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Initial So also war es mit dem Matheus Boryna zum Sterben gekommen.

Da es aber Sonntag war, hatten die Leute des Borynahofes sich verschlafen, so daß erst Waupa sie alle mit seinem lauten Bellen aufwecken mußte; er bellte, heulte und sprang dermaßen gegen die Tür an, und stürzte sich, als man ihm öffnete, so außer sich auf die Leute los, sie an den Kleidern zerrend, dann wieder vor die Tür hinaus laufend und sich umblickend, ob ihm nicht jemand folgte, daß Anna eine bange Ahnung überkam.

»Sieh doch mal nach, Fine, was der Hund eigentlich will.«

Fine lief ihm denn auch vergnügt nach, sich auf dem Wege ab und zu mit ihm neckend.

Er führte sie bis an die Leiche des Vaters.

Sie erhob ein lautes Geschrei, so daß über kurzem die andern alle auf das Feld hinausgelaufen kamen, auf dem der Alte lag; aber er schien schon ganz erstarrt zu sein. Er lag mit dem Gesicht zur Erde, gerade wie er in seiner Todesstunde hingestürzt war, seine Arme hatte er weit ausgebreitet, wie zu einem allerletzten heißen, inbrünstigen Gebet.

Man trug ihn ins Haus und sah, ob ihm nicht noch zu helfen wäre.

Doch alle Mühe war vergeblich, keine Hilfe und kein Sorgen konnten ihm mehr nützen; hier gab es nur einen Toten, das war und blieb so.

Ein arges Wehklagen erhob sich darob im Hause; Anna schluchzte auf einmal hoch auf, Fine lief wie eine Verzweifelte gegen die Wand an und jammerte und schrie, Witek heulte mit den Kindern um die Wette, und im Heckenweg saß Waupa und winselte kläglich; nur Pjetrek, der hier und da herumgestanden hatte, sah sich nach der Sonne um und ging wieder in den Stall, sich schlafen zu legen.

Und Matheus lag auf seinem Bett, langgereckt und starr, mit weit offenem, von der Erde geschwärztem Mund, selber einer Erdscholle ähnlich, die die Sonne ausgedörrt hat, oder auch wie ein Baum, der vom Moder ausgehöhlt worden ist. Die verkrampfte Faust hielt noch immer etwas Erde fest, seine Augen aber starrten wie in einer tiefen Verzückung irgendwohin, weit hinaus, als stände ihnen der Himmel sperrangelweit offen.

Er verbreitete ein solches Todesgrauen um sich, eine solche grausige Starrheit ging von ihm aus, daß sie ihn mit einem Leinentuch zudecken mußten.

Da sich aber das Geschehene rasch im Dorf verbreitet hatte, so kamen, ehe noch die Sonne sich etwas über die Häuser erhob, schon die Menschen hergerannt, um Genaueres zu hören. Immer wieder trat jemand herein, lüftete ein wenig das Totenlaken, sah ihm in die Augen, kniete nieder und sprach ein Gebet; andere aber wiederum blieben, die Hände ringend und ganz verstummt vor Trauer, vor ihm stehen; sie waren bis ins Innerste erschüttert durch diese sichtbare Übermacht Gottes über das menschliche Leben.

Das Wehklagen der Waisen wollte nicht still werden und klang bis auf die Dorfstraße hinaus.

Ambrosius erst trieb alle Leute zur Tür hinaus, schloß die Stube ab und machte sich sodann mit Gusche und Agathe, die sich auch herangeschleppt hatte, um ein Opfergebet zu sprechen, daran, den Toten herzurichten. Er tat das sonst immer gern und war dabei stets guter Dinge, heute aber wurde ihm das Herz schwer.

»Das bißchen menschliche Glückseligkeit!« murmelte er, den Toten entkleidend. »Die Totenmarjell, die packt dich schon an der Gurgel, gerade wenn es ihr paßt und haut dir eine 'runter, und du meinst, du wehrst dich und streckst schon die Beine nach Pfarrers Kuhstall aus.«

Selbst Gusche war ganz mitgenommen und klagte vor sich hin:

»Der Arme hat sich hier in der Welt herumschlagen müssen, das ist man gut, daß er nun tot ist.«

»Ihr sagt es; was hat er denn so auszustehen gehabt?«

»Viel Gutes ist ihm aber auch nicht zugekommen.«

»Wer kriegt denn davon so viel, daß er genug hat! Und wenn er der größte Gutsherr wäre oder der König selbst, sorgen und sich mühen und leiden muß er doch.«

»Das einzige ist, daß er nicht Kälte und nicht Hunger auszustehen gehabt hat.«

»Was ist Hunger, Mutter?! Der Kummer beißt stärker als alles andere.«

»Das ist wahr, als ob ich damit nicht selber Bescheid wüßte! Die Jaguscha hat ihm bis ans lebendige Leben zugesetzt, die Kinder haben ihn auch nicht geschont.«

»Die Kinder waren doch gut, von denen hat er nichts auszustehen gehabt,« mischte sich Agathe, ihr lautes Gebet unterbrechend, ein.

»Paßt besser auf euer Gebet auf! Hale, die klagt hier über den Toten und streckt ihre Ohren nach Neuigkeiten aus,« knurrte Gusche.

»Weil schlechte Kinder nicht so wehklagen würden. Hört doch nur ...«

»Wenn euch einer so viel nachlassen sollte, würdet ihr schon bis zum siebenten Schweiß schreien und die Gurgel nicht schonen.«

»Ruhig da! Da kommt die Jaguscha gelaufen!« beschwichtigte sie Ambrosius.

Jaguscha stürzte gleich darauf in die Stube und blieb mitten drin wie erstarrt stehen, ohne ein Wort hervorstottern zu können.

Sie kleideten gerade Matheus in ein neues Hemd ein.

»Tot ist er!« stöhnte sie schließlich hervor, ihre ängstlichen, verstörten Augen auf ihn heftend. Das Entsetzen griff ihr an die Kehle, und das Herz war wie zu Eis erstarrt, so daß sie kaum Luft kriegen konnte.

»Habt ihr denn nichts gewußt?« fragte Ambrosius behutsam.

»Bei der Mutter hab' ich geschlafen, Witek ist gerade angelaufen gekommen und hat es mir gesagt. Ist er denn wirklich tot?« fragte sie plötzlich, an den Toten herantretend.

»Versteht sich, daß wir ihn hier doch nicht für eine Hochzeit zurecht machen, sondern für den Sarg.«

Sie konnte es gar nicht begreifen, sie mußte sich gegen die Wand stützen, denn es war ihr, als quälte sie ein schwerer Traum und als läge ein Alp auf ihr, und sie könnte nicht aufwachen und müßte, ganz in Schweiß gebadet, in Angst und Qual daliegen. Und immer wieder ging sie zur Stube hinaus und kehrte doch wieder zurück, außerstande, die Augen von dem Toten zu lassen, sprang immer aufs neue auf, um zu fliehen und blieb dennoch da, und es überkam sie doch, daß sie hinausrennen mußte; am Zaunüberstieg stand sie und ließ die Augen, ohne es zu wissen, über die Felder streifen, oder sie setzte sich auf die Mauerbank neben Fine, die sich die Haare zerwühlte, kläglich heulte und schrie:

»Oh, mein einziges Väterchen! Mein Väterchen!«

Natürlich war Haus und Hof voll Weinen und Wehklagen, aber sie allein konnte, obgleich jede Faser in ihr bebte und ein tiefer Schmerz ihr im Herzen brannte, doch nicht eine Träne finden; kein Ton kam aus ihrer Kehle, sie ging wie irr umher, ihre Augen glühten und waren wie erstorben vor Grauen.

Zum Glück kam Anna bald zu sich, und obgleich sie noch etwas vor sich hin weinte, paßte sie schon auf alles auf und regierte wie immer; als die Schmiedsleute angelaufen kamen, hatte sie sich schon ganz beherrscht.

Magda heulte los, der Schmied aber fing sogleich an, Anna auszufragen.

Sie erzählte ihm der Reihe noch, wie es gekommen war.

»Gut, daß ihm der Herr Jesus einen leichten Tod gegeben hat!« murmelte er.

»Soviel wie der gelitten hat ... da hat er ihn auch verdient.«

»Der Arme, bis aufs Feld ist er vor der Knochenfrau davongelaufen!«

»Und noch am Abend hab' ich nach ihm gesehen, da lag er ganz still, genau wie immer.«

»Und hat er denn nichts mehr geredet?« fragte er, mit dem Handrücken über seine trockenen Augen wischend.

»Nicht ein einziges Wort, ich habe ihm das Federbett zurechtgestrichen, hab' ihm zu trinken gegeben und bin dann weggegangen.«

»Und allein ist er aufgestanden! Vielleicht wäre er auch noch nicht gestorben, wenn ihn jemand bewacht hätte,« stöhnte Magda unter Schluchzen hervor.

»Die Jaguscha hat bei der Mutter geschlafen, denn die Alte ist doch schwer krank, das war schon länger so.«

»Es hat schon so kommen müssen, wie es geschehen ist! Lange genug ist er ja schon krank gewesen, mehr doch wie ein Vierteljahr! Und mit wem es nicht nach der Gesundheit geht, für den ist ein schneller Tod das beste. Man muß dem lieben Gott danken, daß er sich nicht mehr quält,« sagte er.

»Versteht sich, und ihr wißt es ja selbst, was von Anfang an die Ärzte und die Arzneien gekostet haben, und alles ist umsonst gewesen.«

»Weil, wenn einer die Todkrankheit hat, auch die Ärzte nichts helfen können.«

»Ein solcher Hofbauer, so ein kluger, mein Jesus!« jammerte Magda.

»Mir ist nur leid, daß der Antek nicht noch zum lebenden Vater zurechtgekommen ist.«

»Er ist doch kein Kind, da hat er doch auch nichts zu weinen. Es wäre richtiger, an das Begräbnis zu denken.«

»Das ist wahr, und gerade wie zum Ärger ist der Rochus nicht da.«

»Wir werden uns schon allein behelfen. Sorgt euch nur nicht, ich werde schon alles zurechtkriegen,« beruhigte sie der Schmied.

Er zeigte zwar ein besorgtes Gesicht, doch schien er etwas anderes im Sinn zu haben. Er seufzte, sprach betrüblich, wischte sich über die Augen und konnte doch niemandem ins Gesicht sehen. Er machte sich daran, dem Ambrosius zu helfen und die Kleider für den Vater zurechtzulegen, und lange schnüffelte er in der Kammer zwischen den Zaspeln Garn und verschiedenem Kram herum, suchte in allen Ecken und stieg selbst auf den Boden, um, wie er sagte, die Stiefel zu holen, die dort hingen. Das Aas/wie ein Blasebalg seufzte er herum, plapperte die Gebete lauter noch wie die Agathe herunter und gedachte in einem fort all der Wohltaten des Seligen; seine Augen suchten indessen rastlos nach irgend etwas in der Stube, und die Hände schoben sich wie von selber unter die Kissen und wühlten gierig im Bettstroh.

Bis Gusche sich schließlich bissig vernehmen ließ:

»Paßt nur auf, daß ihr da nichts Vertrocknetes findet ... und wenn ihr was habt, dann haltet es nur gut, daß es euch nicht zwischen den Fingern rausrutscht; denn man weiß nicht, ob es nicht glitschig ist ...«

»Wen's nicht brennt, dem eilt es nicht!« brummte er zurück und suchte schon ganz offensichtlich, wo er nur konnte, selbst ohne auf den Michael vom Organisten zu achten, der atemlos angelaufen kam, um Ambrosius zu holen.

»Kommt nach der Kirche, da warten mehrere, vier Kinder sollen getauft werden.«

»Laß sie warten, ich werd' doch hier nicht so den nackten Leichnam liegen lassen.«

»Ich mach' es hier für euch, geht nur, Ambrosius,« redete ihm der Schmied zu, um ihn los zu werden.

»Ich hab' mich bereit erklärt, dann mach' ich es auch zu Ende. Nicht oft hab' ich es mit solchem Hofbauer zu tun. Mach' du in der Kirche alles zurecht, was nötig ist, Michael, kannst mich vertreten und laß die Paten mit brennenden Kerzen um den Altar herumgehen, da werden auch ein paar Groschen für dich abfallen. Will da Organist werden und kann nicht einmal bei einer dummen Taufe sich auskennen,« warf er ihm verächtlich nach.

Anna kam mit Mathias an, der für den Sarg Maß nehmen wollte.

»Spar mir nur nicht an seinem letzten Gehäuse, damit der Arme sich ordentlich breit machen kann, nach dem Tode wenigstens,« sagte Ambrosius traurig.

»Mein Jesus! Sein Leben hat er nicht Platz genug auf ein paar Hufen gehabt, und jetzt muß er zwischen die vier Bretter rein,« murmelte Gusche; Agathe aber würgte, ihr Gebet unterbrechend, weinerlich heraus:

»Ein Hofbauer war er, da wird er auch ein hofbäuerliches Begräbnis haben, und ein Armer weiß nicht einmal, wo und an welchem Zaun er seinen letzten Atem von sich geben darf. Daß dir das ewige Licht leuchten möge! Daß du ... solch ein Bauer,« schluchzte sie wieder auf.

Mathias schüttelte aber nur den Kopf, nahm Maß an dem Leichnam, sprach ein Gebet und ging davon; und obgleich es Sonntag war, machte er sich gleich an die Arbeit: jegliches Tischlergerät befand sich im Haus, und die trockenen Eichenbohlen lagen schon seit langem auf dem Boden bereit.

Bald hatte er sich eine Arbeitsgelegenheit im Garten zurechtgemacht, schaffte mächtig und trieb den Pjetrek an, den sie ihm zur Hilfe beigegeben hatten.

Es war schon lange voller Tag, die Sonne brannte hell drauflos, und gleich nach dem Frühstück fing die Hitze an, drückend zu werden, alle Gärten und Felder lagen wie versunken in dem flimmerigen weißen Leuchten der glühenden Luft.

Die matt dastehenden Bäume bewegten hin und wieder ihre Blätter, wie ein Vogel, der in der heißen trägen Luft dasitzt und nur ab und zu seinen Flügel regt. Eine Feiertagsstille hatte sich über das ganze Dorf gebreitet, die Schwalben allein zwitscherten noch eifriger und sausten über den Weiher hin und her, auf den Wegen aber fingen die Wagen an, in graue Staubwolken gehüllt, vorüberzujagen, und die Leute aus den benachbarten Dörfern zogen zur Kirche. Immer wieder ließ einer vor dem Borynahof seine Pferde langsamer gehen, begrüßte die Familie, die weinend vor dem Hause saß, seufzte traurig auf und versuchte, durch die offenstehenden Türen und Fenster ins Innere zu sehen.

Ambrosius machte sich eifrig zu schaffen und eilte sich so beim Einkleiden der Leiche, daß er ordentlich in Schweiß kam; sie hatten das Bett schon in den Obstgarten hinausgetragen und das Bettzeug über die Zäune ausgebreitet, als er der Anna zurief, sie mochte Wacholderbeeren zum Ausräuchern der Stube bringen.

Sie hörte es nicht, wischte sich die Tränen ab, die von selber heruntertropften und starrte ununterbrochen auf die Landstraße, in der Erwartung, jeden Augenblick Antek auftauchen zu sehen.

Doch die Stunden gingen vorüber, und er war immer noch nicht gekommen; schließlich wollte sie selbst Pjetrek zum Auskundschaften in die Stadt schicken.

»Er wird nur das Pferd abjagen und kriegt doch nichts heraus ... versteht sich ...« setzte ihr der alte Bylica auseinander, der gerade mit Veronka gekommen war.

»Im Amt müssen sie doch irgendwas wissen.«

»Das schon ... aber erstens ist doch heute alles zu, da es Sonntag ist, und um wo hineinzukommen, müßte man ihnen ordentlich was zustecken, denn sonst lassen sie einen nirgendwo vor.«

»Ich halte es aber nun schon nicht mehr aus,« klagte sie ihrer Schwester.

»Der kann euch noch genug Freude machen, wartet nur, bis er da ist,« zischte der Schmied und blickte noch der an der Wand sitzenden Jaguscha hin.

»Daß dir deine böse Zunge verdorrt!« fauchte sie ihn an.

»Kein Wunder, nach den Ketten werden einem die Beine schon lahm, da kommt man nicht schnell vorwärts,« fügte er höhnisch hinzu, denn er war ganz aufgebracht durch das nutzlose Geldsuchen.

Sie antwortete nichts, immer wieder auf den Weg hinausblickend.

Man hatte gerade zum Hochamt geläutet, als Ambrosius sich fertig machte, um zur Kirche zu gehen, nachdem er Witek noch befohlen hatte, Borynas Stiefel mit Talg einzureiben, denn sie waren eingetrocknet, und er formte sie ihm so unmöglich über die Füße ziehen.

Der Schmied und Mathias waren irgendwo ins Dorf gegangen, und Veronka machte sich auf, nach Hause zu gehen; sie nahm den alten Vater und Annas Kinder mit; im Haus blieben nur die Frauen und Witek zurück, der bedächtig die Stiefel schmierte, sie am Feuer wärmte und immer wieder hinlief, um den Hofbauer anzusehen oder sich nach Fine umzugucken, die immer leiser vor sich hinschluchzte.

Die Wege lagen menschenleer, denn die Kirchgänger waren schon alle vorüber, und auf dem Borynahof wurde es nun ganz still; nur die Stimme Agathes, die beim Beten der Totenlitaneien war, drang durch die offenen Fenster, wie ängstliches Vogelgezirp; im Hause räucherte Gusche Stuben und Flur mit Wacholder aus.

Bald schien auch die Messe begonnen zu haben, denn von der Kirche drangen durch die Mittagsstille ferne Gesänge, und Orgelklänge flossen hoch her in einer gedämpften süßen Woge dahin.

Anna, die nicht wußte, wo sie mit sich abbleiben sollte, ging bis nach dem Zaunüberstieg, um dort ihre Gebete zu verrichten.

»So hat er nun sterben müssen!« sann sie wehmütig vor sich hin, die Perlen des Rosenkranzes zwischen den Fingern schiebend; aber das Gebet kam nur hin und wieder über ihre Lippen, denn sie hatte in ihrem Inneren etwas wie ein Knäuel verschiedener Gedanken und Ängste.

»Zweiunddreißig Morgen Land, die Triften, der Wald, das Inventar, eine solche Wirtschaft!« Sie seufzte auf und umfaßte mit liebevollen Blicken die weit sich dahinziehenden Felder und die ganze große Gotteswelt.

»Wenn man so alles auszahlen könnte, und dann hier auf dem Ganzen wirtschaften! So wie der Vater hier gesessen hat!« Ein plötzliches Hochmutsgefühl ließ sie sich aufrecken, sie sah trotzig mitten in die Sonne hinein, lächelte bedeutungsvoll und begann mit einem Herzen voll süßer Hoffnung die Worte des Rosenkranzes vor sich hinzuflüstern.

»Von einer halben Hufe werde ich nichts ablassen, und die Hälfte des Hauses ist auch mein, und die Milchkühe geb' ich auch nicht ab!« sagte sie etwas wehmutsvoll.

Sie vertiefte sich wieder für eine Weile ins Gebet, mit tränenumflorten Augen das ganze Land betrachtend, das wie mit einem goldigen Kleid angetan, in der Sonne vor ihr lag; der schon mit Ähren gekrönte üppige Roggen ließ seine rostgoldenen Gehänge leise schaukeln, die dunkleren Gerstenstreifen schimmerten wie tiefe Wasser, und die hellgrünen Haferfelder, die dicht mit gelbem Hederich durchwachsen waren, fluteten zitterig in der stillen, warmen Mittagsluft. Irgendein großer Vogel schwebte in der Luft über einem roten Kleefeld, das wie ein blutgetränktes Tuch über die Flanke eines Hügels ausgebreitet lag. Hier und da sah man Saubohnen, die mit tausend weißen Blütenaugen um sich schauten, wie lange Ketten von Wachtposten die Kartoffelfelder umstehen, und aus den tiefer gelegenen Stellen grüßte der im Putz seiner hellblauen Blüten leuchtende Flachs herüber und schimmerte wie blaue Kinderäugen, die dem Sonnenlicht entgegenblinzeln.

Es war ein wunderschöner Tag, die Sonne wärmte immer mehr und eine heiße Welle, ganz getränkt vom Duft der zahllosen Blumen, die überall im Getreide blühten, kam von den Feldern mit einer so lieblich erquickenden Macht herangeflutet, daß die Seele vor Freude weit wurde und die Augen sich mit Tränen füllten.

»Heilige Mutter! Du Heilige ...« sprach sie, ihren Kopf neigend.

Die Betglocke bimmelte leise mit einem silbernen Stimmlein über das Land.

»Nach deinem Willen geschieht alles in der Welt, mein lieber Jesus! Nach deinem!« murmelte sie inbrünstig, wieder die Worte des Gebetes aufnehmend.

Irgendwo in der Nahe knackte plötzlich etwas. Sie sah sich aufmerksam um: unter den Kirschbäumen, gegen einen Reißigzaun gelehnt, stand Jaguscha und seufzte trübsinnig vor sich hin.

»Daß man nie einen Augenblick Ruhe hat!« klagte Anna vor sich hin, denn die Erinnerungen schlugen wie mit Brennesseln auf sie ein. »Das ist wahr, die hat doch die Verschreibung!« kam ihr zu Bewußtsein. »Ganze sechs Morgen! Diese Diebin!« Die Wut würgte ihr im Leib, sie drehte Jagna den Rücken, aber sie konnte sich nicht wieder zusammenraffen um weiter zu beten: die alten Kränkungen und der alte Groll überfielen sie wie böse geifernde Hunde.

Der Mittag neigte sich schon, und dünne Schatten fingen an, unter den Bäumen und Häusern hervorzukriechen, im Getreide, das mit hängenden Ähren in der Sonne stand, begannen die Grillen zu zirpen, von hier und da kam das tiefe Summen einer Hummel, und die Wachteln lockten sich im Feld.

Doch die Hitze war immer noch im Steigen und brannte schon erbarmungslos.

Das Hochamt war bald aus, man sah immer häufiger Frauen am Weiher niedersitzen, um ihre Stiefel auszuziehen; die Wege belebten sich wieder und Stimmengewirr und Wagengeroll klangen herüber. Anna ging hastig ins Haus zurück.

Der Leichnam Borynas war schon ganz hergerichtet. Er lag mitten in der Stube auf einer breiten, mit einem Leintuch bedeckten Bank, die mit flammenden Kerzen umstellt war; er war natürlich sein gewaschen, gekämmt und rasiert; nur aus einer Backe hatte er einen langen Schnitt, den ihm Ambrosius mit seinem Rasiermesser beigebracht und danach mit Papier verklebt hatte. Man hatte ihm seinen besten Anzug angezogen: den weißen Haartuchrock, den er sich für die Hochzeit mit der Jaguscha angeschafft hatte, die gestreiften Hosen und fast ganz neue Stiefel.

In den abgearbeiteten, dürren Händen hielt er ein Bildchen der Tschenstochauer Muttergottes; unter die Bank hatten sie eine mit Wasser gefüllte Bütte gestellt, um die Luft abzukühlen, und auf tönernen Deckeln schwelten Wacholderbeeren, die Stube mit einem bläulichen Dunst füllend, in dem die grausige Majestät des Todes sich aufreckte.

Da lag er also, prächtig angetan, in stiller Totenruhe, Matheus Boryna, der gerechte und kluge Mann, der wahrhaftige Christ, der Hofbauer von Ahn und Urahn her, der Erste im Dorf.

Unter dem Dach der Väter hatte er zum letztenmal seinen müden Kopf gebettet/ein Vogel vor dem Flug, der himmelan gehen soll, dahin wo seit Ewigkeiten alle hin müssen.

Er war schon bereit für den Abschied von all seinen Bekannten und Verwandten, bereit für seinen weiten Weg.

Seine Seele beugte sich schon vor dem Gericht des Herrn, und nur sein armseliger Leichnam, die menschliche Hülle, des lebendigen Geistes ledig, lag noch wie leise lächelnd inmitten von Rauch, Lichtern und fortwährenden Gebeten.

Und die Menschen kamen und kamen in einem endlosen Zug: der eine seufzte schwer, der andere schlug sich gegen die Brust und betete herzlich, und manch einer versann sich, traurig mit dem Kopf nickend und eine schwere Träne des Bedauerns aus dem Auge wischend; das Murmeln der Gebete, gedämpftes Aufschluchzen, Seufzer und Geflüster flossen wie herbstliches Regengeplätscher dahin. Und die Menschen kamen und gingen immerzu; es kamen Hofbauern und Kätner, Frauen und Mädchen, Alte und Junge/ ganz Lipce drängte sich in der Stube und im Flur zusammen, an den Fenstern aber waren so viele Kinder, und sie führten sich so lärmend auf, daß Witek, der sich nicht mehr zu helfen wußte, Waupa auf sie hetzte; aber der wollte nicht, er hielt sich heute an Fine, umkreiste immer wieder das Haus und heulte wie ein Dummer.

Borynas Tod lastete über dem ganzen Dorf; und doch war es ein herrlicher Tag, voll von Sonne und nach Frühling duftend, und lieblich, daß es gar nicht zu sagen war; aber ein seltsames Gefühl der Trauer hatte sich auf die Häuser gelegt, und eine eigentümliche Stille lag auf allen Wegen. Die Menschen gingen bestürzt, mißmutig und niedergedrückt umher, jeder seufzte nur schwer, breitete ratlos die Hände auseinander und sann über das traurige Menschenschicksal nach.

Viele von denen, die mit dem Verstorbenen in Freundschaft gelebt hatten, waren vor dem Hause geblieben, wo bereits einige Hofbäuerinnen die Anna, die Magda und die Fine trösteten, herzlich mit ihnen weinend und über ihr Waisenlos jammernd.

Nur an Jagna trat niemand mit einem guten, tröstenden Wort heran; zwar verlangte sie nicht nach fremdem Mitleid, aber diese Zurücksetzung schmerzte sie doch, so daß sie in den Obstgarten flüchtete, und versteckt im Dickicht saß sie dort ganze Stunden lang und lauschte, wie Mathias den Sarg zimmerte.

»Daß die noch wagt, den Leuten vor die Augen zu kommen!« zischte die Schulzin ihr nach.

»Laßt das nur! Dafür ist jetzt nicht die Zeit da!« sagte eine der Frauen.

»Möge sie der Herr Jesus richten,« fügte Anna mit einer sanften Stimme hinzu.

»Der Schulze wird es schon heilen, was ihr ihr antut!« lachte der Schmied. Es war ein Glück, daß sie den Schulzen zum Müller abberufen hatten, denn die Schulzin plusterte sich schon wie eine Truthenne auf und wartete nur auf eine Gelegenheit, zu zanken.

Der Schmied lachte quarrend auf und machte, daß er davonkam, sie aber blieben noch da, miteinander über verschiedenes redend. Ihre Stimmen klangen immer leiser und schläfriger, ob es aber von den Sorgen kam oder von der Hitze, die schon ganz unerträglich drückte, war schwer zu sagen. Die Luft wurde immer schwüler und seltsam beklemmend, nicht der leiseste Wind kam auf, nicht ein Blättlein und nicht ein Halm bewegten sich, und obgleich Mittag schon lange vorüber war, ergoß sich die Sonnenglut immer noch wie flüssiges Feuer, so daß die Wände Harz schwitzten und das Unkraut und die Blüten welk niederhingen.

Plötzlich ließ sich ein langgezogenes und sehnsüchtiges Brüllen vernehmen; ein Bauer führte jenseits des Weihers eine Kuh vorüber.

»Der will wohl zu dem Priester seinem Bullen!« ließ sich die Ploschkabäuerin vernehmen, die Kuh, die an ihrem Tau riß, mit den Blicken verfolgend.

»Die brüllt, und der Müller brüllt noch besser, aber aus Wut!« setzte Gusche hinzu; aber keine hatte Lust, etwas darauf zu erwidern.

Sie saßen da wie gespreizte Glucken, die sich in den Sand gescharrt hatten, und konnten schon kaum vor Hitze atmen. Sie waren wie benebelt durch die Stille und die Glut, und das fortwährende, weinerliche Geplärr der Agathe, die über dem Toten ihre Gebete hersagte, schläferte sie ein.

Erst als man zur Vesper geläutet hatte, gingen sie alle auseinander; Anna aber schickte nach dem Schmied, daß er mit ihr zu dem Pfarrer gehen sollte, um sich wegen des väterlichen Begräbnisses zu verabreden.

Witek kehrte bald wieder allein zurück.

»Hale, ich hab' mich nicht getraut, heranzugehen; der Michael sitzt mit dem Gutsherrn beim Müller und trinkt Tee,« erzählte er ganz atemlos.

»Mit dem Gutsherrn?«

»Versteht sich, ich kenn' ihn doch! Tee trinken sie da und essen Kuchen, ich hab' es gut gesehen. Und die Hengste, die stehen im Schatten und scharren nur so mit den Beinen.«

Sie war sehr verwundert; nach der Vesper aber zog sie sich festlich an und ging, ohne auf den Schmied zu warten, mit Magda nach dem Pfarrhof hin.

Der Pfarrer war nicht zu Hause, obwohl alle Türen und Fenster weit offen standen; sie setzten sich vor dem Haus nieder, um auf ihn zu warten. Nach einer Weile aber kam die Pfarrmagd, um ihnen Bescheid zu sagen, der Priester wäre im Hof und ließe sie rufen.

Sie fanden ihn im Schatten am Zaun sitzen; und mitten auf dem Hof neben einer ganz leidlichen Kuh, die ein Bauer kurz am Seil hielt, war ein deftiger gescheckter Bulle zu sehen, der mit Gebrüll an der Kette zerrte, die der Knecht kaum festhalten konnte.

»Walek! Wart' noch etwas, laß ihn erst mal ordentlich Lust kriegen!« schrie der Pfarrer, seine schweißbedeckte Glatze abwischend. Er rief die Frauen zu sich heran und begann sie über alles auszufragen, sie zu trösten und ihnen mitleidig zuzureden; als sie ihn aber wegen des Begräbnisses und der Kosten angingen, unterbrach er sie scharf und ungeduldig:

»Das wird sich finden. Ich ziehe den Menschen nicht das Fell über die Ohren. Matheus war der erste Hofbauer im Dorf, da kriegt er auch nicht das erste beste Begräbnis. Na, ich sag' es doch, nicht das erste beste!« wiederholte er mit Nachdruck auf seine Art.

Sie umfaßten seine Knie, ohne schon zu wagen, sich ihm irgendwie zu widersetzen.

»Ich komm' euch gleich! Seh' mal einer diese Schlingel!« schrie er auf die Organistenjungen ein, die hinter dem Zaun lauerten. »Na, was meint ihr zu meinem Bullen, he?«

»Der ist sich was! Besser wie der vom Müller!« gab Anna zu.

»Der und meiner, dagegen ist der nichts Besseres wie ein Ochs! Seht ihn euch nur mal an!« Er führte sie näher heran, mit Wohlgefallen den Bullen beklopfend, der schon wie wild nach der Kuh hinüberzerrte./ »Diesen Nacken, guckt mal! Und was der für einen Rücken hat und 'ne Brust! Der reine Elefant!« rief er, vor Eifer fast schnaubend.

»Das ist schon so, ich hab' einen solchen noch nicht gesehen.«

»He, Kunststück! Ein reiner Holländer, dreihundert Rubel hat er gekostet.«

»So viel Geld!« staunten sie.

»Keinen Pfennig weniger! Walek, laß ihn los ... aber aufpassen, die Kuh ist nicht stark ... Der deckt sie in einem Nu ... Gewiß, daß er teuer ist, aber ich nehme nur einen Rubel, und zehn Kopeken Taugeld kommen drauf, damit Lipce doch mal ordentliche Kühe kriegt. Der Müller ärgert sich über mich; aber mir ist schon das elende Vieh, das dem sein Bulle zuwege bringt, ganz zuwider. Halt doch, zum Donnerwetter, die Kuh dicht am Maul fest, sonst reißt sie sich noch los!« schrie er dem Bauer zu. »Na, geht denn mit Gott,« wandte er sich wieder den Frauen zu, da er merkte, daß sie sich etwas beschämt zur Seite drehten. »Und morgen wird er in die Kirche überführt!« rief er ihnen noch nach, indem er sich schon anschickte, dem Bauer zu helfen, der mit seiner Kuh nicht fertig werden konnte.

»Du wirst mir noch für das Kalb danken, wirst schon so eins kriegen, wie du noch keins gesehen hast! Walek, führ' ihn ein bißchen herum, daß er sich etwas abkühlt, obgleich ... na, für so einen Prachtkerl ist das ja rein wie eine Fliege!« prahlte er.

Die Frauen gingen zu dem Organisten, denn auch mit diesem mußte man sich noch besonders wegen des Begräbnisses verabreden; da sie aber die Organistin mit Kaffee empfangen hatte, wodurch sie sich etwas verplauderten, so war es schon dicht vor Sonnenuntergang, und man trieb bereits das Vieh von den Weiden ein, als sie zu Hause anlangten.

Vor der Galerie stand Herr Jacek mit Mathias und beredete sich mit ihm, seine kleine Pfeife paffend, wegen des Bauholzes, das für Stachos Haus zurechtzuschneiden war.

Mathias hatte scheinbar keine große Lust, denn er versuchte, sich herauszureden.

»Das Holz will ich schon zurechtschneiden, das ist keine große Sache, ob ich aber das Haus bauen werde, das weiß ich noch nicht. Vielleicht werd' ich noch irgendwo in die Welt gehen ... Es wird mir schon die Zeit lang im Dorfe. ... Was ich da anfangen werde, das will ich sehen ...« sprach er, nach Jaguscha hinsehend, die ihre Kuh vor dem Stall melkte. »Morgen werd' ich mit dem Sarg fertig, da können wir noch darüber reden,« schloß er rasch und ging davon.

Und der Herr Jacek trat zum Toten ein und sprach ein langes herzliches Gebet, sich ab und zu die Tränen trocknend.

»Wenn ihm doch die Söhne ähnlich werden wollten!« sagte er später zu Anna. »Das war ein guter Mensch und ein echter Pole. Er war mit uns dabei, damals während der Revolution, hat sich aus eigenem Wollen gemeldet und hat seine Knochen nicht geschont. Ich hab' ihn gesehen, wie er gekämpft hat. Und durch uns hat er so zugrunde gehen müssen! ... Ein Fluch ist über uns ...« redete er in sich hinein; und obgleich sie nicht alles verstanden hatte, umfaßte sie doch aus Dankbarkeit für die guten Worte seine Knie.

»Laßt das nur! Ich bin kein anderer Mensch wie ihr!« tief er ärgerlich. »Dumme! Als ob der Gutsherr ein Heiliger wäre!« Er sah noch einmal auf Boryna, setzte an einer Kerze seine Pfeife in Brand und ging davon, ohne auf die Begrüßung des Schmieds zu achten, der gerade den Hausflur betrat.

»Scheint heut' was forsch zu sein! Dieser Bettler!« redete er bissig hinter ihm drein; er war scheinbar sehr vergnügt, setzte sich an seine Frau heran und begann eifrig mit ihr zu flüstern. »Unsere Sache steht gut! Weißt du, Magdusch, der Gutsherr will sich mit Lipce vertragen. Er redet mir zu, ich sollt' ihm helfen. Versteht sich, daß für uns dabei was 'rauskommt. Aber, Frau, du gibst mir seinen Ton von dir, es handelt sich um große Sachen.«

Er sah zum Toten ein, schnüffelte noch hier und da herum und rannte schließlich ins Dorf, wo er die Bauern nach der Schenke zu einer Beratung zusammenzurufen hatte.

Es wurde schon dämmerig, das Abendrot war im Verlöschen und sah schon wie rostiges Blech aus, über das der Abend seine Asche streute; nur noch hier und da leuchtete ein Wölklein, das in sich noch das goldige Licht des Westens trug.

Und als es schon völlig Abend geworden war und die wirtschaftlichen Besorgungen erledigt waren, versammelte sich die ganze Familie um den Toten. Am Kopfende der Bank, von wo die Lichter immer heller hervorleuchteten, schnitt Ambrosius immer wieder die Dochte der Kerzen zurecht und sang aus einem Buch vor sich hin, und vor sich hinweinend wiederholten die anderen mit klagender Stimme die Verse des Liedes.

Da es aber in der Stube eng und schwül war, hatten sich einige Nachbarn bis nach draußen unter die Fenster der Stube verzogen und knieten da nieder und spannen die lange und klagende Melodie der Litanei weiter, so daß es war, als sänge selbst der alte Obstgarten mit.

Die Nacht zog sich langsam über der Welt zusammen, es wurde schon völlig still; hier und da gingen die Menschen zur Ruhe, aus den Obstgärten schimmerte das weiße Bettzeug, und in den Häusern erloschen die Lichter eines nach dem andern; nur die Hähne krähten unruhig, denn eine solche träge und dumpfe Stille hatte sich ausgebreitet, daß es war, als ob es zu einem Witterungswechsel kommen wollte.

Bis spät in die Nacht wurde bei Borynas Leiche gesungen; dann blieben nur noch Ambrosius und Agathe, um bis zum kommenden Tag die Totenwache zu halten.

Sie sangen zunächst laut vernehmbar; als jedoch jegliche Bewegung stockte und die unergründliche Stille der Nacht sich auf sie herabsenkte, begann der Schlaf auch sie zu übermannen, so daß ihre Lieder nur noch wie gemurmelt dahinklangen; sie wachten nicht einmal auf, wenn Waupa gelegentlich sich in die Stube schlich und winselnd die eingefetteten Stiefel seines Herrn beleckte.

Fast gerade gegen Mitternacht kam eine dichte Finsternis über die Erde, die Sterne erloschen, der Himmel umwölkte sich ganz, und es wurde noch stiller; nur hin und wieder erbebte ein Baum, und es rieselte ein ganz leises, ängstliches Geflüster dahin, dann kam etwas durch die Luft herangezogen, irgendein Laut, der weder einem Schrei noch irgendeinem Getöse oder einem fernen Rufen glich und sich dann Gott weiß wohin verlor ...

Das Dorf lag im tiefen Schlaf und ruhte wie eingebettet im Schoß der Dunkelheit; nur Borynas Stube leuchtete blaß in die Nacht hinaus; durch die offenen Fenster sah man Matheus zwischen gelben Kerzen liegen, ein Weihrauchdunst umhüllte ihn mit einem bläulichen Flor. Ambrosius und Agathe hatten ihre Köpfe gegen die Bahre gelehnt, sie schliefen fest, und ihr lautes Schnarchen drang durch die Stube.

Die kurze Sommernacht zog rasch vorüber, als hätte sie es eilig, irgendwo hinzukommen, ehe die ersten Hähne krähten, auch die Kerzen brannten aus und erloschen wie Augen, die es müde geworden waren, immer auf den Toten zu schauen, bis im Morgengrauen nur die dickste übriggeblieben war und allein noch über Boryna zuckte wie eine goldene Zunge.

Das graue neblige Frühlicht, das von den Feldern herangeschlichen kam und durch die Fenster gerade in Borynas Gesicht blickte, schien es etwas zu beleben; es war als wachte etwas in ihm auf aus einem tiefen Schlaf und horchte dem ersten Vogelgezwitscher in den Nestern und versuchte die schweren, schwärzlichen Augenlider zu heben, um einen Blick in den noch fernen Morgenglanz zu tun.

Das Morgenlicht verdichtete sich und fiel wie ein schneeiger Flaum über die Welt.

Der Himmel hellte sich auf wie ein Linnen auf der Bleiche, wenn die Sonne darauf scheint; es zog eine Kühle von den Feldern, der Weiher seufzte auf, sich schläfrig schaukelnd. Aus dem dunklen Modertuch der Nacht stiegen die Bilder der Wälder wie schwarze, der Erde entquollene Wolken auf, und manch einsamer Baum im Felde ließ seinen flaumigen Schopf sich wie einen Büschel schwarzer Federn in den weißlichen Himmelsgrund recken. Mit einem Mal strich über das Land der erste Frühwind, rüttelte die Bäume in den Obstgärten auf und blies die auf den Mauerbanken schlafenden Menschen an.

Kaum einer war wach geworden, alles lag noch im süßen Morgenschlummer behaglich ausgestreckt, wie es sonst nur nach einem Fest oder Jahrmarkt war.

Bald stand auch der Tag selbst auf, er war etwas neblig und trüb, die Sonne war noch nicht da, aber die Lerchen ließen schon ihre Morgengebete klingen, das Wasser gurgelte lauter, die Getreidefelder fingen an, auf und ab zu wogen, und ihre Halme schlugen mit ihren Ähren leicht gegen die Feldraine und Wege an. Um diese Zeit begannen in den Gehöften die Schafe sehnsüchtig aufzublöken, ab und zu ertönte auch schon das zänkische Aufkreischen der Gänse, die Hähne krähten laut drauflos und hier und da ließen sich die ersten Menschenstimmen vernehmen; die Torangeln knarrten, Pferdegewieher erklang, die Bewegung und Geschäftigkeit des Ausstehens machte sich allenthalben bemerkbar, und das ganze Dorf erwachte, langsam die tägliche Arbeit ergreifend; nur auf dem Borynahof war es noch immer ganz still.

Sie hatten die Zeit vor lauter Sorgen und Trauer verschlafen, und ihr Schnarchen konnte man bis auf den Hof hören.

Der Morgenwind drang immer wieder durch Tür und Fenster ins Haus ein und trieb sich mit langgezogenem Wispern in den Stuben umher; doch vergeblich wehte er dem Toten die Haare von der Stirn und zerrte an der Flamme der letzten Kerze.

Der rührte sich nicht, wachte nicht auf, sprang nicht an die Arbeit und trieb die anderen nicht dazu an; er lag starr und still da, zu Stein geworden und für alles taub.

Der Wind setzte plötzlich stark an und fuhr in den Obstgarten, so daß ringsum alles aufwogte, zu rauschen, sich zu schütteln und zu schaukeln anfing, wie bestrebt in Borynas blau fahles Gesicht zu sehen. Der neblige Tag sah auf ihn, es schauten ihn die unruhigen Bäume an, und die schlanken, biegsamen Malven verneigten sich tief wie junge Mädchen, mit ihren Köpfen zum Fenster hinein winkend. Ab und zu kam eine Biene summend hereingeflogen, oder ein Schmetterling flog geradeswegs auf die Kerzenflamme zu, eine Schwalbe verirrte sich zum Toten herein und kreiste ängstlich zwitschernd in der Stube, dann wieder drangen Fliegen ein, kamen Käfer gekrochen und allerhand Getier, und mit ihnen floß ein leises Summen und Schwirren, Zirpen und Knacken heran, sich zu einer lebendigen Stimme voll herzlichen Wehklagens vereinend: »Gestorben! Gestorben! Tot!«

Und das ganze Leben schien um ihn zu zittern, zu schluchzen und wehzuklagen, bis es plötzlich ängstlich verstummte; der Wind legte sich, alles hielt den Atem an, stürzte nieder in den Staub, denn aus dem Morgengrau ging die große rote Sonne auf, erhob sich über die Welt, umfaßte sie mit ihrem lebenspendenden Herrscherauge und versteckte sich wieder hinter wirren Wolkensträhnen.

Die Welt wurde grau, und es war kaum ein Ave vergangen, als ein seiner warmer Regen niederging; die Tropfen fielen dicht, und bald hallten alle Felder und Gärten von ununterbrochenem Rauschen wider.

Es kühlte sich mächtig ab; von den Wegen stieg ein frischer Erdduft auf, die Vögel fingen aus Leibeskräften an zu singen und zu zwitschern, und im grauen, zuckenden Regendunst, der die ganze Welt verhüllt hatte, tranken die durstenden Halme, die matten Blätter, die Bäume und die vertrockneten Kehlen der Bäche und die sonnenverbrannte Erde/sie tranken alle miteinander lange und begierig, und jeder Atemzug war ein Dankgebet.

»Gott bezahl's, Bruder Regen! Gott bezahl's, Schwester Wolke! Gott bezahl's!«

Das Niederprasseln des Regens hatte Anna, die dicht am Fenster schlief, aus dem Schlaf geweckt, sie sprang als Erste von ihrem Lager auf.

Laut rufend lief sie in den Stall.

»Pjetrek! Aufstehen! Es regnet! Man muß laufen und den Klee zusammenharken, sonst wird er uns noch ganz durchnäßt! Witek, du Faulpelz, jag' die Kühe 'raus! Die anderen haben sie schon durchs Dorf getrieben!« rief sie scharf, die Gänse aus dem Schweinestall heraustreibend, die mit freudigem Geschnatter hinliefen, um sich in den Pfützen zu baden.

Sie sah zu den Kühen hinein und ließ gerade die Schweine auf den Hof heraus, als der Schmied angelaufen kam; sie verabredeten, was für die bevorstehende Totenfeier, die für den nächsten Tag angesetzt war, gekauft werden mußte; er nahm das Geld, um alles in der Stadt besorgen zu können; vom Wagen herab rief er sie aber noch einmal zu sich und sagte leise:

»Anna, gebt mir die Hälfte, dann laß ich nicht einen Hauch darüber vom Munde, daß ihr da alles beim Alten ausgenommen habt. Machen wir es im Guten ab.«

Sie wurde rot wie eine Runkelrübe und fuhr jäh auf: »Schnauz' du nur herum, schnauz' du nur, und das vor der ganzen Welt; sieh mal, er selber weiß mit dem Bösen Bescheid und meint, sie sollen jetzt alle so sein wie er.«

Er blitzte sie nur mit den Augen an, riß am Schnurrbart und peitschte auf die Pferde ein.

Anna machte sich sofort an die Arbeit; so eine Wirtschaft die wollte versorgt sein, da mußte man schon ordentlich die Hände regen und sich gehörig sorgen, wenn man alles zurechtbringen wollte. So erklang denn auch bald ihre befehlende Stimme wie sonst in Haus und Hof.

Man zündete vor Boryna neue Kerzen an und bedeckte ihn mit einem Laken. Agathe murmelte wieder um ihn ihre Gebete und schüttelte immer wieder neue Kohlen ins Becken unter die Wacholderbeeren.

Jaguscha kam erst nach dem Frühstück von der Mutter zurück; da sie aber Angst vor dem Toten hatte, so trieb sie sich planlos im Hof herum, oft zu Mathias hinübergehend, der sich mit seiner Arbeit auf die Tenne verzogen hatte; er war gerade mit dem Sarg fertig geworden und malte nur noch ein weißes Kreuz auf den Deckel, als Jagna am Scheunentor auftauchte.

Sie schwieg und sah ängstlich auf den schwarzen Sargdeckel.

»Jetzt bist du eine Witwe, Jagusch, wirklich eine Witwe!« flüsterte er mitleidig.

»Versteht sich,« entgegnete sie tränenschwer und ganz leise.

Er betrachtete sie mit herzlicher Teilnahme, sie sah ganz abgemagert und blaß wie eine Oblate aus, und blickte kläglich um sich wie ein Kind, dem Unrecht geschehen war.

»Das ist schon so das Menschenlos,« sagte er trübsinnig.

»Ja, nun bin ich eine Witwe! Das bin ich!« wiederholte sie und Tränen füllten ihre blauen Augen; sie seufzte schwer auf, als müßte ihr die Brust springen, und lief hinters Haus, wo sie, ohne auf den Regen zu achten, lange und kläglich weinte, daß Anna selbst hinausging, um sie ins Haus zu holen, sie zu beruhigen und zu trösten.

»Mit Weinen wirst du es nicht ändern können; auch uns ist es nicht leicht, aber dir, arme Waise, muß das ja noch viel schwerer sein,« sprach sie voll Güte.

»Laß Weinen Weinen sein, wenn erst ein Jahr vorüber ist, dann wollen wir ihr ein solches Hopfenlied singen, daß sie rein den Verstand verliert,« ließ sich Gusche auf ihre Art aus.

»Jetzt ist nicht die Zeit zum Spaßmachen!« wies Anna sie zurecht.

»Ich red' doch die reine Wahrheit! Ist sie denn nicht noch jung und schön, nicht wohlgestaltet und reich! Die wird sich mit dem Stock gegen das Mannsvolk wehren müssen.«

Jagna entgegnete nichts; Anna aber trug das Futter für die Ferkel hinaus und spähte auf den Weg.

»Was ist da bloß passiert?« dachte sie besorgt. »Sie wollten ihn doch Sonnabend frei lassen, und jetzt haben wir schon Montag und von ihm ist nichts zu hören und nichts zu sehen.«

Aber zum Sorgen blieb ihr keine Zeit, denn der Rest des Heus und die ganze Kleernte mußte geharkt werden; der Regen war im vollen Gange, ohne auch nur für einen Augenblick nachzulassen.

Bald nach Mittag erschien der Propst mit dem Organisten, es kamen auch die von der Brüderschaft der Lichttragenden und etliche andere noch. Sie legten Boryna in den Sarg, den Mathias mit einigen Holzstiften zuhämmerte; der Priester hielt eine Andacht ab, besprengte sodann den Sarg mit geweihtem Wasser, und so fuhren sie ihn denn unter leisen Gesängen nach der Kirche, wo Ambrosius schon dabei war, die Totenglocke zu lauten.

Als sie von der Überführung zurückgekehrt waren, wehte ihnen eine solche Leere und unheimliche Stille entgegen, daß Fine losschluchzte. Anna sagte zur Gusche, die dabei war, die Stube in Ordnung zu bringen:

»Obgleich er so lange doch schon wie ein Toter war, so hat man doch immer noch den Herrn im Haus gespürt.«

»Kommt Antek zurück, dann wird auch der Hausherr wieder da sein,« versuchte sich die Alte einzuschmeicheln.

»Wenn er doch nur bald käme,« seufzte sie sehnsüchtig.

Da aber die Erde von grauen, naßkalten Nebeln verhüllt war und der Regen ununterbrochen niederrann, so daß eine Menge Arbeit noch zu verrichten blieb, wischte sie sich die Tränen aus den Augen, holte tief Atem und fing an, die anderen anzutreiben.

»Kommt, Leute! Und wenn es auch der Erste wäre, der gestorben ist, so bringt ihn doch keiner uns wieder zurück, das ist wie ein Stein, der ins tiefe Meer fällt, und die Erde will nicht warten, sie muß bestellt werden.«

Sie führte sie gleich über den Zaunüberstieg aufs Feld, wo die Kartoffeln behackt werden sollten; nur Fine blieb zurück, um die Kinder zu bewachen, und weil sie sich nicht ganz wohl fühlte und ihr Leid noch nicht bezwingen konnte. Waupa lag bei ihr, ohne sie auf einen Augenblick zu verlassen, und auch Witeks Storch hatte sich zu ihr gesellt; er stand auf der Galerie auf einem Bein, wie ein Wachtposten. Der Regen wollte gar nicht aufhören, er stäubte dicht herab und war ganz warm; die Vögel hörten auf zu singen, und jegliche Kreatur verkroch sich still. Die ganze Welt verstummte allmählich und schien in dem tauichten, rieselnden Tropfenfall ganz versunken zu sein, nur hier und da kreischten die Gänse auf und planschten in den bläulichen, schaumbedeckten Pfützen herum.

Die Sonne kam erst im Untergehen als eine feurige Kugel hervor und zündete rote Gluten in den Pfützen und den niederhängenden Regentropfen an.

»Morgen haben wir gutes Wetter, das ist sicher!« redeten die vom Felde Heimkehrenden untereinander.

»Es könnte noch mehr regnen, das ist das reine Gold für die Erde.«

»Die Kartoffeln waren aber auch schon auf dem letzten.«

»Und der Hafer, hat der denn vielleicht nicht gelitten!«

»Ja, ja, wir können Regen brauchen.«

»Wenn es doch nur mal so drei Tage regnen wollte,« seufzte einer von ihnen.

Und es regnete denn auch gleichmäßig, reichlich und ruhig bis in die Nacht hinein, so daß die Leute zufrieden in der abgekühlten, duftenden Abendluft lange noch vor den Haufern stehenblieben. Indessen riefen die Gulbasjungen die Dorfjugend nach den Anhöhen hinter dem Dorf zusammen, um dort die Frühlingsfeuer abzubrennen, da gerade der Vorabend von St. Johanni war. Wegen der Dunkelheit und des schlechten Wetters ließ sich freilich kaum einer hinauslocken, so daß nur hin und wieder am Wald ein schwaches Feuerchen aufleuchtete.

Witek redete Fine schon seit dem Eintritt der Dämmerung zu, daß sie mit ihm zu den Frühlingsfeuern hinauslaufen sollte, aber sie antwortete ihm kläglich:

»Ich lauf' nicht hin; was soll ich da? Damit hab' ich doch nichts zu tun ...«

»Wir brennen nur an, überspringen das Feuer und laufen dann gleich wieder nach Haus,« bat er inständig.

»Du sollst zu Hause bleiben, sonst sag' ich es der Anna,« drohte sie.

Er rannte doch hin und kehrte erst nach dem Abendessen hungrig und ganz mit Schmutz besudelt zurück. Der Regen hatte nicht für einen Augenblick aufgehört; die ganze Nacht regnete es, und erst am hellen Tag, als die Leute schon zur Totenmesse zogen, hörte es endlich auf.

Doch die Sonne zeigte sich nicht; die Welt war wie in einen grauen Dunst gehüllt, aus dem die Felder und die Garten im lebhaften Grün hervorschimmerten; von überall kam das Wasser silbernen Gespinsten gleich herangeflossen. Die Luft war frisch, selbst etwas kühl, und duftete würzig; bei jedem Windhauch sprühten die Regentropfen von den Asten, die Vögel lärmten, die Hunde bellten froh, sich mit den Kindern auf den Wegen jagend, und jede Stimme schnellte hell auf. Die Erde, die gesättigt und voll verhalten er Kräfte dalag, schien in einem unaufhaltsamen Wachstum zu schwellen.

Nachdem Hochwürden die Trauermesse gelesen hatte, setzte er sich dem Pfarrer aus Slupia und dem Organisten gegenüber, die schon ihre Plätze in den Bänken vor dem Hauptaltar eingenommen hatten, und gemeinsam fingen sie alsbald an, lateinische Lieder zu psalmodieren.

Boryna lag hoch oben auf dem Katafalk, umstellt von einem Wald weißer flackernder Kerzen; und ringsherum kniete in Ehrfurcht das ganze Dorf, betend und in die langgezogenen klagenden Gesänge versunken, die zuweilen fast zu einem grausigen Schrei anwuchsen, so daß die Lauschenden ein Grauen ankam und ein grausamer Schmerz die Herzen zusammenpreßte; dann wieder schwellten sie ab zu einem ergreifenden klagenden Aufseufzen, so daß die Seelen entsetzt zusammenschraken und die Tränen von selbst aus den Augen stürzten; und sie erhoben sich abermals wie wundersame himmelanstrebende Engelsgesänge, die von ewiger Glückseligkeit singen, so daß das Volk schwer seufzte, manch einer sich die Augen wischte und hin und wieder sogar einer herzlich ausweinen mußte.

Das dauerte so eine gute Stunde lang, und als sie mit dem Singen fertig waren, entstand ein Getöse; man fing an, sich von den Knien zu erheben, und Ambrosius begann die Lichter vom Katafalk zu sammeln und sie unter die Anwesenden zu verteilen. Der Priester sang noch etwas vor dem Sarg, beräucherte ihn, so daß blaue Dünste ihn zu umwehen begannen, besprengte ihn mit geweihtem Wasser, und mit dem letzten Ton des Liedes noch auf den Lippen wandte er sich dem Ausgang zu, dem Kreuz nach, das vorangetragen wurde.

Die Kirche erbebte vor Weinen und Aufschluchzen, denn es griffen schon die ersten Hofbauern nach dem Sarg, dann hoben sie ihn in den mit Stroh ausgepolsterten Korbwagen; die Gusche aber steckte ganz heimlich, damit es die Priester nicht merken sollten, einen in weißes Linnen gewickelten Laib Brot unter den Sarg, während Pjetrek die Zügel strammer zog, mit der Peitsche durch die Luft schnitt und sich ungeduldig nach den Priestern umblickte.

Die Totenglocken stöhnten auf, man trug die schwarzen Fahnen heraus, die Lichter wurden angezündet, Stacho brachte das Kreuz herbei, und die Priester stimmten das: »Miserere mei Deus ...« an.

Und das furchtbare Lied des Todes schluchzte auf zu einem uferlosen Weinen in seiner grausigen düsteren Melodie.

Sie zogen langsam durch den Pappelweg dem Friedhof zu.

Die schwarze Fahne mit dem Totenkopf bauschte sich auf im Wind wie ein dunkler grausiger Vogel und schwebte voran, und hinterdrein schwankte blitzend das silberne Kreuz und dehnte sich der lange Zug der Lichttragenden aus, gefolgt von den Priestern in den schwarzen Kappen.

In der Mitte des Auges fuhren sie den Sarg; er stand in erhöhter Stellung im Stroh, so daß ihn alle immerzu vor den Augen hatten, und ihm nach kam langsamen Schritts die Familie, wehklagend und weinend, daneben aber, wie es sich gerade machte, drängte sich das ganze Dorf und folgte still und trauervoll dem Zug.

Der neblige graue Himmel hing tief herab, als hätte er sich auf die gewaltigen Pappelbäume gestützt, die sich über den Weg beugten. Alles stand bewegungslos und vorgebeugt da, als wollte es auf die Klagelieder lauschen, und als ein Wind vorüberstrich, so daß die Bäume aufrauschten und die Getreidefelder aufwogten, fielen die Tropfen dicht von den Zweigen, wie stille Tränen, und die bewegten Getreidefelder ließen ihre schweren Ähren hin und her wogen und verneigten sich immer tiefer, als wollten sie ihrem Herrn in einem demütigen Gruß zu Füßen sinken.

Das Lied, das die Priester sangen, war in der Lust zerflossen, und plötzlich hatte sich ein Schweigen der Seelen bemächtigt; nur die Glocken stöhnten immerzu und klangen mit düsterer Stimme und riefen etwas in den wolkigen Himmel hinaus, nach den Wäldern hinüber in die nebligen Weiten; die Lerchen fangen über den Feldern, der Wagen knarrte zuweilen, die Fahrten pufften auf im Wind, der Schmutz planschte unter den Füßen, und immer wieder erhob sich das schmerzliche Weinen der Waisen.

»Miserere mei Deus«, nahm wieder der Priester den Gesang auf, und es antwortete ihm der Pfarrer aus Slupia, der Organist und der Schmied, der über Hochwürden einen Regenschirm hielt, da ein feiner Regen wieder eingesetzt hatte.

Und das grausige Lied klang so trostlos, daß schwere, hoffnungslose Trauer die Herzen verdüsterte, daß ein Leid ohne Grenzen auf die Seelen fiel und ein schmerzliches Grübeln wie beißender Rauch über sie kam.

Jesu, sei uns Sündigen gnädig! Barmherziger Jesu!

Oh Menschenlos, unwiderrufliches Schicksal!

Und was nützt dir dein schweres Bemühen? Und was ist denn dieses Menschenleben, das wie Schnee spurlos zerrinnt, so daß die eigenen Kinder sich dessen nicht entsinnen werden?

Nichts als Leid, als Weinen und Dulden ist dein Leben ...

Und was ist Glückseligkeit, Wohlergehen und Hoffnung?

Rauch und Moder, Trug und rein gar nichts ...

Und was bist du selbst, Mensch, der du dich blähst, hochmütig tust und dich stolz über jegliches Geschöpf erhebst?

Wie ein Windhauch bist du, der Gott weiß woher kommt und Gott weiß wozu bläst und Gott weiß wohin verweht ...

Und du willst dich für den Herrn der Welt halten, Mensch? ...

Und wenn dir einer selbst das Paradies schenkte/verlassen mußt du die Erde doch.

Und wenn dir einer alle Macht zuteil werden ließe/der Tod wird sie dir entreißen.

Und spräche man dir den größten Verstand zu/Moder wirst du doch.

Du wirst dein Los nicht überwinden, armseliges Geschöpf, du wirst den Tod nicht besiegen, nein ...

Denn also ist es, daß du hilflos, schwach und unfruchtbar bist, wie jenes Blättlein, das der Wind durch die Welt treibt.

Und also ist es, Mensch, daß dich der Tod in seinen Klauen hält wie jenes Vögelein, das aus dem Nest genommen worden ist, das freudig schirpt und mit den Flügelein schlägt, ohne zu wissen, daß eine verräterische Hand es bald würgen und ihm das liebe Leben rauben wird.

Oh, Seele, warum schleppst du den menschlichen Leichnam? Oh, warum?

So fühlte das Volk, so sann es und überlegte es und sah dabei traurig über die grünen Lande und ließ die sehnsüchtigen Augen durch die Welt schweifen und seufzte schwer im unaussprechlichen Schmerz, bis daß die Gesichter zu Stein erstarrten und die Seelen erbebten.

Aber auch das wußten sie, daß die einzige Zuversicht des Menschen die Gnade Jesu sei, und seine einzige Zuflucht sein heiliges Erbarmen.

»Secundum magnam misericordiam tuam ...«

Die schweren lateinischen Worte fielen wie hartgefrorene Erdschollen nieder, so daß sie unwillkürlich die Köpfe neigten, wie vor den unerbittlichen Sensenhieben des Todes, doch sie gingen unaufhaltsam weiter; hart und gefaßt kamen sie des Wegs daher, und sie waren wie die festen grauen Findlinge, die auf den Feldrainen liegen, zu allem entschlossen und furchtlos, waren wie Brachland und wie die üppigen blütendurchwirkten Felder, und waren auch wie die Bäume kräftig und zerbrechlich zugleich, wie Bäume, die der Blitz jeden Augenblick zerschmettern kann, um sie in die Hand des Todes zu geben, und die dennoch sich zur Sonne emporrecken und das tiefe, freudige Lied des Lebens singen ...

Das ganze Dorf ging im dichten Gedränge, und jeder war so in seiner Trauer versunken, daß er wie allein und verlassen durch eine endlose Leere ging, und jeder hatte sich so versonnen und war so sein mit seinen Gedanken, daß es ihm schien, als sähe er mit seinen vor Tränen glasigen Augen wie ihm da Ahn und Urahn hinausgetragen wurden nach jenem Gottesacker, der schon zwischen den dicken Stämmen der Pappeln sichtbar war ...

Die Glocken läuteten immerzu, und das düstere Lied dröhnte immer klagender; der Friedhof war nicht mehr weit, er wuchs mit seinen Baumgruppen, mit seinen Kreuzen und Totenhügeln aus den Getreidefeldern hervor und schien sich aufzutun wie ein grausiger unersättlicher Schlund, in den langsam und unaufhaltsam die ganze Welt versinkt; und manch einem war es schon, als ob in dieser regnerischen Luft, durch die die Glockenstimmen von allen Seiten drangen, Kerzenflammen überall aufleuchteten, wehende schwarze Fahnen geisterten und Gesänge dahinflossen, als ob schon aus jedem Haus Särge hinausgetragen würden, als ob auf allen Wegen Leichenzüge daherkämen, und jeder Mensch einen zu beweinen hätte und klagte und schluchzte, so daß der ganze Himmel und die Erde ein einziger Klageschrei wären und alles in einem Geriesel endloser bitterer Tränen in den Abgrund versänke ...

Der Leichenzug wandte sich schon auf den Steg, der zum Friedhof führte, als der Gutsherr ihn einholte. Er stieg aus seinem Wagen und ging im größten Gedränge dicht neben dem Sarg im Zuge mit; der Weg war eng, dicht mit Birken bepflanzt, und die Kornfelder säumten ihn von beiden Seiten ein.

Und als die Priester zu singen aufhörten, stimmte die Dominikbäuerin, die niedergebeugt und halb blind an Jagna geklammert einherging, das Lied an: »Wer sich in den Schutz des Herrn begibt.«

Sie fielen eifrig und voll Inbrunst ein, als ob sie sich mit ihren erschrockenen Seelen an dieses herzliche Lied klammern wollten.

Und so betraten sie singend und voll Zuversicht den Friedhof.

Die ersten Hofbauern hoben den Sarg auf ihre Schultern, und selbst der Gutsherr legte mit Hand an; man trug ihn über die gelben Sandwege, zwischen den blumenbedeckten Totenhügeln, zwischen Gras und Kreuzen hindurch bis hinter die Kapelle, wo in einem Gebüsch aus Haseln und Fliedersträuchern das frisch aufgeschaufelte Grab schon wartete.

Ein jammervolles Aufweinen und einige schrille Schreie zerrissen die Luft.

Fahnen und Lichter umringten die tiefe Grube, das Volk knäuelte sich zusammen und drängte vorwärts, ängstlich in die leere, lehmige Tiefe starrend ...

Und als sie noch einiges gesungen hatten, stellte sich der Pfarrer auf einen Haufen ausgeschaufelten Sandes, wandte sich ihnen zu und sagte mit donnernder Stimme:

»Christliches Volk! Leute!«

Es wurde plötzlich still, nur die Glocken stöhnten aus der Ferne, und Fine, die mit ihren Händen sich an den väterlichen Sarg klammerte, wimmerte kläglich auf, auf nichts mehr achtend.

Der Pfarrer aber nahm eine Prise, nieste ein paarmal, und nachdem er mit seinen noch tränenden Augen um sich geblickt hatte, sprach er weit vernehmbar:

»Brüder, wen wollt ihr denn heute beerdigen, wen denn?

Den Matheus Boryna! sagt ihr.

Und ich sag' euch/den ersten Hofbauer, den ehrlichen Menschen und einen gerechten Katholiken begrabt ihr ... Ich kannt' ihn nämlich seit Jahren und lege hier das Zeugnis ab: daß er jedem zum Vorbild gelebt, Gott gelobt, gebeichtet hat und der heiligen Sakramente teilhaftig geworden ist, und für die Armen hat er eine offene Hand gehabt.

Ich sag' euch: eine offene Hand!« wiederholte er, schwer nach Atem ringend.

Das Weinen erscholl rings um ihn, lauter und immer öfter ließen sich schwere Seufzer vernehmen, bis er, nachdem er Atem geschöpft hatte, sich noch wehmütiger vernehmen ließ:

»Und er hat nun sterben müssen, der Arme! Sterben hat er müssen! ...

Der Tod hat ihn sich gewählt, wie der Wolf, der aus der Herde den fettesten Hammel holt, und mitten am hellen Tag, vor den Augen aller, und daran kann ihn niemand hindern.

Wie ein hochragender Baum, in den der Blitz fährt, so daß er zerspalten niederstürzt, so ist auch er durch die arge Sense des Todes niedergemäht worden.

Aber er ist nicht ganz gestorben, wie uns die Heilige Schrift sagt.

Und nun ist dieser Wanderer vor den Toren des Paradieses angekommen, klopft an und fleht, daß man ihm auftue, bis Sankt Petrus ihn fragt:

›Wer bist denn du, und was ist dein Begehren?‹

›Boryna bin ich aus Lipce und bitte um die Gnade des Herrn ...‹

›So haben dir die da unten, deine Brüder, zugesetzt, daß du dein Leben hast von dir tun müssen, was?‹

›Alles will ich sagen,‹ spricht da der Matheus, ›macht mir nur erst die Himmelstüre auf, Sankt Petrus, daß mich etwas die Gnade des Herrn anwärmt, denn ich bin zu Eis gefroren auf dieser Erdenwanderschaft.‹

Sankt Petrus tut ein klein wenig die Pforte auf, läßt ihn aber noch nicht hinein und spricht:

›Und lüg' du mir nicht, denn hier kannst du keinem was vorzigeunern. Rede, Seele, offen, warum hast du die Erde verlassen? ...‹

Und da, sieh, da liegt Matheus auf den Knien, das Engelsingen und die Schellen wie zum heiligen Hochamt hat er vernommen und antwortet mit Weinen:

›Die Wahrheit werd' ich sagen, wie in der Beichte: ich konnt' nicht länger aushalten, weil da die Menschen wie die Wölfe aufeinander losgehen, weil da nur Zank und Hader und Gotteslästerung ist ... Das sind keine Menschen, Sankt Petrus, keine Geschöpfe Gottes, nur tolle Hunde und stinkende Schweine. Und es ist so schlecht in der Welt, daß es gar nicht mehr zu sagen ist ...

Jeder Gehorsam ist weg, und die Ehrlichkeit ist weg, und das Mitleid ist weg, Bruder erhebt sich gegen Bruder, Kinder gegen Eltern, Frauen gegen ihre Männer, Diener gegen den Herrn ... sie achten nichts mehr, weder Alter noch Amt, nicht einmal den Priester ...

Der Böse regiert in den Herzen und unter seiner Anleitung regiert die Zügellosigkeit, und Trunksucht, und alle Schlechtigkeiten gedeihen immer mehr.

Der Schuft sitzt neben dem Schuft und betrügt ihn noch mit einem Schuft.

Überall nur List und Betrug, böse Unterdrückung und Diebereien, und was du hast, das darfst du nicht aus der Faust lassen, sonst werden sie es dir gleich wegreißen.

Und wäre es selbst die beste Wiese, so werden sie sie dir zertrampeln und kahl werden.

Und selbst diese einzige Scholle, die du hast, auch die pflügen sie sich noch mit zu ihrem ein.

Und läßt du nur ein einziges Huhn aus dem Hof, gleich fallen sie darüber her, wie die Wölfe.

Und vergiß mal nur ein Stück Eisen oder Tau, das lassen sie nicht ungeschoren und stecken's ein, wenn es selbst dem Priester seins wäre.

Saufen tun sie nur und Zügellosigkeiten treiben, vernachlässigen ganz den Gottesdienst; hündische Heiden sind das und arge Christusmörder, so daß selbst die Juden noch ehrlicher und gottesfürchtiger sind.‹

›So geht es also zu in dem Kirchspiel von Lipce?‹ unterbricht ihn da Sankt Petrus.

›Überall ist es nicht besser, aber in unserem Kirchspiel ist schon rein das Schlimmste los.‹

Und Sankt Petrus schlug die Hände zusammen, runzelte die Brauen und rollte mit den Augen, und mit der Faust zur Erbe drohend, sagte er:

›So seid ihr da unten, ihr Lipceleute? Solche Gesellschaft! Daß euch, ihr ekligen Räuber, Heidenvolk ... schlechter seid ihr noch wie die Deutschen. Gute Jahre habt ihr, fruchtbares Land, Triften und Wiesen und jeder ein Stück Wald, und so führt ihr euch da auf! ... Das Brot bläht euch auf, ihr Lumpen! Ich werd' es schon dem Herrn Jesus sagen, das tu' ich, der wird euch schon die Zügel strammer ziehen.‹

Da fing Matheus an, seine Leute zu verteidigen, aber Sankt Petrus wurde noch zorniger und trampelte und schrie:

›Verteidige du sie mir nicht, die Hundesöhne! Und das will ich dir nur sagen: wenn mir diese Judasse sich nicht in drei Wochen bessern und Buße tun, dann werde ich ihnen mit solcher Hungerszeit zusetzen, mit solchen bösen Seuchen, ... das lebendige Feuer schick' ich ihnen 'runter, daß sie an mich denken sollen, diese Schufte.«

Mächtig hatte der Pfarrer gesprochen, seine Worte gingen zu Herzen, und er drohte mit einem solchen Gotteszorn und fuchtelte so mit den Fäusten herum, daß ihm ringsum Schluchzen antwortete und das Volk zu weinen und sich reuevoll vor die Brust zu schlagen anfing ...

Der Priester aber fing, nachdem er sich etwas verschnauft hatte, wieder an, über den Verstorbenen zu reden und daß er für alle gestorben sei ...

Und er mahnte zur Eintracht, mahnte laut zur Gerechtigkeit, rief, sie sollten sich in ihrem sündigen Lebenswandel zügeln, denn man weiß ja nicht, wem als erstem die letzte Stunde schlagen wird, so daß er vor Gottes furchtbarem Gericht erscheinen muß ...

Selbst der Gutsherr wischte sich die Augen mit der Faust.

Bald darauf waren die Priester mit ihrer Mühewaltung fertig und gingen mit dem Gutsherrn davon; und kaum hatten sie den Sarg in die Grube gelassen und angefangen, den Sand darauf zu schütten, so daß es dumpf widerhallte, da brach, mein Jesus, ein Geschrei los und solches Wehklagen, daß es selbst den Härtesten erweicht hätte.

Es heulte die Fine, die Magda, die Anna, und alle die Muhmen heulten mit, es weinten, die ihm nahestanden, und die anderen alle; am kläglichsten aber schluchzte Jaguscha; es hatte sie etwas so gepackt, daß sie gar nicht wieder mit dem Schreien aufhören konnte.

»Hale, jetzt winselt sie, und was hat sie mit dem Seligen angestellt!« murmelte eine der danebenstehenden Frauen, und die Ploschkabäuerin fügte hinzu, sich dabei die Augen trocknend:

»Die weint sich da die Gnade zurecht, daß man sie nicht aus dem Hof jagt.«

»Die denkt wohl, daß sie Dumme findet, die ihr glauben!« sagte die Organistin laut.

Aber Jagna wußte nichts mehr von der ganzen Welt, sie warf sich in den Sand und schluchzte so kläglich, als schüttete man über ihren Leib diese rieselnden Erdmassen, als dröhnten über ihrem Leichnam die düsteren Glockenstimmen, als wäre es ihr eigenes Grab, an dem die anderen weinten ...

Und die Glocken läuteten immerzu, als wollten sie es dem Himmel klagen; und all das Weinen und Jammern über dem frischen Grabhügel klang, als wollte es über das unerbittliche Menschenlos Klage führen und gegen das ewige Unrecht, das den Menschen geschah, Widerspruch erheben.

Sie fingen an, langsam auseinanderzugehen; manch einer kniete noch unterwegs an einem Grabhügel nieder und sprach ein Gebet für seine Toten, einige irrten nachdenklich zwischen den Gräbern umher, und die meisten schickten sich schon allmählich an heimzugehen, wobei sie sich noch erwartungsvoll umsahen, denn der Schmied und Anna luden schon einzelne, wie das so bei Begräbnissen Sitte ist, zum Totenbrot ein.

Nachdem der Grabhügel glattgeklopft war und man das schwarze Kreuz aufgerichtet hatte, nahmen sie die Waisen in ihre Mitte und zogen in einem ganzen Haufen, leise miteinander redend, sie beklagend und selbst zuweilen mitweinend, zum Friedhof hinaus.

In Borynas Stube war schon alles entsprechend hergerichtet, an den Wänden entlang waren ringsum Tische und lange Bänke aufgestellt, und kaum hatten sie Platz genommen, tischte man Brot und Schnaps auf.

Sie tranken einander mit Ernst und Würde zu, langten nach dem Brot, und während sie schweigend aßen, begann der Organist aus einem Buch geeignete Gebete vorzulesen, und darauf sangen sie eine Litanei für die Seele des Toten; sie fangen bereitwillig und voll Eifer und unterbrachen sich nur, wenn der Schmied die Flasche von neuem die Runde machen ließ und Gusche das Brot herumreichte.

Die Frauen hatten sich auf der anderen Seite bei Anna versammelt; sie tranken dort Tee, aßen süßen Kuchen und sangen, von der Organistin angeführt, so herzlich und so durchdringend, daß die Hühner im Garten erschrocken aufgackerten. So also, des Toten gedenkend, aßen sie und tranken für sein Seelenheil, wie es sich für einen solchen Augenblick und einen solchen Hofbauer schickte ...

Der Totenschmaus war reichlich, und Anna lud dabei noch immerzu herzlich ein, zuzulangen, weder an Essen noch an Trank sparend, obgleich manch einer schon zur Mütze langen wollte, denn es war Mittag geworden; man aß Milchsuppe mit Klößen, geschmortes Fleisch mit Kohl und reich mit Fett übergossenes Erbsenmus.

»Bei den anderen kriegt man es nicht einmal zur Hochzeit so!« murmelte die Balcerekbäuerin.

»Hat der Tote vielleicht wenig nachgelassen?«

»Die haben was, woran sie sich trösten können.«

»Bar Geld haben sie gewiß ordentlich was eingesteckt ...«

»Der Schmied beklagt sich, daß welches da war, und daß es irgendwer beiseite gebracht hat.«

»Der klagt und hat es gewiß irgendwo gut versteckt.«

So redeten die Frauen untereinander, bedachtsam die Schüsseln auslöffelnd, und nahmen sich vor Anna in acht, die ununterbrochen darüber wachte, daß jeder das Seine bekam; auf der Seite der Männer erhob sich der schon etwas angetrunkene Organist von seinem Platz und begann mit dem Glas in der Hand den Seligen mit so hochtrabenden Reden und lateinischen Sprüchen zu bedenken, daß alle, obgleich sie nicht viel davon verstanden hatten, die Rührung ankam, wie bei einer Predigt.

Ein Stimmengewirr war schon entstanden, und die Gesichter wurden rot, denn die Flasche machte oft die Runde, und die Gläser klirrten gehörig; mancher tastete aber nur noch mehr nach seinem Schnapsglas und umhalste mit dem anderen Arm den Gevatter, irgend etwas mit steifer Zunge vor sich hinlallend./Es versuchten noch etliche ein Klagelied anzustimmen und des Seligen zu gedenken, aber niemand stimmte mehr ein, und niemand achtete auf sie; denn alle redeten schon durcheinander, suchten sich nach Belieben ihre Kumpane heraus, verbrüderten sich mit ihnen, immer wieder einander zutrinkend, und die, die den Schnaps besonders liebten, schlichen sich von dannen, um nach der Schenke zu gehen. Einzig Ambrosius war heute nicht der Alte. Natürlich trank er ebensoviel wie die anderen und vielleicht selbst noch mehr, denn er machte immer wieder Anspielungen auf den Schnaps; aber er saß eigentümlich verstimmt in der Ecke, wischte in einem fort an seinen Augen herum und seufzte schwer.

Es stieß ihn einer an und versuchte ihn zu lustigen Erzählungen anzufeuern.

»Rühr' mich nicht an, denn mir ist nicht gut!« brummte er zur Antwort/ich sterb' jetzt bald, das ist schon so ... Nur die Hunde werden mir was nachweinen und ein Frauenzimmer wird mir auf einem geborstenen Topf nachläuten,« flennte er vor sich hin. »Wie soll das denn auch anders sein, ich war doch schon bei Matheus seiner Taufe zugegen. Auf seiner Hochzeit hab' ich getanzt! Seine Eltern hab' ich begraben! Ich weiß es noch gut! Du lieber Jesus, über wie vielem Volk hab' ich die Erde zurechtgeklopft! ... Und jetzt ist es Zeit auch für mich! ...«

Er erhob sich plötzlich und ging schnell in den Obstgarten hinaus; Witek erzählte später, daß der Alte bis spät in die Nacht hinter dem Haus gesessen und geweint hätte ...

Natürlich kümmerte sich niemand um ihn, jeder hatte genug an seinen Sorgen, und außerdem waren auch noch, gerade als es schon dunkelte, ganz unerwartet der Pfarrer und der Gutsherr gekommen.

Der Priester tröstete die Waisen gütig, strich den Kindern über die Köpfe, unterhielt sich mit den Bäuerinnen und trank selbst gerne eine Tasse Tee, die ihm Fine gereicht hatte; der Gutsherr aber nahm vom Schmied ein Glas Schnaps an, nachdem er sich schon vordem mit diesem und jenem über allerhand Dinge unterhalten hatte, trank den Anwesenden zu und sagte zu Anna:

»Wenn es einem leid um Matheus tut, dann bin ich gewiß der erste dazu, denn würde er jetzt noch leben, dann könnte ich mich mit dem ganzen Dorf auf friedlichem Wege einigen. Vielleicht würde ich das auch geben, was ihr früher habt haben wollen!« ließ er sich ganz laut vernehmen und sah sich rings in der Stube um./»Aber habe ich denn jetzt noch einen, mit dem ich so was bereden kann? Durch den Bauernkommissar will ich das doch nicht machen, und aus dem Dorf ist mir keiner als Erster entgegengekommen! ...«

Sie hörten, jedes seiner Worte abwägend, gespannt zu.

Er versuchte noch auf verschiedenerlei Weise ihnen beizukommen; aber als hätte er zu einer Mauer geredet, so saßen sie da, keiner wollte sich an der Zunge ziehen lassen, niemand tat seinen Mund auf, sie pflichteten ihm nur bei, sich die Köpfe kratzend und einander bedeutungsvoll ansehend, so daß er, als er gemerkt hatte, daß er nicht imstande sein würde, ihr wachsames Mißtrauen zu besiegen, nach dem Priester rief und mit ihm zusammen, von einem ganzen Haufen bis in den Heckenweg begleitet, davonging.

Nach seinem Fortgang begann man sich erst darüber zu wundern und sich den Kopf zu zerbrechen.

»Na, na, daß der Gutsherr selbst zu einem Bauernbegräbnis gekommen ist!«

»Er braucht uns, da kann er kommen und schön tun,« sagte der Ploschka.

»Und warum sollte er denn das nicht vielleicht auch aus gutem Herzen getan haben, was?« verteidigte ihn der Klemb.

»Die Jahre hast du, aber Verstand hast du noch nicht genug gesammelt. Wann wäre denn das gewesen, daß ein Gutsherr dem Dorf mit Freundschaft kommt?«

»Da steckt sicherlich was dahinter, da er es so eifrig mit dem Friedenmachen hat!«

»Das ist so, daß er ihn nötiger hat wie unsereiner.«

»Und wir können warten, das können wir schon!« rief der betrunkene Sikora.

»Ihr könnt es vielleicht, aber die anderen nicht!« schrie Gschela, der Bruder des Schulzen, wütend drauflos.

Sie fingen schon an, sich hier und da zu streiten und aufeinander einzureden, denn der eine redete dies, und der andere wollte seins beweisen, und der dritte war wieder ganz anderer Meinung, und andere wiederum murmelten vor sich hin:

»Er soll uns den Wald und den Boden geben, dann wollen wir uns mit ihm vertragen.«

»Man braucht keinen Frieden, da kommt schon noch eine neue Verteilung von der Regierung aus, das sollt ihr sehen, und dann kriegen wir so wie so alles. Laß ihn, hundsverdammt nochmal, mit den Bettelsäcken losziehen für das Unrecht, das er uns getan hat.«

»Die Juden drücken ihn, da bettelt er um Hilfe bei den Bauern.«

»Und früher, da wußte er nichts anderes als einen anzuschreien: aus dem Weg, Lausepack, sonst gibt's was mit der Peitsche! Hat er das nicht geschrien?«

»Ich sag' es euch, glaubt dem Gutsherrn nicht; jeder von diesen Herren bereitet dem Bauernvolk Verderben,« rief einer, der schon ganz betrunken war.

»Hört doch, Leute!« schrie plötzlich der Schmied los. »Ich will euch ein kluges Wort sagen: wenn der Gutsherr Frieden will, dann muß man mit ihm Frieden machen und nehmen, was sich kriegen läßt, ohne Birnen vom Weidenbaum pflücken zu wollen.«

Darauf erhob sich Gschela, der Bruder des Schulzen, und rief laut:

»Das ist die reine Wahrheit! Kommt nach der Schenke, da wollen wir uns beraten.«

»Und ich will euch allesamt bewirten,« sagte der Schmied bereitwillig.

Sie wandten sich im ganzen Haufen dem Heckenweg zu.

Es dunkelte schon etwas, das Vieh kam von der Weide nach Haus, und durch das ganze Dorf hallte Gebrüll, Gänsegeschnatter, die hellen zwitschernden Liedlein der Weidenflöten und Kindergeschrei und Singen.

Die Männer aber gingen, trotz dem Dawiderreden der Frauen, zur Schenke; nur der Sikora blieb etwas hinter den anderen zurück, hielt sich an den Zäunen fest, und es schien ihn etwas im Halse zu würgen.

Man konnte sie noch weithin hören, wie sie sich laut aufführten; denn manch einer, um sich zu erleichtern, hatte schon ein Liedlein angestimmt oder skandalierte hitzig umher.

Auf dem Borynahof aber, nachdem man nach den Gästen die Tische abgeräumt hatte und der Abend gekommen war, wurde es seltsam still, leer und traurig.

Jaguscha irrte in ihrer Stube herum, wie ein Vogel im Käfig, immer wieder kam sie auf Annas Seite gerannt; als sie aber sah, daß die anderen alle düster und bedrängt herumgingen, lief sie, ohne ein Wort hervorgebracht zu haben, wieder davon.

Das ganze Haus war wie ein Grab, und als sie die Wirtschaft besorgt hatten und mit dem Abendbrot fertig waren, hatte es doch keiner eilig, die Stube zu verlassen, obgleich schon manch einen der Schlaf ankam. Sie saßen vor dem Herd, ins Feuer starrend und ängstlich auf jedes Geräusch horchend.

Der Abend war still, nur hin und wieder strich ein Wind ums Haus, und die Bäume rauschten dann auf, manchmal knackte es im Zaun, oder eine Scheibe klirrte leise, so daß Waupa zu knurren begann und mit gesträubtem Haar aufhorchend stehenblieb, darauf entstand wieder ein langes schier endloses Schweigen.

Sie saßen zuletzt nur noch bebend und ängstlich da, und immer wieder bekreuzigte sich eins von ihnen und begann mit bebenden Lippen ein Gebet zu flüstern; denn allen war es so, als ob sich irgendwo etwas bewegte, auf dem Boden herumginge, so daß die Balken knackten, an den Türen horchte, in die Fenster hineinguckte und gegen die Wände scheuerte; es schien, als ob jemand an die Türklinken faßte, und sich mit schweren Schritten ums Haus schleppte.

Sie horchten, blaß, mit zurückgehaltenem Atem, fast sinnlos vor Angst.

Plötzlich wieherte ein Pferd im Stall auf, Waupa schlug scharf an und sprang nach der Tür, und Fine schrie, ohne länger an sich halten zu können, laut auf:

»Der Vater! O Gott, Vater!« und sie weinte auf vor Angst.

Darauf knackte Gusche dreimal mit den Fingern und sagte mit wichtiger Stimme:

»Heul' nicht, du störst die Seele in ihrer Ruhe, davonzugehen; das Weinen hält sie doch auf der Erde zurück. Macht die Türen auf, daß die irrende Seele zu des Herrn Jesus Gefilden wieder hindurchfindet ... Laß sie nur in Ruhe davonfliegen.«

Sie öffneten die Türen, es wurde ganz still in der Stube, niemand rührte sich, nur die glühenden Augen liefen hin und her, und Waupa schnüffelte in den Ecken herum, winselte hin und wieder, wedelte mit dem Schwanz und schien sich in der Luft an irgend etwas zu streichen; sie fühlten jetzt alle ganz tief, daß zwischen ihnen irgendwo die Seele des Toten einherging.

Bis Anna mit einer bebenden, gepreßten Stimme zu singen begann: »All unsere Tagesmühen!«

Sie sangen mit Inbrunst und mit einer großen Erleichterung mit.


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