme des Vertrages beschlossen hätten. Und als man ihm gemeldet hatte, daß schon alle vor Ermüdung niedersänken und viele Abgeordnete einschliefen, sagte er nur:

»Wenn sie die Sitzung noch mehr in die Länge ziehen werden, dann lasse ich sie ermuntern!« Und er gab den Befehl, die Kanonen in Bereitschaft zu halten und um den Sitzungssaal verdoppelte Postenketten auszustellen.

Es ging schon auf zwei Uhr nach Mitternacht, und die Sitzung dauerte immer noch fort, denn die Zelanten versuchten mit schier übermenschlichen Anstrengungen die Verhandlungen immer wieder in die Länge zu ziehen.

Man hatte schon die Lichter in den Kronleuchtern ausgewechselt, viele Reichstagsboten nickten im Schatten der Galerie, und selbst die an den Türen stehenden Bedienten schliefen in strammer Haltung vor Mattigkeit ein. Der König erfrischte sich fortwährend mit Riechsalzen und ließ sich immer häufiger wie ein Halbtoter in seinem Kabinett auf ein Sofa fallen, um ohne Kraft und Besinnung da liegen zu bleiben, aber auf den Klang der Marschallglocke sprang er wieder auf, und sein Gesicht in Würde kleidend, kehrte er eilig in den Sitzungssaal zurück, denn herrische Augen wachten über ihn, die Bajonette der Grenadiere funkelten rings in den Gängen und der General Rautenfeld kreiste um ihn in einer immer ungeduldigeren Laune. So nahm denn Stanislaus Augustus seinen Platz auf dem Thronsessel ein und wohnte weiter den Verhandlungen bei. Er saß wie am Pranger, den tausendfachen Hieben der Zelanten preisgegeben, unter den Pfeilen ihrer verächtlichen Blicke und ihres haßerfüllten Lächelns – er saß da im vollen Verständnis der furchtbaren Bedeutung dieses Schicksalstages und voll nagenden Schmerzes um das Unglück des Vaterlandes und war der erste, der seinen Nacken unter das Joch beugte, aus elender Schwäche weder zum Kampf noch zum Widerstand, weder zum Leben noch zum Sterben fähig.

Auf den Trümmern der Republik ragte sein Thron, der nur noch der Schande, dem Verrat, dem Unglück und den Tränen der Verkauften befehlen durfte – er aber sorgte sich in Wirklichkeit aus tiefstem Herzen nur um eins: ob ihm die das Land teilenden Mächte zum Lohn für die Gefügigkeit seine Schulden bezahlen und ein bequemes Lebensende sichern würden?

Mit einer quälenden Neugierde betrachtete Zaremba sein Antlitz, da er aber selbst in diesem Augenblick weder den Menschen noch den König finden konnte, wandte er sich zum Gehen, um planlos durch die Gänge zu irren; er trat auf die Galerie und kehrte zuletzt wieder in die Halle zurück, vor die Tür des Sitzungssaals, aus dem immer von neuem der Lärm der Stimmen quoll. Es war ihm, als brannte der Boden unter seinen Füßen, Verzweiflungsanfälle und Angstschauer überkamen ihn, so daß er sich endlich dem General Dzialynski näherte; als ihn jedoch die durchbohrenden Blicke des vorbeieilenden Boscamp trafen, wandte er sich jäh dem Hauptmann Zukowski zu. Der Hauptmann war ebenfalls wie im Fieber und gab nur mürrische Antworten. Der Oberst Jasinski flüsterte mit der Vizekämmerin, Kaczanowski trank und eine Anzahl der Verschworenen hatte sich in der Stube der königlichen Hauptwache mit Martin Zakrzewski eingeschlossen, der seit Mitternacht den Wachtdienst übernommen hatte, so wanderte Zaremba einsam von einem Platz zum andern, als Woyna auf ihn zukam und ihm zuflüsterte:

»Iwanow zieht Dienstag abend aus, er führt einen Transport frisch angeworbener Soldaten mit sich, die Zahl der Begleitmannschaft ist mir nicht bekannt, Freunde begleiten ihn bis nach Merecz.«

»Das sind wichtige Dinge, die du meldest!« seine Erregung und Unruhe verschwanden, er sah aus als spannte er sich zu einem Sprung und er schien auch schon zu wissen, was er tun sollte, denn mit einemmal sagte er zu Woyna: »Fahre nicht mit ihnen ...«

»Ich habe so viel an ihn verloren, daß ich froh bin, wenn ihn meine Augen nicht mehr sehen werden.«

Zaremba wandte sich mit der Neuigkeit sofort an Kaczanowski, welcher froh vor sich hinlächelnd, das Weinglas gegen das Licht hob und vor sich hinmurmelte:

»Die Sache macht sich. Und ich sollte den lieben Freund allein ziehen lassen? Niemals, ich fahre mit ihnen!«

Es entstand mit einemmal ein Getöse, alles drängte sich nach dem Sitzungssaal, die Abstimmung hatte begonnen.

Alles im Saal war aufgestanden, ein dumpfes Schweigen erfüllte den Raum, jeder der Boten legte seine Stimme in die Urne, die vor dem Marschall stand, und kehrte auf seine Stelle zurück. – Sie kamen seltsam ängstlich heran mit scheuen Mörderblicken, ihre Schritte klangen hohl wie dumpfe Hammerschläge auf einen Sargdeckel, das Grab wartete schon, und die abgegebenen Stimmzettel fielen wie Erde, die man als letzten Gruß einem Toten nachwirft. Der König stand da in majestätisch wehmütiger Haltung, von dem Gefolge der Bischöfe und Senatoren umgeben: es war auch kein geringes Begräbnis, obgleich die Totenfeier stumm vonstatten ging.

Im Fensterchen über dem leeren Thronsessel schimmerte der weiße Kopf des Erben.

»Barmherziger Gott, oh Gott!« schluchzte eine Stimme auf und versank im drohenden Schweigen.

Der Bote Mikorski weinte, die Hände vor dem Gesicht, über das strenge, qualverzerrte Antlitz des Boten Skarzynski rannen Tränen und Furchen namenloser Qual kerbten sich darin ein; der Rest der Zelanten schaute auf dieses Gefolge der Totengräber mit Augen, in denen der Wahnsinn stand. Ihre Herzen schlugen laut, ein Schrei der Verzweiflung wühlte in ihren Eingeweiden, sie bebten wie in einem Fieber, und die heißen Lippen schienen um ein Wunder der Gnade oder wenigstens um das Geschenk eines plötzlichen Todes zu beten.

Die Zählung der Stimmen begann.

Die Lichter in den Kronleuchtern brannten zu Ende und erloschen eine nach der anderen; durch die Fensterscheiben rieselte ein blasses Frühlicht und das erste Zwitschern der Vögel drang in den Saal; die Uhren hatten drei geschlagen, die Minuten wurden eine Qual und ein langsames Sterben, die ermüdeten Augen klammerten sich an die Schreibergestalten, welche dabei waren, die Stimmen zu zählen, bis sich endlich der Reichstagsmarschall erhob und verkündete:

»Affirmative 66, negative 21. Die Bestätigung des Vertrages mit Rußland ist angenommen!«

»Alles ist verloren!« brach eine schluchzende Stimme aus.

»Jesus Maria! Jesus Maria! Jesus Maria!« hörte man eine wie von Raserei gepackte Stimme schreien.

Der Kastellan faßte Zaremba unter und flüsterte ihm ins Ohr:

»Bist du bereit? In einer Stunde mußt du nach Petersburg fahren ...«

»Ich fahre nicht!« er sagte das mit einer solchen Stimme, daß der Kastellan ihn verließ, ohne ein Wort mehr zu sagen.

In der Vorhalle hörte man vielfaches Schluchzen und ein wildes Fluchen erhob sich beim Anblick der Faktionisten, die gebückt und ängstlich dem Ausgang zustrebten, besonders nachdem der Gesandte abgefahren war, um schleunigst die Eilboten mit der frohen Botschaft nach Petersburg zu senden. Nach seinem Fortgang, nachdem auch die Wachen eingezogen worden waren und das Militär sich entfernt hatte, versammelten sich alle Verschworenen in einer heimlichen Ecke, wo der Entschluß gefaßt wurde, sich in einigen Stunden im Bernhardinerkloster zur Priormesse zu versammeln – und der General Dzialynski, das Haupt der Verschwörung, sagte laut, als sie voneinander schieden:

»Nil desperandum!«


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