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Siebentes Kapitel

Eines Morgens begann sich vor dem Palais des Fürsten Sapieha das Volk anzusammeln, denn ein bläuliches, mit dicker Schrift bedrucktes Papier, das aus dem schwarzen Brett zu sehen war, auf welchem sonst Ankündigungen angeschlagen wurden, zog die allgemeine Neugierde auf sich. Man versuchte das Schriftstück zu lesen, mochte es nun aber daran liegen, daß das Blatt zu hoch angebracht war oder daß sich solche daran versuchten, die nicht sehr geübt in der Kunst des Lesens waren, kurz und gut, es hatte schon dieser und jener mit Mühe Buchstabe nach Buchstabe zusammenzusetzen versucht und allerhand vor sich hergestottert, aber es kam zuletzt aus alledem doch nichts heraus; nur Spott und Gelächter ließen sich aus dem Gedränge um den Lesenden herum vernehmen.

»Solche Papiere besagen, daß ein Zirkus herkommt,« ergriff ein Bürger in grünem Schurz das Wort, »... besagt wohl so etwas wie damals, als die Generalität nach Grodno gekommen ist, da ...«

»Es steht hier doch groß wie ein Ochs geschrieben: »Mit Erlaubnis« ... lese weiter, Trojakowski!«

»Aus dem Gebetbuch kann ich bis auf den letzten Buchstaben alles ablesen, aber das hier ist ganz was anderes ...«

»Du warst nicht dabei, als sie es geschrieben haben,« höhnte ein langer Kerl im weißen zottigen Rock und der Fratze eines Gauners: »Der Hund soll sie mit ihrer gesamten Familie ... wegen diesem ihrem Druckzeug!«

»Du hast es leichter, mit deiner Zunge die Tunken von den herrschaftlichen Platten wegzuputzen!«

»Das könnte vielleicht aber auch etwas gegen die Generalität sein.«

»Sie kleben so viel an, daß keiner mehr alles herausfindet und behalten kann.«

»Dieses Papier hat die Generalität verboten. Ich habe selbst gesehen, wie die Marschallknechte den alten Krygier, den Weißgärbermeister, beim Lesen ertappt haben, den haben sie gleich mit fortgeschleppt. Man sagt, daß er seine Prügel schon weg hat.«

»Die Herren zanken sich und das Volk bekommt die Schläge.«

»Gestern haben sie Papiere angeklebt, wo etwas gegen den preußischen König darin stand.

»Die anderen, die sich den Anschein von Freunden geben und die Stadt unter ihren Kanonen halten, sind nicht besser!« erhob sich aus dem Gedränge eine nachdrückliche Stimme.

Sie sahen sich ängstlich in der Richtung der Horodnica um, und dieselbe Stimme fügte noch hinzu:

»Wir wollen zu Gott hoffen, daß man sie noch zu Hunderagout kleinhackt.«

»Platz da!« ertönte Stascheks befehlende Stimme. Er war wie ein Warschauer Schelm aufgeputzt, hatte eine kleine Tabakpfeife zwischen den Zähnen, einen Rohrstock in der Hand und drängte sich frech vor.

»Was gibt's denn? ... hat der Bettler zum Heiligenbild gefleht, und das Bild steht wie es steht ...« begann er zu spotten. »Die Herren Bürger machen große Augen vor dem Zettel, wie die Kühe vor dem Kirchentor und können weder A noch B sagen. Hihi! Ich will euch gleich Öl in die hohlen Köpfe gießen. Hebt mich mal hoch, Jungen, denn durch meine Brille kann ich es nicht so weit sehen!« Er guckte durch die zu einer Röhre zusammengeballte Faust, verzog sein Gesicht zum Lachen, wieherte auf, ahmte das Kläffen eines kleinen Hündchens nach, so daß sie endlich anfingen Raum zu geben, und nachdem er sich hatte hochheben lassen, rief er:

»Haltet mich bloß vorsichtig, teure Sanskulotten, denn meine Pluderhosen sind frisch von einem Wojewodentöchterlein bestickt worden, und sollten die Nähte nachlassen, dann würde sich ein Anblick bieten, der für die Damen nicht ziemlich wäre und durch die Verfügungen der Generalität verboten ist.«

Er rollte die Augen, um sich zu vergewissern, daß keine Kosakenpatrouillen in der Nähe waren und begann das Blatt in einem Straßenjungenton und im Warschauer Dialekt vorzulesen.

»Mit Erlaubnis der Konföderation beider Völker.«

Die Menge drängte mit verhaltenem Atem näher heran und hörte andächtig zu.

»Das österreichische, preußische und moskowiter Unternehmen wird sich die Ehre geben, in diesen Tagen vor dem hochlöblichen Publikum der Stadt Grodno und der Umgebung die Aufführung einer Komödie in drei Aufzügen zu veranstalten, die höchsteigen durch Seine Majestät den Herrn König von Preußen verfaßt worden ist, aber seit 1772 nicht mehr aufgeführt wurde, und zwar unter dem Titel:

»Die Teilung Polens!«

»Der erste Aufzug wird eingeleitet von einem Trio: Freiheit, Gleichheit und Unabhängigkeit!, dessen Absingen sich die hochmögenden Herren Gesandten der benachbarten Mächte unter Beihilfe von russischen Nahajkas angelegen sein lassen werden.

Der zweite Aufzug: Wenn sie es nicht zugeben, werden wir es dennoch in Stücke reißen!

Vor dem dritten Aufzug kommt ein Ballett unter dem Titel: Die spaßhaften Spiele des Kleeblatts, in welchem Felix Potocki, Rzewuski und Branicki eine Triumphpolonaise abtanzen werden unter Begleitung von Kanonendonner und beim Brand von Dörfern und Städten; zu ihrer Befriedigung wird am Schluß ein allgemeines Abschlachten der nicht konföderierten Bürger stattfinden.

Eintrittskarten sind billig oder selbst sogar leihweise bei den Herren I. de Sievers und de Buchholtz und bei einzelnen Würdenträgern von Kronpolen und Litauen zu haben.«

Als hätte ein Eiswind über sie hingeweht, so verzogen sich die Gesichter der Zuhörer und verfinsterten sich ihre Augen.

Schmerz begann sich in den einfältigen Seelen zu regen und eine dunkle Sorge verdüsterte ihre Stirnen. Sie sahen einander im Bewußtsein ihrer Hilflosigkeit an, doch schienen sie gut den Inhalt der Ankündigung zu verstehen, denn es fingen schon einige an zu fluchen und mit den geballten Fäusten zu drohen.

»Denen ihre verdammte Hundemutter ...! verfluchtes Hundegezücht!«

»Wozu uns die hochgeborenen Herren gebracht haben, seht euch das einmal an!« seufzte ein anderer.

»Haben die sich hier aber feine Geschichten ausgedacht, Donnerwetter noch einmal! hihi!« versuchte Staschek ein Lachen vorzutäuschen, um Widerspruch zu erregen.

»Das ist gar nichts zum Lachen!« herrschte ihn der Bürgersmann im grünen Schurz an, so daß Staschek mit einemmal in der Menge untertauchte, die er dann eifrig vor das Dominikanerkloster zu locken bestrebt war, wo sich am Eingang zur Kirchenhalle ein Blatt mit folgender Bekanntmachung befand:

»Ich tue der geneigten Öffentlichkeit kund, daß im neuen Schloß in den Gemächern Seiner Majestät des Königs eine ununterbrochene Versteigerung gegen Bargeld abgehalten wird und zwar kommen die noch bei der Republik verbleibenden Wojewodschaften und Landschaften in Betracht neben verschiedenem entbehrlich gewordenen Gerät, als dieses sind: Kronen, Zepter, königliche Eide, Armeen und allerhand Kriegsgerät. Daselbst werden zu maßvollen Preisen Titel und moskowitische Würden sowie Orden und ehrlichen Bürgern abgenommene Besitzungen verkauft.«

Er las mit gedämpfter, ernster Stimme, denn dieses Gassenvolk, das aus Straßenhändlern, kleinen Handwerkern, Marktweibern und verschiedenerlei Gesindel bestand, hörte mit wachsendem Ernst des Verstehens zu, und als er zu lesen geendet hatte, begann er sie gegen die Feinde aufzuhetzen; er verstand dieses wie wenige, denn er wußte, wo es nötig tat, einen Scherz einzuflechten, mit Hohn zu geißeln oder in gut gewählten Worten die Furchtbarkeit der Vergewaltigungen, Gewalttaten und Bedrückungen darzustellen, so daß sich den Zuhörern die Haare zu Berge sträubten. Er war gerade in bester Fahrt, als man Pferdegetrampel vernahm.

»Kosaken! Lauft!« erklangen Zurufe.

Doch ehe sie vermocht hatten, auseinanderzustieben, kam eine Kosakenpatrouille im vollen Galopp in das Gedränge hineingesprengt, die Nahajkas pfiffen durch die Luft und das Geschrei der Niedergetrampelten gellte zum Himmel empor; nach wenigen Augenblicken war schon niemand mehr vor dem Dominikanerkloster zu sehen, nur ein Mann in hellgrauen: ungarischen Pelzüberrock machte sich eifrig daran, den angeklebten Zettel abzureißen, und eine vornehme Dame, die aus dem Fenster eines angehaltenen Wagens hinausblickte, erkundigte sich nach dem, was vorgefallen sei.

»Die Doner Kosaken haben die Leute zum konföderierten Glauben getauft,« erläuterte Staschek, der aus der Kirchenhalle zum Vorschein gekommen war.

»Ein resoluter Bursch! Und wessen bist du denn, mein Junge?« sie hob ihr Stielglas an die Augen.

»Vater und Mutter seiner, meine gnädige gerupfte Glucke!« gab er zurück und rannte davon; er machte erst bei Zaremba halt, der wie auf Wachtposten vor dem Kaffeehaus stand.

Er erzählte, was vorgefallen war, und nahm mit einemmal eine militärische Haltung an, indem er mit abgerissener Stimme leise zu berichten anhub.

»Melde gehorsamst, daß ich dem Mann dort, der mich immerzu beobachtet, das Maul nach der anderen Seite drehen muß,« er wies mit den Augen auf den Mann im hellgrauen ungarischen Pelzüberrock. »Der gehört zu der Hundemeute von Boscamp, hat mit Mathies Freundschaften gesucht und ist auch den Werbern behilflich.«

»Tue, als ob du ihn nicht kennst. Stelle dich näher heran und rede leiser. Wer hat die Zettel aufgeklebt?«

»Pater Seraphim hat sie gestern aus Wilno erhalten, wer sie aber aufgeklebt haben soll, das weiß ich nicht. Melde gehorsamst, daß ich sie dem Volk vorgelesen habe. Aber diese Stadtlumpen sind nicht von meinem Kommando. Feuer haben sie nicht für einen Silbergroschen in sich. Ich erzähle ihnen von den Gewalttaten der Allianten, und die seufzen bloß, rufen den Namen Gottes vergeblich an und bohren betrübt in den Nasen herum. Ganz gewöhnliches Gaffergesindel! In Warschau hat das Volk viel feineres Empfinden: da braucht man nur ein einziges treffendes Wörtchen zu sagen, und sie sind schon bereit, von der Stelle weg nach dem Königsschloß zu ziehen oder zumindest die Marschallpolizei und die Juden zu verprügeln. Gegen die Herren Allianten haben sie dort ein besonderes Gift, und man könnte sie nicht schlecht zu dem Zweck benützen ...«

»Still! Wo ist der Herr Kapitän?« unterbrach er ihn, denn in der Nähe standen einige russische Offiziere.

»Der sitzt mit seinen Sorgen auf Borg bei Dalkowski in der Weinhandlung. Ich habe gerade die nötigen Silbergroschen aufzutreiben gesucht, um meinen Herrn auszukaufen.«

»Du hast ewig nur Unsinn im Kopf.«

»Es ist schon so ein Elend, daß nichts an mir haften bleiben will. Gestatten der Herr Lieutnant mir zu melden: ich möchte auch noch um die Gnade bitten, meinem Herrn wenigstens einen beschnittenen Dukaten zukommen zu lassen, denn wenn er sich noch bis Mittag so grämen soll, dann werden auch ein paar Ringdukaten nicht ausreichen.«

»Ich komme gleich hin, er soll nur auf mich warten.« Er wandte sich rasch ab, denn aus der Behausung der berühmten Modistin Lazarewicz trat Isa in Terenjas Begleitung heraus. Sie waren gerade im Begriff, in ihren Wagen zu steigen, als er auf sie zukam, um sie zu begrüßen. Terenja, ganz rosenfarben mit gekräuselten Locken und seligem Lächeln zwitscherte wie ein lustiges Vöglein, während Isa in ihrem Hut aus gelbem Stroh, der unter dem Kinn von einer grünen Schleife gehalten wurde, und in ihrem weißen, blumengemusterten Kleid, das sich etwas an den Hüften und auf der Brust bauschte, so reizend aussah, daß er sie bewundernd anblickte. Sie lohnte seine stumme Huldigung mit einem freundlichen Lächeln und einem wärmeren Händedruck.

»Schade! du hättest mir helfen können, die passenden Farben für Terenja auszusuchen.«

»Wenn ich das verstände, Blumen noch mit Farben zu schmücken!« warf er galant hin.

Terenja blickte ihn dankbar an, rief aber gleich darauf lebhaft:

»Euer Edlen sehen aus wie nach einem Arrest bei Wasser und Brot. Sieh doch nur, Isa, was er für schwarzumränderte Augen hat, wie er blaß ist; richtig abgezehrt ...! Was ist denn Euer Edlen bloß geschehen?«

»Es scheint, daß mir die Luft in Grodno nicht bekommt,« scherzte er.

»Dann muß wohl auch die schlechte Luft schuld sein, daß wir dich jetzt so selten bei uns sehen?« fragte Isa.

»Hast du das bemerkt?« flüsterte er ihr zu: »Meine Angelegenheiten nehmen mir so viel Zeit.«

»Für deine Freunde könntest du trotzdem einen Augenblick Zeit übrig haben.« Aus ihrem Vorwurf klang ihm zugleich eine Bitte entgegen.

»Ich werde es als meine Pflicht betrachten.«

»Vielleicht treiben sich Euer Wohlgeboren wie die meisten jetzt hier die ganzen Tage und Nächte herum?« sprudelte Terenja vorwitzig hervor. »Oder spielen selbst unglückliche Amouren mit?« fügte sie leiser hinzu.

»Ein Kato kann sich nicht in einen Celadon verwandeln. Du kennst ihn nicht. Kleine: er hält Gefühle für Sünde, wenn nicht für ein Verbrechen.«

Die Erbitterung, die aus ihrer Stimme klang, marterte sein Herz, er entgegnete jedoch kühl:

»Du kennst mich noch viel weniger, als das Fräulein Oberstentochter.«

Er verabschiedete sich gleich darauf, denn Terenja begann freudig über den Putz zu jauchzen, den die Händler in großen Mengen an den Wagen herantrugen. Noch einmal wandte er den Kopf um und begegnete für einen flüchtigen Augenblick den Augen Isas, die wie ein Locken und Rufen waren.

Einbildung, Trug, Einbildung! – er wies den Eindruck ihres Blickes immer wieder von sich.

Der Tag war wolkig, seltsam umflort und von Trauer und Stille erfüllt: das Rollen der Herrschaftskutschen und der Stimmenlärm verloren sich, als wären sie von den Mauern der Häuser und von der Erde aufgesaugt, selbst die Glocken, die den Mittag verkündeten, ließen ihre Töne dumpf und schwer sinken und das Kindergeschrei in den Gassen gegen eine undurchdringliche, tief herabhängende Decke anprallen. Weiße Wolken umsponnen den Himmel mit einem dichten Altweibersommergespinst und die schwarzen Schwalbenflüge senkten sich immer tiefer über die Dächer der Häuser herab. Es ging auf Regenwetter zu, dennoch waren die Straßen voll von Kutschen und voll Menschen wie an jedem Tag. Es schien Zaremba, daß er häufiger als sonst Patrouillen auf seinem Weg begegnete, er sah Kosaken selbst in den Höfen verschiedener Privathäuser, und besonders um das königliche Schloß herum schienen sie sich in allen Winkeln und Ecken versteckt zu halten. Bewaffnete Kompagnien zogen häufiger als sonst unter Trommelwirbel, Pfeifengetön, Janitscharenschellengeklirr und trunkenem Singen und Gejohl durch die Straßen der Stadt. Sie flossen vorüber getöseumbraust wie eine drohende Flut von böse funkelnden Bajonetten, ohne jedoch das Publikum wie beabsichtigt mit Angst zu erfüllen, am allerwenigsten die Zelanten, die unerschrocken im Reichstag das Vaterland verteidigten. Die Augen sahen sie und die Ohren hörten sie ziehen, doch statt der Angst begannen diese lärmender: Umgänge den berechtigten Zorn und beleidigten Stolz der freien Bürger der Republik zu erwecken. Die Haltung des einfachen Volkes lenkte Zarembas besondere Aufmerksamkeit auf sich, denn diese Menschen trachteten nicht, ihren Abscheu aus wohlberechneten Überlegungen zu verbergen und begrüßten die vorbeimarschierenden Reihen mit drohendem Murren, Schimpfworten und hier und da selbst mit einer nachgeschleuderten Handvoll Straßenkot und mit durchdringendem Pfeifen.

Vielleicht werden auch die anderen sehend! dachte er, während er in die Weinhandlung von Dalkowski trat.

Da indessen ein ganz feiner Regen zu rieseln begonnen hatte und die Mittagszeit herangekommen war, füllten sich die kleinen Stuben bis auf den letzten Platz. Die dicke Wirtin thronte wie gewöhnlich hinter dem Schanktisch und befehligte die Kredenzdiener und ihren bedienenden Mann, der in seiner grünen Schürze von Zimmer zu Zimmer eilte. Zaremba sah sich nach Kaczanowski um, doch mußte er in der Mittelstube stehen bleiben, infolge eines Gedränges, das sich um einen Mann in einer Kontusche der Wojewodschaft Sieradz gebildet hatte, welcher mit lauter Stimme etwas vorlas.

Es war dieses die Rede des Boten Ciemniewski für die Landschaft Rozany, welche er am 10. August im Reichstag gehalten hatte und die gegen den König gerichtet war. Diese Rede hatte ein allgemeines Aufsehen erregt und war in tausenden von Abdrucken und Abschriften im ganzen Lande verbreitet worden, wobei der Oberst Jasinski sehr wirksam mitgeholfen hatte.

»Und diese Stelle zum Beispiel, meine Herren,« rief der Schlachtziz aus Sieradz, indem er mit befehlender Gebärde den Lärm zu beschwichtigen versuchte: »Alle deine Taten, Allerhöchster Herr, sind auf den schwarzen Seiten der Geschichte vermerkt, es steht dir aber eine goldene zur Verfügung, wenn du den anderen nicht gestatten solltest und deine Hand nicht dazu hergäbest, die preußische Besetzung gutzuheißen.«

»Eine edle und gerechte Stimme!«

»Er hat recht, recht hat er!« erklangen ringsum laute Zurufe und die Erinnerung an die Wirklichkeit erfüllte sie mit einem solchen Zorn, daß schon dieser und jener kampflustig mit seinem Säbel zu rasseln begann.

»Ich will den edlen Herren den letzten und köstlichsten Leckerbissen vorsetzen: »Du bist, allergnädigster Herr, dazu verpflichtet,« las der Sieradzer Schlachtziz mit besonderem Nachdruck vor: »dem Volk etwas Ruhmvolleres zu schenken als die Unterschriften aus Teilungstraktaten.«

Es mußte den Anwesenden die blutende Herzenswunde wieder mächtig fühlbar geworden sein, denn es entstand einen Augenblick unheilvolle Stille, bis plötzlich eurer schwer aufstöhnte:

»Eine einzige Plage ist das Regiment dieses Königs.«

»Sofort überschrien ihn jedoch die königlichen Anhänger, und einer von ihnen rief ihm zornig zu:

»Die großen Herren sind die Schuldigen, sie tragen die meiste Schuld ...!«

»Das ist die reinste Wahrheit,« unterstützte den Rufer ein hageres Männchen in fadenscheiniger Kontusche. »Das hat doch schon der Bote Goslawski im Reichstag laut gesagt: ›Wer hat denn die Hilfe der fremden Waffen gegen seine Mitbürger herbeigerufen, wenn es nicht die Mächtigen waren? Wer hat gehindert, daß die Republik wieder hergestellt wurde, wenn nicht gerade sie einzig und allein?‹«

»Alle haben wir uns gegen das Vaterland vergangen«, donnerte plötzlich ein weißhaariger Schlachtziz dazwischen, der feierlich dasaß, während ihm der Kredenzdiener eine Serviette unter das herabhängende Doppelkinn band. »Unser Hochmut, unser Mutwille und unsere Entmenschtheit richten das Vaterland zugrunde!« Er bekreuzigte sich und begann laut und gierig seine Suppe zu löffeln.

»Wer hat denn hier das Amt des neuen Skargapredigers übernommen?« fragte eine höhnische Stimme aus dem Gedränge.

»Der Herr Richter Woynillowicz aus Rowogrodek; vor der Suppe tut er gern die Mitmenschen warnen, wenn er aber erst ...«

Der Rest verlor sich in dem Stimmengewirr der hitzigen Gespräche und im Geklirr und Geklapper der Teller und Löffel, denn alle hatten sich an's Essen gesetzt.

Der Hauptmann Kaczanowski saß einsam im kleinen Hinterzimmer, das einen Ausgang nach dem Hof zu hatte und von Zaremba zum ausschließlichen Gebrauch der Eingeweihten gepachtet worden war, er blickte den Eintretenden freudig an, sagte aber kein Wort.

Staschek, der hinter seinem Stuhl stand, unterhielt sich damit, die Fliegen über dem Kopf seines Herrn wegzufangen.

»Ich habe nicht gedacht, daß der Herr Hauptmann es in der Einsamkeit länger als ein Ave aushalten könnten.«

»Es kann einer viel, wenn er muß. Redet dahinten denn noch immer der Mann in der Sieradzer Kontusche?«

»Ich habe eben gehört, wie er die Rede des Boten Ciemniewski vorgelesen hat.«

»Das ist der verabschiedete Lieutnant Tarnowski aus der Brigade von Biernacki, ein berühmter Fechter und ein aufgeklärter und artiger Kavalier, aber er hat von gestern her von mir fünfzehn Dukaten zu bekommen und ich rieche nicht einmal nach einem Schilling.«

»Das merkt man, denn Euer Wohlgeboren haben ein Aussehen wie die sieben Diebe nach dem Essigtrank.«

»Ein Wunder, wenn ich schon seit heute früh diesen schäbigen Sauerwein auf Borg heruntersausen muß und vergeblich darauf warte, daß mich einer auslöst. Staschek, laß dem Schuft von Wirt richtigen Wein herbringen.«

»Was sind denn das für Geschichten gewesen, die den Säckel so erleichtert und den Humor verdorben haben?«

»Das läßt sich denken, schlechte Karten und unglückliche Amouren. Primo: habe ich alles bis zum letzten Faden verspielt. Secundo: hat mir die Sultanin des Hetmans Ozarowski eine aufs Maul gegeben, was zwar nicht entehrt und einem häufiger passieren kann. – Und tertio: überlege ich mir hier ein recht riskantes Unternehmen von mächtigem Kaliber. Könnten mir Euer Wohlgeboren Menschen, Pferde und Geld zur Verfügung stellen?«

»Wenn die Umstände es erfordern, habe ich solches zu tun. Was ist denn das für ein Unternehmen?«

»Ich habe erfahren, daß die Kosaken einen ganzen Haufen angeworbener Gemeiner nach Warschau schleppen, sie sollen nicht die Landstraße nach Bialystok benutzen wie gewöhnlich, sondern mit der linken Flanke ein die Fährte deckendes Manöver vollführen und werden bei Merecz über den Njemen gehen; sie zirkulieren auf Wilno zu. Wertvolles Pferdematerial wird dabei sein und die Wagen sind gehörig mit Kisten vollgeladen. Ein leckerer Transport!«

»Und Euer Wohlgeboren haben Appetit darauf? Das ist aber eine verteufelt waghalsige Sache, man könnte das mit dem Kopf bezahlen.«

»Ich fühle ihn noch fest auf meinem Nacken, und wenn ich sichere Leute an der Hand hätte, würde ich denen schon die Beute abjagen, so wahr Gott im Himmel! Die Gelegenheit ist wie ausgesucht.«

»Menschen könnte man schon haben, schwerer würde es halten, die nötigen Pferde zu verschaffen.«

»Wenn ich das geahnt hätte ... Erst vorgestern habe ich eine ganze Partie an Madalinski abgesandt, über vierzig Stück, die ich auf dem Jahrmarkt in Zelwa erstanden hatte.«

»Melde gehorsamst,« Staschek trat plötzlich in strammer Haltung näher. »Die Mierower Krongarde hat gerade ihre Pferde am Njemen an der Kownolandstraße auf der Weide, man könnte sich dort die Pferde ausborgen, sind Stück für Stück wahre Riesen!«

»Das ist ein vorzüglicher Gedanke, ha, ha! prächtiger Streich! reicht für eine ganze Schwadron! Ha, ha!«

»Das schon, aber man müßte noch über das ganze Unternehmen eingehend beratschlagen.«

»Wozu lange Überlegungen? Die Leute einfach auf die Gäule setzen und los, wenn es selbst heute Nacht sein sollte! Das wäre ein Stück! Die Gardepferde, mit königlichem Hafer gefüttert, die könnte unser Stab brauchen. Man müßte den Pferdeknechten das Genick umdrehen und dann alles auf die Alliierten abschieben! Einfache Geschichte, wie ein Pistolenschuß! Ich fühle mich wie neugeboren! Staschek, du kannst dir einen Schnaps leisten, uns aber laß Essen bringen und ein paar ordentliche Flaschen Wein, der Herr Leutnant zahlt die Zeche.«

»Angenommen, die Sache gelänge, was würden dann Euer Wohlgeboren mit dem ganzen Transport anfangen?«

»Wenn ich nur erst den Njemenfluß hinter dem Rücken habe, dann werde ich mir schon zu helfen wissen. Das Land dort kenne ich wie meine eigene Tasche. Ich ziehe zu meinen Kurpjen, Ein Mazurenstamm in der jetzigen Landschaft Lomza an der Grenze von Ostpreußen. wo mich selbst der Teufel nicht aufstöbern wird! Lieber Gott, wie solltest du dem Kaczanowski nicht helfen! Herrgott ...!« erregte er sich, nicht mehr imstande, ruhig sitzen zu bleiben.

»Die Begleitmannschaft könnte auch Widerstand leisten.«

»Wenn sie sich nicht überlisten lassen, sollen die Karabiner das ihre tun, ich werd' mich mit denen nicht lange aufhalten. Einer der Rasttage fällt auf Merecz, gerade am kommenden Mittwoch, d. h. den 19. August. Dieses hat mir sub sigillo mein lieber Busenfreund Iwan Iwanowitsch Iwanow anvertraut. Das arme Offizierchen hat mir vor Verzweiflung meine Zupan naßgeflennt, weil er seine»Duschenka« »Duschenka« bedeutet auf russisch – »Seelchen«, »Geliebte«. verlassen muss denn er hat den Befehl erhalten, von Merecz aus den Transport weiterzuführen. Dieser verfluchte Stutensohn! zwei Tage hindurch habe ich mit ihm dicke Freundschaft gehalten, gesoffen wie mit einem Gleichgestellten und das noch für meine eigenen Dukaten. Wir haben einander so lieb gewonnen, daß er mich selbst zum Dienst der Imperatorin bereden wollte, sogar die künftige Waffenbrüderschaft haben wir schon gehörig begossen. Heute abend sollen wir uns nochmals treffen, das wird nicht geringe Kosten verursachen. Ich habe außerdem noch den Verdacht, daß er aus Grodno eine ansehnliche Anzahl angeworbener Gemeiner mitnehmen wird. Er hat mir schon eine Andeutung darüber gemacht.«

»Dann wird man auch die Begleitmannschaft dementsprechend vergrößern. Ich muß erwähnen, daß die Fährstellen auf dem Njemenfluß bis Kowno von Kosaken besetzt sind, die Furten werden ebenfalls bewacht und auf den größeren Poststationen liegt Militär.«

»Es ist besser, nicht zu viel vorauszusehen. Die Umstände werden die wirksamsten Mittel und Wege weisen. Sagen Euer Wohlgeboren nur nichts davon an den General Dzialynski, denn wenn der erst anfangen würde zu überlegen, dann hätten wir den geeigneten Augenblick sicher verpaßt. Wir können diese Sache auch ohne ihn machen, er kann alles post factum erfahren.«

Zaremba war gern damit einverstanden, denn auch in ihm hatte die Neigung zu Wagnissen den Sieg über die nötige Vorsicht davongetragen und ihn mitgerissen.

Beim Mittagessen entwarfen sie in groben Zügen den Plan des Unternehmens, wobei sie Staschek mit ins Vertrauen zogen. Er drängte, ihm zu gestatten, die Weideplätze der Gardekavallerie in Augenschein zu nehmen und sich mit den Leuten verständigen zu dürfen. Sie gaben ihre Zustimmung dazu, denn geschickter hätte keiner die Sache machen können, das einzige, worum er bat, war eine größere Zulage für die nötigen Bewirtungen.

Die Unterredung wandte sich zeitgemäßen Fragen zu und Zaremba erkundigte sich nach Hlasko.

»Er ist in Chojniki, beim Vizeschatzmeister Prozor gewesen und soll jeden Tag wieder eintreffen, der Chef beunruhigt sich schon und auch ich möchte ihn gern dahaben, denn er ist ein Mensch voll Mut und dabei schlau.«

»Ich will den Kasper gleich heute noch losschicken, damit er die Umgegend von Merecz rekognosziert. Wenn es Euer Wohlgeboren aber nicht gelingen sollte?« sein Gesicht verdüsterte sich bei dieser Erwägung.

»Dann können Euer Wohlgeboren bei Pater Seraphim eine Messe für meine Seele kaufen und ein Gebet für mich beten,« scherzte er.

»Wir haben keine Zeit zum Sterben, der Herr Leutnant,« mischte sich Staschek sehr ernst in die Unterredung ein, »das können die größeren Herren besorgen.«

Zaremba verließ die Weinstube noch ganz aufgeregt über den waghalsigen Plan; er hätte mit Freuden an dem Unternehmen teilgenommen, wenn nicht die Mission, die er zu erfüllen hatte und der pflichtgemäße Gehorsam gegenüber seinem Chef ihm das verboten hätten. Sein Herz sehnte sich nach kriegerischen Taten und Abenteuern, Grodno war ihm schon bis in den Grund seiner Seele zuwider und das angestrengte Doppelleben, das er dort führen mußte, begann seine Kräfte zu erschöpfen. Er erstickte förmlich in dieser von Niedertracht erfüllten Luft. Tausendmal hatte er das Bedürfnis, diese Niedertracht beim Namen zu nennen und mußte dennoch schweigen und seine sittliche Empörung im Zaum halten. Er war gezwungen, sich den Anschein eines Gleichgültigen zu geben, oder, was noch schwerer für ihn war, zu scheinen wie die Mehrheit der guten Gesellschaft. Es gab Augenblicke, in denen er sich selbst verabscheute. Und wie um das Maß voll zu machen, quälte ihn Isas Gegenwart, wie ein in der Wunde steckender Dorn. Er liebte sie nicht, aber daß er sie einmal geliebt hatte, konnte er noch immer nicht vergessen. Wenn er an sie dachte, überflutete Verachtung sein Herz, bei ihrem Anblick jedoch wurde er blaß und der Klang ihrer Stimme ließ eine vergiftende Süße in sein Inneres rinnen. Er floh vor ihr und nahm an allen Gesellschaften und Bällen teil, um sich überzeugen zu müssen, wie sehr er, wenn auch nur den Anblick ihrer ebenmäßigen Körperlichkeit ersehnte. Er dachte mit bitterem Neid an Kaczanowski.

»Ein solcher wird selbst in einer Schankmagd noch eine Venus entdecken und hat seine Freude an dem ersten besten Abenteuer.«

»Ich bin gerade auf der Suche nach dem Herrn Leutnant!« rief ihm dicht am Ohr Klotze zu.

»Was ist geschehen?«

Unwillig reichte er ihm die Hand.

»Nichts besonderes, ich habe bloß den Auftrag, Euer Wohlgeboren sogleich zum Mittagessen nach Sievers zu bringen, die Gründe wird der Herr Kastellan selbst mitteilen.«

»Das ist eine gar zu hohe Türschwelle für meine Füße, dabei habe ich schon zu Mittag gespeist.«

»Um so besser, es drängen sich da so viele hinzu, daß man oft hungrig vom Tisch aufstehen muß. Der Herr Gesandte wird auch immer geiziger in der Bewirtung seiner Freunde.«

»Dann wird er sie wohl nicht mehr nötig haben!« murmelte Zaremba, in der hohen Kariole Platz nehmend.

Unterwegs begann Klotze, der ihn nicht nur für den Neffen seines Herrn, sondern auch für einen Vertrauten des Kastellans hielt, Geständnisse über die Sorgen zu machen, die ihnen der Kammerherr bereitete, welcher weder von einer Scheidung noch von einer Trennung etwas wissen wollte.

»Was hat so einer denn von seiner schönen Frau? Die anderen erfreuen sich ihrer Gunst, und er kann sich indessen den Bart lecken!« er lachte zynisch auf: »diese ganze Geschichte ist ohne Sinn. Sich von einem scheiden wollen, wenn der andere noch nicht sicher ist und seine entscheidende Erklärung auf später verschiebt. Es ist klar, daß Graf Zubow die Ursache ist, denn er bringt jetzt die ganzen Tage bei der Kammerherrin zu, während der Fürst ganz toll vor Eifersucht hinter den Türen lauern muß. Gestern hat er den Heiducken, der ihm zufällig in den Weg gekommen ist, mit den Füßen getreten. Ach, diese Frauenzimmer, diese Frauenzimmer!« er schnalzte wollüstig und begann wieder zu lachen, so daß ihm der Bauch krampfhaft zuckte und die Ketten und Petschafte daraus klirrten. »Die Frau Kammerherrin würde gern, nach dem Beispiel großer Damen, einen Geliebten für den Alltag, einen zweiten für die Feiertage, andere noch zur Abwechslung und den Herrn Gemahl zum Zahlen haben!« Er kicherte über seinen eigenen Witz, ohne darauf zu achten, daß Zaremba krampfhaft die Zähne zusammenbiß. »Wir haben außerdem eine noch viel schwerere Sorge,« er seufzte auf und begann dicht neben seinem Ohr zu flüstern: »Die Frau Kastellanin hat ihre Unterschrift zur Generalvollmacht nicht hergeben wollen. So viele Jahre war sie gefügig und jetzt, da wir uns in einer schwierigen Lage befinden, ist sie mit einemmal borstig geworden. Der Herr Kastellan hat sogar Herzkrämpfe vor Aufregung darüber bekommen, denn er glaubt in dieser Ablehnung die niederträchtigen Einflüsterungen ihres Bankiers Kapostas zu erkennen, der aus Warschau hier eingetroffen ist und die Gnädige mit seinen Illuminantenpraktiken und mit astrologischen Horoskopen unterhält. Das ist eine wahre Not, denn jetzt nach den durch Kabrits Zusammenbruch erfolgten Bankrotten ist das Gold wie in den Boden versunken, man kann es mit keiner Gewalt ans Tageslicht ziehen, selbst den Wohlhabendsten fehlt es an barem Geld. Der Herr Kastellan wollen bei Sievers sein Glück versuchen. Ich habe abgeraten, denn dieser selbst muß sich oft durch Meißner aushelfen lassen und Boscamp rafft nicht selten bei Juden zusammen, was er für ihn bekommen kann. Jetzt könnte einzig und allein Buchholtz helfen.«

»Buchholtz?« er traute feinen eigenen Ohren nicht, »der Gesandte des Königs von Preußen?«

»Es wäre der einzige, von dem man etwas borgen könnte und dazu unter nicht allzuschweren Bedingungen.«

»Das sind mir aber Neuigkeiten, die Er da erzählt!«

»Es müssen doch die preußischen Angelegenheiten allernächstens im Reichstag zur Beratung kommen,« flüsterte er, sich zu ihm neigend: »und sie müssen affirmative durchkommen, das müssen sie doch!« bekräftigte er eifrig. »Die Opposition wird sich indessen mit ganzer Gewalt dagegen auflehnen! Und nicht nur die Herren Zelanten, die Schreier und die Reichstagskläffer werden sich uns entgegenstemmen, sondern auch einige Minister und die Anhänger Rußlands. Der Groll gegen Preußen wächst von Tag zu Tag, er richtet sich selbst schon gegen die Person des Herrn Gesandten, so daß er sich gar nicht mehr anders als unter bewaffneter Bedeckung aus der Straße zu zeigen traut. Wir wissen, daß Sievers diese Feindschaft schürt und im stillen den ganzen Haß der Allgemeinheit auf Preußen lenkt. Der Herr Kastellan könnte somit sehr viel tun, wenn er eine geneigte Mehrheit zusammenbringen wollte, aber er will gar nichts davon hören, aus ganz kindischen Gefühlsduseleien, als ob die Dukaten von selbst vom Himmel fielen. Ich bin bereit, ihm meinen Dienst zu kündigen, wenn wir nicht aus solchen Umständen Nutzen ziehen sollten ...«

»Worauf beziehen sich, deutlicher gesagt, die Ausführungen Eurer Wohlgeboren?« er kochte vor Ungeduld.

»Daß der Herr Kastellan zwanzigtausend an den Grafen Zubow verspielt haben und sie bezahlen müssen.«

»Vertraut sich der gute Onkel auch den stürmischen Fluten des Pharao an?«

»Nicht aus Leidenschaft, sondern aus weitsichtigen Gründen,« er lächelte bei diesen Worten mit einer aufdringlichen Vertraulichkeit. »Es kommt vor, daß auch Verluste gute Einkünfte bringen können ...«

»Ich zweifle nicht daran. Aber warum soll denn ich bei Sievers zu Mittag speisen?« fragte er unvermittelt?

»Die Gründe wird der Herr Kastellan auseinandersetzen, mein Auftrag endet an dieser Tür.«

Sie stiegen gerade vor dem Palais der Ökonomie auf der Horodnica aus, in dem Sievers residierte und erreichten über den breiten Treppenaufstieg den ersten Stock.

Der riesige, mit übertriebenem Prunk ausgestattete Saal war schon voll Gäste; man drängte sich gerade um einen Nebentisch, der mit schmackhaften Vorspeisen reich beladen war, während die Livreediener dienstbeflissen die dicken Schnapsflaschen herumreichten. Lobarzewski, der zugleich russischer Major war und die Würde eines Reichstagsboten inne hatte, dabei sich der besonderen Gunst und des Vertrauens von Sievers erfreute, eilte den Eintretenden mit herzlichem Gruß und vollem Glas entgegen und geleitete sie, nachdem er beiden zugetrunken hatte, an die Tafel, wo er ihnen eifrig die frischen englischen Heringe und eine besondere Art mit Ingwer bestreuten Mandelgebäcks anzupreisen begann.

Die Gesellschaft war zahlreich und gebärdete sich laut und ungezwungen; jeder nahm Platz, wo er wollte und tat, was ihm gefiel, der Gesandte führte nämlich selten den Vorsitz bei diesen Diners; häufiger war anstatt dessen sein erster Ratgeber, Baron Bühler, zugegen; in dieser Zeit erfüllte Lobarzewski fast täglich die Pflichten eines Amphitryons, indem er eifrig darüber wachte, daß die teuren Gäste sich sattessen konnten und vor allem, daß es niemandem an Getränken fehlte. Das war keine geringe Aufgabe, denn es tafelten bei ihnen täglich die ganze von Rußland gekaufte Reichstagsfraktion, wohl an die sechzig Personen, ohne die zufälligen Besucher und verschiedenen Speichellecker mitzurechnen.

Man trug die dampfenden Terrinen herein und alles nahm eiligst an den Tischen Platz; in der Stille des Raumes hörte man nur das leise Klirren der Fayencen und das eifrige Schlürfen der Essenden.

Zaremba hatte zu seinem nicht geringen Ärger den alten Schlachtziz Srokowski als Nachbarn zur rechten Seite erhalten, links neben ihm breitete sich ein dicker Würdenträger im dunkelblauen Militärrock neben ihm aus, welcher sich ihm als ein gewisser Anton Czarnecki, Rittmeister der Nationalkavallerie vorgestellt hatte, natürlich war es einer von jenen, die niemals Pulver gerochen hatten, obgleich er ein Portepee an seinem Säbel trug und mit dem Stanislausorden geschmückt war.

Der Rittmeister hatte einen Stiernacken, graumeliertes Haar, einen Bauch, der wie ein großer Brotlaib hervortrat, dabei ein seltsam kleines, fast jungenhaftes Laffengesicht mit roten Bäckchen und wollüstige, blutrote Lippen; er machte sich eifrig über sein Essen her, hob aber ab und zu sein von Tunken triefendes Gesicht und stotterte empört:

»Scheußliches Essen! Einfach Schweinefraß! Vielleicht wird die andere Platte besser schmecken!« und ohne Umstände schob er zu nicht geringem Ärger seiner Nachbarn ganze Fleischhaufen auf seinen Teller. Nur Nowakowski, der neben ihm saß, amüsierte sich dabei vorzüglich, indem er ihn zum besten hielt:

»Versuchen Euer Wohlgeboren doch einmal den Schöpsenbraten: der ist ein wahrer Leckerbissen. Zwar hat er einen leichten Duft von verfaulten Schafpelzen, aber er ist nach der Vorschrift des Küchenmeisters des Sultans zubereitet worden. Die Tunke ist mit Stutensahne angerührt, etwas ganz seltenes!« redete er auf ihn ein und zwinkerte dabei Zaremba zu. »Euer Wohlgeboren wissen wohl, daß über die berühmten Diners des Herrn Gesandten sogar schon Lobgedichte verfertigt worden sind; ein Exempel steht zu Diensten: ›Das Fleischgericht aus Sohlen, die Soßen mag der Teufel holen, als Braten frisches Aas – gesandtschaftlicher Fraß!‹ – Baron Sievers knausert nicht mit dem Geld, wenn es sich um seine Freunde handelt.«

»Ich bin kein Vertrauter von ihm. Man hat mir gesagt, es gäbe Gutes zu essen – da bin ich gekommen, um einen Versuch zu machen.«

»Man braucht solche Versuche auch nicht gerade ein jedesmal mit Krankheit zu bezahlen,« flüsterte ihm Nowakowski ganz ernst zu.

»Kann nicht sein!« er schob plötzlich den Teller von sich. »In den Speisehäusern bekommt man jetzt nur schlechtes Essen und solche winzige Portiönchen, daß man nicht einmal richtig geschmeckt hat, was man ißt, und schon ist der Boden der Schüssel da!« klagte er aufrichtig betrübt. »Zum Beispiel gestern bei Dalkowski in der Weinhandlung … he, Mann! reich Er mir die Platte her!« wandte er sich mit einemmal an einen Lakai, denn er hatte zu seinem Schrecken bemerkt, daß ihn dieser übergehen wollte. »Also gestern bei Dalkowski …«

Zaremba hörte nicht mehr, denn auf einmal hatte der alte Srokowski begonnen, auf ihn einzuflüstern:

»Ich segne den Himmel für die gute Gelegenheit der erneuten Begegnung mit Euer Wohlgeboren und bitte ganz gehorsamst den Herrn Lieutnant um seine Protektion. Von Nowakowski weiß ich über Euer Wohlgeboren mächtige Verbindungen.«

Als Antwort auf diese pomphafte Einleitung lachte ihm Zaremba ins Gesicht.

»… Bin über die Verwandtschaften unterrichtet, die Euer Wohlgeboren besitzen und über die hohen Konnexionen …«

»Ich höre schon,« entgegnete Zaremba resigniert: »ich möchte Euer Wohlgeboren nur bitten, möglichst knapp zu sein.«

»Das läßt sich leicht machen. So um das Jahr 1772 herum,« begann er sehr feierlich, »nein, es war um die Zeit des Wahlreichstags, nach dem Tode des letzten Königs aus der sächsischen Dynastie, trat mein seliger Vater, der Truchseß der Landschaft Przemysl, der ein aufgeklärter und um das Wohl des Vaterlandes besorgter Mann war, in Verbindung mit der uns befreundeten Puissance von Rußland zwecks Unterstützung der Kandidatur des heute allergnädigst Negierenden. Er ist es gewesen, der in den ruthenischen Wojewodschaften für den Prätendenten eifrig Stimmung gemacht hat, er, der auf den Landtagen, ohne sein Geld und seine Gesundheit zu schonen …« Er zählte Zaremba eine lange Litanei von Verdiensten vor, bis dieser schließlich gelangweilt und verzweifelt seine Blicke auf den Obersten Jasinski richtete, dem inzwischen der Reichstagsbote Podhorski gleichfalls eine langwierige Darlegung vortrug, dann beobachtete er die Gesichter der Versammelten und begann auf die immer lebhafter werdenden Tischgespräche zu horchen; aus den endlosen Darlegungen Srokowskis hatte er bloß begriffen, daß die russische Negierung diesem bedeutende Geldsummen schuldete; er wandte sich ihm zu und meinte scherzend:

»Verklagen Euer Wohlgeboren die Imperatorin und lassen sie dann pfänden.«

»Dazu kann es auch noch kommen, denn die eigenhändige Verpflichtung von Repnin besitze ich als hinreichenden Beweis. Jedes Gericht wird mir recht geben müssen.«

»Von Repnin? Dem ehemaligen Gesandten in Polen?«

»Selbstredend. Ich besitze die Briefe, die er in dieser Sache an meinen seligen Vater geschrieben hat.«

Er horchte auf, denn der Sinn der ganzen Sache schien darauf hinauszulaufen, daß der selige Truchseß der Landschaft Przemysl ein ergebenes Werkzeug in den Händen des Grafen Repnin und ein moskowiter Söldlinge gewesen war; der edle Sohn schien sich jetzt eifrig darum bemühen zu wollen, den Rest der Judasschillinge einzufordern, den man seinem Vater noch nicht ausgezahlt hatte. Er blickte ihm unvermittelt scharf in die Augen, doch dieses Gesicht, das einem abgegriffenen Kupfergroschen aus sächsischen Zeiten ähnelte, machte nur den Eindruck einer geradezu entwaffnenden Gedankenlosigkeit: nicht ein Schimmer vom Bewußtsein der Schande, die aus solchen Bemühungen floß, konnte man darauf erblicken.

Schließlich sagte Zaremba mit beißendem Lohn:

»Der Vater von Euer Wohlgeboren muß wohl Repnin wichtige Dienste geleistet haben …«

»Die Gefügigkeit ganzer Wojewodschaften hat er ihm verschafft,« bejahte der andere prahlerisch: »und das ist die Dankbarkeit, die er dafür geerntet hat. Aber Unrecht kennt keine Verjährung. Ich werde, was mir zukommt, niemandem schenken. Ich habe Beweise der Richtigkeit meiner Ansprüche und letzten Endes bin ich bereit, mit einer Klage an die Gnade ihrer hochherzigen zarischen Majestät zu appellieren. Dreißigtausend, das ist doch ein ganzes Vermögen! Soll ich sie etwa dem Feind schenken?«

Zaremba versank in bitteres Sinnen, fragte ihn nicht weiter und gab auch keine Antwort.

Der Rittmeister Czarnecki begann indessen, aufgequollen vom Übermaß an Speise und Trank, mit besonderer Andacht zu verkünden:

»Nach dem Wildbraten würd' ich dir Ungarischen raten! Hast Spinat gegessen, sollst einen Pontac nicht vergessen!« Mit einemmal nahm seine Stimme einen feierlichen Klang an, als spräche er zur ganzen Menschheit: »Und nach dem Backwerk, so muß es sein, spül' aus den Mund mit schäumendem Franzosenwein! Das sind Regeln wie das Amen im Gebet! Ich bin aber besorgt, daß dieses Mittagessen mir nicht bekommen wird, wenn man keinen Tokajer nachgießt. So eine Scheußlichkeit! Der Küchenmeister des Gesandten hat fünfzig Hiebe mit dem Ochsenziemer verdient für seine Tunke zum Schöpsenbraten und für die Kücken.«

»Fürwahr, das hat er,« höhnte Nowakowski: »das waren die reinen Sackleinenbeutel mit Häcksel gestopft.«

Etwas weiter stritten sich zwei Reichstagsabgeordnete mit wachsender Hitzigkeit wegen ihrer Pferde.

»Haha! wenn Euer Wohlgeboren ein Vollblut Pferd nennen wollen! … Herr, sei meiner sündigen Seele gnädig, aber Euer Wohlgeboren haben es wirklich verdient, auf dem Scheiterhaufen für solche Gotteslästerung zu brennen. Ein Gaul mit einem langen Darm wie ein Regenwurm, mit einem Flachsschwanz und einer Mähne aus Erbsenstroh, die Beine wie Faßdauben und die Flanken, als hätte sie ein Küper eingesetzt, und das soll ein Pferd sein? haha! ein Prachtroß, wert, einem gesprenkelten Affen oder einem Krebsfänger zur Parade zu dienen!«

»So wahr ich dem Vaterland alles beste wünsche,« antwortete eine gereizte Stimme: »gleichen die Araber von Euer Wohlgeboren eher Kühen vor dem Kalben, als wirklichen Gäulen, und ihren Köpfen nach könnte man sie für Esel halten, die Ohren hängen ihnen wie Schnupftücher am Kopf.«

»Euer Wohlgeboren ziehen gegen meine Araber her! Gott sei meiner sündigen Seele gnädig, aber …«

Plötzlich brach ein lautes Gelächter aus, am anderen Tischende erzählte jemand derartig gepfefferte Anekdoten, daß jeden Augenblick ein wahres Gejohl ausbrach und die Zuhörer vor Vergnügen mit den Füßen trampelten.

Zaremba allein saß, durch die Bekenntnisse Srokowskis bitter gestimmt, stumm da und dachte daran, daß fast die ganze Gesellschaft, die hier an der Tafel des Gesandten praßte, Moskaus bezahlte Söldlingsschar war. Er ließ seine Augen traurig über die von Sattheit strahlenden Gesichter gleiten, um daraus in noch bitterere Grübeleien zu versinken. Schon lassen sie Witze steigen, schlüpfrige Scherze sind ihre Unterhaltung, eine gedankenlose. Freude beherrscht sie, ihre Gesichter lachen breit, denn das Wohlbefinden der vollen Bäuche macht ihre Herzen froh und blitzt aus ihren Augen.

Die Republik stürzt ein, der Tag des Gerichtes naht, und diese räkeln sich mit gedankenlosem Lachen an üppigen Festtafeln, verkaufen die Freiheit für ein Mahl, für eine Handvoll Dukaten, für das Lächeln des Gesandten, für Begünstigungen in Grenzfragen, für einen Orden, aus Bosheit gegen den anständigeren Nachbar, wie oft auch nur aus beleidigtem Eigendünkel und wie häufig aus Sucht, sich über andere zu erheben, aus Habgier – immer aber auch aus Gleichgültigkeit für die Angelegenheiten des Vaterlandes und aus einem unbegreiflichen, gedankenlosen Leichtsinn.

Zum Glück für Zaremba war die Mahlzeit bald zu Ende, und er konnte aufstehen, niemand außer ihm rührte sich jedoch von seinem Platz, denn auf einen Wink des Majors Lobarzewski setzte Pan Borowski, der Sieversche Majordomus einige Dutzend dickbäuchige Ungarflaschen in Umlauf. Man erstaunte über diese nicht alltägliche Überraschung, die übrigens mit allgemeinem Beifall aufgenommen wurde, und rasch begann die gute Laune zu steigen, der Frohsinn breitete sich aus, vertrauliche Herzensergüsse und Ausbrüche rührseliger Herzlichkeiten wurden immer häufiger. Man begann verschiedene Trinksprüche zu halten, der Major trank auf das Wohl des Gesandten, jemand hatte selbst den altpolnischen Toast » kochajmy si&#281;« (wir wollen uns lieben) ausgebracht, und schon begann man einander zu umarmen, zu küssen, sich Herzlichkeiten zu sagen, jemand weinte selbst vor Rührung, und als die erste Aufwallung vorüber war, setzten sie sich abermals zu den Kelchen und schlürften den Wein mit solchem Eifer, daß die Dienerschaft kaum imstande war, allen rechtzeitig einzuschenken. Einige hatten ihre Pfeifen angezündet, einige räsonnierten, einzelne lagen auf ihren Stühlen hingelümmelt und waren selig eingenickt, manch einer hingegen hatte sich einem größeren Haufen zugesellt, in dessen Mitte ein Witzmacher damit beschäftigt war zu lügen, was das Zeug nur herhielt; überall redete man im Plauderton über Dinge, die dem Herzen am nächsten stehen, über Pferde, Grenzzwistigkeiten, in Aussicht stehende Einnahmen und über Jagden, so daß es im Saal bald wie auf einer Namenstagseier in Krähwinkel wurde, wo sich alles kennt, alles miteinander verwandt, befreundet und benachbart ist. Vergeblich mahnte Nowakowski, daß es Zeit wäre zur Reichstagssitzung aufzubrechen, denn es habe schon vier Uhr geschlagen, auf welche Zeit der Beginn anberaumt sei.

»Die Sitzung ist kein Hase, sie wird uns schon nicht davonlaufen,« lachte einer der Abgeordneten.

»Es sind aber wichtige Fragen auf der Tagesordnung, vor allem die Angelegenheit einer Delegation, die mit Preußen verhandeln soll.«

»Der Teufel hole den Preußenkönig und seine Tante, und Euer Wohlgeboren lassen gefälligst diese dummen Geschichten. Pan Borowski, würde Er uns vielleicht noch mehr von dem Wein mit dem schwarzen Kreuz auf der Kapsel herschaffen lassen!«

»Und für uns Burgunderwein, wenn Er so freundlich wäre,« fügte ein anderer hinzu.

»Eine furchtbare Ausgabe, allein diese erlesenen Weine,« flüsterte Klotze Zaremba ins Ohr.

»Sicherlich, und Euer Wohlgeboren haben mir vom Geiz des Gesandten erzählt?«

»Na ja,« begann der andere spöttisch: »auf Sonnabend ist ja im Reichstag die Bestätigung des Traktats mit Rußland festgesetzt, darum bringt es Sievers schon von heut' an nicht übers Herz, seinen Freunden etwas abzuschlagen! Doch wir wollen gehen, man erwartet den Herrn Leutnant im Lustgarten.«

»Wer, der Kastellan?«

»Und noch jemand anders.« Er führte ihn über eine Seitentreppe in den Garten.

Vom Regen war jetzt keine Spur mehr zu merken; die prächtige Augustsonne schwebte im Blau, das nur hier und da mit Lämmerwölkchen gesprenkelt war; die Goldsinken pfiffen noch eifriger in den Büschen wie vorher, die Blätter leuchteten heller und eine wundersam erquickende Frische kam durch die Lüfte geflossen.

»Ein wahrhaft herrlicher Anblick!« murmelte Zaremba, auf der Schloßterrasse stehen bleibend.

Der einst vom Grafen Tyzenhaus Anton Tyzenhaus aus dem alten deutschen Rittergeschlecht der Tiesehausen in Livland. Einer der mächtigsten Günstlinge des polnischen Königs Stanislaus Poniatowski. Er zeichnete sich als Schöpfer und Förderer der Industrie in Polen aus. Mühlen, Bierbrauereien, Erzhütten, Ölmühlen, Webereien, Bleichen, Tuchfabriken, Eisengießereien, Seidenwebereien, Bandwirkereien, Fabriken für Musselin, für Wagen usw. wurden durch ihn in Litauen, besonders in der Umgegend von Grodno ins Leben gerufen. Die Horodnica und Lososna in der Nähe von Grodno besiedelte er mit aus dem Westen hinzugezogenen industriell tüchtigen Kolonisten. Er geriet später in Ungunst und wurde von seinen Feinden gestürzt. Seine Güter wurden konfisziert. angelegte Garten war tatsächlich sehr schön gestaltet und legte Zeugnis von einem erlesenen Geschmack ab. Fast viereckig, von hohen, wie eine Wand gestutzten Buchenspalieren eingefaßt, wies er smaragdgrüne Nischen auf, in denen weiße, anmutige Göttinnen, Hermen mit Satyrköpfen und halbrunde Marmorbänke sichtbar wurden; Kieswege liefen an den grünen Buchenwänden entlang, gleichmäßig mit geradlinigen, von Wintergrün eingefaßten Beeten, aus denen sich efeuumrankte Säulenstümpfe und große, weiße Urnen emporhoben, inmitten des Lustgartens aber ließen die durch gestutzte Buchsbaumeinfassungen kenntlich gemachten Ornamente das Bild eines riesigen Wappenschildes erkennen, dessen Felder im lebhaften Not niedrig ausgespannter Rosen, Levkojen und blutigroter Nelken leuchteten; der durch weiße Blümlein des Tausendschöns dargestellte königliche Jungstier war liegend über dem Wappenschild zu sehen.

Auf den Kieswegen sah man eine Anzahl Kinder lärmend spielen und auf der Schloßterrasse im Schatten blühender Granat-, Zitronen- und Oleanderbäume unterhielt sich eine intime Gesellschaft prächtiger Damen. Sievers, im sandfarbenen Frack, mit einem weißen Halstuch, das ihm bis zum halben Kinn reichte, und kunstvoll gelocktem Haar, las wie immer lächelnd und voll einer gutmütigen und weltmännischen Galanterie halblaut aus einem Brief vor, der voraussichtlich sehr rührend sein mußte, denn Tränen leuchteten in seinen Augen und Zärtlichkeit klang aus seiner Stimme.

Die Damen, die in einem engen Kreis um ihn herum saßen, und in das Anschauen des Vorlesenden versunken waren, hatten das Aussehen Verzückter, hoben mit ersterbendem Lächeln die tränenfeuchten Augen zum Himmel empor und ließen wie unter dem Überschwang der Gefühle leise Seufzer und Ausrufe der unwillkürlichen Bewunderung laut werden. Er las nämlich einen Brief vor, den er kürzlich von seiner Tochter erhalten hatte und dessen Inhalt lautete, daß bei der kleinen Frieda der erste Zahn durchgebrochen sei und daß Jakoble, der Liebling des Großvaters, sich die Nase gestoßen habe, aber dank dem Allerhöchsten und den Umschlägen aus Kamillentee schon wieder wohlauf sei. Der Brief schloß mit dem Gekritzel der ältesten Enkelin Trude, das der Gesandte mit Stolz und aufrichtiger Rührung herumreichte.

Er hatte gerade heute, um ihren Geburtstag zu begehen, ein Gartenfest für die allerjüngsten Sprößlinge seiner Freundinnen veranstaltet, und nachdem er die treuen Herzen mit seinem Glück gesättigt, rief er die Kinder zu sich, die im Garten spielten. Sie überfielen ihn von allen Seiten und er, sehr erfreut darüber, umarmte, streichelte, küßte sie und beschenkte sie reich mit Konfekt.

Die Szene war so unglaublich rührend, daß der Kastellan, der etwas abseits saß, sich kaum des Lachens erwehren konnte, als er jedoch den eintretenden Zaremba bemerkte, hob er den Finger gegen die Lippen und wies ihm einen Platz neben sich an, denn nachdem sich die Kinder zerstreut hatten, begannen jetzt die Damen die Miniatüren der Enkelkinder des Gesandten zu bewundern; sie taten es mit frommer Andacht, wobei sie abermals mit ihren lügnerischen Lobpreisungen und Augenverdrehungen nicht geizten. Die Hetmanin Ozarowska, die Fürstin Radziwill, die Gräfin Jula Potocka, die Gräfinnen Camelli, Zaluska und die Frau von Narbutt sowie einige andere überboten einander in ihren lauten Lobreden, nur die Kammerherrin, die, in den Anblick der spielenden Kinder versunken, etwas abseits saß, nahm keinen Anteil an diesem Chorus lobender Stimmen.

Zaremba setzte sich zu ihr.

»Es schickt sich durchaus, daß du mich unterhältst, da du hier der einzige dazu bist!« scherzte sie, indem sie ihm ihre Hand reichte.

»Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie ich dieses bewerkstelligen sollte.«

»Versuche nur! Warum siehst du Mich so seltsam an?« sie machte eine unruhige Bewegung.

»Weil du so schön bist, wie ich dich noch nie gesehen habe. Zum Unglück der Menschen …« fügte er ganz leise hinzu.

»Du bist ja mit der allervortrefflichsten Gleichgültigkeit gewappnet,« sie lächelte seltsam wehmütig.

Er hatte keine Zeit zu antworten, denn der Kastellan trat schon an ihn heran, um ihn dem Gesandten vorzustellen. Sievers erwies ihm eine besondere Gnade, indem er ihn mit einigen Worten und einem gnädigen Händedruck beehrte, worauf sich die Damen seiner bemächtigten; hauptsächlich war es die Gräfin Camelli, die ihn ununterbrochen mit feurigen Blicken zu locken versuchte, die Hetmanin Ozarowska warf ihm vor, daß er ihr Haus vernachlässigte, die Gräfin Zaluska lud ihn zu ihren Montagsunterhaltungen ein, die Fürstin Radziwill versuchte ihn in einen Diskurs über Rosen zu ziehen, die Gräfin Jula Potocka hielt ihm einen Traktat über ihre Söhne und eine Schöne, die einer aufgeputzten Puppe ähnlich sah, gab sich die Mühe, ihm Geständnisse über die Farben der zur Zeit in Paris getragenen Schals zu entlocken. Er befand sich in einer nicht geringen Bedrängnis, der er sich jedoch siegreich entzog, indem er mit Gewandtheit und Bravour seine Worte in den Kampf schickte. Er blieb dabei höflich, kühl und zuvorkommend, zeigte sich in dieser Lebhaftigkeit so geistreich, voll Witz und männlicher Schönheit, daß Isa aus irgend einem Grund unangenehm berührt zu sein schien. Sie setzte sich näher heran und versuchte seine Blicke auf sich zu ziehen, doch er hatte, ganz von dem leeren Spiel der höflichen Reden und Widerreden, der Blicke und lächelnder Tändeleien in Anspruch genommen, sie nicht einmal bemerkt. Sie zog sich beleidigt zurück.

Plötzlich ließ sich scharfes Sporengeklirr vernehmen, und ein Offizier in voller Montur kam auf Sievers zu, der mit dem Kastellan auf der Terrasse auf und ab wandelte, und überreichte ihm einen Brief. Der Gesandte erbrach das Siegel und wandte sich nach der Lektüre der Schrift im Flüsterton an den Kastellan:

»Neue Kabalen! Der Bote Szydlowski protestiert in einer leidenschaftlichen Ansprache gegen die Bestätigung unseres Abkommens, welches gerade auf der heutigen Sitzung durch den Grafen Ankwicz dem Reichstagsmarschall als Antrag zur Abstimmung überreicht worden ist. Der Bote Skrzynski unterstützt ihn, die Zelanten erheben einen stürmischen Lärm und melden sich alle zu Wort. Der Marschall ist durch mangelndes Stimmenübergewicht aus dem Konzept gebracht, die Opposition gewinnt die Überhand …«

Er klatschte in die Hände und murmelte irgend etwas seinem Kammerdiener zu.

Nach einer Weile tauchte der Major Lobarzewski mit einem sehr erschrockenen Gesicht auf.

»Warum ist Er nicht im Reichstag?« fragte der Gesandte mit strenger Stimme.

»Es wird eben die Gesundheit Euer Exzellenz getrunken,« stotterte der Major mit lallender Stimme.

»Alle Reichstagsboten sollen sich sofort aufmachen, im Reichstag sind dringende Sachen vorgefallen. Graf Ankwicz wird zwecks Abstimmung Dispositionen erteilen. Ich bitte Sie, Herr Major, sich recht bald zu ernüchtern!« er sah schon ganz drohend aus, sein Lächeln war den schmalen, zusammengepreßten Lippen entglitten, die Augen funkelten vor Zorn, er hatte sich hochgereckt und seine Stimme schnitt wie eine Säbelklinge durch die Luft, er stand plötzlich gebieterisch, befehlend und unerbittlich vor ihnen. Den Bericht des Reichstagsmarschalls steckte er ein, und nachdem er den Offizier und den Major entlassen hatte, murmelte er: »Ach, diese Zelanten, sie zwingen mich, ganz entgegen den Wünschen meines Herzens zu handeln. Diese Proteste sind für das Land verderbliche Windbeuteleien! Herr Major!« rief er plötzlich dem sich Entfernenden nach: »an den Tagen der Reichstagssitzungen soll Er mir die Gesellschaft nicht an der Tafel festhalten, laß sie im Reichstag ihre Schuldigkeit tun! Kommen Sie zu meinen Rosen, die mir die Fürstin Radziwill geschenkt hat, lieber Kastellan: Sie werden Wunder schauen!«

Am Rande der Schloßterrasse verbreitete ein Rosenhain, der wie in blutige Flammen getaucht zu sein schien, betäubenden Duft: es gab dort Rosen wie Lachen geronnenen Blutes und andere, die wie geheimnisvoll schimmernde Karfunkel waren, wie wollustentbrannter, duftgewordener Atem, wie Lippen voll unersättlichen Verlangens, wie das Lächeln engelhafter Verheißungen auf dem Knospenmund eines Mädchens, es gab solche, die wie in Einsamkeit ersterbende, verzweifelte und vergebliche Schreie dünkten; Rosen, die blutig wie ewig offene Wunden anmuteten, und in ihrer Hoheit grausame Rosen, und solche, deren tragische Schönheit unvergleichlich war; es gab jedoch auch andere voll des Zaubers der Juninächte, voll Wohlgeruch und solcher Schönheit, daß sie nur mit Traumgebilden verglichen werden konnten.

Ein Purpurlied schien diesem Rosenhain zu entsteigen und himmelwärts zu streben, der Sonne entgegen, und der ganzen Welt das Triumphlied des Rausches zu singen.

Sievers gab sich rückhaltslos dem Zauber dieser duftgeschwängerten Purpurwolke hin, er ging um die Rosenstöcke herum, berührte mit seinen hageren Fingern die kühlen Blütenblätter und ließ seine andachterfüllte Seele derart in Schönheit schwelgen, daß sich seine Augen vor Lust zu verschleiern schienen und ein Wonneschauer über seine Glieder rieselte. Er schlürfte die Farben, prägte sie seinen Sinnen ein, wandte sich voll Bedauern ab und kehrte immer wieder zu seinen Blumen zurück, unfähig, sich weder von ihnen loszureißen, noch sich an ihrer Schönheit sattzusehen.

Erst ein Diener, der mit der Ankündigung aufgetaucht war, daß alles zur Vesperbewirtung bereit sei, entriß den Gesandten der seligen Beschaulichkeit und veranlaßte ihn, seine Schritte nach der Tafel zu lenken, an welcher die spielfrohe Kinderschar unter Aufsicht der Mütter Platz nahm; er ließ sich wie ein liebevoller Großvater als Hauptperson in ihrer Mitte nieder, verteilte selbst die Süßigkeiten und besänftigte eifrig die hier und da ausbrechenden kleinen Zwistigkeiten.

Der Kastellan und Zaremba, die man an das Tischende verdrängt hatte, saßen nebeneinander.

»Wärest du bereit, eine ausgedehnte Reise zu unternehmen?« fragte der Kastellan ganz leise.

»Wenn die Umstände wichtig sind und der Oheim es gütigst zu befehlen geruhen …«

»Du dürftest vielleicht nach Petersburg fahren zur Begleitung desjenigen, der den Vertrag dorthin bringt …«

Zaremba erhob seine staunenden Blicke auf den Kastellan, als sich abermals dessen Stimme vernehmen ließ:

»Halte dich auf alle Fälle bereit … Viele bewerben sich schon um diese Ehre, ich möchte sie für dich beanspruchen. Aber kein Wort darüber an irgendeinen! Versuche inzwischen, den Gesandten dir geneigt zu machen …«

Es entstand ein plötzlicher Lärm, denn die Bedienung brachte große Kästen herein, aus denen Sievers kostbare Erinnerungsgaben hervorzuholen begann, welche er unter lauten Ausbrüchen des Jubels an die Kinder verteilte; die Damen waren über seine hochherzige Güte bis zu Tränen gerührt.

»Wir wollen einen Spaziergang machen!« schlug Isa vor: »ich kann das Geschrei nicht ausstehen.«

Zaremba erhob sich bereitwillig, worauf sie sich beide dem Pfad zuwandten, der an den Spalieren entlang lief.

Die Goldfinken pfiffen über ihren Häuptern und flogen von Baum zu Baum, der herbe Duft des frischgeschnittenen Buchsbaums stieg kribbelnd in die Nasen; die Sonne stand schon tief, und ein kühler Luftzug drang von den Feldern bis in den wohlgeschützten Garten. Sie schritten im Schweigen einher, häufig zueinander die Blicke erhebend, beide etwas unsicher, beide erregt und mit klopfendem Herzen. Es begann etwas sich zwischen ihnen zu vollziehen, noch war es kaum greifbar, wie Spinnwebfäden, es war noch zerreißbar und ängstlich, aber schon hatte es eine Verpuppung zu spinnen angefangen, in der sich eine Ahnung dessen regte, was nach einer Weile kommen würde. Zaremba fühlte mit einemmal, daß etwas Unabwendbares geschehen mußte: das hatten ihm Isas seltsam leuchtende Augen gesagt, die wie geistesabwesend blickten, ihr versonnenes Gesicht, ihre bebenden Lippen, die nur schwer einen Schrei zurückzuhalten schienen. Sie ging etwas vorgebeugt, ganz in sich gepackt, als schritte sie einer lang erwarteten Erfüllung entgegen. Ein innerer Sturm mochte in ihr toben, unfaßbare Gedanken sich hinter ihrer Stirn ballen, denn leidenschaftliche Gefühle ließen ihre Brust wild wogen und eine fieberhafte Unruhe strömte von ihr aus. Sie beschleunigte ihre Schritte und versuchte immer wieder, sich mit einer nervösen Gebärde in den goldigen Schal zu hüllen, der von ihren Schultern herunterzugleiten drohte.

»Entsinnst du dich noch unserer Spaziergänge in Gory?« fragte sie und blieb plötzlich stehen.

»Ich möchte sie gern vergessen,« fiel seine Antwort, er war nicht fähig gewesen, die Worte zurückzuhalten.

»Warum?« warf sie kurz hin und wurde dabei furchtbar blaß.

Ein eisiger Schauer durchzuckte sein Herz, aber er erbarmte sich ihrer Blässe und sagte rasch:

»Du scheinst müde zu sein, wollen wir uns nicht sehen?« ...

»Warum?« wiederholte sie, als wollte sie den Schlag, auf den sie schon mit gesenktem Kopf ersterbenden Herzens gewartet hatte, um jeden Preis herausfordern.

»Um deines Verrats nicht zu gedenken!« schleuderte er ihr mit steinharter Stimme zu.

Sie sank auf die Bank nieder, die in der Nische des Spaliers versteckt stand. Tränen der Reue schimmerten ihm aus ihren heißen Augen entgegen, und ihre Stirn überzog sich mit dem glühenden Schatten der Scham.

»Du wolltest es so, da habe ich es dir also sagen müssen. Du hast Verrat an mir geübt, mein warst du vor Gott und deinen eigenen Schwüren nach, ich habe dir vertraut, und du hast einen anderen zum Mann genommen! Der Köder der Reichtümer und der Schrankenlosigkeit hat dich verlockt,« redete er unerbittlich weiter: »Verstehst du denn überhaupt noch die Sprache des Leids? Wahrhaftig, die ständigen Bälle, Assambleen und Tändeleien haben dir nicht die geeignete Zeit zur Selbstbesinnung gelassen!« höhnte er, von dem mächtigen Ansturm der Leidenschaft fortgerissen. »Niemals hast du mich wirklich geliebt, Lüge sind deine Schwüre gewesen und Lüge deine Küsse; alles nichts als Lug und Trug. An mir hast du dich nur geübt, hast die Künste der Liebelei an meinem Herzen ausgeprobt, wie die Kleider auf einer Kleiderpuppe, zum Spaß und Zeitvertreib!«

»Sewer!« stöhnte sie hervor: »Sewer, menagiere dich!«

»Besudelt hast du mich, aber auch dich selbst hast du besudelt,« zischte er von der Raserei einer rachegierigen Grausamkeit erfaßt und begann ihr alle ihre Sünden vorzuzählen. Er schenkte ihr nichts und peitschte auf sie ein mit ungewählten Worten voll beißender Verachtung. Endlich war für ihn der ersehnte Augenblick der Abrechnung für all seine Qual und Verzweiflung gekommen. Da saß sie vor ihm mit einem von Tränen feuchten Gesicht wie am Pranger, kaum noch lebendig vor Schmerz und so hilflos, qualenreich und traurig zugleich, daß ihn mit einemmal das Mitleid übermannte. Denn die andere, die schöne und hochmütige Kammerherrin, die Dame der königlichen Salons, war verschwunden, selbst jene frühere Isa aus Gory, dem elterlichen Gut, war nicht mehr da, sondern eine unglückliche Seele, die in Qual mit sich rang und von den Krallen der Gewissensbisse und Verzweiflung zerfleischt wurde.

Er erschrak vor der eigenen Tat, nicht wissend, was er nun beginnen sollte, als sie plötzlich ihre tränenreichen Augen zu ihm erhob und ihm mit einem innigen Lächeln, das um ihre Lippen aufgeblüht war, zuflüsterte:

»Ich liebe dich doch, ich liebe dich doch noch immer …!«

Er prallte zurück, als hätte ihn Entsetzen gepackt, so ungereimt und unausdenkbar schienen ihm die unerwarteten Worte. Ein verwirrender Taumel ergriff ihn, so daß er dastand, von kalten Schauern durchrüttelt, ohne etwas begreifen zu können, und in ihre großen Augensterne starrend wie in unheilverkündende Abgründe. Mit einemmal durchbohrte ein blitzartiges Aufleuchten sein Herz, das vor Grauen umdüstert war, und übergoß es mit blendender Freude – er hatte die Wahrheit der Worte begriffen und begann an das Wunder zu glauben. Durch einen Flammensturm gepackt, stürzte er ihr zu Füßen, in ihre ausgebreiteten Arme, wie in die offenstehenden Tore des Paradieses. Was für ihn bisher ewige Sehnsucht war, hatte sich jetzt in die selige Gnade des Glücks und in das Sonnenjauchzen der Liebe gewandelt. Er hüllte sie in die Glut seiner Begeisterung und Liebe, küßte alle Tränen von ihren Wangen und erfüllte sie derart mit der Macht seines Fühlens, daß sie mit verlangenden Lippen nach seinem Munde suchte, daß jeder ihrer Blicke ein Kuß war und jeder Kuß ein Geständnis, ein Schwur und eine glückliche Hingabe auf Leben und Tod. Ihr Flüstern, aus dem eine brennende Leidenschaft ihm entgegenbebte, hatte seine Seele mit einer wundersamen Litanei umsponnen, so daß ihm die ganze Wonne der Liebe und die Lust des Daseins fühlbar wurden.

»Reich mir deinen Mund! noch einmal!« stammelte er und konnte sich an ihren Lippen nicht satt trinken.

»Sewer, ich kann nicht mehr …« murmelte sie vergehend, so daß er sie aus seinen Armen freiließ, selbst vor Liebesglut sinnlos und blind. Doch ehe er noch zu Atem kommen konnte und die verwirrten Gedanken sammeln, fühlte er abermals ihre brennenden Lippen auf den seinen und neue Glutwellen zogen ihn auf den Grund unaussprechlicher Lust hinab.

Von der Schloßterrasse herüber erklangen die lauten Stimmen der Kinder, sie standen rasch auf, und sich an den Händen festhaltend wie einst in Gory, enteilten sie durch die Spaliere in die Abgeschiedenheit des Parks.

Stille, Kühle und ein traumhaftes, von der funkelnden Röte der sinkenden Sonne durchzucktes Grün umfaßte sie, hohe Birken standen in ihrer ganzen Weiße bewegungslos da und das schwache Volk der Büsche murmelte und bebte ängstlich in der Runde.

Sie wandten sich einem Gartenpfad zu, ohne zu wissen, wohin und warum, eins in ihrem Fühlen und in ihrer Glückseligkeit. Sie schwiegen: ein Händedruck, ein tiefes Hineinschauen in die Augen, leise unter Küssen zugeflüsterte Liebesworte genügten ihnen. Ihre Seelen tranken die tiefe Ruhe der Bäume ringsumher und die ekstatische Stille des Vergessens und Vergebens in sich.

Hin und wieder blickten sie der Sonne nach, die zwischen den Stämmen der Bäume sichtbar wurde, dann begannen sie gleich Kindern zu fliehen, die man aufgescheucht hatte, und suchten sich im Schatten und Dunkel zu verbergen: hier und da blieben sie eine Weile auf Bänken aus Grassoden sitzen, die von Haselbüschen umgeben waren, um sich durch ihre Küsse zu laben, sich heimlich Zärtlichkeiten zuzuflüstern, über die kleinste Kleinigkeit zu lachen und bei dem geringsten Anlaß wieder die Flucht zu ergreifen wie einst in Gory.

Sie kamen schließlich in einen Obstgarten; apfelbehangene Äste versperrten ihnen den Weg und der grüne Teppich der Gräser, dicht mit Blumen durchwoben, breitete sich ihnen zu Füßen; ein Schlängelpfad führte ins Innere des Gartens. Sie wählten ihn ohne zu zögern. Im Gehen pflückte sie einen Apfel, biß hinein und reichte ihm die Frucht mit mutwilligem Lachen.

»Und Adam aß davon und wurde aus dem Paradies vertrieben! O Eva, Verführerin Eva!« lachte er froh zurück.

»Das war Adam, aber Sewer aß davon und fand Einlaß ins Paradies. Höre es, und dir wird Eintritt gewährt.«

Bald tat sich ihnen eine kleine Wiese auf, die von einem silbernen Bächlein durchschnitten wurde und auf der überall Vergißmeinnicht blühten; eine kleine Herde weißer Schafe weidete im grünen Gras und Lämmlein mit blauen Halsbändern sprangen umher. Ein Bauer, malerisch auf seinen Krückstock gestützt, mit einer Flöte am Mund und recht absonderlich mit Bändern aufgeputzt, stand wie ein Wachtposten dabei.

»Leibhaftig aus eurem französischen Kupfer herausgeschnitten!« wunderte sich Zaremba, aber sein Staunen wuchs noch, als sie ihn zu einem kleinen Zaun geleitete, wo hinter einer Hürde aus geflochtenen Weiden eine niedrige, strohbedeckte Hütte mit einem Kuhstall daneben zu sehen war, vor der ein großer Kettenhund froh mit dem Schweif wedelte und eine Hühnerschar sich gackernd erging. Die Wandbank hatte man mit Grassoden ausgepolstert, an der Hausschwelle leuchtete der gelbe Sand mit etwas Fichtenstreu darüber, auf dem Dach gurrten verliebte Tauben und über der sperrangelweit offenen Tür hielten pausbackige Putten eine weiße Tafel, auf der in einer Umrahmung aus Efeu der Vers Vergils rot aufleuchtete:

» Amor omnia vincit et nos cedamus amori.«

Auf der Schwelle stand eine reizende Schäferin mit Bändern und Blumen geschmückt, die sie in ihre kunstvoll gedrehten Locken eingeflochten hatte; sich tief vor ihnen verneigend, lud sie die Nähertretenden in eine achteckige, bäurisch anmutende Stube ein, die mit einfachem Hausgerät ausgestattet war, deren Wände jedoch zärtliche Schäferszenen darstellende Gobelins bespannten.

»Chloe in leibhaftiger Erscheinung, ganz wie auf einem Theatrum!« rief er scherzend aus.

»Hier sollte die heutige Nachmittagsbewirtung der Kinder stattfinden, da es aber am Morgen geregnet hat, wählte der Herr Gesandte die Schloßterrasse. Wie ist es hier entzückend!« begann sie zu schwärmen.

Ein lautes Gejohl, mit gedämpftem Mandolinengeklimper vermengt, drang zu ihnen aus dein Innern der Hütte.

Zaremba eilte hinein, um zu sehen, was der Spektakel bedeuten sollte.

»Offiziers-Idyllen,« erklärte er nach einer Weile: »Die Grenadierschäfer tanzen mit ihren Schäferinnen unter Begleitung der Balabajkas und zertrümmern die leergetrunkenen Flaschen. Gehen wir lieber.« Sie hatte eine Frage auf den Lippen, die sie jedoch unterdrückte und flüsterte nur mit aufrichtigem Bedauern: »Ich habe von einer süßen Solitüde mit dir geträumt, und nun müssen wir fort …«

Sie ließen sich dennoch vor der Hütte nieder, denn im Torausschnitt war der von seiner Herde umgebene Schäfer erschienen; er spielte auf seiner Flöte vor sich hin und die jungen Lämmlein sprangen munter um ihn herum und ließen ihre Glöcklein schallen.

Während sie dasaßen, sich an dem lieblichen Bilde freuend und das neckische Spiel mit zärtlichen Blicken und heimlichen Küssen begleitend, erschien mit einemmal wie aus dem Boden hervorgewachsen Isas treuer kleiner Kosakendiener und begann ihr heimlich etwas zuzuflüstern.

Sie zog die Brauen zusammen, um eine plötzliche Bestürzung zu verbergen und sagte laut:

»Sage, daß ich sogleich kommen werde. Geh jetzt! Der Kammerherr ist schwer erkrankt und es paßt sich nicht, daß ich ihn in diesem Zustand allein lasse,« versuchte sie Zaremba besorgt auseinanderzusetzen.

Diese unerwartete Fürsorge erweckte eine plötzliche Aufwallung von Eifersucht in ihm.

»Vielleicht ist das nichts als eine Intrige!« nahm sie ihre Gedanken wieder auf: »Es ist schon vorgekommen, daß er mich unter dem Vorwand einer plötzlichen Verschlimmerung seines Zustandes zu sich berief, ich komme hin, und er verhöhnt mich nur, denn sein Wunsch war bloß gewesen, mir mein Vergnügen zu stören. Er ist voll von solchen nichtswürdigen Listen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich durch ihn zu leiden habe,« seufzte sie und hob das Spitzentüchlein an die trockenen Augen.

Sie kehrten nach dem Schloß zurück. Der Westhimmel stand in blutigen Feuersgluten, so daß der ganze Park wie von dem Widerschein eines Brandes rot übergossen schien und die weißen Hemden der Birken wie Purpur leuchteten.

Aus den Büschen erklang das Zirpen der einschlafenden Vögel und betäubender Duft kam geflossen. Die bläulichen Vorhänge der Dämmerung sanken langsam auf die Welt herab.

Sie gingen aneinandergeschmiegt, die Arme ineinander verschlungen, als wären sie zusammengewachsen. Isa klagte mit müder Stimme über ihr unglückliches Los und ihren Gatten.

»Es ist noch immer nicht zu spät, ihm den Laufpaß zu geben und die Ehe zu scheiden,« unterbrach er sie hitzig.

»Der Papa hat schon bei den Juristen Rat geholt. Sie haben gewisse Schwierigkeiten gefunden, und außerdem will sich der Kammerherr nicht einverstanden erklären. Mein Gott, warum hat man mich zu dieser Ehe gezwungen?«

Er hatte schon eine Frage über die vermeintliche Erklärung des Fürsten Cycyanow auf den Lippen, hielt sie jedoch zurück und murmelte finster:

»Es rächen sich die gebrochenen Schwüre an dir!« Er erschauerte.

Sie schloß ihm den Mund mit Küssen, umschlang ihn, drängte sich mit ihrem ganzen Leib an ihn, sog sich an seinen Lippen fest, bis daß er, von einem neuen Ansturm der Leidenschaft ergriffen, sich ganz der Gnade ihrer schenkenden Liebe ergab ohne Gedanken und ohne Erinnern an irgend etwas.

Singen und Klänge eines Klavizimbels scheuchten sie auf.

»Laß mich nicht vergeblich warten,« flüsterte sie ihm beim letzten Kuß zu.

Er versuchte sich zu entschuldigen, sie wies auf die Nähe des Schlosses und warf nur noch hin:

»Ich liebe dich! Das letzte Fenster von der Gartenseite, denke daran.«

Auf der Schloßterrasse tanzten die Kinder um einen Harlekin herum, den man auf ein hohes Taburett gesetzt hatte und sangen dazu. Der Chor der silbernen Stimmlein klang frohgemut wie ein lustiges Vogelgezwitscher und schien durch die dämmerungsblaue Abendluft wie ein Tanz voll Blütenblättern, wie ein Schwarm voll Schmetterlingen zu taumeln. Die Gräfin Camelli spielte eine leise Begleitung und der Kreis der geröteten Gesichtchen, der funkelnden Kinderaugen, wehenden Haare und Kleidchen bewegte sich rhythmisch und sang voll Begeisterung:

»Arlequin tint sa boutique
Sur les marches du Palais,
Il enseigne la musique
A tous les petits valets.«

Und nun trat jedes der Kinder der Reihe nach an den Harlekin heran, knickte artig mit freundlicher Mine und der Rest sang inzwischen lustig weiter:

»Oui, Monsieur Po-
Oui Monsieur Li-
Oui, Monsieur Chi-
Oui, Monsieur Polichinel!«

Sie brachen in ein stürmisches Gelächter aus und stürzten über den Harlekin her, von allen Seiten an ihm herumzerrend.

Die Gesellschaft der Älteren unterhielt sich dabei vortrefflich. Sievers aber, bis zu Tränen gerührt, klatschte als erster begeistert Beifall und stimmte selbst in die folgender: Strophen mit ein.

Isa entfernte sich unbemerkt, Zaremba aber, der das Davonrollen ihres Wagens gehört hatte, wartete immer ungeduldiger auf das Ende des ihn weidlich langweilenden Festes, da er aber trunken vor Glück und freudig erregt war, hatte er begonnen, den Damen wahllos den Hof zu machen zu ihrer sichtbaren Befriedigung.

Es war schon vollständig dunkel, als er endlich frei wurde, und ohne sich weiter um seinen Oheim zu kümmern, der ihn zum Bischof mitnehmen wollte, um dort ausführlicher über die Möglichkeiten einer Reise nach Petersburg zu beratschlagen, entschlüpfte er ihm vor dem Schloß, so übermächtig war in ihm das Verlangen geworden, mit seinen Träumen von Isa ganz für sich bleiben zu dürfen.

Ein dunkler Abend sank nieder, und obgleich im Westen noch die blutigen Buchten der Abendröte glommen, begann sich der Himmel ganz düster zu bewölken, zuweilen fegte ein Windstoß heran, rüttelte an den Bäumen und pfiff durch die dunklen und menschenleeren Gassen; die Stadthäuser und Landhäuschen standen schwarz und dicht verschlossen da, nur ab und zu sah man in einzelnen Palästen Licht und an den Ecken der Hauptstraßen schaukelten an dicken Tauen Laternen im Wind, die man seit der Zeit des Reichstags eingeführt hatte. In ihrem Schein bewegten sich die bajonettbespickten, flimmernden Ronden, die eifrig auf die vorüberfahrenden Gefährte achteten und verpflichtet waren, alle Fußgänger, die den Ausweis des Stadtkommandanten nicht bei sich führten, auf die Hauptwache einzuliefern. Grodno war nämlich in vier Bezirke eingeteilt worden und dem Schutz vierer Jägerbataillone überliefert, die Nacht für Nacht mit dichten Postenketten wie mit einem Netz alle Straßenausgänge, Schlupfgassen und auch die Häuser umstellten, in denen Mitglieder der Reichstagspartei der Zelanten wohnten. Patrouillenketten aus berittenen Kosaken durchzogen dazu noch ständig die Stadt, schnüffelten in allen Winkeln umher und suchten auf eigene Hand die Straßen ab.

Bei einer derartig eifrigen Sorge der Alliierten um den ruhigen Nachtschlaf der Allgemeinheit nahm Grodno schon um neun Uhr abends den Anschein einer ausgestorbenen Stadt an, nur selten und dieses meistens unter dem Druck einer unumgänglichen Notwendigkeit schlich sich ein einzelner Einwohner durch die leeren Straßen, häufiger sah man anstatt dessen Spione vor den verriegelten Fensterläden lauern oder sich vor den Zufahrten der hell erleuchteten Paläste und der nur zum Schein geschlossenen Kaffeehäuser breit machen.

Zaremba wurden die ständigen Indagationen der Soldaten derartig zuwider, daß er, als ihm ein Wagen vor dem Oginskischen Palais zu Gesicht kam, auf diesen zuging, um dem Kutscher einen Vorschlag zu machen, wie verwunderte er sich jedoch, als er plötzlich die Dienerschaft des Kammerherrn Rudzki, Isas Mann, erkannte.

»Was macht ihr hier? Wer ist denn mit dem Wagen gekommen?«

Er erfuhr, daß der Kammerherr zu einem Besuch bei der alten Hetmanin Oginska weilte.

»Seid ihr schon lange da?« fragte er, ohne sich Rechenschaft zu geben.

»Wir sind gegen fünf Uhr gekommen.«

Er entfernte sich ohne ein Wort zu sagen und im Schatten stehen bleibend, starrte er die Pferde und die Dienerschaft an.

Seltsam, er soll schwer erkrankt sein und sitzt schon so viele Stunden hier zu Gast. Was soll das bedeuten? Seit fünf Uhr! ... spannen sich die ihn bedrängenden Gedanken. Seit fünf! Und es war doch schon fast acht, als er sie zu sich rufen ließ. Dahinter mußte eine Intrige stecken. Es stimmt, daß sie sich bei ihm beklagt hatte, er spielte ihr öfter solche Streiche. So etwas wäre ganz seine Art. Das kraftlose Gestell rächt sich mit Nadelstichen. Ganz kindische Mittel! Natürlich hat er ihr wieder einen Bubenstreich gespielt ...

Er zuckte die Achseln und wandte sich heimwärts, ganz wieder in die Erinnerungen der kaum durchlebten Seligkeiten versunken. Alles war so plötzlich geschehen und vor allem so unerwartet gekommen, daß er sich bis jetzt noch nicht vom Rausch ganz ernüchtern konnte und unfähig war, seine Gedanken zu sammeln.

Ist denn das wirklich möglich? fragte er sich staunend – sie liebt mich also? – Die Antwort fühlte er noch auf den von ihren Küssen brennenden Lippen, im Klopfen des freudig erregten Herzens, in dem noch gegenwärtigen Klang ihrer Schwüre und Beteuerungen und dennoch schien ihm dieses alles eher denn Wirklichkeit ein Traum von jenen Träumen zu sein, die er schon oft geträumt.

Er klopfte auf die verabredete Weise an die Tür seiner Wohnung, als ihn plötzlich ein Gedanke durchzuckte:

Und wenn sie die Krankheit nur vorgeschützt hätte!

Kasper öffnete die Tür und blieb in erwartender Stellung stehen.

»Ich kehre in einem Augenblick zurück, warte noch,« flüsterte er ihm zu, und ehe der andere einen Laut von sich geben konnte, war er schon verschwunden und von der Nacht verschluckt, als hätte ihn ein Sturmwind mit sich gerissen.

Das letzte Fenster von der Gartenseite ... wiederholte er geistesabwesend und mit einer solchen Erregung, als eilte er zu einem seit Ewigkeiten ersehnten Stelldichein. Er war seiner vollständig mächtig und hatte dennoch die Seele voll seltsamer Ängste und ein wie umnachtetes Gehirn.

Das Haus des Kammerherrn leuchtete noch aus einigen Fenstern; in einer Ecke der Toreinfahrt, deren Türen sperrangelweit offenstanden, spielte die Dienerschaft beim trüben Schein einer Windfackel so eifrig Raffen, daß ihn kein Mensch bemerkte; die Treppe war dunkel und menschenleer; in dem Vorzimmer zu den Gemächern des ersten Stocks schnarchte in eine Ecke gedrängt ein Soldat und zuckte nicht einmal bei seinem Eintritt.

Der sieht wie eine fremde Ordonnanz aus! Ein schlangenglatter Verdacht durchschoß ihn ganz plötzlich. Im großen Saal brannte eine Öllampe, das anliegende Gemach war dunkel, ebenso das darauffolgende, erst in einem weiteren Zimmer, dort wo »das letzte Fenster der Gartenseite« sein mußte, sah man durch die angelegte Tür einen Lichtschein schimmern.

Teppiche dämpften den Schritt. Er ging weiter, ohne auf irgend etwas Rücksicht zu nehmen, unfähig, sich Einhalt zu gebieten noch umzukehren, wie bei einer Attacke, nur daß er immer langsamer vorwärts gelangte und immer zögernder die steile Schanze erklomm, wo seiner Sieg oder Tod harrte.

Plötzlich erklang die ausgelassene Kaskade eines perlenden Lachens, und leidenschaftliches Flüstern wurde hörbar. Er erbebte und unbewußt nach dem Degenknauf greifend, stieß er die Tür auf.

Auf einer breiten, niedrigen Markise saß Isa mit dem Grafen Zubow. Sie hielten sich umschlungen und schienen, zärtlich aneinandergeschmiegt, in glühenden Küssen zu verschmelzen. Ein dicht neben ihnen stehender Armleuchter erhellte ihm die Szene mit furchtbarer Deutlichkeit.

Auf das Knarren der Tür riß sich Isa aus der Umarmung ihres Buhlen los und blieb wie versteinert mitten im Gemach stehen.

»Ich will nicht stören, unterhalte dich weiter!« schleuderte er ihr zu, indem er eine tiefe Kavalierverbeugung machte und von der Schwelle zurücktrat. Sie versuchte eine Bewegung, wie um ihm nachzueilen und schien etwas sagen zu wollen.

Er verließ langsam das Haus mit dem stumpfen Schritt eines Verurteilten.

In diesen Augenblicken der blutigsten Überwindungen hatte er sie für alle Zeiten aus seiner Seele gerissen. Die seit Kindestagen Erträumte war in ihm plötzlich tot, und so begrub er sie denn zusammen mit seinen Jugendsehnsüchten und wälzte den schweren Stein der Verachtung auf das Grab seiner Seligkeiten. Die Isa, der er darauf in der Welt begegnete, war ihm schon eine ganz Fremde und Gleichgültige, er sah in ihr nur die Buhle, deren es in der Gesellschaft jener Zeit viele gab. Nicht einmal sie zu meiden versuchte er, und wenn es die Gelegenheit mit sich brachte, war er zu ihr im erforderlichen Maße höflich und bot selbst ein lächelndes Gesicht, wenn er sie mit eisigen Augen, die nichts sahen, anschaute.

Was konnte es ihn jetzt auch angehen, daß sich der Graf Zubow seit jenem denkwürdigen Abend nicht mehr im Palais der Kammerherrin hatte sehen lassen, daß der Fürst Cycyanow wieder in Gnaden aufgenommen wurde und daß ein Freund des Königs, der Kavalier Litleplage, jener schöne Amerikaner, der eine recht geheimnisvolle Persönlichkeit war, ihr letzterdings recht eifrig den Hof zu machen begonnen hatte.

Er fühlte sich meilenfern von jenen seichten Sorgen der Verliebtheit, von den Befürchtungen und Mühen um die Gnade der Geliebten und die Gunst ihrer Blicke, um so inbrünstiger ergab er sich dem Joch der Pflichten und einer angespannten Arbeit, und so vieles galt es zu bewältigen, so folgenschwer und gefahrvoll war sein Beginnen, daß sich im gleichen Maße mit den anwachsenden Hindernissen seine Kräfte und sein verwegener Mut zu verzehnfachen schienen. Niemandem wäre in den Sinn gekommen, in diesem Modekavalier einen Verschwörer und Jakobiner zu vermuten. Er war doch die ganzen Tage und Nächte vor den Augen aller Welt, trieb sich in der Stadt umher, stand mit den anderen vor dem Kaffeehaus, machte Spaziergänge mit den Damen und besuchte die Bälle und Assembleen; die Nächte aber verbrachte er ebenso häufig beim Pharaospiel, auf den Bacchanalfesten des Grafen Ankwicz und bei Trinkgelagen, die die Offiziere der alliierten Mächte veranstalteten, selbst die Gesellschaft der Lumpen und verkäuflichen Seelen verschmähte er nicht. Er jagte außerdem allerhand Liebschaften nach, so daß man sich schließlich von seinem Verhältnis mit der Gräfin Camelli allerlei zu erzählen begonnen hatte, die ihn auch tatsächlich besonders mit ihrer Gnade auszeichnete, obgleich er sich wenig aus dieser Gunst machte. Kurz, er lebte modisch in Saus und Braus und tauchte an allen sichtbaren Stellen auf. Das alles aber war nur Maske, um allzu neugierige Augen zu täuschen und desto freier zu Nutz und Frommen der Sache wirken zu können. Es geschah häufig, daß er sich im Laufe einer Stunde an zehn Stellen zeigte und dann zur Unkenntlichkeit verkleidet mit Kasper Herbergen und Schenken besuchte, mit Pater Seraphim auf allerhand Rundfahrten und Soldatenfang ging, sich mit wichtigen Meldungen zum General Dzialynski schlich. Landesverwiesenen Aufenthalt gewährte und unter den verschiedensten Vorwänden ganze Transporte Waffen, Lebensmittel und Menschen nach Warschau und in die südlichen Wojewodschaften absandte. Und trotz dieser erschöpfenden Arbeit, der fieberhaften Eile, in der sie geschah und der auf Schritt und Tritt lauernden Gefahren, behielt er seine volle Spannkraft; er war nur sehr mager geworden, so daß Woyna, als sie sich eines Tages vor dem Kaffeehaus begegneten, spöttisch bemerkte:

»Du siehst wie der von den Toten auferstandene Piotrowin des heiligen Stanislaus aus. Ich weiß Bescheid, deine Krankheit heißt: febris Camelli

»Falsch getroffen, sie heißt bloß Pflicht!« entgegnete er einfach. »Ich suchte dich gerade. Was macht unser Spielkapital?«

»Das arme Ding ist verendet. Ich habe noch die goldene Halskettenuhr des Herrn Vaters, des seligen Starosten, dazugeben müssen.«

» Fortuna mirabilis! Würdest du vielleicht dein Glück mit diesem Offizierchen wagen, der da an der Straßenecke steht? Sein Name ist Iwan Iwanowitsch Iwanow. Er ist ein Freund von Kaczanowski.«

»Ich werde selbst mit dem Teufel den Tanz wagen, wenn er mit Dukaten klimpert. Aber es hat sich gerade so gefügt, daß ich mich zur Zeit gänzlich ausgegeben habe, ich müßte also schon einen schwarzen Peter auf Bernardinerart mit Haselnüssen zu spielen versuchen.«

»Dann will ich das Fundamentum zu einem neuen Halbpart legen.« Er ließ eine schwere Geldrolle in seine Hand gleiten.

»Was soll ich diesem Esel ablauschen?« Er hatte Zarembas Absicht sofort begriffen.

»Die Zahl der Begleitmannschaft, die er mitnimmt, das genaue Datum seiner Ausreise und ob er ganz sicher seinen Rasttag in Merecz hält.«

»Wann mußt du darüber unterrichtet sein?«

»Vor Dienstag morgen. Würdest du es tun wollen?«

»Ich habe es gesagt. Mehr frage ich nicht. Dein waren die Dukaten und dein wird das Geheimnis sein. Warte 'mal, wie soll man dem wohl kommen? Hm, das Maul ist dämlich, aber die Augen sind schlau ...« er betrachtete den Offizier immer aufmerksamer. »Er liebt es, viel zu schlucken und das erste beste, das ist sicher, dafür ist er Soldat; die Karten hat er über alle Maßen gern, desgleichen Gold und die Freundschaft, dafür ist er ein Iwanow; daß ihm die Frauenzimmer nach Paradies duften, ist ganz in der Ordnung, denn er ist noch jung und dumm,« überlegte er halblaut.

»Kennst du ihn?«

»Das ist entbehrlich. Und letzten Endes wird uns das Pharao am besten verbrüdern. Ein wahrer Ulk. Haha! es scheint, daß auch ich zu etwas nütze sein kann.« Nach einer Weile sagte er noch mit einer fast schon ernsten Stimme: »Solltest du mich auch in anderen Angelegenheiten brauchen ...«

»Und wie sehr! Würdest du nicht mit dem Chef oder mit dem Obersten Jasinski sprechen wollen?«

»Behüte Gott! dafür dank' ich: der eine ist mir zu tugendsam und wird gleich in schlechtem Latein eine Rede halten wie bei einem Totenfest und der andere macht mir zu süßliche Reime. Das verursacht bei mir einen Geschmack, als müßte ich eine Amme küssen, ich werde förmlich übel bei dem Gedanken. Es ist mir schon lieber, wenn ich bloß mit dir zu tun habe, als Freiwilliger und auch ein wenig zum Zeitvertreib.«

»Wie du willst! Sieh dir doch einmal dieses Gedränge hier auf den Straßen an, dagegen ist die große Kirchweih in Berditschow rein gar nichts.«

»Ist denn der Jahrmarkt hier in Grodno etwa eine geringfügige Sache? Ein jeder drängt sich jetzt mit irgend etwas heran, das er gern verkaufen möchte: schade nur, daß Sievers so schlecht zahlt und Buchholtz so geizig ist; es wird viele Enttäuschte geben,« spottete er lächelnd.

Tatsächlich bot Grodno in der Hälfte August dieser Zeit den überraschenden Anblick einer Ansammlung von Menschen dar, aus allen Enden der Republik; die Stadt war schon überfüllt, und dennoch kamen immerzu ganze Karawanen beladener Kutschen, Packwagen mit Plantüchern, Reiter und Fußgänger in ihre Mauern gezogen, so daß sie von einem unaufhörlichen Lärm und Wagengeroll widerhallte.

Im wirren Gedränge auf den Straßen fielen besonders die Militärjoppen und die kecken Offiziersgesichter auf; einige von diesen Menschen, die sich als Zugehörige der von Rußland beschlagnahmten Brigaden ausgaben, bemühten sich um die noch vom letzten Krieg her fällige Löhnung; die anderen petitionierten bei den Ständen des Reichstags um Versorgung in anbetracht ihrer Dienstjahre und der erhaltenen Wunden; es waren auch solche darunter, die lediglich hingekommen waren, um sich zu amüsieren. Glück und Abenteuer zu suchen, und etliche, die von ihren Kameraden und Regimentern abgesandt worden waren, um etwas über den erwarteten Aufstand in Erfahrung zu bringen, den die Armee mit der ganzen Macht ihrer dem Vaterlande ergebenen Seele wünschte; diese kannte Zaremba und wechselte mit ihnen verständigende Blicke und Zeichen.

Außer diesem Haufen Adliger, die Grodno überflutet hatten, wimmelte es in der Stadt von einer noch zahlreicheren Menge des gemeinen Volkes: allerhand arme Teufel, dienstentlassene Soldaten, vor der Peitsche des Herrn entflohene Bauern, Diener ohne Stellung und selbst Menschen freier Stände, die nach irgend einem Verdienst suchten, trieben sich in der Stadt umher; ein Teil hatte bei den Bürgern von Grodno Aufnahme gefunden, ein anderer erhielt an den herrschaftlichen Ställen und Hofhaltungen Beschäftigung, manche waren wieder fortgewandert in alle Winde, die meisten jedoch verschwanden allmählich irgendwohin, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Nicht umsonst ratterten Tag für Tag die Werbetrommel,: jenseits des Njemenflusses an der Potockischen Schenke, wo der Schnaps floß, das verführerische Gold klirrte und Trinkgelage von einem Morgen zum anderen abgehalten wurden. Daß darauf in den Nächten die Kosaken ganze Haufen betrunkener Unglückseliger unter Nahajkahieben nach dem russischen Lager von Lososna abtrieben, wußten nur wenige. Man warb ebenfalls für den Preußenkönig, aber heimlicher und ging obendrein noch sehr wählerisch dabei vor. Auch der Engländer versuchte Streifzüge ähnlicher Art, doch hatte er wenig Glück dabei. Zaremba warb auf eigene Faust durch seine Leute, doch nicht in dem Maße, wie er es hätte tun wollen und können, denn es fehlte ihm an Geld und doppelte Gefahren drohten ihm: von seiten der Regierung, der Republik und der Feinde, vornehmlich aber von dieser. Er sann gerade darüber nach, als er im Gedränge Pater Seraphim erblickte. Der Bernhardiner war fleißig dabei, unter den modischen Stutzern, die vor dem Kaffeehaus herumstanden, Almosen zu sammeln, er drängte sich mit einem demütigen Gesicht durch den Haufen, hier seine Tabakdose, dort seine Sammelbüchse entgegenstreckend, doch anstatt der Kupfermünzen fielen ihm nur reichliches Gespött und bissige Bemerkungen zu.

»Eine närrische Fratze,« meinte der schöne Narbutt: »den muß man einmal zum besten halten.«

»Das ist ein schlauer Pater, der wird dich nach allen Regeln der Kunst abführen und lächerlich machen!« hielt ihn Woyna zurück.

Aber Narbutt, der sehr viel von seinem Witz hielt, ließ sich, ohne darauf zu achten, höhnisch vernehmen:

»Wie ist das möglich! ein Bernhardiner Almosenpater und ohne Lämmerherde?«

»Weil ich doch jetzt nur mit Schöpfen zu tun habe,« entgegnete dieser keck, so daß Narbutt rot wurde und zornig auf ihn einzischte:

»Hast wohl deine Erziehung hinter dem Vieh genossen, daß du dich hier so aufführst!«

»Was einem wehe tut, davon redet er gut!« gab der Almosenpater zurück und senkte demütig den Kopf, indem er die Sammelbüchse höher hob.

Die jungen Kavaliere begannen leicht zu lächeln, Narbutt aber, bis ins Lebendige getroffen, tippte mit dem goldenen Knauf seines Stöckchens gegen die Mönchstonsur und sagte gezwungen:

»Es wäre vergeblich, hier etwas zu suchen, denn es hallt wider wie aus einer leeren Scheune.«

»Fronti nulla fides!« murmelte der Mönch bescheiden. »Außerdem ziemt es sich dem Geschlagenen, stille zu halten, denn, wie mein Prior zu sagen pflegt: es ist schade um den Balsam für ein Kohlengericht und um Rosenöl für die Stiefel.«

Bei diesen Worten brach ein allgemeines und so starkes Gelächter aus, daß sich einzelne vor Lachen in den Hüften bogen, was sich der Bernardiner zunutze zog, um an Zaremba heranzutreten und ihm, während er mit seiner Büchse klapperte, zuflüsterte:

»Kasper ist ausgeblieben, der Marketender wartet!« und er ging langsam davon, die Sammelbüchse schüttelnd, ohne viel auf das Höhnen und die zuweilen selbst unangenehmen Rippenstöße zu achten.

Zaremba blieb noch eine Weile vor dem Kaffeehaus stehen und betrachtete trotz der Beunruhigung über die Schicksale Kaspers, der zur Auskundschaftung von Merecz in der Angelegenheit des Unternehmens von Kaczanowski ausgesandt worden war, mit den anderen die Wagenpassage, denn es war inzwischen die Nachmittagsstunde herangekommen, zu der die ganze gute Gesellschaft hinauszufahren pflegte, um etwas Kühle und Luft zu genießen. Er grüßte ununterbrochen nach allen Seiten zu seinen Bekannten herüber. Der Kastellan, Isa und Terenja kamen vorübergefahren, Martin Zakrzewski begleitete den Wagen dicht am Schlag auf seinem feurigen Braunen; die Fürstin Radziwill kam mit der Hetmanin Ozarowska von einem Viergespann aus weißen Arabern gezogen, deren Köpfe mit roten Federbüschen ausgeputzt waren; die königlichen Livreefarben kamen vorbei mit der Gräfin Tyszkiewicz, die aufs Schloß fuhr; es kam die Gräfin Camelli in einem engen Vis-à-vis mit ihrem Bruder, dem Kammerherrn Martini und beantwortete den Gruß Zarembas mit einem sehr gefühlvollen Lächeln, so daß Woyna voll Neid aufseufzte:

»Wenn diese Gnade doch an meine Adresse gerichtet wäre! Die schöne Teufelin! Und die zweite da, die ist wohl noch gefährlicher!« fügte er hinzu und verneigte sich höflich vor der Marquise Luhlli, die in der Gesellschaft des Kavaliers Litleplage in einer kanariengelben Kutsche mit roten Rädern saß.

»Ich würde die beiden an den Pranger stellen!« knurrte Zaremba zur Antwort.

»Selbst der Livländer läßt sich heute spazieren fahren,« bemerkte irgend einer, als er den Bischof Kossakowski mit der litauischen Feldhetmanin Zabiello und einem mageren Kaplan vorüberkommen sah.

»Wie schmeckt dir denn der Dienst bei ihm?« fragte Woyna ganz leise.

»Ich würde ihn den beiden Damen von vorhin als Genossen zugeben, aber ihn auf einen etwas höheren Platz bringen ...«

»Ich habe dich also recht verstanden,« sagte Woyna mit einer Stimme, die erfreut zu klingen schien. »Er hat, wie man sagt, den Zelanten hundert Dukaten à Person zahlen wollen, wenn sie für den Tag der Ratifikation des Traktats mit Rußland sich einer Opposition enthalten würden, ist denn das wirklich wahr?«

»Wahr ist es, nur daß er keinen bestechen konnte. Auch ohne ihre Beihilfe verfügt er über die Mehrheit!«

»Oder er wird sie sich kaufen. Wann ist denn die Ratifikationsverhandlung im Reichstag?«

»Sozusagen am Sonnabend, aber eigentlich wird die Sache erst am Montag auf die Tagesordnung kommen, vielleicht gelingt es, sie noch etwas aufzuschieben, es könnten auch noch andere Dinge dazwischenkommen ...«

»Der Sarg ist fertig, darum muß der Deckel zufallen, die Totengräber warten schon,« er wies auf den Fürsten Cycyanow, der in seinem Vis-à-vis aufrecht stehend, wie in einem Triumphwagen vorübergefahren kam und ein Rappenviergespann kutschierte, das in einem reich mit Silberplatten behangenen Geschirr ging; von Blum saß neben ihm.

Sie versanken in den Anblick einer ganzen Reihe von Kutschen, die sich wie eine mannigfaltig schillernde und vielfach gekrümmte Schlange ohne Ende vorüberschob – so daß es vor den Augen zu flimmern begann von all der Pracht der Kleider, von schönen Damen, Federbüschen, Brillantengezitter, bunten Livreen, prächtigen Geschirren, reichen Vergoldungen und unschätzbaren Pferdegespannen. Die heiteren Gesichter, die frohen Blicke, die Ausbrüche der Lustigkeit und das ununterbrochene Stimmengewirr der angeregten Unterhaltungen gaben nicht einmal zu ahnen, daß über allen schon die Ketten klirrten und daß es einer der letzten Tage der Freiheit war ...

»Sei mir gelobt, liebliche Fortuna!« rief plötzlich Woyna, indem er einen vorüberfahrenden Würdenträger mit roten, vollen Backen und einem mächtigen, schwarzen, keck aufgezwirbelten Schnurrbart verbindlich grüßte. »Mein lieber Pate und Beschützer! Den hätte ich jetzt in Grodno nicht erwartet. Es ist der Wojewode von Sieradz, Walewski. Ich renne gleich, damit mir nicht einer mit der Anbietung seiner Dienste bei ihm zuvorkommt; an deine Angelegenheit aber werde ich denken.«

Zaremba ging nach dem Posthof, in der Erwartung, den Marketender, dessen Ankunft ihm Pater Seraphim gemeldet hatte, dort zu treffen, vor dem Dominikanerkloster stieß er auf den alten Borysiewicz. Der Maurermeister kam gerade von der Arbeit, war ganz mit Kalk bespritzt und hatte eine Schürze vorgebunden; er machte das Zeichen der Eingeweihten und begann, nachdem sie die Kirche betreten hatten und in ein Seitenschiff eingebogen waren, ängstlich auf ihn einzuflüstern.

»Mein Haus steht unter Bewachung von Jägerposten: wer auch hinkommt, wird sofort nach der Horodnica geschleppt. Ich laufe herum, um unsere Herren zu warnen. Den Herrn Boten Krasnodembski lassen sie nicht aus der Stube, selbst nicht, mit Verlaub gesagt, zur Erledigung eines Bedürfnisses. Die Leute in der Stadt haben erzählt, daß man den Herren Boten aus Lomza letzte Nacht fortgeschleppt hat ...«

»Noch nicht, aber er sitzt ebenso unter Bewachung zu Hause. Wie ist denn das Befinden des Herrn Hauptmanns Zukowski?«

»Heute früh war Pater Meier bei ihm mit dem Leib unseres Herrn.«

»Was ist denn geschehen?« er wurde sehr besorgt; »vorgestern noch schien er ganz gesund zu sein ...«

»Er fühlt sich auch heute nicht schlechter,« lächelte der andere schlau. »Aber als die Jäger alle Fenster und Türen des Hauses besetzt hatten, haben sich der Herr Hauptmann so erschrocken, daß er mir befohlen hat, den Priester zu holen, wie zu einem schwer Kranken … Der Priester hat dann unter dem Mantel alles fortgetragen, was nötig war, er kam ja mit den heiligen Sakramenten, wer hätte ihn da zu beargwöhnen gewagt! Unser Herr Zukowski ist ein schlauer Kopf!«

»Grüßt ihn von mir,« er reichte ihm die Hand, die Borysewicz ergriff und ohne Untertänigkeit, aber mit großer Hochachtung drückte, wobei er ihm geheimnisvoll zumurmelte:

»Es ist besser, vor der Kirche noch ein wenig stehenzubleiben.«

Zaremba legte kein großes Gewicht auf die Festhaltung des Boten Krasnodembski und anderer Patrioten in ihren Behausungen, denn es war die übliche Methode von Sievers, daß er vor jeder wichtigeren Reichstagssitzung die Opposition einzuschüchtern trachtete, indem er sie durch zeitweilige Freiheitsberaubung und durch die Drohung einer Verschickung nach Sibirien zu zwingen versuchte, ebenso zu stimmen wie die gefügige Mehrheit; den Willen der Vaterlandstreuen konnte er durch diese Mittel nicht brechen, aber die ihm Willfährigen wurden dadurch zu um so größerem Eifer angespornt.

Auf dem langgestreckten Posthof, der ringsum mit Schuppen umstellt und mit allerhand Gespannen vollgestopft war, stöberte Zaremba mit Mühe den Marketender auf und ließ sich unter dem Vorwand des Einkaufs von Pferdefutter nach dem Speicher führen, wo er erst beim Handeln und bei der Besichtigung des Hafers erfuhr, daß ein großer Transport Schafpelze für die Absendung fertig sei.

»Zweitausend Stück, kurze Pelze, gerade für unsere Kavallerie passend,« flüsterte der Marketender, indem er mit den Augen auf einen mit grünen Plantüchern bedeckten Stapel wies, von dem ein starker Schafgeruch ausging. »Der Herr Oberst Jasinski hat sie uns im Heu hergeschickt. Ein wahrer Jammer, daß man sie nicht auf dieselbe Weise weitertransportieren kann, die Felle aber wie andere Ware zu befördern ist gefährlich, die Allianten könnten sie leicht für sich requirieren …«

Zaremba, der bei solchen Gelegenheiten leicht neue Auswege fand, fragte ihn:

»Fouragieren Euer Wohlgeboren auch für die Armee von Igelström?«

»Nicht länger als vor einer Woche habe ich für ihn dreihundert polnische Scheffel Hafer abgesandt.«

»Dann sind wir ja schon zu Hause.« Er lachte lustig auf.

»Man muß ihm eben auch die Schafpelze hinschicken …«

»Man könnte es wagen,« im Flug hatte er die List begriffen. »Die Papiere und die Begleitmannschaft wird mir der Herr General Dunin geben, wie soll aber der Transport schließlich in unsere Lagerhäuser gelangen?«

»Man wird der Begleitmannschaft das Genick umdrehen und die Schafpelze werden verschwinden. Laß sie dann danach suchen …«

»Kein kleines Wagnis, und wenn es nicht glücken sollte?«

»Wieviele Planwagen und unter welcher Bedeckung?« fragte Zaremba, seine Zweifel mit Schweigen übergehend.

»Zehn und ebensoviele Kosaken mit einem Anführer: mehr gibt man nicht, denn die Heerstraße nach Warschau ist sicher und in jeder Stadt unterwegs liegen Husaren in Quartier.«

»Zwanzig Gemeine als Pferdeknechte verkleidet können mit ihnen fertig werden, wenn sie nur Waffen zur Hand haben und ein gutes Kommando über sich.«

»Kasper wäre der beste dafür.«

»Den brauche ich hier. Ich gebe einen Warschauer mit; ein Halunke und Galgenstrick ist er, aber einzig, wenn es darum zu tun ist, den Leuten Sand in die Augen zu streuen und sie an der Nase herumzuführen. Ich werde ihn noch heute herschicken. Und Euer Wohlgeboren sollten sich für alle Fälle eine Möglichkeit sichern: der Einsatz ist nicht gering.«

»Jeden Tag riskiert man den Kopf. Wollen Euer Wohlgeboren jetzt den Gaul sehen, ein wahres Wunder ist das, ließ er sich plötzlich laut vernehmen, nachdem einige Menschen auf dem Hof in der Nähe des Speichers aufgetaucht waren. Herr Hauptmann von Blum hat ihn hier zum Verkauf eingestellt.« Er rief seinen Tataren etwas zu, damit sie den Gaul aus dem Stall hinausführten.

»Er soll von der Beute bei Mir stammen,« erklärte er mit einer ungläubig klingenden Stimme.

»Eher aus einem fremden Stall,« entgegnete Zaremba, und nachdem er das Pferd betrachtet hatte, das sich als recht ansehnlich erwies, fuhr er nach Hause, denn der Abend sank schon immer tiefer auf die Stadt herab.

Kasper war noch immer nicht zurückgekehrt, der Hauptmann Kaczanowski schnarchte auf seiner Stube, als hätte er ein eifriges Zwiegespräch mit allerhand Flaschen gepflogen, und Staschek sang irgendwo im Stall zur Begleitung der Flöte von Mathies, daß es laut widerhallte.

Kaczanowski widersetzte sich der Ernennung Stascheks als Führer des Transportes, als aber der Bursche selbst es erfuhr, fiel er seinem Herrn zu Füßen und bettelte so lange, bis sich dieser einverstanden erklären mußte, denn auch Zaremba gab seine guten Gründe hinzu.

»Und wenn ich selbst auf allen Vieren hinkriechen sollte und mich dazu auf die Nase stützen, so kann der Herr sicher sein: ich mach' und tue alles nach Befehl,« flüsterte er ganz atemlos vor Freude. Er lief gleich zum Marketender und tauchte erst wieder auf, als der Transport schon für die Reise fertig war.

Zaremba hatte ihn kaum wiedererkannt, so verändert war er; er stand vor ihm in einem großen Schafpelz, der aus der Brust aufklaffte und ein sackleinenes Bauernhemd sehen ließ, an den Füßen hatte er Bastschuhe und eine Schafpelzmütze in der Faust; er sah aus wie ein ausgemachter Dummkopf und roch so stark nach dem Stall, daß es einem in der Nase kribbelte.

»Melde gehorsamst: mit Tagesgrauen brechen wir auf,« unwillkürlich nahm er eine soldatische Haltung an.

»Fahre denn mit Gott,« er gab ihm einige Dukaten und eine ausführliche Anweisung. »Und merke dir: bringst du alles zur Stelle, dann hast du eine höhere Charge zu gewärtigen, und machst du die Sache schlecht, dann knüpfen dich die Kosaken auf.«

»Der Sohn meines Vaters, Herr Lieutnant, wird nicht hängen,« versicherte er zuversichtlich. »Wenn ich erst einmal ein bißchen mit der Nase an den Warschauer Leckerbissen gerochen habe, bin ich auch gleich wieder zur Stelle.«

Sehr herzlich war der Abschied, den Kaczanowski von ihm nahm, denn er versetzte ihm einen Schlag in den Nacken und schrie ihn an:

»Und wenn du dich zum Narren machst, dann werde ich dir dein Maul so zurechtbläuen, daß dich die eigene Mutter am Tag des jüngsten Gerichts nicht wiedererkennt!« Und damit verließ er sehr aufgeplustert das Zimmer, ohne jedoch zu verfehlen, ihm einige polnische Silbergroschen zuzustecken, so daß Staschek gerührt aufheulte und im Flur dem Mathies gestand:

»Verfluchtes Hundegesicht! ich habe eine solche Sehnsucht, daß ich wohl dem ersten Juden an dem Schlagbaum von Warschau die Peises ausreißen werde vor lauter Freude.«

»Die Warschauer Röcke machen dir den Mund wässrig,« hörte man die Baßstimme von Mathies grunzen.

»Bist dumm, was mir den Mund wässrig macht, das ist Frau Mutters Huld.«

Zaremba wollte nicht länger zuhören, denn auch in ihm war mit einemmal die Sehnsucht nach der Mutter erwacht, die vergeblich zu Hause auf seine Rückkehr wartete. Sein Herz war plötzlich ganz von der Innigkeit der Heimaterinnerungen umfangen und von einer andächtigen Rührung erfüllt, um diesen Gefühlen jedoch keine Gewalt über sich zu geben, fing er ein Gespräch mit Mathies an, den er für die Zeit der Abwesenheit Kaspers von einem Vorreiter zur Ordonnanz avancieren ließ. Der Bursche wurde über und über rot und sein pausbackiges, großes Gesicht leuchtete auf vor Freude; er war breitgewachsen wie eine Eiche, seine blauen, wie Leinenblüten hellen Augen zeigten eine kindliche Güte und Einfalt; über alles liebte er seine Pferde, dann seinen Herrn und das Soldatenhandwerk, und in den Schlachten kämpfte er so erbittert, daß er sogar, wenn sich die Gelegenheit geboten hatte, einfach mit den Krallen dem Feind zu Leibe gegangen war; stark war er wie ein Bär, konnte eine Kanone von der Stelle rücken und ein Pferd auf die Schultern heben, trotzdem bekam er doch nicht selten Prügel für Liederlichkeit, Trunksucht und Ungehorsam. Zaremba hatte ihn mit Kasper von seinem Vater bekommen, noch als er bei den Kadetten war und liebte die beiden fast wie seine eigenen Brüder.

»Zu Befehl, Herr Leutnant,« sagte Mathies nach einer Weile, als er sich gut überlegt hatte, was ihm gesagt worden war: »dann wird wohl der Pjetrek die Pferde nehmen?« fragte er darauf ängstlich.

»Versteht sich, aber dir sollst die Aufsicht über den Stall behalten; saufe nicht und laß dich nicht mit dem ersten besten ein, hast du mich verstanden?«

»Zu Befehl,« es knackte in seinen Knochen, so hatte er sich geradegereckt: »aber die beiden Falben werde ich dem Pjetrek nicht abtreten,« keuchte er hervor, auf alles gefaßt.

»Linksum kehrt, marsch!« kommandierte Zaremba ungeduldig und schickte sich an hinauszugehen.

Mathies gab das Spiel aber noch immer nicht für verloren, denn im Flur vertrat er ihm abermals den Weg, warf sich vor ihm nieder und bettelte, seine Knie dabei küssend, weinerlich:

»Melde gehorsamst, daß dieses Rindvieh, der Pjetrek nämlich, besser hinter Ochsen dreingehen sollte, als sich mit Hengsten abzugeben. Ich werd' schon ganz gewiß wie ein Stein zu Hause sitzen bleiben, keinen Schnaps anrühren, aber die Pferde geb' ich nicht heraus. Mein Gott, die werden ohne mich ganz zuschanden kommen, die Armen.«

»Ich habe es gesagt, abtreten!« rief Zaremba mit drohender Stimme und wandte sich der Zelle des Paters Seraphim zu, um ihn auf die Suche nach Kasper auszusenden. Darauf begab er sich auf Schleichwegen durch Hintergassen nach den Quartieren der verschiedenen Abgesandten, die aus allerlei Teilen der Republik soeben eingetroffen waren; eine Anzahl dieser Abgesandten, die von der Armee aus und auch als Vertreter verschiedener Wojewodschaften gekommen waren, sollte in Grodno eine Versammlung abhalten. Sie hatten unter allerlei Vorwänden und Verkleidungen die Reise unternommen, um sich der Aufmerksamkeit der Spione zu entziehen. Diese Maßnahmen waren um so notwendiger, da die letzten Zeiten mit einer seltsam erregten Atmosphäre, mit beunruhigenden Zweifeln, unheilvoll klingenden Gerüchten und angstvollen Erwartungen erfüllt waren; lebhafte Besorgnisse erweckte außerdem die immerzu wachsende Zahl der Regimenter, mit denen die Alliierten Grodno überfluteten, die immer häufiger werdenden Verhaftungen verschiedener Reichstagsboten sowie heimlich im Umlauf befindliche Berichte über die zur Nachtzeit nach Sibirien fortgeschleppten Bürger der Republik. Was die Reichstagssitzungen anbetrifft, so waren sie ganz dazu angetan, noch mehr Öl aufs Feuer zu gießen, denn die Beratungen nahmen einen immer stürmischeren Verlauf an und zogen sich über die Maßen in die Länge, weil auch Buchholtz immer wieder Noten an die erlauchten Stände richtete, die in einem solchen ungewöhnlichen und beleidigenden Ton gehalten waren, daß sie selbst die gefügigsten Anhänger von Sievers aufstachelten und den Haß der Allgemeinheit entfachten. Die Patrioten flehten fast Tag für Tag die beratenden Stände in den ergreifendsten Worten an, auf Grund dieses unerhört verletzenden Verhaltens nicht weiter mit dem Preußenkönig zu verhandeln. Man fragte schon nicht wie während des letzten Reichstags: mit Friedrich oder Katharina? Die Allgemeinheit war zu jedem Bündnis bereit, wenn es nur dazu beitragen sollte, das verhaßte Preußentum abzuschütteln. Am meisten aber erweckte die Angelegenheit des von Preußen besetzten Tschenstochaus stürmische Ausbrüche des Hasses; die Schlachta schwor, auf die Säbel schlagend, lieber zu sterben, als eine Entweihung des geheiligten Ortes zu dulden.

Solche Umstände schienen den Absichten von Sievers erwünscht zu sein, denn er begünstigte häufig, wenn auch ausschließlich durch Redewendungen und in vertraulichen Zwiegesprächen den Widerstand gegen die preußischen Forderungen, indem er gleißnerisch zu verstehen gab, daß er nur bis zu einem geeigneten Augenblick diese höllischen Machinationen dulden würde, und als wollte er einen Beweis seiner Aufrichtigkeit geben, unterstützte er nur sehr zurückhaltend die Buchholtzschen Noten im Reichstag; darum schwor man um so eifriger der hochherzigen Alliantin Treue und verließ sich um so rückhaltsloser auf ihre Garantien.


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