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Initial Die Männer kehren heim!«

Die Nachricht schlug wie ein Blitz ein und griff wie ein Feuer in ganz Lipce um sich.

Sollt' es denn wirklich wahr sein? Wann denn? Und wie denn? ...

Noch wußte es niemand.

Das eine war nur sicher, daß der Gemeindebote, der noch vor Sonnenaufgang mit irgendeinem Papier nach dem Schulzen unterwegs war, der Klembbäuerin darüber etwas gesagt hatte, die gerade ihre Gänse nach dem Weiher trieb; sie stürzte in einem Nu mit dieser Neuigkeit zu den Nachbarn, die Balcerekmädchen aber brachten sie auf eigene Hand in den umliegenden Häusern unter. Es war kaum ein Ave vergangen und schon befand sich alles auf den Beinen, und ganz Lipce hallte wider vor Freude.

Es war noch früh, kaum hatte sich das erste Grau eines Maimorgens hindurchgerungen und der junge, etwas schwärzlich aussehende nasse Tag wollte eben aufstehen; der Regen stäubte wie durch ein ganz dichtes Sieb und rieselte leise auf die ersten Blütenknospen in den Obstgärten herab.

»Die Männer kehren heim! Die Männer kehren heim!« klang es durchs ganze Dorf, hallte es in den Gärten und kam wie ein frohes Glockengeläut aus jedem Haus; aus jedem Herzen stieg der Ruf wie ein Feuerstrahl und riß sich aus jeder Kehle los.

Und der Tag war kaum da, als es schon im Dorf gärte, als wollte man Kirmes feiern: die Kinder liefen mit lauten Zurufen auf die Dorfstraße, die Türen klappten, Frauen kleideten sich hastig in den offenen Dielen an und blickten gespannt zwischen den Blütenbäumen hindurch in die Regendünste, die die Ferne verhüllten.

»Alle werden sie wiederkommen! Die Hofbauern, die Burschen, die Jungen, alle! Sie kommen schon! Sie sind schon aus dem Wald heraus, auf dem Pappelweg sollen sie schon sein!« riefen alle umeinander, und von jeder Schwelle kamen erregte Stimmen; die aber die Hitzigsten waren, rannten schon ganz außer sich ihnen entgegen, hier und da war auch schon Weinen und der Widerhall von raschen Schritten zu hören.

Die Pantinen platschten nur so durch den Schmutz, so rannten immer wieder welche hinter die Kirche nach dem nahen Pappelweg/aber auf der langen, regentrüben Landstraße sah man nichts weiter als Pfützen und tiefe Schneisen, die weißlichgrau schimmerten.

Nicht ein lebendiges Wesen konnte man unter den im Regenwetter ganz schwarz dastehenden Pappeln sehen.

Obgleich sie sehr enttäuscht waren, liefen sie, ohne es sich weiter zu überlegen, ans andere Ende des Dorfes, hinter die Mühle, auf den nach Wola führenden Weg, denn auch von dort konnten die Männer kommen.

Was war aber da zu tun, da auch dort alles ganz leer blieb! Der Regen peitschte auf sie ein und verhüllte die ausgefahrene Landstraße mit einer dichten Dunstwolke; lehmiges Wasser floß in den Gräben, rann gischtig zwischen den Furchen der Felder, und auch über die Landstraße kamen wahre Bäche herangeströmt; die aufgeblühten Schlehdorne, die die grünen Felder umsäumten, standen da als wollten sie ihre frierenden Blüten einziehen.

»Die Krähen fliegen hoch, da geht das schlechte Wetter bald vorüber,« sagte eins der Mädchen, vergeblich ausblickend.

Sie schoben sich etwas weiter vor, denn es tauchte jemand in der Richtung der niedergebrannten Waldmeierei auf dem Weg auf und kam ihnen immer näher.

Der blinde Bettler war es, den alle kannten; der Hund, den er an einem Tau mit sich führte, bellte eifrig und begann zu ihnen hinzuzerren, der Blinde horchte fleißig hin, jeden Augenblick bereit, nach dem Knotenstock zu greifen; als er aber ihre Stimmen hörte, beruhigte er den Hund, bot Gott zum Gruß und sagte vergnügt:

»Ich merke, daß es Leute aus Lipce sind ... häh? Und ziemlich viel Volk, mein' ich ...«

Die Mädchen umzingelten ihn und begannen, eine die andere überschreiend, zu erzählen.

»Rein die Elstern sind hier über mich hergefallen und schreien alle mitsammen!« brummte er, aufmerksam nach allen Seiten hinhorchend, denn sie drängten sich ganz nahe an ihn heran.

Der ganze Haufe wandte sich jetzt um, den Bettler in seiner Mitte führend, der sein großes Blindengesicht vorgeschoben hielt, sich eifrig vorwärtsschleppte und, in den Krücken hängend, ab und zu die stark verkrüppelten Beine aufstemmte.

Er hatte rote, feiste Backen, Augen, die mit einem weißen Häutchen überzogen waren; weiße buschige Augenbrauen, eine Nase wie einen Rüssel und einen reichlich wohlgenährten Wanst.

Geduldig hörte er ihnen zu, als er aber begriffen hatte, worum es sich handelte, unterbrach er ihr Geschnatter:

»Wegen dieser Neuigkeit komme ich doch nur ins Dorf. Ein Ungetaufter hat es mir anvertraut, daß die Männer aus Lipce heute aus dem Kriminal freigelassen werden! Er hat es mir gestern schon erzählt, da dacht' ich, morgen ganz in der Frühe läufst du hin und bringst als Erster Bescheid. Ein solches Dorf wie Lipce, da ist nicht leicht ein gleiches zu finden! Und welche laufen denn neben mir? Ich werd' nicht klug daraus!«

»Die Maruscha Balcerek ... Nastuscha Täubich! ... Ulischja vom Schultheiß! ... Klembs Kasja ... Hanuscha Sikora!« riefen alle zugleich.

»Oha! Da hab' ich mir die besten Jungfern aufgefunden! Es scheint mir, daß ihr die Burschen gar nicht abwarten könnt und müßt euch hier mit einem alten Bettelmann abfinden! ... He?«

»Is nicht wahr! Wir sind hinausgekommen, um die Väter einzuholen,« schrien sie los.

»Um Gottes willen, ich bin ja blind, aber nicht taub!« Er zog seine Schafpelzmütze tiefer über die Ohren.

»Sie sagten im Dorf, daß sie schon kommen, da sind wir denn entgegengelaufen!«

»Und hier ist nun nirgends einer zu sehen!«

»Es ist noch zu früh; es wird gut sein, wenn die Hofbauern bis Mittag da sein werden, denn die Burschen, die kommen wohl bis Abend nicht heim ...«

»Wieso denn, man laßt sie zusammen 'raus, da kommen sie denn doch auch zusammen!«

»Vielleicht werden sie sich in der Stadt noch was verweilen? ... Gibt es denn da wenig Jungfern? ... Was haben sie da für ein Muß, sich nach euch zu sputen? ... He! he!« neckte er sie, kichernd.

»Sie können dort bleiben! Niemand wird ihnen nachweinen!«

»Versteht sich, in der Stadt fehlt es nicht an solchen, die als Ammen gegangen sind oder bei den Juden in den Öfen heizen ... die werden sie gern aufnehmen,« flüsterte Nastuscha finster.

»Wer die städtischen Fetzen vorzieht, auf den gibt unsereins nicht viel!«

»Ihr seid aber lange nicht in Lipce gewesen, Väterchen?« begann ihn eine auszufragen.

»Lang genug nicht, es war doch noch Herbst! Ich habe bei mildtätigen Leuten überwintert, im Gutshof habe ich die schlimme Zeit abgesessen.«

»Vielleicht in Wola? Bei unserem Herrn? Wie?«

»In Wola, ja, ja! Ich bin ja immer auf gut Freund mit den Gutsherren und mit den herrschaftlichen Hunden: die kennen mich und tun mir kein Unrecht! Sie haben mir da eine warme Ofenbank gegeben und Essen, soviel ich nur hereinkriegen konnte, da hab' ich denn die ganze Zeitlang Strohseile gedreht und Gott dazu gelobt. Man hat sich wieder ausgebessert, und auch dem Hundsvieh sind die Seiten wieder fein und rund geworden. Ho! Ho! Der Gutsherr ist ein kluger Mann: er hält zu den Bettlern und weiß, daß er den Bettelsack und die Läuse umsonst haben kann ... he! he!« Sein Bauch wackelte ihm, er blinkte mit den Augenlidern beim Lachen und redete in einem fort.

»Da aber der Herr Jesus uns den Lenz beschert hat, so sind mir die Herrenhofstuben und -gnaden über geworden, ich habe Sehnsucht nach den Bauernhäusern und nach der weiten Welt bekommen ... Hei, ein feiner Regen ist das, das pure Gold, warm und reichlich und fruchtbar, die ganze Welt duftet nach jungem Gras ... Wo rennt ihr denn hin? Holla, Mädchen!«

Er hörte, daß sie auf einmal von der Stelle weg zu rennen anfingen, ihn bei der Mühle stehen lassend.

»He-häh! Mädchen!«

Aber keine gab ihm mehr Antwort: sie hatten die Frauen erblickt, die am Weiher entlang nach dem Hof des Schulzen zogen und machten, daß sie zu ihnen hinüberkamen.

Das halbe Dorf hatte sich dort versammelt, um etwas Tatsächliches zu erfahren.

Der Schulze war scheinbar soeben aufgestanden, denn er hatte nur die Hosen an, saß auf der Schwelle, umwickelte sich die Füße mit Fußlappen und schrie auf seine Frau ein wegen der Stiefel.

Sie stürzten mit Geschrei auf ihn zu, atemlos, beschmutzt, einzelne noch nicht gewaschen und gekämmt und alle vor Ungeduld ganz außer sich.

Er ließ sie sich ausreden, zog die eingefetteten Schaftstiefel an, wusch sich im Flur und, sich das Haar kämmend, warf er neckend durchs offene Fenster hin:

»Habt ihr es eilig, zu den Männern, was? Seid man nicht bange, die kommen heute sicher heim. Mutter, gib doch mal das Papier da, das der Gemeindediener gebracht hat ... hinter dem Bild steckt es.«

Er drehte das Schreiben in den Händen hin und her, und, mit den Fingern darauf klopfend, sagte er:

»Hier steht es, groß wie ein Ochs ... daß die Bauern des Dorfes Lipce, der Gemeinde Tymow, vom Ujesd Ujesd: Die russische amtliche Benennung für einen Verwaltungsrayon, entspricht ungefähr dem deutschen »Kreis«. Das Gouvernement wird in Rußland in eine Anzahl von »Ujesden« geteilt. ... da, lest es euch selber vor! Der Schulze sagt es euch, daß sie wiederkommen, dann muß es schon wahr sein!«

Er warf ihnen das Papier hin, das von Hand zu Hand ging, und obgleich keine auch nur einen Buchstaben herauskriegen konnte, denn es war ja ein amtliches Schriftstück, so klammerten sie sich doch daran, ihre Augen mit einer ängstlichen Freude darauf wie auf ein Heiligenbild heftend; Anna, die endlich auch an die Reihe gekommen war, griff mit der Schürze danach und gab es wieder zurück.

»Kommen sie denn alle zurück, Gevatter?« fragte sie ängstlich.

»Es steht geschrieben, daß sie kommen, dann werden sie auch kommen!«

»Das ganze Dorf haben sie zusammen genommen, da werden sie sie auch zusammen 'rauslassen!« ließ sich eine vernehmen.

Sie ging langsam mit einem vor Freude und Angst verhaltenen Atem.

»Tretet ein, Gevatterin, ihr seid ganz naß geworden!« lud die Schulzin sie ein, aber Anna wollte nicht, sie zog nur die Schürze tiefer über die Stirn und wandte sich als erste wieder zum Gehen.

»Gewiß lassen sie den Antek heimkommen, gewiß!« dachte sie, doch plötzlich mußte sie sich gegen den Zaun lehnen, so hatte sich in ihr etwas zusammengekrampft, sie wäre fast gefallen, die brennenden Lippen halb aufgetan, rang sie gierig nach Luft ... Nein, sie fühlte sich noch nicht gut und seltsam schwach obendrein. »Der Antek wird wiederkommen!« Eine Freude weitete ihr das Herz bis zum Schrei, und gleichzeitig durchdrang sie eine Angst und eine Unsicherheit, und noch ganz dunkle Befürchtungen regten sich in ihr.

Sie ging immer langsamer und schwerfälliger ganz dicht an den Zäunen entlang, denn mitten durch die Dorfstraße kamen die Frauen; sie kamen lachend und lärmend eilig des Wegs, strahlten förmlich vor Freude, und ohne auf das Regenwetter zu achten, scharten sie sich vor den Häusern oder am Weiher zusammen und schwadronierten eifrig miteinander.

Die Gusche holte sie ein.

»Ihr wißt es natürlich! Na, ist das eine Neuheit. Von Tag zu Tag haben wir darauf gewartet, und nun, da sie da ist, ist einem, als hätte man eins mit einem Knüttel auf den Schädel gekriegt. Kommt ihr vom Schulzen?«

»Er hat es bestätigt und selbst vom Papier abgelesen.«

»Hat er das, dann ist es gewiß wahr! Gott Lob und Dank, die armen Schlucker kommen wieder!« murmelte sie warm und fuchtelte befriedigt mit den Armen umher.

Die Tränen waren ihr in die verblaßten Augen gestiegen, so daß sich Anna darob verwunderte.

»Ich dachte, daß ihr fluchen würdet, und ihr heult, na ... na! ...«

»Was denkt ihr denn? Ich sollte jetzt fluchen! Der Mensch läßt nur so manchmal aus Not der Zunge freien Lauf, aber man hat doch auch noch sonst was da in sich sitzen; und ob einer da will oder nicht, muß er sich mit den andern gemeinsam freuen und sorgen. Es hilft einem nichts, nur für sich zu leben, nee ...«

Sie gingen an der Schmiede vorbei ... die Hämmer schlugen laut drein, und von der Feuerstelle lohte ein rotes Licht. Der Schmied schlug an der Wand einen Reif um ein Wagenrad. Als er Anna ansichtig wurde, reckte er sich und heftete seine Augen auf ihr erregtes Gesicht.

»Sieh da! ... Da hat Lipce endlich sein Fest! ... Es sollen da manche wiederkommen.«

»Alle kommen sie wieder, der Schulze hat es gelesen!« verbesserte ihn Gusche.

»Alle? ... Die Totschläger lassen sie nicht so mir nichts dir nichts laufen, auf keinen Fall ...«

Anna wurde es im Kopf ganz wirr, und das Herz wollte ihr fast vor Leid zerspringen, aber sie überwand diesen Hieb und sagte zu ihm, schon im Weggehen, mit einem furchtbaren Haß:

»Daß dir deine Hundezunge an den Gaumen festwächst!«

Sie beschleunigte ihre Schritte, vor seinem Gelächter fliehend, das wie mit Krallen in ihr Herz griff.

Erst auf der Hausgalerie sah sie sich um.

»Es grieselt und grieselt in einem fort, da wird es wohl schwer fallen, mit dem Pflug hinauszufahren.«

Sie heuchelte Ruhe.

»Morgenregen und der Tanz einer alten Frau, die dauern beide nicht allzulange.«

»Man müßte inzwischen die Amerikanschen mit der Hacke pflanzen.«

»Die Frauen kommen in einem Nu ... ich bin gestern bei ihnen gewesen, alle haben sie zugesagt, zu kommen, um abzuarbeiten, was sie noch schuldig sind.«

In der Stube flammte schon das Herdfeuer; es war dort warm und heller als draußen. Fine schabte Kartoffeln, und das Kind schrie gottserbärmlich, trotz der Bemühungen der älteren Geschwister, die es zu unterhalten versuchten. Anna kniete gleich an der Wiege nieder, um es zu stillen.

»Fine, laß den Pjetrek die Wagenbretter zurechtmachen, er soll den Dung auf Florkas Kartoffelbeete hinfahren, auf die neben den Patsches ihrem Roggen. Bevor das schlechte Wetter vorüber ist, könnte er noch ein paar Fuhren machen ... was soll er hier herumfaulenzen!«

»Bei euch kann keiner Kameradschaft mit dem Faulenzen schließen.«

»Ich schone doch auch nicht meine Klumpen!« Sie erhob sich und knöpfte ihre Taille zu.

»Hale, ich hätte schon ganz vergessen, daß doch heute von Mittag an gefeiert wird! Der Pfarrer hat ja einen Umzug angesagt von wegen dem, daß der Markustag verlegt worden ist ...«

»Es gibt doch nur an den Kreuztagen Umzüge! ...«

»Von der Kanzel hat er es heute verordnet, da muß man wohl auch ohne die Kreuztage hinausgehen dürfen, um die Grenzen einzuweihen.«

»Die Burschen werden heute manche an den Grenzrainen vornehmen,« meinte Fine und lachte listig den eintretenden Witek an.

»Die Frauen kommen schon. Lauft mit ihnen, Gusche, und verordnet, was not tut. Ich werde zu Hause bleiben, um Frühstück zu kochen und mache alles zurecht. Fine kann mit Witek die Kartoffeln ins Feld tragen!« befahl Anna, den Kätnerinnen nachschauend, die in Leintücher und Schürzen eingepackt, daß man kaum ihre Augen sehen konnte, mit Körben und Hacken sich vor dem Hause sammelten und die Holzpantoffeln gegen die Mauerschwelle abklopften.

Gusche führte sie gleich über den Zaunüberstieg auf einen Feldweg, wo dicht neben einem Schober schwarze, regennasse Beete lagen.

Sie fingen gleich mit der Arbeit an, zu zweien sich auf ein Beet stellend, mit den Gesichtern einander zugewandt/ sie hackten mit den Hacken den Boden auf, und, in jede Vertiefung eine Kartoffel steckend, scharrten sie sie zu, die Erde gleichzeitig zu einer Erhöhung aufwerfend, die sich in Streifen quer über die Beete zog.

Vier Frauen waren an der Arbeit und außerdem noch Gusche, die mithalf und antrieb.

Aber die Arbeit ging nicht rasch vonstatten! ... die Hände wurden steif vor Kälte; in den Furchen war es naß, die Pantinen liefen voll Wasser, und die Kleidung ging in dem Schmutzwetter ganz zuschanden, denn der Regen, obgleich er warm und immer feiner wurde, sprühte ununterbrochen auf die Schollen herab und tropfte auf die Blätter der Obstgärten, die ihre blütenbedeckten Zweige bis auf die Dorfstraße hängen ließen und mit einer besonderen Wohligkeit sich dem Regenwetter anzubieten schienen. Doch es wollte schon ein Witterungsumschlag einsetzen: die Hähne krähten, der Himmel hob sich schon hier und da ganz hell ab, die Schwalben schossen schon durch die Lüfte, als ob sie sich etwas auskundschaften wollten, und die Krähen flohen von den Dachfirsten, lautlos und tief über die Felder dahinflügelnd.

Die Weiber wühlten, über ihre Beete gebeugt, in der Erde herum, wie durchnäßte Bündel Lumpen sahen sie aus, redeten miteinander und taten gemächlich und mit langen Zwischenpausen ihre Arbeit, denn es galt ja nur die Abarbeitung der Schulden in Taglohn, bis Gusche, die in den Furchen noch Erbsen pflanzte, sich nach allen Seiten umblickend, laut zu reden begann:

»Nicht viele Hofbäuerinnen kriegt man heute auf dem Feld und in den Gärten zu sehen.«

»Die Männer kehren heim, da steht ihnen der Sinn nicht nach der Arbeit.«

»Das ist schon sicher, ein fettes Essen werden sie ihnen bereithalten und die Federbetten auch noch wärmen ...«

»Ihr macht euch da lustig, und euch selbst bibbert es doch schon in den Beinen nach ihnen!« sagte die Kosiol.

»Ich will nicht nein sagen, denn Lipce ohne Männer ist mir schon ganz zuwider. Alt bin ich gewißlich schon, aber das sag' ich gradaus, wenn sie auch noch solche Biester und Lüderjane sind und noch dazu Betrüger und Raufbolde, da ist einem doch noch mit der schlimmsten Mißgeburt von Mannsbild besser und froher zumute, und das Leben kommt einem gleich ganz anders vor. Wenn eine was anderes sagt, dann lügt sie wie ein Hund.«

»Aber warten haben sie genug müssen, rein wie der Habicht auf den Regen!« seufzte eine auf.

»Manch eine wird das lange Warten teuer büßen müssen, und vor allem wohl die Mädchen ...«

»Da werden gewiß noch nicht mal drei Quartal ablaufen, daß Hochwürden die Hände voll zu tun kriegt ...«

»So alt und reden sich da so viel dummes Zeug zusammen: dazu hat ja der Herr Jesus die Frau geschaffen! Das ist keine Sünde, ein Kind zu kriegen!« widersprach die Frau des schiefmäuligen Gschela.

»Und ihr redet nur immer ein und dasselbe, immer habt ihr was für diese Wechselbälge übrig.«

»Gewiß, immer, bis an mein Lebensende will ich es vor jedem verantworten und aussagen: ein Bankert oder nicht/ beide sind Menschensamen, sie haben dasselbe Menschenrecht, und ebenso schätzt sie unser Herr Jesus nur nach ihren Sünden und nach ihren Verdiensten ein ...«

Man überschrie und belachte sie, sie aber schlug sich ruhig mit den Händen warm und schüttelte nur den Kopf.

»Glück auf zur Arbeit! Wie geht es denn?« rief ihnen Anna vom Zaunüberstieg zu.

»Gott bezahl's! Gut, nur daß es noch reichlich naß ist.«

»Sind euch nicht die Kartoffeln ausgegangen?«

Sie setzte sich etwas auf den Holzzaun nieder.

»Sie holen uns, was wir brauchen; mir scheint nur, daß sie etwas zu dick geschnitten sind ...«

»Zu dick? Zur Hälfte muß man doch. Beim Müller legt man die kleineren ganz ein, und Rochus hat gesagt, daß sie dann zweimal soviel tragen.«

»Das muß wohl eine deutsche Mode sein, denn solange Lipce Lipce ist, zerschnitt man hier immer die Kartoffeln auf die Augen hin,« nörgelte die Gulbas.

»Mein Gott, die heutigen Menschen sind doch nicht dümmer als die von gestern.«

»Hale, heutzutag will das Ei klüger sein wie die Henne selbst, und das Kücken möcht' dem ganzen Hühnerhof vorstehen ...«

»Ihr habt's gesagt! In Wahrheit aber gibt's welche, die alt genug dazu sind und doch nicht klüger werden!« schloß Anna, vom Zaunüberstieg zurücktretend.

»Ist die eingebildet, als ob sie schon auf dem ganzen Borynahof allein säße,« murmelte die Kosiol, sich nach ihr umsehend.

»Laßt sie in Ruhe: die Frau ist Gold wert! Man weiß nicht, ob man eine bessere und klügere finden könnte. Jeden Tag sitz' ich doch da; meine Augen habe ich auch und mein Verstehen. Die hat was durchgemacht, schwere Prüfungen hat sie hinter sich, daß Gott erbarm! ...«

»Auf die wartet auch noch manches ... Die Jagna im Hause ... Und wenn der Antek wiederkommt, da fangen hier wieder schöne Geschichten an; man wird was zu hören kriegen ...«

»Man erzählte doch was davon, daß die Jagna sich mit dem Schulzen abgibt, ist denn das so wahr?«

Sie lachten die Philipka aus, daß sie erst danach fragen mußte, was die Spatzen von den Dächern pfiffen.

»Laßt die Zunge nicht mit euch durchgehen: auch der Wind hat manchmal Ohren und trägt es dahin, wo es nicht hingehört!« wies sie die Gusche zurecht.

Sie beugten sich über das Ackerland, die Hacken blitzten, hin und wieder gegen Steine anknirschend, sie aber redeten eifrig und nahmen allmählich das ganze Dorf durch.

Anna aber ging gebückt unter den Kirschbäumen davon; die tief herabhängenden, durchnäßten Zweige, die voll weißlicher Knospen und zarten Blattwerks waren, streiften ihr Haupt.

Sie begab sich auf den Hof, um nach der Wirtschaft zu sehen.

Von den Feiertagen an hatte sie sich fast gar nicht aus dem Hause gerührt, da sich ihr Zustand nach dem letzten Gang zur Kirche, wohin sie als Wöchnerin der Reinigung wegen hingegangen war, verschlimmert hatte. Die letzte Neuigkeit hatte sie aus dem Bett getrieben und hielt sie jetzt aufrecht. Obgleich sie noch fast bei jedem Schritt taumelte, sah sie in alle Ecken ein und geriet immer mehr in Zorn.

Die Kühe sahen eigentümlich mißmutig aus, waren bis zur Hälfte der Flanken mit Mist beschmutzt, die Ferkel schienen nicht besonders gut gewachsen zu sein, selbst die Gänse muteten seltsam still an, als hätte man sie nicht genug gefüttert.

»Du hättest doch mit einem Strohwisch den Wallach abputzen können,« fuhr sie auf Pjetrek los, der sich anschickte, den Dünger auszufahren, dieser aber murmelte irgend etwas gehässig vor sich hin und fuhr davon.

In der Scheune wartete auf sie ein neuer Verdruß: in einem Kartoffelhaufen auf der Tenne wühlte Jaguschas Masteber aufs beste herum, und die Hühner scharrten im Futterkorn, das schon längst auf dem Kornboden hätte liegen sollen. Sie zankte Fine aus und wollte Witek gehörig in die Zotteln fahren, kaum daß er ihr noch entwischen konnte. Fine aber heulte und jammerte los:

»Ich schufte hier immer wie ein Lasttier und ihr tut nichts als auf mich einschreien; und der Jagna, die die ganzen Tage herumfaulenzt, der sagt ihr nichts!«

»Na, sei man still, Dumme, sei nu man still! Du siehst doch selbst, was hier überall für ein Schaden losgeht.«

»Ich kann doch nicht hier alles machen! nee ...«

»Na, nu laß man gut sein, bringt nur die Kartoffeln 'raus, sonst haben sie auf dem Feld zu wenig.«

Sie hörte auf zu schimpfen. Das wußte sie auch schon: »Die Dirn, die kann wirklich nicht alles machen, und Tagelöhner! ... Du lieber Gott. Die sehen schon von früh morgens an aus, ob es nicht bald Abend wird. Mit Tagelöhnern arbeiten und dann auf Verdienst warten, das ist so, als ob einer Wölfe zum Schafhüten verdingen wollte. Ganz gewissenlos sind die Menschen.«

Sie überlegte das voll Erbitterung und ließ ihren Ärger an dem jungen Eber aus, so daß er aufquiekend davonlief, begleitet von Waupa, der, ihn am Ohr haltend, ihn auf seine Art hinausschaffte.

Danach sah sie in den Stall ein/aber hier gab es auch nichts als Ärger. Die Stute nagte an der leeren Krippe, und das Füllen, schmutzig wie ein Schwein, fraß das Stroh unter sich weg.

»Was hätte der Jakob gesagt, wenn er das arme Tier so hätte sehen müssen, dem hätte sich das Herz im Leibe darüber umgedreht,« flüsterte sie vor sich hin, Heu in die Raufen legend und die weichen, warmen Nüstern des jungen Tieres streichelnd.

Sie ging schon nicht mehr weiter: es ergriff sie plötzlich eine solche Verdrossenheit, ein solches Weinen schnürte ihr die Kehle zu, daß sie, gegen Pjetreks Pritsche gelehnt, loszuheulen anfing, ohne selbst recht zu wissen, warum.

Die Kräfte hatten sie ganz verlassen, sie fiel in sich zusammen, so daß sie sich schon rein wie ein lebloser Klotz fühlte. Es wollte ihr gar nicht mehr gelingen, sich mit ihrem bösen Schicksal abzufinden; mein Jesus, sie konnte es wirklich nicht mehr, sie fühlte sich plötzlich so verlassen wie ein einsamer Baum, der auf einem Sandhügel wächst und jedem bösen Wetter ausgeliefert ist. Vor niemandem darf man sich ausklagen, und kein Ende hat all das Schlechte! Man kann nichts anderes als sich immer wieder mit seinem Kummer und seinen Tränen vergiften ... nichts, als die ewige Qual und die Erwartung, daß noch Schlimmeres kommt.

Das Füllen begann ihr Gesicht zu lecken, so daß sie ganz unwillkürlich ihren Kopf an den samtigen Hals schmiegte und immer heftiger schluchzte.

Was sollte ihr der ganze Hof, der Reichtum, die Achtung der Menschen, wenn sie nicht einen Augenblick der Glückseligkeit ihr ganzes Leben lang für sich haben durfte, gar nichts! Sie klagte so wehmütig, daß die Stute aufwieherte und an der Kette zu zerren begann.

Langsam schleppte sie sich in die Stube, und nachdem sie dem schreienden Jungen die Brust gegeben hatte, starrte sie gedankenlos auf die angelaufenen Fensterscheiben, an denen die Regentropfen in langen Streifen niederrieselten.

Das Kind greinte und brach hin und wieder in ein Weinen aus.

»Still, mein Kleiner, still! ... Wenn der Vater heimkehrt, dann bringt er dir ein Hähnchen ... wenn der Vater heimkehrt, setzt er das Söhnchen aufs Pferd ... still mein Kleiner!

A .. a ... a!
Zwei graue Kätzlein sind dal
Graue braune/graue braune
Kätzelein lala! ...

Der Vater, der kommt heim ..., kommt heim! ...« sang sie vor sich hin, den Säugling hin und her schaukelnd und im Zimmer auf und ab gehend.

»Vielleicht kehrt er auch wieder!« bekräftigte sie es sich selbst, plötzlich stehenbleibend.

Eine Glut überflog sie, ein Machtgefühl reckte ihren niedergebeugten Rücken wieder gerade, und eine solche Freude überströmte ihr Herz, daß sie schon nach der Kammer laufen wollte, um ein Stück Schweinefleisch für ihn abzuschneiden, nach Schnaps für ihn schicken wollte und selbst schon auf die Lade zuging, um sich festlich für ihn zu schmücken. Doch ehe sie dazu kam, fielen ihr die Worte des Schmieds wieder ein und fuhren wie mit Habichtkrallen über sie her; sie erstarrte vor Schreck über diese Erinnerung und sah sich nur, wie nach Rettung suchend, in der Stube mit irrem Blick um, ohne zu wissen, was sie denken und beginnen sollte ...

»Und wenn er nicht heimkehrt! Jesus, mein Jesus!« stöhnte sie auf, sich an den Kopf fassend.

Sie fürchtete, es sich zu gestehen, und doch klang es ihr wie aus einem tiefen Brunnen immer wieder, er würde nicht kommen; es wogte etwas in ihr auf, bis sich ein Schrei der Angst aus ihrem Innern losriß.

Die Kinder in der Stube fingen plötzlich an zu weinen und einander in die Haare zu fahren; sie mußte sie schließlich hinter die Tür bringen und machte sich ans Zubereiten des Essens, denn Fine hatte auch schon durch die Tür hineingesehen und umhergeschnüffelt, ob es nicht bald was gäbe.

Die Tränen mußten versiegen und die Seele sich wieder verschließen, denn das Joch des Alltags schnitt ihr in den Nacken und erinnerte sie daran, daß die Arbeit nicht warten darf ...

Sie sputete sich so gut sie konnte, obgleich ihr die Beine den Dienst versagten und ihr alles aus den Händen glitt. Sie seufzte nur schwer auf, und nur hin und wieder lief ihr noch eine einzelne Träne über die Backen; sie starrte sehnsüchtig in die neblige Welt hinaus ...

»Geht denn die Jaguscha nicht zum Kartoffeleinlegen?« rief Fine durchs Fenster.

Anna stellte sofort den Kochtopf mit Barschtsch Barschtsch: Rote Rübensuppe, eine polnische Nationalspeise. aus der Hand und lief auf die andere Seite.

Der Alte lag mit dem Gesicht nach dem Fenster zu, als sähe er nach Jaguscha hin, die vor einem Spiegelchen, das auf der Lade neben dem Fenster stand, ihr langes Haar strählte.

»Ist denn das heute ein Feiertag, daß ihr nicht an die Arbeit geht?«

»Soll ich am Ende mit aufgeflochtenen Haaren hinlaufen?« ...

»Vom frühen Morgen an hast du genug Zeit gehabt, dir zehnmal die Haare aufzustecken!«

»Das schon, aber es paßt mir so!«

»Ihr solltet besser eure Späße mit mir lassen, Jagna!«

»Was denn! Wollt ihr mich hier aus dem Dienst entlassen oder mir was von meinem Dienstlohn abziehen?« fauchte sie Jagna trotzig an, ohne sich viel mit dem Kämmen zu beeilen. »Bei euch sitz' ich hier nicht und hänge nicht von eurer Gnade ab!«

»Und von wessen denn? Wenn es beliebt?«

»Ich bin hier auf dem Meinen, daß ihr es euch merkt!«

»Laß den Vater sterben, dann wird es sich schon zeigen, ob du hier auf dem Deinen sitzt.«

»Solange er lebt, kann ich euch heute noch die Tür weisen.«

»Mir! Du mir!« Sie sprang auf sie zu, als hätte sie einen Peitschenhieb bekommen.

»Ihr hängt euch einem hier an wie eine Klette an einen Hundeschwanz! Nicht das geringste Wort hab' ich euch gesagt, und ihr schreit auf mich ein wie auf ein scheckichtes Pferd.«

»Danke Gott, daß du von mir nicht was Schlimmeres erwischt hast!« plusterte sich Anna wütend auf.

»Versucht nur: ich bin hier doch nur eine verlassene Waise und habe keinen, der mich schützt; aber ihr würdet schon sehen, wer obenauf sein würde!«

Sie strich das Haar aus dem Gesicht und bohrte die zornigen, feindseligen Blicke wie Messer in sie ein, so daß Anna auf der Stelle von einer solchen Wut ergriffen wurde, daß sie mit den Fäusten zu drohen begann und schrie, was ihr die Spucke in den Mund brachte.

»Du drohst! Fang' du nur an, versuch' es nur! Das Unschuldskind, die Benachteiligte ... Versteht sich ... Die Leute wissen gut, was du anstellst! Im ganzen Kirchspiel kennt man deine Streiche! Nicht einmal und nicht zweimal hat man dich in der Schenke mit dem Schulzen gesehen! Und damals als ich dir nach Mitternacht die Tür öffnete, da bist du von nichts weiter, als von einer Schlamperei zurückgekommen, wie ein Schwein warst du betrunken ... Der Krug trägt aber nur so lange Wasser, bis er bricht. Wart' nur einmal, wer in Saus und Braus lebt, von dem wird manches im stillen geredet! Bald wird deine Herrschaft ein Ende nehmen, und weder der Schmied noch der Schulze werden dich schützen können ... du ... du! ...«

Sie verschluckte sich an ihrem eigenen Geschrei.

»Ich tue, was mir paßt, und jeder mag sich hüten, sonst kriegt er, was man dem Hunde gibt!« schrie Jagna plötzlich, das Haar, das wie eine Garbe des reinsten Flachses war, über die Schultern zurückwerfend.

Sie war ganz aufgebracht und selbst zum Schlagen bereit, denn sie bebte am ganzen Körper; die Hände flogen ihr, und sie warf so wütende Blicke um sich, daß Anna erschrocken zurückfuhr; sie sagte kein Wort mehr, und nachdem sie nur die Tür ins Schloß geschleudert hatte, rannte sie aus der Stube.

Sie konnte sich nach diesem Zank fast gar nicht mehr bewegen und setzte sich mit dem Kind ans Fenster, während Fine sich mit dem Auftragen des Frühstücks befaßte.

Erst als die anderen wieder an die Arbeit gegangen waren, sammelte sie sich etwas, ließ alles liegen wie es war und machte sich auf den Weg zu ihrem Vater, der seit einigen Tagen ernstlich erkrankt war; doch von der Mitte des Weges kehrte sie wieder um. Es hatte sie ein solches inneres Beben erfaßt, daß sie gar nicht gehen konnte.

Und als sie wieder etwas zu Kräften gekommen war, hantierte sie wie geistesabwesend in der Stube herum, dachte aber dabei hauptsächlich an Antek und versann sich immer tiefer.

Es hellte sich auf, und der Regen hatte nachgelassen, tropfte nur noch von den Dächern und Bäumen, auf den Wegen schimmerten die Pfützen silbrig auf und die Welt wurde immer lichter.

Man rechnete darauf, daß die Sonne sich zu Mittag sicherlich zeigen würde, denn die Schwalben flogen schon ganz hoch, weiße durchgoldete Wolken zogen in Herden über den Himmel, und von den Feldern kam ein warmer Dunst, Vogelstimmen erklangen in den Obstgärten, die mit Blüten wie mit Schnee belastet waren. Auch im Dorf fing es jetzt an, lebendiger zu werden: es qualmte fast aus allen Schornsteinen, denn überall machte man gutes Essen zurecht, die Fröhlichkeit quoll aus den Häusern hervor, und laute Frauenstimmen klangen von überall her; die Mädchen zogen ihren Feiertagsstaat an, flochten Bänder in die Zöpfe, und manch eine rannte, Schnaps zu holen, den der Jude auch bereitwillig auf Kredit gab, soviel einer nur wollte. Und immer wieder bestieg einer die Dachleiter, um von oben alle Wege abzuspähen, die nach der Stadt führten.

Die Frauen waren ans Ordnungmachen gegangen und kaum eine zog aufs Feld; selbst die Gänse hatte man vergessen, an die Gräben zu treiben, sie gackerten laut in den Höfen, und die Kinder, die heute sich selber ganz überlassen waren, vollführten im ganzen Dorf einen heillosen Lärm. Die älteren Jungen machten sich mit langen Stangen auf dem Pappelweg zu schaffen, erkletterten die Bäume, nach den Krähennestern trachtend, so daß die erschrockenen Vögel hoch oben wie eine dunkle Wolke mit kläglichem Krächzen herumflatterten; etliche aber wiederum jagten das blinde Pferd vom Pfarrhof, das vor ein auf Schlittenkufen gestelltes Faß gespannt war, und versuchten, es von dem höheren Ufer in den Weiher zu treiben, doch das Pferd war zu klug, um sich irreführen zu lassen. Manchmal blieb es gerade noch am Rande stehen, wie ihnen zum Trotz, ließ, taub auf alles Geschrei, den Kopf noch tiefer hängen und schüttelte den Schmutz und die Erde von sich ab, mit denen die Bengel wahrlich nicht sparten. Als es aber merkte, daß sie auf die Tonne steigen wollten, um nach den Zügeln zu langen, wieherte es laut auf und ging auf und davon, plötzlich in den größten Haufen der nichtsnutzigen Buben hineinrennend, so daß sie mit Geschrei auseinanderstoben. Gute paar Paternoster unterhielten sie sich so, bis sie das Pferd schließlich doch überlisteten und ihm einen brennenden Strohwisch unter die Nüstern hielten, so daß der scheu gewordene Gaul zur Seite sprang und zwischen die Zäune des Borynahofs geriet. Er riß eine Pforte um und hatte sich mit den Ortscheiten dermaßen festgefahren, daß sie ihn ganz aus der Nähe überfallen konnten und reichlich mit Peitschenschlägen traktierten.

Er hätte sich gewiß die Beine an den Holzlatten gebrochen, wenn nicht Jagna, die den Lärm gehört hatte, dazwischen gekommen wäre und mit einem Stock die Unfugtreiber verjagte. Sie führte das Pferd auf die Dorfstraße; da aber das erschrockene Tier die Witterung verloren hatte und nicht wußte, wohin es sich wenden sollte, so brachte sie es selbst auf den Pfarrhof.

Sie führte es gerade auf dem Weg zwischen dem Pfarrgarten und Klembs Hof, als eine Britschka vors Haus des Organisten, das etwas im Hintergrund stand, vorfuhr. Die Organistin war schon auf den Sitz geklettert, und Jascho verabschiedete sich noch mit den Angehörigen vor dem Haus.

»Ich habe das Pferd hergeführt, denn die Kinder haben es gescheucht ...« fing sie schüchtern an.

»Vater, ruf' mal den Walek, er soll das Pferd abnehmen. Tä, du Esel, läßt so die Stute laufen, daß sie sich die Beine bricht, was?« herrschte sie den Knecht an.

Jascho, der Jagna bemerkt hatte, schielte rasch zu den Eltern hinüber und streckte ihr die Hand entgegen.

»Bleibt mit Gott, Jagusch.«

»Schon in die Klassen zurück?«

Etwas, das wie stilles Leid sich über sie legte, schnürte ihr das Herz zusammen.

»Ich bring' ihn ins Priesterseminar, meine Borynowa!« ließ sich die Organistin vernehmen und blickte dabei stolz auf.

»Ins Priesterseminar!«

Sie erhob zu ihm ihre erstaunten Augen, er saß schon auf dem Vordersitz, mit dem Rücken den Pferden zugewandt.

»So werde ich noch länger auf Lipce schauen können!« rief er, mit zärtlichem Blick das grünbemoste Dach des Vaterhauses und die Obstgärten umfassend, in denen der Tau glitzerte und die weißen Blüten sich häuften.

Die Pferde setzten zu einem leichten Trab an.

Jagna ging neben der Britschka her. Jascho rief noch etwas seinen Schwestern zu, die weinend vor dem Hause standen, sah aber nur sie allein: blickte in ihre hellblauen feuchten Augen, die so wundersam wie ein Maientag waren, auf ihr helles Haupt, das dreifach mit Zöpfen wie mit dicken Tauen über der Stirn bekränzt war, und von dem noch zwei Flechten wie im Halbkreis sich um die Ohren schlossen; er sah immer wieder auf ihr zartes Gesicht, das so weiß und schön war wie eine Feldrose.

Sie aber ging fast willenlos, wie durch seine leuchtenden Augen verzaubert, hinter dem Wagen her, ihre Lippen bebten, sie konnte die Zähne nicht zusammenkriegen, ihr Herz klopfte in einem Gefühl der Wohligkeit, und die von einer seltsamen Süße erfüllten Augen schauten ihm demütig nach.

Es war ihr, als hätte sie ein plötzlicher Traum erfaßt, als rieselte über sie der duftende Blütenregen der seligen Versunkenheit ... Erst als der Wagen nach dem Pappelweg einbog, ließen ihre Augen voneinander ab, die feurigen Kettenglieder, die sie verbanden, lösten sich und zersprangen mit einem Mal, daß Jagna mit ihren Blicken wie gegen eine Leere anstieß und plötzlich stehenblieb.

Jascho schwenkte die Mütze zum Abschied, während sie schon in den Schatten des Pappelweges hineinfuhren.

Sie sah in die Runde, sich die Augen reibend, als hätte man sie aus dem Schlaf gerissen.

»Jesus, so einer könnte mit seinen Augen selbst in die Hölle locken ...«

Sie erschauerte, als müsse sie diese brennenden Blicke Jaschos abschütteln.

»Ein Organistensohn und sieht wie ein junger Gutsherr aus ... und wird Priester werden, vielleicht schicken sie ihn noch nach Lipce! ...«

Sie sah sich um: die Britschka entschwand ihren Blicken; nur das Wagengeroll und die Zurufe, mit denen Jascho die ihm Entgegenkommenden begrüßte, trafen noch ihr Ohr.

»So ein Milchbart, fast ein Kind noch, und laß ihn einen nur anblicken, dann ist's grad soviel, als ob ein anderer einen umgefaßt hätte ...«

Sie erschauerte, leckte ihre roten Lippen und reckte sich wollüstig ...

Ein plötzliches Frösteln überkam sie. Jetzt erst merkte sie, daß sie mit bloßem Kopf, barfuß und fast nur im Hemd und in einem zerrissenen Tuch um die Schultern war. Sie errötete ganz beschämt und strebte auf Seitenwegen dem Hause zu.

»Die Männer kommen heim, wißt ihr es schon?« riefen ihr von den Heckenwegen die Mädchen und die Frauen und hier und da selbst die Kinder zu, alle waren sie außer sich vor Freude.

»Was ist dabei?« entgegnete sie zuletzt einer schon ganz ärgerlich.

»Sie kommen doch! Ist das nicht genug?« Sie wunderte sich über ihre Kälte.

»Man hat gerad soviel mit ihnen, wie ohne sie! Diese Dummen!« murmelte sie vor sich hin, unangenehm berührt, daß jede auf den Ihren wartete ...

Sie sah bei der Mutter ein. Nur Jendschych war zu Hause; es war zum erstenmal, daß er von seinem Lager aufgestanden war, seinen verstauchten Fuß hatte er noch mit Lappen umwickelt, saß auf der Schwelle, einen Korb flechtend und pfiff zu den Elstern hinüber, die auf dem Zaun hüpften.

»Weißt du schon, Jagusch? ... Sie sollen heute heimkommen! ...«

»Das schreit schon die ganze Welt heute in einem zu.«

»Weißt du, und die Nastuscha, die ist ganz weg, daß der Schymek heute wiederkommt.«

»Warum denn?« Sie blitzte ihn drohend mit den Augen an, gerade wie die Mutter.

»Ih ... nichts ... Was mich da das Bein aufgeschmerzt hat ...« stotterte er ängstlich hervor. »Still da, Aasbande.« Er warf einen Stecken auf die gackernden Hühner.

Dann tat er, als reibe er den schmerzenden Fuß und sah demütig in ihr finsteres Gesicht.

»Wo ist denn Mutter?«

»Nach dem Pfarrhof sind sie gegangen ... Jagusch, und von der Nastuscha, das ist mir nur so dazwischengekommen.«

»Dummer, glaubst vielleicht, daß niemand davon was weiß! Sie werden sich schon kriegen, was ist denn dabei? ...«

»Wird denn Mutter die Erlaubnis geben, wenn die Nastuscha nur einen Morgen Land hat?«

»Wird er sie fragen, dann nicht. Hale, der Bursch ist doch schon in den Jahren, da muß er denn doch auch seinen Verstand haben und wissen, wie und was ...«

»Den hat er, Jagusch, den hat er schon; und wenn er es sich in den Kopf setzt, und wenn es darauf ankommt, dann wird er auf die Mutter nicht hören, und verheiraten tut er sich, verlangt seinen Teil und wird seinen Willen durchsetzen.«

»Red' du nur, wenn es dir Spaß macht, red' mal los, daß dich nur nicht die Mutter hört!«

Mit einem Male wurde ihr aber ganz traurig zumute. War es vielleicht nicht so? Selbst solche Nastuscha müht sich noch ab, um einen Mann zu kriegen und hat ihre Freude, und die anderen Mädchen auch. Die werden wohl heute allesamt toll werden, denn zu jeder kehrt einer heim.

»Das ist wahr, alle kommen sie doch wieder ...« Eine freudige Ungeduld packte sie, sie ließ den erschrockenen Jendschych sitzen und rannte nach Hause, alles in Ordnung zu bringen zu diesem Empfang, ganz wie die anderen alle, und mit Ungeduld auf die Heimkehrenden zu warten, wie es in diesem Augenblick das ganze Dorf tat.

Sie schaffte mächtig und sang voll Freude und sehnsüchtiger Erwartung vor sich hin, und manches Mal lief sie hinaus, auf die Landstraße zu sehen, auf die auch die Augen aller anderen Frauen aus Lipce gerichtet waren.

»Auf wen wartet ihr denn?« hatte sie irgend jemand plötzlich gefragt.

Es war ihr, als hätte ihr einer unerwartet einen Schlag mit einem Stock über den Kopf versetzt; sie wurde blaß, ließ die Arme sinken wie zwei lahme Flügel, und ihr Herz erbebte vor Leid.

»Das ist wahr, auf wen wartete sie denn? Niemand hat es doch eilig zu ihr, sie ist in der weiten Welt ganz allein ... Höchstens vielleicht Antek! ...« fügte sie angstvoll hinzu. »Antek!« Sie flüsterte es ganz leise vor sich hin, ein Seufzer schwellte ihr Herz, und Erinnerungen zogen durch ihr Bewußtsein wie blasse Nebel, wie ein Wundertraum, den man einmal geträumt hatte. »Vielleicht kehrt er doch heim!« sann sie vor sich hin.

... Wenn ihr auch der Schmied gestern gesagt hat, daß man ihn nicht mit den anderen zugleich aus dem Kriminal freilassen würde, daß er lange Jahre hinter Schloß und Riegel bleiben müßte.

»Vielleicht lassen sie ihn aber doch frei!« wiederholte sie lauter schon, als wollten ihm ihre Gedanken und Erwartungen entgegeneilen; aber sie war ganz ohne Freude und ohne Begeisterung und trug einen ängstlichen, lauernden Unwillen im Herzen.

»Laß ihn kommen! Was hab' ich von ihm!« fuhr sie ungeduldig auf.

Boryna fing an, etwas zu lallen.

Sie wandte ihm mit Abscheu den Rücken, ohne ihm etwas zu essen zu reichen, obgleich sie wußte, daß er darum bettelte.

»Wenn du doch endlich verrecken wolltest!« Sie geriet plötzlich in Wut und, um ihn nicht mehr sehen zu müssen, trat sie wieder auf die Galerie hinaus.

Man hörte am Weiher die Waschschlegel klopfen, und hier und da leuchtete der rote Rock einer der waschenden Frauen auf. Ein trockener Windhauch streifte kaum die grünen Weiden, so daß sie nur hin und wieder schaukelten. Die Sonne war nahe daran, sich aus den weißen Wolken herauszuschälen, die Pfützen leuchteten schon auf, und auf der Spiegelfläche des Weihers tanzten goldige Flimmer, die Regendünste waren zu Boden gesunken, und aus der Umfassung der grauen Steinmauern hoben sich aufblühende Obstgärten immer deutlicher ins Helle empor. Sie sahen wie große Blütengarben aus, von denen ein Duften und ein Vogelgezwitscher kam. Man hörte das scharfe Rattern der Mühle, und von der Schmiede klang das durchdringende Aufschlagen der Hämmer zu ihr herüber, vermischt mit dem Lärm der festlichen Vorbereitungen, der von weitem wie Bienengesumm klang.

»Vielleicht werd' ich ihn doch wiedersehen,« sann sie vor sich hin, das Gesicht und die Haare dem Wind und der Feuchtigkeit darbietend, die von den abtrocknenden Blüten und Blättern auf sie niedertroff.

»Jaguscha, wollt ihr nicht auch arbeiten kommen?« schrie Fine vom Hof herüber.

Es kam ihr nicht einmal in den Sinn, sich zu widersetzen; sie nahm eine Harke und ging zu den arbeitenden Frauen hinüber. Die Kraft und all ihr Trotz waren von ihr gewichen, sie fügte sich selbst gern dem Befehl, der sie aus den Grübeleien und der Unsicherheit herausriß. Eine eigentümliche Sehnsüchtigkeit hatte von ihr Besitz genommen, so daß die Augen sich ihr mit Tränen füllten und die Seele weit hinausstrebte. Sie machte sich so eifrig an die Arbeit, daß die Kätnerinnen bald ganz hinten zurückblieben; doch sie ließ nicht nach, achtete nicht auf Gusches Sticheleien und sah nicht die Weiberblicke, die sie in einem fort belauerten, wie Hunde, die sich heranschleichen, um heimlich zuzupacken.

Hin und wieder reckte sie sich plötzlich wie ein blütenbeschwerter Birnbaum auf einem Feldrain, der sich bei der Berührung des Windes plötzlich aufrichtet und, sich leise wiegend, mit Tausenden von Blütenaugen in die Welt schaut, weißen duftenden Blütenschnee auf die wogenden grünen Getreidefelder niedersinken läßt und im Traum vielleicht noch einmal an den bösen kalten Winter denkt.

Sie sann über Antek nach, öfter noch aber kamen ihr Jaschos leuchtende Augen und seine roten Lippen in Erinnerung. Jaschos liebe Stimme klang in ihrem Herzen so voll Süße wieder, daß jeglicher Gram wich, alles sich aufhellte, und sie, noch tiefer über das Ackerland gebeugt, sich mit der ganzen Macht ihrer Sehnsucht an diese Erinnerungen hing. Denn ihre Natur war wie ein schlanker Spindelbaum und wie der wilde Hopfen, der immer irgendwo sich fortranken muß, an einem Zweig Halt sucht oder sich um einen stolzen Stamm windet, um wachsen und blühen zu können, der aber, wenn man ihm die Stütze wegnimmt und ihn sich selbst überläßt, leicht dem bösen Zufall ausgeliefert ist.

Die Kätnerinnen hatten, da es schon ordentlich warm geworden war, die Schürzen und Leintücher von den Köpfen genommen, sie hatten inzwischen ihr gut Teil miteinander über Jagna getuschelt und begannen, sich nun immer eifriger miteinander zu unterhalten und, ihre Glieder reckend, sehnsüchtig nach der Mittagszeit umzuschauen.

»Kosiol, Ihr seid die Längste/da guckt mal aus, ob die Männer nicht schon auf dem Pappelweg zu sehen sind.«

»Keine Spur und kein Laut davon,« antwortete diese, sich vergeblich auf die Zehenspitzen reckend.

»Wie sollten sie auch so bald kommen! ... Die werden gewißlich nicht vor Dunkelheit da sein ... bei diesem weiten Weg ...«

»Und dann noch die fünf Schenken am Weg,« machte sich Gusche auf ihre Art lustig.

»Die Armen, wie sollen die da an Schenken denken!«

»Sie haben genug Not leiden müssen ...«

»Was haben sie denn auszustehen gehabt, daß sie in der Wärme sich ausgeschlafen und vollgegessen haben? ...«

»Versteht sich, die haben groß was gehabt, wie die Mastschweine von Nesseln und Spreu.«

»Da ist selbst bei trockenen Kartoffeln die Freiheit besser,« sagte Gschelas Frau.

»Ist das eine Herrlichkeit, solch eine Freiheit! ... na, ein Armer hat so viel davon, daß er vor Hunger verrecken kann, wo er will, denn Strafe werden sie ihn dafür nicht zahlen lassen, und der Schandarm wird ihn nicht deswegen ins Kriminal schleppen! ...« höhnte sie.

»Das ist wahr, du meine Güte, das ist wahr! Aber Unfreiheit ist doch Unfreiheit! ...«

»Und was Erbsen mit Speck sind, ist nicht Brühe auf Espenholz!« ahmte Gusche nach, so daß sie alle in ein Gelächter ausbrachen.

Philipka versuchte sich zu wehren, aber konnte sie denn einem solchen Schandmaul und einer solchen Zunge standhalten? Gusche machte sich noch weidlich über sie lustig und fing dann gleich noch an, ganz unerhörte Sachen über den Müller zu erzählen, daß er den Leuten auf Borg nur schimmlige Grütze gäbe und bei Barzahlung auch am Gewicht betrüge. Darauf hielt sie sich mit der Kosiol gemeinsam über das ganze Dorf auf, selbst Hochwürden nichts durchlassend. Sie nahmen jedermann auf ihre bösen Zungen und schleiften ihn gehörig umher wie über scharfe Dornhecken ...

Gschelas Frau versuchte einzelne zu verteidigen, aber die Kosiol überschrie sie.

»Ihr würdet selbst solche verteidigen, die in den Kirchen einbrechen.«

»Jeder Mensch braucht Schutz!« murmelte sie mit weicher Stimme.

»Und am meisten der Gschela selbst vor eurem Mangelbrett! ...«

»Das ist nicht eure Sache, über Rechttun zu reden, wo ihr doch dem Bartek Kosiol seine Frau seid! ...« sagte sie hart und reckte sich stolz.

Sie erschraken alle in der Erwartung, daß sich die beiden in die Schöpfe fahren würden, aber sie musterten einander nur mit drohenden Augen. Es war ein Glück, daß gerade Witek angerannt kam, um zum Mittagessen zu rufen und die Kartoffelkörbe zu sammeln, da sie doch von Mittag an feiern sollten.

Sie sprachen nur wenig beim Mittagessen, das Anna auf der Galerie auftragen ließ, denn die Sonne war schon ganz herausgekommen; die ganze Welt erhellte sich, und die Dächer und die blühenden, wie mit weißem Schnee bedeckten Bäume badeten in einer durchsichtigen, duftenden Luft.

Ein lieblicher und stiller Tag hatte sich ausgebreitet, ein Windhauch fuhr so sanft über die Bäume wie Mutterhände, die liebe Kinderwangen streichelte.

Es wurde ein rechtes Fest, denn von Mittag an ging niemand mehr an die Arbeit, selbst das Vieh hatte man von den Weiden eingetrieben, und nur die Ärmsten führten ihre abgemagerten Kühe zum Abweiden an den Rainen und Gärten entlang.

Und als die Sonne schon einige Mann tief unter den Mittagsstand gesunken war, fingen die Leute an, sich vor der Kirche zu sammeln. Sie wärmten sich an der Mauer im Sonnenschein, leise miteinander plaudernd, wie die Vögel, die in den Ahornen und Lindenbäumen zwitscherten, welche einen hohen Kreis bildend, mit ihren kaum grün angehauchten Ästen bis ans Kirchendach reichten. Die Sonne brannte gehörig, wie das so gewöhnlich nach einem Morgenregen ist. Die festlich geschmückten Frauen standen in Haufen auf dem Kirchhof, und einzelne von ihnen sahen sehnsüchtig über die Mauer auf den Pappelweg; der blinde Bettler hatte sich inzwischen mit seinem Hund am Kirchhofstor niedergelassen, sang mit klagender Stimme fromme Lieder, spitzte eifrig die Ohren und klapperte mit seinem Teller, den er den Eintretenden entgegenhielt.

Bald erschien der Pfarrer in einem Chorhemd und einer Stola und mit bloßem Kopf, so daß ihm die Glatze in der Sonne glänzte.

Der Pjetrek vom Borynahof nahm das Kreuz, denn der alte Ambrosius hätte es nicht vermocht, den weiten Weg zu machen; der Schulze, der Schultheiß und einige der kräftigeren Mädchen trugen die Fahnen, die sich gleich im Wind zu entrollen, zu flattern und bunt aufzuwehen begannen; Michael vom Organisten trug das Weihwasser und den Weihwedel. Ambrosius hatte an die Mitglieder der Brüderschaft Lichter verteilt, der Organist stellte sich mit einem Buch in der Hand neben Hochwürden, und als dieser das Zeichen gab, setzten sie sich in Bewegung, durch das in Blütengärten versunkene Dorf, am Weiher entlang schreitend, so daß sich die ganze Prozession im stillen Wasser wiederspiegelte.

Viele Frauen und Kinder schlossen sich ihnen noch unterwegs an, und zum Schluß erschienen selbst, sich bis an den Priester hindurchdrängend, der Müller und der Schmied.

Ganz am Ende hinter allen schleppte sich Agathe, oft aufhustend, und der Blinde schaukelte auf seinen Krücken hinterdrein; aber vor der Brücke kehrte er um und wandte sich dem Anschein nach nach der Schenke.

Erst hinter der Mühle, die abgestellt war, denn auch der mehlbestäubte Müllerbursche hatte sich ihnen zugesellt, zündeten sie die Kerzen an, der Priester setzte sein schwarzes eckiges Mützchen auf, bekreuzigte sich und stimmte das Lied: »Wer sich in den Schutz des Herrn begibt« an.

Sie fielen alle ein, aus voller Kehle singend, so gut es ein jeder wußte, und wandten sich am Fluß entlang über die Wiesen, wo noch die Regenpfützen auf den Wegen standen und der Boden stellenweise so aufgeweicht war, daß man bis über die Knöchel einsank. Die Kerzen mit den Handflächen schützend, zogen sie über den engen Feldpfad und glichen in ihren roten und gestreiften Beiderwandröcken einer langen bunten Rosenkranzkette.

Der Fluß blitzte in der Sonne und schlängelte sich durch die grünen Wiesen, auf denen hier und da in Haufen gelbe und weiße Blumen wuchsen.

Die Fahnen wehten über ihren Häuptern und sahen wie Vögel mit großen gelbroten ausgebreiteten Flügeln aus, das Kreuz wankte voraus, und die singenden Stimmen flossen durch die stille, klare Luft. Das junge Gras leuchtete, die hellgrünen Weidenbüsche umgaben sie, und Schlehdorne standen ganz in ihre Blütenweiße wie in weiße Hemden gehüllt da.

Leichte Wellchen plätscherten gegen das dicht mit Sumpfdotterblumen betupfte Bachufer, eine leise Begleitung zu den Liedern und Blicken bildend, die vor sich hinstrebten in die Weiten des hellen Himmels, dem blinkenden, goldgeschuppten Fluß entgegen, den fernen Dörfern, die kaum in der blau angehauchten Luft sich durch ihre weißen, blühenden Gärten abzeichneten.

Der Priester ging mit seiner Begleitung gleich hinter dem Kreuz und sang mit den anderen.

»Viele Wildenten fliegen da auf,« sagte er etwas nach links schielend.

»Das sind vorüberziehende Moorenten,« entgegnete der Müller, über den Fluß hinweg auf die Niederungen deutend, die mit gelbem, vorjährigem Ried und mit Erlengebüsch bewachsen waren, man sah dort immer wieder ganze Scharen schwerfällig aufflattern.

»Und mehr Störche gibt es auch wie im Vorjahr.«

»Die finden genug auf den Wiesen zu fressen, da kommen sie denn auch aus der ganzen Welt zusammen, und meiner ist mir gerade zu den Feiertagen weggekommen.«

»Der hat sich gewiß einem Zug angeschlossen, der gerade vorüberflog.«

»Was ist denn da in den gewalzten Beeten gesät?«

»Einen ganzen Morgen Mais habe ich gesät, es ist hier etwas naß; und da man sagt, daß es ein trockenes Jahr sein soll, so wird er vielleicht gedeihen können.«

»Wenn es nur nicht so kommt, wie mit dem meinen im vorigen Jahr: es war nicht einmal der Mühe wert, sich danach zu bücken.«

»Den Rebhühnern ist er gut zupaß gekommen, sie haben sich da recht schön vermehrt,« meinte er, leise lachend.

»Gewiß, Sie haben die Rebhühner gegessen, und meine Schimmel haben an den leeren Krippen geknabbert.«

»Wenn er gut gedeiht, will ich Hochwürden einen Wagen voll verehren.«

»Gott bezahl's, das würde mir recht kommen, denn auch der vorjährige Klee ist nicht berühmt; wenn dann noch dazu große Dürre kommt, geht er sicher ein!« seufzte er kläglich auf und sang wieder mit.

Sie kamen gerade an den ersten Grenzhügel, der so mit aufgeblühten Schlehdornsträuchern bedeckt war, daß er wie ein weißer blütenumsteckter Haufen aussah; die Luft um ihn war voll Bienengesumm.

Sie umringten mit einem Kreis flackernder Lichter das Kreuz, das aus den Büschen aufragte, die gesenkten Fahnen rollten sich ganz auf, und die Leute knieten rings nieder, wie vor einem Altar, auf dem zwischen Blumen, inmitten von summenden Bienen die Majestät des Frühlings sich offenbart hatte! ...

Der Priester begann alsogleich ein Gebet gegen die Hagelschäden zu lesen und sprengte geweihtes Wasser nach allen vier Himmelsrichtungen aus, die Bäume und die Erde, das Wasser und die demütig niedergebeugten Köpfe segnend und die ganze Welt, die in der Lust des Wachsens erbebte.

Das Volk ließ ein neues Lied erklingen und richtete sich schon mutiger und freudiger von den Knien auf.

Sie gingen weiter, gleich nach links quer durch die Wiesen, etwas hügelan wendend. Nur die Kinder blieben etwas langer zurück, da der Gulbasjunge, mit Witek zusammen, ein paar anderen Jungen nach altem Brauch auf dem Grenzhügel eine Tracht Prügel verabfolgte, dabei entstand ein solcher Lärm, daß selbst der Priester ihnen von weitem drohte.

Hinter den Wiesen kamen sie auf eine breite Grenztrift in ein Dickicht schlanker Wacholderbüsche, die wie Wächter am Rand wuchsen. Die Trift war weit ausgedehnt, breitete sich bald nach hier, bald nach dort aus, wie ein Fluß, in dem die dicht mit Blümelein durchmengten Gräser wie grüne Fluten wogten, und selbst in den alten Schneisen wucherten gelbe Gänsedisteln und weiße Tausendschönchen. Hin und wieder machten sich große Steinhaufen, die von Dornbüschen umsponnen waren, breit, und vereinzelt sah man noch hier und da ein paar einsam stehende wilde Birnbäume ganz in Blüte und Bienengesumm wie weiße Heiligtümer, die über den Feldern errichtet worden waren, so daß man Lust fühlte, vor ihnen niederzuknien und die Erde zu küssen, die sie geboren hatte.

Manchmal wiederum tauchte eine junge Birke auf, mit einem weißen Fähnlein angetan, ganz von ihrem grünen aufgeflochtenen Haar umflossen, und so rein und andächtig, wie ein Mädchen, das zum ersten Abendmahl geht.

Sie stiegen langsam hügelan, die Felder von Lipce von der Nordgrenze umgehend, an den Kornfeldern des Müllers vorüber, auf denen junger Roggen wogte.

Der Priester ging gleich hinter dem Kreuz, hinterdrein drängten sich scharenweise die Mädchen und jüngeren Frauen, und am Ende kamen einzeln und zu zweien die alten Mütterchen nach, und Agathe bildete ganz hinten den letzten Zipfel der Prozession. Die Kinder aber tummelten sich zu beiden Seiten des Auges, sich vor den Blicken des Priesters versteckt haltend, um desto dreister herumtollen zu können.

Sie betraten die Ebene, auf der sich jetzt kein Lüftchen regte; die Fahnen hingen schlaff herunter, das Volk hatte sich ausgebreitet, so daß hier und da nur die Frauen aus dem Grün wie bunte Blumen sichtbar wurden, und die Kerzenflammen wie taumelnde Schmetterlinge bebten.

Der Himmel spannte sich hoch und rein, und hier und da lag eine weiße Wolke im Raum, wie ein Schäfchen auf bläulichen, endlosen Feldern, über denen eine große glühende Sonne zog, die Welt mit Wärme und Glanz überflutend.

Und das Lied verstärkte sich, sie fielen so laut ein, daß die Vögel von den in der Nähe wachsenden Bäumen aufflatterten; manchmal schwirrte ein aufgescheuchtes Rebhuhn vor ihren Füßen auf, oder es sprang ein junger Hase unter einer Scholle hervor und rannte blindlings davon.

»Das Winterkorn kommt gut,« murmelte der Priester.

»Und ob! Gestern hab' ich schon die ersten Knoten im Korn gefunden.«

»Wer hat denn das Feld da so eingesaut? ... Die Hälfte Dünger liegt noch oben auf den Schollen!«

»Das sind die Kartoffeln von irgendeiner der Kätnerinnen, sehen grad aus, als ob sie hier mit einer Kuh zu Gange gewesen wären.«

»Die Egge wird dann alles wieder herauszerren. Was das für Pfuscher sind!«

»Der Knecht von Hochwürden hat es umgepflügt,« mischte sich der Schmied mit gedämpfter Stimme ein.

Hochwürden machte eine unwillige Bewegung, aber er sagte nichts; und den Gesang anstimmend ließ er seine Augen über die endlose Weite des fruchtbaren Ackerlandes gehen, das etwas wellig hier und da sich zu kleinen Hügeln erhebend dalag, die wie Brüste einer nährenden Mutter waren, und in einem süßen Atem sich zu regen schienen, als wollte sie alles, was nach diesen Brüsten suchte, an sich ziehen, stillen und es sein kärgliches Los vergessen machen.

Hei! Wie weit die Augen hinausflogen; die ganze Prozession schien nur ein Ameisenzug durch die Getreidefelder zu sein, und Menschenstimmen schwebten wie Lerchensang über der weitgestreckten Ebene.

Die Sonne wandte sich gen Westen, so daß schon die Kornfelder vergoldet dastanden, die blühenden Bäume warfen lange Schatten, und der Weiher von Lipce blitzte aus wie eine glühende Spiegelscheibe aus der Umrahmung von Gärten, die von weißem Blütenschaum gekrönt waren. Das Dorf lag im Tal wie auf dem Grunde einer gewaltigen Schüssel und war so von den Bäumen beschattet, daß nur hier und da eine alte Scheune sichtbar wurde; nur die Kirche überragte mit ihren weißen Wänden alles, und ihr goldenes Kreuz hob sich leuchtend gegen den Hauen Himmel ab.

Rechts von den Gehenden breitete sich die Ebene aus, wie unabsehbares graugrünes Gewässer, aus dem die Dörfer wie dichte Bauminseln, einsame Kreuze und einzelne Bäume hervortauchten. Die Augen flogen wie Vögel da hinaus, doch sie erreichten in ihrem, einen Umkreis beschreibenden Flug keine anderen Grenzen als die ringsum blauenden Wälder.

»Es ist etwas reichlich still ... daß da nicht Regen in der Nacht kommt ...« fing der Priester an.

»Das wohl nicht: es hat sich ganz aufgeklärt, und etwas kühler ist es auch geworden.«

»Am Morgen hat es noch gegossen, und jetzt merkt man schon nichts mehr davon.«

»Das ist so im Frühling, da trocknet es im Nu ab,« mischte sich der Schmied dazwischen.

Sie erreichten den zweiten Grenzhügel, er war groß wie eine Sanddüne; man sagte, daß darunter die im Krieg Erschlagenen lägen. Ein niedriges, schon ganz hinfälliges Kreuz stand darüber, geschmückt mit vorjährigen Kränzen und Heiligenbildern, mit Vorhängen davor; von der Seite aber schmiegte sich eine ausgehöhlte, breitästige Weide daran und ließ ihre jungen Triebe darüber hängen. Es war da seltsam einsam, selbst die Spatzen mochten nicht im hohlen Stamme nisten, und obgleich ringsum nur fruchtbares Land war, lag der Hügel fast ganz kahl da, seine aufgerissenen Flanken leuchteten sandgelb, und nur Hauswurz wuchs hier und da wie eine Flechte am Boden, von dem vereinzelte Stauden Tollkraut und einige vertrocknete Königskerzen vom Vorjahr aufragten.

Hier hielten sie wieder eine Andacht zum Schutz gegen die böse Seuche ab, und sich etwas beeilend, wandten sie sich noch mehr nach links, schräg nach dem Pappelweg, dem Wald zustrebend, wohin der schmale, stark ausgefahrene Feldweg führte.

Sie hatten sich schon im ganzen Haufen nach dorthin in Bewegung gesetzt, und nur Agathe war zurückgeblieben, riß heimlich einen Fetzen vom Kreuztuch ab, und von weitem der Prozession folgend, vergrub sie ihn in kleinen Stücken auf den Feldrainen aus irgendwelchem Aberglauben.

Der Organist stimmte die Litanei an, die träge dahinfloß, denn nur hier und da sang einer vor sich hin, und die Frauen räsonierten leise miteinander, nur wenn es gerade erforderlich war, ein schrilles: »Bete für uns« dazwischenwerfend/ die Kinder waren vorausgelaufen und führten sich so lärmend auf, daß der Pjetrek vom Borynahof, sich nach dem Pfarrer umsehend, ärgerlich vor sich hinbrummte:

»Diese Galgenstricke! Nichtsnutze! ... Laß mich mal erst den Gurt abnehmen!«

Der Priester, der schon stark ermüdet war, wischte sich den Schweiß von der Glatze, überflog mit einem Blick die nachbarlichen Felder und wandte sich an den Schulzen:

»Oho, denen sind schon die Erbsen aufgegangen ...«

»Das ist wahr! ... Die müssen früh gesät sein, der Acker ist richtig bestellt worden, so kommen sie sein dicht heraus.«

»Ich habe meine zu Palmsonntag gesät, aber sie fangen erst an, die ersten Keime zu zeigen.«

»Weil es bei Hochwürden da in der Kuhle kälter ist, hier ist der Boden warm.«

»Auch die Gerste ist denen da schön aufgegangen, und gleichmäßig sieht sie aus, wie mit einer Sämaschine gesät.«

»Das sind die Felder von denen aus Modlica, die arbeiten nach herrschaftlicher Mode.«

»Nur auf unseren Feldern ist noch keine Spur von Hafer und Gerste.«

»Alles ist verspätet, der Regen hat es in den Boden geschlagen, da keimt es nicht so schnell.«

»Furchtbar verschandelt ist das alles hier, zum Gottserbarmen,« seufzte der Priester wehmütig auf.

»Dem geschenkten Gaul guckt man nicht ins Maul,« lachte der Schmied.

»Ihr Bengel da, die Ohren werd' ich euch abreißen, wenn ihr nicht nachlaßt!« schrie der Priester auf die Jungen ein, die mit Steinen hinter einer Schar Rebhühner warfen, die quer über die Ackerbeete flüchtete.

Die Gespräche wurden plötzlich still, die Jungen hockten in den Ackerfurchen nieder, der Organist begann wieder mit blökender Stimme sein Lied zu singen, der Schmied fiel laut ein, daß es einem dabei in den Ohren gellte, und die dünnen Weiberstimmen erhoben sich in einem klagenden Chor, so daß die Litanei sich wieder über die Felder ausbreitete, wie ein Vogelzug, der durch einen langen Flug ermattet, langsam immer tiefer niedersinkt.

Sie schoben sich zwischen den grünen Feldern entlang in einem langen, sangerfüllten Streifen, so daß die Leute, die auf den Feldern von Modlica und auch noch auf den weiter abliegenden arbeiteten, ihre Arbeit unterbrachen, die Mützen lüfteten und auf dem Acker niederknieten. Hier und da brüllte ihnen das Vieh entgegen, die gehörnten Häupter hochhebend, und ein aufgescheuchtes Füllen rannte von der Mutter weg ins Weite.

Sie hatten noch eine kleine Strecke zum dritten Hügel zu gehen, wo am Pappelweg ein Kreuz stand, als plötzlich jemand laut ausrief:

»Da kommen ja Männer aus dem Wald!«

»Sind das nicht die unsrigen?«

»Das sind sie, das sind sie!« klang es aus dem Haufen heraus, und an die fünfzehn stürzten sich ihnen entgegen.

»Stehenbleiben! Die Andacht kommt zuerst!« befahl der Priester scharf.

Natürlich blieben sie, aber sie traten von einem Fuß auf den anderen vor Ungeduld. Sie hatten sich zu einem noch dichteren Haufen zusammengedrängt, sich einander anschließend, wie es gerade kam, denn jede riß es mit Allgewalt von der Stelle; der Priester aber ließ keinen voraus, er hatte nur seine Schritte beschleunigt.

Von irgendwoher kam plötzlich ein Windstoß, der die Lichter verlöschte, die Fahnen flatterten auf, das Getreide, die Büsche und die Blütenbäume fingen an zu rauschen und taten, als wollten sie sich verneigen; aber das Volk, obgleich es immer lauter sang, fing schon fast an zu rennen, haftete mit seinen Blicken am nahen Wald und versuchte zwischen den Bäumen hindurch am Weg zu spähen, wo schon deutlich die weißen Bauernröcke aufblitzten.

»Drängt euch da nicht so, rein wie die Dummen: die Männer laufen euch nicht weg!« wies sie der Priester zurecht, denn sie traten ihm auf die Absätze, eine über die andere nach vorne drängend.

Anna, die in einer Reihe mit den ersten Hofbäuerinnen ging, schrie auf, als sie die Bauernkittel erkannte. Sie wußte zu gut, daß sie den Antek nicht darunter finden würde, und dennoch erbebte sie vor Freude, und eine trunkene Hoffnung wollte ihr schier die Seele sprengen, so daß sie vom Weg ab in eine Ackerfurche trat und scharf hinüberspähte.

Jaguscha aber, die neben der Mutter ging, wollte auf der Stelle losrennen; eine Glut überflog sie, sie fing dermaßen an zu beben, daß sie ihre Zähne nicht zusammenbekommen konnte, und auch die anderen Frauen hatten es eilig, zu ihren ersehnten Ehegatten zu gelangen. Einzelne Mädchen und Jungen aber konnten schon gar nicht länger an sich halten und flogen aus dem Haufen, wie Wasser, das aus einem angestoßenen Eimer spritzt; trotz der Zurufe rannten sie querfeldein auf die Landstraße zu, daß ihnen nur so die Waden aufblitzten.

Die Prozession erreichte bald darauf das Borynakreuz, hinter dem gleich am Rande der Felder von Lipce und des herrschaftlichen Waldes der Grenzhügel war.

Dort standen schon die Männer im Schatten mächtiger Birken, die um das Kreuz Wacht hielten; sie hatten schon aus der Ferne die Häupter entblößt, und den Augen der Frauen wurden die lieben Gesichter der Männer, Väter und ersehnten Söhne sichtbar, abgemagerte, abgehärmte Gesichter, die jetzt voll Freude und glückseligen Lachens waren.

»Die Ploschkas! Die Sikoras! Mathias! Klemb und Gulbas! Der alte Gschela! Philipp auch! Die lieben Armen alle! ... Die Armen! Jesus Maria, heiligste Mutter!« tönten die Zurufe und das heiße Geflüster; die Augen loderten vor Freude, die Hände streckten sich schon aus, das niedergehaltene Weinen brach hervor, und ein Schrei wollte laut werden; alle waren schon außer Rand und Band, doch der Priester hielt sie beschwichtigend mit erhobener Stimme zurück, und nachdem er alle bis ans Kreuz geleitet hatte, las er bedächtig das Gebet zum Schutz gegen Feuersgefahr; er las langsam, denn unwillkürlich sah er sich nach allen Seiten um und ließ seine wohlwollenden Augen über die abgehärmten Gesichter gehen.

Alle waren im Halbkreis niedergekniet, und die Tränen flossen ihnen zugleich mit dem heißen Dankgebet, während die Augen am gekreuzigten Heiland hasteten. Erst nachdem der Pfarrer mit dem Gebet fertig geworden war und mit geweihtem Wasser die zur Erde gebeugten Häupter besprengte, nahm er das eckige Mützchen vom Kopf ab und rief laut und fröhlich, daß es hallte:

»Gelobt sei Jesus Christus! Grüß Gott, liebe Leute!«

Sie antworteten ihm selbstverständlich wie aus einem Munde und drängten sich um ihn, wie eine Herde Schafe um ihren Hirten, seine Hände küssend und seine Knie umfassend; und er zog jeden ans Herz, küßte ihre Häupter, strich ihnen über die Wangen, fragte sie besorgt aus und ließ jeden mit einem guten Wort von sich, bis er schließlich ganz ermüdet unter dem Kreuz niedersaß, sich den Schweiß und die Tränen der Rührung aus dem Gesicht wischend.

Das Volk wallte auf wie Wasser, das überkocht.

Ein Stimmengewirr wurde laut, Gelächter, Küsse, freudiges Weinen, Kindergekreisch, heiße, herzliche Worte, Geflüster, Zurufe, die wie ein Singen aus dem freudetrunkenen Herzen kamen; jede zog ihren Mann beiseite, und jeder bewegte sich hin und her, von freudigem Stimmengewirr und Weinen umgeben, in seinem Haufen Frauen und Kinder, und war anzusehen wie ein Tannenbaum mitten im niedrigen Buschwerk ... Gut zwei Paternoster lang dauerten die Begrüßungen; sie hätten bis in die Nacht gewährt, wenn der Priester sich nicht besonnen hätte, daß es schon Zeit wäre und das Zeichen zum Aufbruch gab.

Sie setzten sich in Bewegung und gingen durch die junge Tannenschonung, sich zwischen Wacholderbüschen hindurchzwängend, auf den letzten Grenzhügel zu.

Der Priester stimmte das Lieb: »Herzliche Mutter« an, und alle fielen mit lauter Stimme wie ein Mann ein, so daß der Forst wie aufstöhnend Antwort raunte; die Freude hatte ihre Seelen so erfüllt und verlieh ihren Stimmen solche Macht, daß der Gesang wie ein Frühlingsgewitter aufrauschte, das wie von der eigenen drängenden Glut getrieben über den Waldeswipfeln dahinzieht.

Da aber viel Volk hinzugekommen war, so hatte sich der ganze Weg mit Menschen angefüllt, daß viele schon am Ackerrand und viele unter den Bäumen am Waldsaum nebenher gingen, und alle sangen sie wieder und immer wieder, so daß der ganze Forst von dem himmelansteigenden Lied widerhallte.

Dann aber schwieg allmählich Stimme nach Stimme, so daß nur die, die ganz vorn gingen, noch sangen; die meisten hatten es eilig, mit den Ihren zu reden. Die Reihen lösten sich, und Menschen begannen sich nach allen Seiten zu verlieren; man ging familienweise, viele nahmen die kleineren Kinder auf die Arme, und andere, die jünger waren, gingen in Paaren, eifrig miteinander redend; etliche verzogen sich nach dem Wald, um den Blicken der Menschen aus dem Weg zu gehen, und die Mädchen hatten sich, rot wie die Kirschen, an ihre Burschen gehängt, ohne auf irgend jemand mehr zu achten. Hin und wieder aber, wie um ihrem Behagen einen Ausdruck zu geben, fiel die Menge wieder mit lauter Stimme ein, daß die Krähen aus ihren Nestern aufgescheucht davonflatterten, daß die Kerzen verloschen und der Wald ihnen eine Antwort lallte wie aus tiefer, unergründlicher Kehle.

Dann breitete sich abermals Stille aus, so daß man nur noch das Aufstampfen der Tritte hörte, manchmal ein perlendes, heißes Lachen und hingeflüsterte zärtliche Worte aus dem Dickicht, und vorneweg um den Priester murmelten immer noch die Gebete der alten Mütterchen wie eine wiederkehrende, wispernde Flut.

Die Sonne wollte schon untergehen, der Himmel dehnte sich zu einer goldenen Glaskuppel aus, und nur ein paar glührote Wölklein erstarben in den bläulichen Höhen. Die Sonne hatte sich bis an den Himmelssaum geschoben und hing dicht über den Wäldern. Zwischen den gewaltigen Stämmen und dem grünen Unterholz breiteten sich goldene Scheine aus, auf den Waldwiesen schienen aber die einzelnstehenden Bäume lichterloh zu brennen, das Wasser glühte im Walddunkel auf, und der ganze Forst tauchte in blutigen Dunst, so daß nur stellenweise, wo die hochragenden Tannen eine dichte Wand bildeten und wie Männer dastanden, die Schulter an Schulter gestemmt sich aufrecken, dunkle Dämmerung lag, welche aber auch noch hier und da wie von goldenem Geriesel durchwirkt wurde.

Der Wald schien sich über den Weg zu beugen und aufs Feld zu schauen, seine mächtigen Wipfel streckte er ins Abendrot und stand dabei so still, daß man das Hämmern der Spechte hörte; irgendwo ließ der Kuckuck sein eifriges Rufen vernehmen, und von den Feldern kam das Gezwitscher der Vögel.

Der Weg schlängelte sich stellenweise ganz an den Rand der Felder heran, so daß die Männer ab und zu zu erzählen aufhörten und, sich bis an die Ackerfurche am Weg hindrängend, vorgebeugt gingen und mit den Augen die grünen Fluren umfaßten, auf denen hier und da die Blütenbäume im Abendglanz standen. Sie sahen auf die langen Ackerstreifen, die wie in Demut sich ihnen entgegenschoben, beäugten die Wintersaaten, die wie flutende grünliche Wasser sich vor ihren Herren ausbreiteten und verschlangen sie, diese ihre Mutter Ernährerin, mit ihren Blicken; manch einer bekreuzigte sich dabei, murmelte sein: »Gelobt sei Jesus Christus« vor sich hin, nahm die Mütze ab, und alle Seelen neigten sich voll glühender Verehrung für diese heilige und ersehnte Erde.

Natürlich erhoben sich nach diesen ersten Begrüßungen erneute Zurufe, und abermals überflutete das Freudegefühl die Herzen, so daß manch einer Lust verspürte, in den Wald hinein zu juchzen oder sich auf den Acker niederzuwerfen und seinen Tränen freien Lauf zu lassen.

Nur Anna fühlte sich wie außerhalb der ganzen Welt. Da gingen freilich dicht vor ihr, hinter ihr und ringsherum Männer mit lauter Fröhlichkeit / an jeden schmiegten sich Frau und Kinder, sie plauderten miteinander, freuten sich, sahen sich in die Augen, waren einander nahe, und sie allein nur hatte niemanden, den sie anreden konnte! Das ganze Volk gab sich der unbändigsten Freude hin, und obgleich sie inmitten aller ging, fühlte sie sich so verlassen, und hilflos wie ein verdorrender Baum im Walddickicht, auf dem nicht einmal eine Krähe ein Nest baut und kein Vogel sich niederläßt, um zu rasten. Kaum einer hatte sie selbst auch nur begrüßt / das war schon so! Jeder hatte es doch eilig zu den Seinen ... was konnte sie ihn da angehen? ... Und so viele waren ja heimgekehrt ... selbst der Kosiol, vor dem man jetzt wieder Kammer und Stall hüten konnte, und Tür und Riegel schließen. Selbst die schlimmsten Aufhetzer hatte man freigelassen: den Gschela, den Bruder des Schulzen und Mathias ... nur Antek nicht ... Vielleicht sieht sie ihn nie wieder ...

Nein, sie konnte nicht länger an sich halten, diese Gedanken drückten sie nieder wie Steine; sie konnte kaum die Füße bewegen, doch sie ging erhobenen Hauptes, dem Anschein nach voll Trotz und, wie immer, selbstbewußt. Wenn sie ein Lied anstimmten, sang sie laut mit den anderen, wenn der Priester ein Gebet zu sprechen begann, war sie es, die als erste mit blassen Lippen die Worte wiederholte, und in den langen Zwischenräumen, wenn sie rings um sich das gedämpfte scherzende Geflüster hörte, heftete sie ihre düsteren Blicke auf das leuchtende Kreuz und ging vor sich hin und rang mit den verräterischen Tränen, die verstohlen ihr hin und wieder zwischen den heißen Lidern hindurchsickerten ... Sie hatte nicht einmal gewagt, nach Antek zu fragen, denn wie leicht hätten die Menschen ihre Qual erraten können. Nein, nimmermehr; sie hat schon so viel gelitten, sie wird auch mehr noch verwinden ... ertragen ... Das nahm sie sich vor, indem sie zugleich fühlte, wie ihr die heißen Tränen aufstiegen, wie das Leid ihr die Kehle zuschnürte, die Augen sich umflorten und die Qual von Augenblick zu Augenblick wuchs.

Nicht sie allein jedoch härmte sich so, auch die Jaguscha fühlte sich nicht besser: sie ging für sich, ängstlich an den Menschen vorbei wie ein scheues Reh schleichend. Auch sie hatte sich von der Freude zuerst hinreißen lassen, so daß sie fast eine der ersten war, die den Männern entgegenliefen; doch niemand kam auf sie zu, niemand nahm sie in seine Arme, niemand küßte sie. Schon von weitem erblickte sie den Kopf von Mathias, denn er überragte die anderen; auf ihn also richteten sich ihre glühenden Blicke, zu ihm zogen sie plötzlich längst vergessene Sehnsüchte, so daß sie sich mit freudigem Zuruf auf ihn zudrängte. Doch er hatte sie so gut wie gar nicht bemerkt. Bevor sie ihn noch erreicht hatte, hing ihm schon die Mutter am Hals, zerrte ihn Nastuscha am Arm, die jüngeren Geschwister umringten ihn, und Therese, die Soldatenfrau, hielt seine Hand fest und sah ihn mit verheultem Gesicht und rot wie eine Runkelrübe an, ohne sich auch nur vor den Blicken der Menschen Zwang anzutun.

Es war ihr, als hätte sie einer mit kaltem Wasser begossen; sie stürzte aus dem Gewühl und lief in den Wald, ohne selbst zu wissen, was mit ihr geschah. Wie konnte es denn auch anders sein, sie hatte doch auch heißes Verlangen, sich mitten in der Menge unter Menschen zu fühlen und sich in den Lärm der Begrüßungen zu stürzen; auch sie wollte sich freuen wie die anderen, denn sie hatte doch auch wie die anderen ein glühendes Herz, auch sie wollte sich hinreißen lassen und in ein Freudejauchzen ausbrechen; und nun sollte sie hier allein gehen, fern von den anderen, gemieden wie ein räudiger Hund.

Sie war ganz von schwerem Leid durchbebt und kaum imstande, ihre Tränen zurückzuhalten; wie eine düstere Wolke, jeden Augenblick bereit, sich in einem Tränenstrom zu entladen, schleppte sie sich einher.

Ein paarmal wollte sie schon umkehren, doch sie brachte es nicht fertig: es tat ihr leid, die anderen zurückzulassen; so trieb sie sich denn zwischen den Menschen umher wie ein Hund, der im Gedränge seinen Herrn sucht. Es zog sie nicht nach der Mutter, auch nicht nach dem Bruder, der sich behutsam in die Wacholderbüsche zu schlagen versuchte und schon um die Nastuscha herumschlich; sonst aber schloß sich ihr keiner an, da jeder genug mit den Seinen beschäftigt war, bis sie schließlich ein Zorn packte, so daß sie am liebsten einen Stein in die Menge, mitten zwischen die zufriedenen, lachenden Gesichter geschleudert hätte.

Zum Glück kamen sie schon aus dem Wald heraus.

Der letzte Grenzhügel stand an einem Kreuzweg, von dem ein Weg geradeaus auf die Mühle zu führte.

Die Sonne ging schon unter, und ein kühler Wind wehte von den Niederungen; der Priester beschleunigte die Andacht, da der Walek schon auf ihn mit dem Wagen wartete.

Sie sangen da noch etwas, aber es kam nur mehr dünn und gesiebt hervorgesickert, denn sie waren müde geworden; die Männer fragten leise allerlei über die während der Feiertage niedergebrannte Meierei aus, deren stark vom Feuer mitgenommenen Gebäude ganz aus der Nähe zu sehen waren; zugleich konnte man auch allerlei Merkwürdiges auf den Gutsfeldern beobachten.

Der Gutsherr ritt auf seiner gelben Stute hinter irgendwelchen Leuten her, dabei immer wieder von Feldparzelle zu Feldparzelle springend. Man maß mit langen Stangen den Boden aus, und am Kreuz, wo die Landstraße sich gabelte, dicht an den verbrannten Schobern, sah man große, gelb bemalte Wagen stehen.

»Was kann das sein?« bemerkte jemand.

»Natürlich mißt man das Feld aus, nur daß es keine Ometer sind.«

»Gewißlich wollen sie da den Boden kaufen, sie sehen aber doch nicht wie Bauern aus.«

»Die sehen gerad wie Deutsche aus.«

»Versteht sich: sie haben ja dunkelblaue Knieröcke an. Pfeifen haben sie auch und Stiefel über die Hosen.«

»Ganz recht, die sehen wie die Holländer aus Grünbach aus,« flüsterten sie, neugierig hinüberstarrend; aber eine dumpfe Unruhe erfaßte sie, und sie merkten es nicht, daß der Schmied schon ganz leise, auf den Gutsherrn zu davongeschlichen war, sich fast ganz in den Ackerfurchen niederduckend.

»Die kaufen wohl die Waldmeierei?«

»Schon während der Feiertage erzählte man, daß der Gutsherr Käufer sucht.«

»Deutsche Nachbarschaft, davor möge uns Gott bewahren!«

Sie brachen diese Betrachtungen ab, denn die Andacht war zu Ende, und der Priester bestieg mit den Organistenleuten seinen Wagen.

Das Volk teilte sich in Gruppen und zog langsam dem Dorfe zu; sie breiteten sich über die Landstraße aus und gingen im Gänseschritt auf den Feldrainen, gerade wie es ein jeder am nächsten nach seinem Zuhause hatte.

Die Sonne war schon untergegangen, und es dunkelte über der Erde; auf dem blaßgrünen Himmel erglühte nur noch die Abendröte. Von den Wiesen hinter der Mühle kamen weiße Dünste gezogen und übersponnen alle Niederungen. In der Stille, die sich über die ganze Welt legte, hörte man nur noch irgendwo einen Storch laut klappern.

Selbst die Menschenstimmen waren erloschen und die ganze Prozession war wie langsam von den Feldern aufgesaugt; nur hier und da leuchtete noch ein roter Rock auf und ein paar weiße Bauernkittel geisterten aus der niedersinkenden bläulichen Dämmerung.

Bald darauf begann sich das Dorf zu beleben und von Stimmen widerzuhallen, denn man kam schon auf allen Wegen laut lärmend heim; ein jeder bekreuzigte sich, die lang vermißte häusliche Schwelle betretend, und manch einer warf sich vor den Heiligenbildern zu Boden, laut vor Freude weinend.

Die Begrüßungen wiederholten sich abermals; Frauen- und Kindergekreisch, das nur von Ausbrüchen der Zärtlichkeit und von lautem Lachen unterbrochen wurde, schallte laut durchs Dorf.

Die Frauen waren ganz erhitzt und wie sinnlos von all dem eifrigen Erzählen und dem Geschrei; sie begannen ihren Lieben das Essen aufzutragen und steckten ihnen allerhand Leckerbissen zu, ihnen aus vollem Herzen zuredend.

Man vergaß die erlittene Not, vergaß die Sorgen und die lange Zeit der Trennung, denn jeder hatte sich genug über seine Rückkehr und die Seinen zu freuen, die er nun wieder hatte, immer wieder umarmte, an die Brust drückte und um allerhand Dinge befragte.

Als sie sich aber satt gegessen hatten, ging man, die Wirtschaft zu besichtigen und sich an seinem Hab und Gut zu freuen; sie trieben sich, obgleich es schon dunkel geworden war, noch lange auf den Höfen und in den Obstgärten herum, streichelten ihr Vieh, und manch einer betastete behutsam und mit einer Zärtlichkeit, als wären es die Häupter seiner Lieben, die blütenschweren Zweige der Obstbäume.

In ganz Lipce war kaum eine Seele, die nicht voll Freude war.

Nur auf dem Borynahof war nichts davon zu spüren.

Das Haus lag fast ganz verlassen da, Gusche war zu ihren Kindern gelaufen, Fine mit Witek trieben sich herum, wo es am belebtesten war, und in der dunklen Stube ging nur Anna auf und ab, das wimmernde Kind im Arm wiegend, und ließ nun endlich ihrem Kummer und ihren Tränen freien Lauf.

Aber selbst allein zu sein war ihr heute nicht vergönnt, denn auf dem dunklen Flur rannte die Jagna ebenso auf und ab, und dasselbe Leid trieb sie rastlos umher; sie warf sich wie ein Vogel hin und her, der gegen die Käfigstangen anschlägt.

So seltsam wollte es die Fügung.

Jagna war noch vor den anderen nach Hause zurückgekehrt, und obgleich sie finster wie die Nacht und ganz böse war, stürzte sie sich auf die Arbeit und griff zu, wo sie nur konnte, auch da, wo es nicht ihre Pflicht war; sie hatte die Kühe gemolken, das Kalb getränkt und selbst den Schweinen das Fressen hingetragen, so daß Anna ganz erstaunt war und ihren eigenen Augen nicht trauen wollte. Und sie schaffte, ohne auf irgend jemand zu achten, als wollte sie sich dadurch betäuben und sich müde arbeiten, um das zu vergessen, was ihr geschehen war, und um das Leid und die Trauer in sich zu ersticken.

Was half jedoch das alles; trotzdem ihr die Hände vor Ermüdung erlahmten und das Kreuz sie schon schmerzte, hatte sie doch in einem fort die Augen voll Tränen, die ihr immerzu heiß heruntertropften, und in der Seele wuchs eine immer stärkere und grausamere Trauer.

Ihre verweinten Augen sahen nicht mehr, was um sie herum war, selbst Pjetrek nicht, der seit ihrem Kommen nicht einen Schritt von ihr gewichen war, ihr half, sie immer wieder anredete und sie mit glühenden Augen umfing. Er schob sich zuweilen so nahe an sie heran, daß sie unwillkürlich zurückwich, bis es schließlich dazu kam, daß er, als sie in der Scheune mit der Futterschwinge Spreu aufnehmen wollte, sie um die Hüften griff, an die Banse preßte, und, ihr etwas zuflüsternd, gierig nach ihren Lippen zu suchen begann.

Sie weigerte sich nicht, denn sie hatte nicht einmal selbst begriffen, was vor sich ging; sie überließ sich ganz seinem Willen, als wäre sie selbst darüber erfreut, daß sie eine Gewalt ergriffen hatte und sie mit sich fortriß; als er sie aber aufs Stroh niedergedrückt hatte und sie seinen feuchten Mund auf ihrer Wange fühlte, riß sie sich heftig empor und schüttelte ihn ab wie einen alten Strohwisch, so daß er heftig gegen die Tenne aufschlug.

Ein mächtiger Zorn hatte sie erfaßt.

»Du pestiges Gestell! ... Du Schweinigel! ... Wag' du nur noch einmal mich anzurühren, dann werde ich dir die Klumpen ausrenken! ... Ich werd' dir hier was von Amouren zu schmecken geben, daß du Blut von dir gibst,« schrie sie, mit einer Harke auf ihn losstürzend.

Bald hatte sie aber wieder alles vergessen und ging nach Erledigung ihrer wirtschaftlichen Besorgungen ins Haus zurück.

Auf der Schwelle stieß sie auf Anna; sie blickten sich in die von Tränen umflorten, wehmutschweren Augen und eilten rasch auseinander.

Die Türen der beiden Stuben standen nach dem Flur zu offen, und in beiden war schon Licht, so daß sie immer wieder wie aus einem unerklärlichen Drang von weitem zueinander hinübersahen.

Und später, bei der gemeinsamen Zubereitung des Abendessens, hantierten sie ganz dicht umeinander herum, doch keine wagte auch nur einen Ton; nur heimlich verfolgten sie einander mit den Augen wie Diebe. Natürlich wußten sie gut, woran sie beide heute zu leiden hatten, und oft stachen ihre bösen rachsüchtigen Blicke aufeinander ein wie mit Messern, und die fest zusammengepreßten Lippen schienen höhnisch zu sprechen:

»Das passiert dir recht! Da hast du es!«

Aber es kamen auch solche Augenblicke, daß sie miteinander Mitleid zu fühlen begannen, daß sie gern ein freundschaftliches Wort ausgetauscht hätten und jede nur eine passende Gelegenheit suchte, um ein freundliches Wort zu sagen. Sie blieben sogar zuweilen dicht nebeneinander stehen, heimlich und erwartungsvoll hinüberäugend, und ihre Verbissenheit ließ nach; der alte Zorn schien zu vergehen, und das gemeinsame Schicksal und die gemeinsame Verlassenheit ließen sie sich einander näher fühlen ... und doch kamen sie sich nicht näher, denn immer wieder hielt sie etwas zurück: einmal das Greinen des Säuglings, dann eine gewisse Scham, ein plötzliches Erwachen der Erinnerung an zugefügtes Unrecht, so daß sie schließlich wieder weit voneinander abrückten und der Haß von neuem in ihren Herzen aufquoll.

»Das passiert dir recht so! Da hast du es!« zischten sie einander heimlich mit lauernden Blicken zu und fühlten sich wieder bereit, loszuzanken, ja selbst mit den Fäusten aufeinander loszugehen, um nur ihrem Zorn freien Lauf zu lassen.

Zum Glück kam es nicht dazu, denn Jaguscha machte sich gleich nach dem Abendessen auf den Weg zu ihrer Mutter.

Der Abend war dunkel, aber ruhig und warm, die Sterne schimmerten nur vereinzelt aus den fahlen Tiefen hervor, auf den Mooren lagen die Dünste wie weiße dicke Pelze, die Frösche begannen zu quarren, und manchmal verirrte sich selbst ein klagendes Aufstöhnen eines Kiebitzes herüber. Die Erde war in Nacht gehüllt, es hoben sich nur irgendwo Bäume schlaftrunken gegen den helleren Himmel ab, Obstgärten grauten kalkig aus dem Dunkel und dufteten zum Himmel empor wie glühende Weihrauchbecken, die Kirschblüten und der kaum erschlossene Flieder breiteten ihre Wohlgerüche aus, das Korn duftete, es roch nach Wasserdünsten und feuchter Erde, jede Blumenart schien ihre Düfte ungemischt zu verbreiten, und alle hauchten sie einen so betäubend süßen Wohlgeruch, daß es einem davon schwindelig wurde.

Das Dorf schlief noch nicht, leise Gespräche bebten durch die Luft, von den Schwellen und Mauerbänken kommend, die im Dunkeln ganz versunken lagen, und die Wege, die die Schatten der Bäume verdeckten, so daß sie nur hier und da mit Lichtstreifen, die aus den Fenstern der Häuser kamen, gesprenkelt waren, wimmelten noch voll Menschen.

Jaguscha schien nach der Mutter zu wollen, drehte aber nach dem Weiher ab und begann an ihm entlang zu gehen; sie hielt aber immer häufiger an, denn jeden Augenblick stieß sie auf ein Pärchen, das fest aneinandergeschmiegt sich flüsternd unterhielt.

Sie begegnete auch ihrem Bruder, der mit der Nastuscha Täubich ging; sie hielten sich umfaßt und küßten einander.

Ganz unverhofft stieß sie auf Maruscha Balcerek und Wawschon, sie standen an irgendeinem Zaun im tiefsten Schatten dicht aneinandergepreßt und schienen nicht mehr zu wissen, was um sie vor sich ging.

Den Stimmen nach konnte sie auch noch viele andere erkennen, aus jedem Schatten am Weg, an den Zäunen, am Weiher, von überallher tönte ihr Geflüster entgegen, halb hingeraunte Worte wurden vernehmbar, heiße Seufzer und erregte Bewegungen wuchsen aus der Nacht. Es war als gärte es im ganzen Dorf vor Liebe und sehnsüchtiger Brunst; selbst die kaum etwas herangewachsenen Mädchen trieben sich auf der Dorfstraße mit den Burschen herum, einander jagend und neckend.

Plötzlich wurde alles das Jagna zuwider, sie versuchte ihnen auszuweichen und wandte sich geradeswegs nach dem Hause der Mutter; doch gerade davor traf sie plötzlich mit Mathias Aug' in Auge zusammen; er sah sie nicht einmal an und ging an ihr vorüber, als wäre sie ein lebloser Baum; mit ihm war Therese, er hielt sie umfaßt und redete auf sie ein ... Sie waren schon vorüber, und sie hörte immer noch ihre Stimmen und ihr gedämpftes Lachen.

Da wandte sie sich um und floh, wie von Hunden gehetzt, nach Hause.

Und der stille, duftende Lenzabend voll Wiedersehensfreude und Glückseligkeit floß unaufhaltsam dahin.

Irgendwo aus der Nacht der duftenden Obstgärten zwitscherte eine Flöte ein sehnsüchtiges Lied wie eine Begleitung zu dem Geraun und den Küssen der Liebesseligkeit.

Der große Chor der Frösche begann auf den Mooren zu quarren, setzte hin und wieder aus, und andere Chöre in dem leicht nur umflorten Weiher, der schon wie das Auge eines Einschlummernden war, gaben ihm Antwort mit einem langgezogenen, schläfrigen, immer leiser werdenden Unken, bis die Kinder, die sich auf der Dorfstraße umhertrieben, sie zu überschreien und zu necken versuchten:

Der Storch, brekekekekex,
ist verreckt, verreckt, verreckt!
Raderaderaderah!
kein Storch ist mehr da! ...


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